Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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15

Der Schuhmacher Weiß war ein schwächlicher alter Mann, der ihn mürrisch empfing. Als er merkte, daß es sich weder um einen Einkauf noch um eine Reparatur handelte, schien er überhaupt nicht geneigt zu sein, sich auf ein Gespräch einzulassen.

Hempel war nun ein Mensch, dem es gar nicht schwer fiel, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, selbst wenn sie so zugeknöpft und offenbar verbittert waren wie Herr Weiß. Es gelang ihm tatsächlich, den alten Mann zum Sprechen zu bringen. Eine freundlich angebotene Zigarette, ein paar Fragen nach dem Geschäft lösten dem Schuster die Zunge. Er kam ins Plaudern, und nach einer Viertelstunde kannte Hempel so ziemlich die ganze Lebensgeschichte des Mannes.

»Auf meine alten Tage kann ich hier Fliegen fangen; wenn es nicht hie und da eine Reparatur gäbe, könnte ich verhungern; leberleidend bin ich obendrein. Meine Frau mußte eine Stelle als Stundenfrau annehmen, um etwas für den Haushalt zuzuverdienen. Ja, ja, Herr, schön ist das Leben jetzt nicht mehr . . .« schloß er bitter.

Hempel erkundigte sich nun, ob er den Gärtner von Tannroda kenne.

Ja, sagte der alte Schuhmacher, seine Bekanntschaft mit dem Gärtner stamme noch aus der gemeinsamen Jugendzeit. Sie seien Nachbarskinder und Schulkameraden gewesen. Und da der Gärtner wisse, wie schlecht es ihm hier ginge, habe er versprochen, mit Frau Gottschalk zu sprechen, sobald einmal auf Tannroda ein Posten für den Schuster frei werden sollte, damit sie dorthin ziehen könnten. Nur gäbe es bei den Angestellten in Tannroda leider selten einen Wechsel. Alle seien gern und lange dort.

Hempel kam nun endlich auf seine eigentliche Frage zu sprechen, ob Herr Weiß ihm nicht sagen könne, wo Anna Miller sich jetzt aufhalte? Sie habe ihn nach der Abreise aus Tannroda doch sicher hier in Wien aufgesucht?

Der Schuhmacher sah ihn verständnislos an.

»Anna Miller? Kenn' ich nicht! Hab den Namen noch nie gehört. Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Aber das ist doch das Mädchen, das Sie dem Gärtner selbst empfohlen haben! Sie schrieben ihm ja ihretwegen einen Brief, und vor vier Monaten trat sie ihren Posten als Aushilfskraft in der Gärtnerei an!«

»Ach so, die . . .? Verzeihen Sie, aber an die habe ich gar nicht mehr gedacht. Sogar ihr Name war mir entfallen. Ich hab' sie nämlich nie zu Gesicht bekommen.«

»Wie konnten Sie sie denn da empfehlen?«

»Ach, das kam so! Ich hatte endlich mal wieder ein bißchen Glück, nämlich einen gut zahlenden Kunden. Ein Herr kaufte ein Paar teure Sportschuhe bei mir, und dabei kamen wir ins Reden, sprachen über die neuen Anlagen vor dem Ratshaus und über Blumen und Gärtnerei so im allgemeinen und über mein Geschäft und wie schlecht es gehe. Da sagte er, ob er vielleicht noch ein Paar Lederstiefel haben könnte, Sportschuhe, die man auch auf dem Lande tragen könne. Gute, solide Ware, wie er sie von früher her gewöhnt sei. Sie können sich denken, wie glücklich ich war, als er etwas Passendes fand! Und dann sagte er, daß er mir auch seine alten Schuhe zum Besohlen bringen wolle. Ein paar Tage später kam er wieder. Er sagte, er habe es sehr eilig, und in der Eile habe er die alten Schuhe vergessen, die ich besohlen sollte. Doch sei es ihm eingefallen, daß ich ihm einen Gefallen tun könne. Ich hätte doch neulich im Gespräch erwähnt, daß ich einen Freund hätte, der eine Gärtnerei habe und mir vielleicht zu einer sorgenloseren Existenz verhelfen könne.«

»Ach, hatten Sie ihm von Tannroda erzählt?«

»Ja, es scheint so, obwohl ich mich selbst nicht mehr darauf besinnen konnte. Aber wenn einem die Sorgen so Tag und Nacht durch den Kopf gehen . . . Jedenfalls sagte er, er hätte eine arme Verwandte, für deren Fortkommen er sorgen müsse, und die wolle gerne Gärtnerin werden, da sie soviel Sinn für Blumen habe. Leider habe er in diesem Fach keine Beziehungen. Ob ich seine Verwandte nicht bei meinem Freund in Tannroda empfehlen und als Lehrling unterbringen könne? Ich sagte, daß ich ja in Tannroda anfragen könne.«

»Und der Gärtner war einverstanden?«

»Ja, er war sogar recht froh. Im Vorfrühling hätten sie alle Hände voll zu tun, schrieb er, und ich solle das Mädchen nur schicken. Einstweilen könne er sie zwar nur aushilfsweise einstellen, aber wenn sie tüchtig sei, würde er sie behalten.«

»Und wie ist es dann weiter gegangen?«

»Als der Kunde nach einer Woche wieder vorbeikam und seine Schuhe zum Besohlen brachte, fragte er auch wegen der Stelle für seine Verwandte. Da zeigte ich ihm die Antwort, und er war damit zufrieden, gab mir sogar noch eine Vermittlergebühr. Am ersten Februar schon reiste seine Verwandte dann nach Tannroda.«

»Kam es Ihnen denn nicht sonderbar vor, daß er Sie gar nicht mit seiner Verwandten bekannt machte?«

»Wieso denn sonderbar? Was ging mich denn das junge Ding an? Da war ich gar nicht weiter neugierig. Aber warum fragen Sie das alles? Hat sie sich nicht ordentlich betragen? Mein Freund hat mir doch geschrieben, daß er mit ihr ganz zufrieden ist?«

»Ja, das scheint auch der Fall gewesen zu sein. Aber vorgestern nacht ist sie plötzlich mit Gepäck aus Tannroda verschwunden, ohne vorher auch nur ein Wort gesagt zu haben. Deshalb schrieb mir Frau Gottschalk, daß ich mich bei Ihnen erkundigen solle, ob Sie ihre Adresse wüßten.«

»Ich? Nein, ich weiß von nichts. Aber ihr Verwandter, der Herr Walter, wird natürlich Bescheid wissen.«

»Ach, heißt er Walter? Dann wissen Sie wohl auch, wo er wohnt?«

»Eigentlich weiß ich beides nur durch reinen Zufall. Er hat's mir nicht gesagt. Er wollte auch nicht, daß ich ihm seine besohlten Schuhe ins Haus schicke, da er selten zu Hause sei. Als er sie nun holte, war gerade meine Frau im Laden, und hinterher sagte sie mir, er wohne im gleichen Haus, wo sie die Aufwartung besorge, hier in unsrer Straße. Sie hat ihn dort öfter im Treppenhaus gesehen. Er wohnt in Untermiete, nach dem Hof hinaus, und soll Reisender sein.«

»Danke, dann werde ich am besten zu ihm gehen und mich dort nach Anna Miller erkundigen. – Wie sieht denn der Herr Walter aus?«

»Oh, ein feiner Herr ist er, immer gut angezogen, nicht sehr groß. Er hat schwarze Haare. Übrigens können Sie ihn sofort an seiner Stimme erkennen. Noch nie hab' ich eine solche Stimme gehört! Er hat nämlich ein Kehlkopfleiden, schon seit Jahren, wie er mir sagte, und deshalb spricht er sehr hoch, um sich besser verständlich zu machen.«

*

Hempel war sehr zufrieden. Was er hörte, deckte sich mit den Berichten des Chauffeurs, und auch Poldi hatte ja das gleiche über seine Stimme ausgesagt.

Es konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß Herr Walter jener Mann war, der wahrscheinlich Juan Andagola Helfersdienste leistete.

Er sollte in der Alserstraße 50 bei einer alten Frau wohnen, die ein paar Zimmer an Untermieter abgebe.

Hempel verabschiedete sich von dem Schuhmacher und ging die Straße hinunter, bis er vor Nummer 50 stand. Die Frau Waser, die im ersten Stock wohnte, ließ ihn in den Korridor ihrer Wohnung treten.

Wie die meisten alten Frauen war sie redselig und setzte auch nicht den geringsten Zweifel in seine Erklärung, daß er gekommen sei, um Herrn Walter geschäftlich zu sprechen.

Leider sei Herr Walter seit zwei Tagen wieder verreist. Der Detektiv erfuhr nun alles, was die alte Frau über Herrn Walter wußte.

Wie er ihr erzählt hatte, sei er früher jahrelang selbständiger Kaufmann in Südamerika gewesen. Nachdem er sich ein großes Vermögen erworben hatte, hätte er fast alles wieder durch Spekulation verloren. So sei er mit dem Rest seines Vermögens wieder nach Wien zurückgekehrt. Jetzt sei er als Reisender für mehrere große Firmen tätig.

Für welche Firmen er reise, wußte die alte Frau nicht zu sagen. Den Namen Anna Miller habe sie auch nie gehört. Sie könne sich auch nicht erinnern, daß er je von einer Verwandten gesprochen habe.

Nach seinen Papieren, die Wien als Geburtsort und Buenos Aires als letzten Aufenthaltsort angaben, war Franz Walter neununddreißig Jahre alt.

Am Morgen des 15. April sei er abgereist, nach Linz, wie er der alten Frau erzählt hatte; vorgestern war er zurückgekehrt, aber nur für ein paar Stunden, da er schon gegen Mittag nach Innsbruck habe fahren müssen. Er hatte nicht gesagt, wann er von dort zurückkäme.

Hermann Hempel bedankte sich für die Auskunft und schlenderte nachdenklich heim.

*

Am Nachmittag begab er sich in die Kanzlei Doktor Wendlands am Schottenring und machte sich an die Durchsicht der nachgelassenen Akten.

Frau Erber räumte ihm dazu im Studierzimmer der Privatwohnung einen Platz ein, wo er ungestört ordnen und sichten konnte.

Da Hempel fast mit Gewißheit annehmen durfte, daß Doktor Wendlands Tod wie der Gottfried Kluges nur ein notwendiges Glied in der Kette war, die zu einem bestimmten Ziele führen sollte, so brauchte Hempel nur eine einzige Mappe zu suchen: die Mappe mit den Akten der Familie Gottschalk.

Hempel hoffte in dieser Aktenmappe nicht nur Briefe Ulrichs zu finden, die über dessen weiteren Lebenslauf Auskunft geben; vor allem nahm er an, daß er bei der Durchsicht der Papiere auf eine Abschrift des Dokuments über den Erbverzicht stoßen würde.

Bald stellte es sich jedoch heraus, daß die Akten nicht übersichtlich geordnet waren. Er mußte einsehen, daß er nicht so schnell zum Ziele gelangen würde. Offenbar war er hier mit der vergeblichen Durchsicht uralten Materials beschäftigt, während die »Akten Gottschalk« sich vermutlich in anderen Schränken befanden, die er überhaupt noch nicht untersucht hatte. Er beschloß, am folgenden Tage den Nachlaßverwalter aufzusuchen, der möglicherweise die Aufarbeitung der laufenden Akten bereits in die Hand genommen hatte.

Es war fast zwei Uhr, als Hempel das Haus am Schottenring verließ.

*

Früh am nächsten Morgen ging er sogleich auf die Hauptpost und gab ein Telegramm nach Buenos Aires auf, in dem er die dortige Polizeibehörde um Auskunft über den ehemaligen Kaufmann Franz Walter und über den hier unter dem Namen Andagola auftretenden Farmer ersuchte, dessen wahrer Name vermutlich Ulrich Gottschalk sei.

Danach traf er sich mit Kobler und nahm dessen Bericht über Andagola entgegen. Das Paar aus Argentinien habe das Hotel Imperial gestern nur für kurze Zeit verlassen, um zu Fuß Einkäufe zu erledigen. Hierbei sei Kobler ihnen gefolgt. Sie hätten unterwegs weder telephoniert noch mit jemand gesprochen. Auch im Hotel hätten sie nicht telephoniert und auch keine Besuche empfangen.

*

Am Nachmittag fragte Hermann Hempel bei Frau Waser in der Alserstraße an, ob Herr Walter schon zurück sei, was nicht der Fall war. Bei dieser Gelegenheit erkundigte er sich, ob er wohl in der Nähe ein ruhiges möbliertes Zimmer mieten könnte. Er suche schon seit langem nach einem wirklich ruhigen Zimmer, da er es vor Lärm nirgends aushalten könne.

Die alte Frau erklärte sofort, das träfe sich gut, denn bei ihr stünde seit einer Woche ein Hofzimmer leer. Es sei zwar nicht groß, aber dafür sehr ruhig.

Der Raum lag neben dem Zimmer des Reisenden Franz Walter. Hempel zog noch am gleichen Abend ein. Auf das Meldeformular schrieb er: Hermann Hagemann, Kaufmann.

 


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