Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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16

Am Morgen nach seinem Umzug in die Alserstraße suchte Hempel den Nachlaßverwalter Wendlands auf, der die letzten laufenden Geschäfte des Verstorbenen abwickeln sollte. Da Doktor Morf aber selbst eine ausgedehnte Praxis besaß, war er nicht jederzeit erreichbar. Als Hempel ihn endlich antraf, trug er ihm seine Bitte vor. Es war ja leicht möglich, daß Doktor Morf sich ausgerechnet die Akte von Gottschalk als eine der ersten mitgenommen hatte.

»Die Akte Gottschalk?« fragte Doktor Morf. »Warten Sie . . . darüber machte mir doch der Sekretär Doktor Wendlands kürzlich eine Bemerkung . . . Was war es nur? Lassen Sie mich nachdenken . . . In den letzten zwei Wochen gingen mir so viel Dinge durch den Kopf . . . Ach ja . . . An dem Tage, als ich die Nachlaßverwaltung übernahm, habe ein Herr von der Polizei vorgesprochen und die Akten der Familie Gottschalk verlangt. Natürlich lieferte sie der Sekretär aus, machte mir aber Mitteilung davon. Übrigens versprach man, die Mappe binnen kurzem zurückzuschicken. Man wolle nur etwas nachsehen.«

»Wurden die Akte unterdessen zurückgegeben?«

»Nein – das heißt, ich weiß es nicht genau. Ich habe, offengestanden, die Sache vergessen. Es ist wohl auch nicht so wichtig? Oder suchen Sie etwas Bestimmtes? Dann wollen wir doch lieber den Sekretär fragen.«

Doktor Morf griff zum Telephonhörer.

»Nein, lassen Sie nur«, unterbrach ihn Hempel. »Ich möchte ihn lieber persönlich fragen.«

*

Hempel begab sich in die Kanzlei Doktor Wendlands. Der Sekretär bestätigte ihm, was Doktor Morf berichtet hatte. Der Herr, der die Mappe abholte, habe sich als Kriminalkommissar ausgewiesen. Seither war er nicht wiedergekommen; die Akte mußten sich also noch bei der Kriminalpolizei befinden.

»Fanden Sie denn die Mappe damals so schnell heraus?« fragte Hempel.

»O ja, sofort. Sie lag nicht bei den andern Akten, sondern auf Doktor Wendlands Schreibtisch. Er muß am letzten Abend noch daran gearbeitet haben. Vielleicht wollte er etwas nachsehen. Ich erinnere mich, daß sich unter der eingegangenen Post der letzten Tage ein Brief Frau Gottschalks aus Tannroda befand.«

»Bearbeiteten Sie selbst auch Fälle, die jene Familie betrafen?«

»Nein, nur Doktor Wendland selbst. Er behielt sich dies persönlich vor.«

»War es eine umfangreiche Mappe?«

»O ja! Alle Belege und Briefe der letzten fünfundzwanzig Jahre müssen darin gelegen haben.«

»Können Sie sich noch erinnern, wie der Kriminalkommissar aussah? Und wann erschien er?«

»Am Morgen des 16. April. Wie er aussah? Mein Gott, in der damals herrschenden Aufregung habe ich wirklich nicht so scharf hingesehen. Etwas Besonderes hatte er bestimmt nicht an sich. Das wäre mir wohl doch aufgefallen. Möglich, daß er einen kurzgeschnittenen Schnurrbart und schwarzes Haar hatte.«

»Und die Stimme? Unangenehm?«

»Das bestimmt nicht; sonst wäre mir dies, aufgefallen. Soweit ich mich erinnern kann, war es eine gewöhnliche Stimme. Der Beamte machte überhaupt den Eindruck eines ganz gewöhnlichen Durchschnittsmenschen. Aber warum fragen Sie danach? Ist etwas nicht in Ordnung?«

Hempel antwortete nicht darauf, sondern sagte: »Bitte, rufen Sie doch mal die Kriminalpolizei an und erkundigen Sie sich, ob ein Beamter die Akte Gottschalk abgeholt habe, und wenn ja, wo sie sich jetzt befinde.«

Der Kanzleivorstand rief sofort an, und schon während er sprach, malte sich Verblüffung auf seinem Gesicht.

Als er einhängte, wandte er sich etwas verlegen an Hempel. »Sie wissen dort von nichts! Weder hätten sie einem Beamten den Auftrag gegeben, noch hätte einer die Akte abgeholt. Es müsse ein Irrtum vorliegen, meinen sie am Amt.«

»Ganz, wie ich's mir dachte«, sagte Hempel. »Sie sind irregeführt worden. Der Mann, der sich als Kriminalkommissar ausgab, war ein Schwindler. Falls er nicht gar der gesuchte Mörder Doktor Wendlands ist.«

*

Als der Kriminalinspektor Ullmann von der Sache erfuhr, war er sehr überrascht und wollte nähere Auskunft von Hermann Hempel haben. Hempel hatte zufällig bei seiner Wirtschafterin angerufen und sich erkundigt, ob etwas Neues vorläge oder jemand nach ihm gefragt habe. So wurde ihm Doktor Ullmanns Bitte, aufs Polizeigebäude zu kommen, sofort ausgerichtet.

Hempel war nicht erbaut darüber; es war seine Absicht gewesen, den Namen Gottschalk einstweilen überhaupt nicht im Zusammenhang mit dem Fall Wendland zu nennen. Zuerst mußte er sich selbst einen klareren Überblick über die ganze Lage verschaffen.

Hempel wollte ganz sicher sein, ehe er die Kriminalpolizei hinzuzog; denn bis jetzt war er immer noch nicht von der Schuld Ulrich Gottschalks an den beiden Mordfällen überzeugt.

Das Verschwinden der Akte Gottschalk war ihm daher eher unangenehm; aber verschweigen ließ sich das nicht.

Er wappnete sich also mit der größten Vorsicht für seine Unterredung mit dem Polizeichef.

Wie es sich herausstellte, hatte Inspektor Ullmann bereits ein ausführliches Telephongespräch mit dem Sekretär des ermordeten Rechtsanwalts geführt, das ihm aber keinen Anhaltspunkt gegeben hatte. Er fragte deshalb Hempel direkt:

»Wie kamen Sie eigentlich auf den Gedanken, die Akte Gottschalk zu verlangen? Hatten Sie irgendeinen Verdacht? Der Sekretär sagte mir nämlich, daß Sie eigens danach gefragt hätten. Erst dadurch wäre man aufmerksam geworden, daß das Aktenstück gefehlt habe.«

»Ja, Herr Inspektor. Man wäre wohl erst nach Monaten darauf gekommen.«

»Sie haben also anscheinend gewußt, daß diese Aktenmappe existiert. Hatten Sie einen besonderen Grund, danach zu suchen?«

»O nein, es war der reinste Zufall. Übrigens kenne ich Frau Gottschalk und wußte, daß Doktor Wendland der Anwalt dieser Familie gewesen war. So fiel mir das Fehlen der Mappe auf.«

»Ja, natürlich. Aber hatten Sie keinerlei andere Gründe?«

»Doch«, antwortete der Detektiv gelassen. »Ich war zufällig in Tannroda, als die Ermordung Doktor Wendlands bekannt wurde, und war Zeuge, wie diese Nachricht auf Frau Gottschalk wirkte. Der Rechtsanwalt war eben ein langjähriger Freund der Familie. Als ich dann nach Wien zurückkehrte, bat Frau Gottschalk mich, sie doch auf dem Laufenden zu halten über alles, was mit der Aufklärung des Verbrechens in Zusammenhang stünde. Und so wurde meine Aufmerksamkeit natürlich eher auf das Fehlen dieser Akte gelenkt.«

Der Inspektor nickte: »Ja, . . . aber darf ich mir eine andere Frage erlauben? Waren Sie damals als Gast in Tannroda oder hatten Sie dort beruflich zu tun?«

»Darüber kann ich leider nicht sprechen, weil ich nicht dazu berechtigt bin, da es nicht meine eigenen Angelegenheiten sind.«

Der Polizeichef blickte ihn forschend an. »Und welches sind nun ihre Ansichten bezüglich des Aktendiebstahls? Wie ich vom Sekretär hörte, sollen Sie die Vermutung ausgesprochen haben, der falsche Kriminalkommissar sei möglicherweise der Mörder Wendlands?«

»Die Vermutung liegt nahe. Warum sollte die Aktenmappe sonst gerade am Morgen nach der Tat entwendet worden sein? Da müßte sie vielleicht sogar das Motiv zur Tat bilden!«

»Möglich, möglich! Aber das würde bedeuten, daß die Familie Gottschalk . . . im Zusammenhang mit Doktor Wendlands Tod steht.«

Inspektor Ullmann sah den Detektiv gespannt an. Hempel begegnete seinem Blick mit sachlich kühler Miene.

»Ja, möglich ist schließlich alles. Wahrscheinlicher ist es jedoch, daß die Familie Gottschalk selbst nichts mit der Sache zu tun hat, sondern daß der Mörder seine ganz privaten Gründe zum Diebstahl dieser Mappe hatte.«

Inspektor Ullmann rieb sich nachdenklich das Kinn:

»Das könnte allerdings sein . . .«

»Nur eine Möglichkeit, Herr Inspektor. Eine der vielen Möglichkeiten, über die wir zur Zeit noch im Dunkeln tappen. Wir wollen uns deshalb lieber an Tatsachen halten und den falschen Kriminalinspektor ausfindig machen, damit wir wieder in den Besitz der gestohlenen Dokumente gelangen. Das dürfte dann weitere Fingerzeige geben.«

»Sie haben recht. Ich will alles unternehmen, um diesen Kerl zu erwischen.«

»Lassen Sie bitte auch nach einem gewissen Reisenden Franz Walter forschen. Das ist nämlich der Mann mit der seltsamen Stimme, von der der Taxi-Chauffeur erzählte. Dieser Reisende hat ein Zimmer in der Alserstraße 50 gemietet, ist aber gegenwärtig verreist. Mit ihm steht ein junges Mädchen namens Anna Miller in Verbindung. Nach ihr sollte ebenfalls gesucht werden.«

»Woher wissen Sie denn, daß dieser Franz Walter der Mann ist, der Doktor Wendland antelephoniert hat?«

»Ich überlasse diese Feststellung Ihnen, Herr Inspektor. Ich sage Ihnen nur, daß dieser Mann für die Abklärung von großer Wichtigkeit ist. Bitte, verständigen Sie mich, sobald sich etwas Neues ergibt. Kann ich mich darauf verlassen –«

»Gewiß. Nur erklären Sie mir noch . . .«

»Das nächste Mal, bitte, Herr Inspektor, ich bin in größter Eile. Auf Wiedersehen!«

Hempel, der auf dem Wege zu seiner Privatwohnung war, überdachte noch einmal den Fall der entwendeten Akte.

Zweifellos wurden sie gestohlen, weil sie ein Doppel des von Ulrich Gottschalk unterzeichneten Reverses, vielleicht sogar eine umfangreiche Korrespondenz des Anwalts mit dem Ausgewanderten enthielten.

Damit wies alles auf Ulrich als den Täter hin, denn er allein konnte ein Interesse am Verschwinden jener Dokumente haben.

Zu Hause fand Hempel ein Telegramm aus Buenos Aires vor.

Es war die Antwort auf seine Anfrage wegen Andagola und Franz Walter.

Die Antwort war enttäuschend. Franz Walter sei drüben unbekannt. Ein Kaufmann Franz Walter hatte sich nie in Buenos Aires gemeldet. Ebenso unbekannt sei dort der Name Gottschalk; dagegen aber Herr Juan Andagola. Er gehöre zu den angesehensten Kaufleuten jener Provinz.

Als Sohn eines eingewanderten Deutschen habe er die Farm »Solis« gegründet und sei durch Viehzucht rasch zu Wohlstand gelangt. Er sei mit einer Deutschen verheiratet, die ihn gegenwärtig auf einer Europareise begleite.

Andagola sei groß, schlank, dunkel und trüge als besonderes Kennzeichen eine Narbe über dem linken Auge. Seine Frau sei blond. Sie hätten ihren eigenen Wagen sowie ihren Chauffeur, einen Amerikaner namens William Grant, mit auf die Reise genommen.

Hermann Hempel faßte sich an den Kopf. Alles stimmt haargenau mit dem überein, was Andagola und sein Chauffeur selbst angegeben hatten. Wenn Juan Andagola tatsächlich der Sohn eines eingewanderten Deutschen war, konnte er kaum Ulrich Gottschalk sein.

Das würde bedeuten, daß er, Hempel, auf der falschen Fährte wäre, falschen Vermutungen nachjagte . . .

Und dennoch . . .

Die Morde waren begangen worden. Die Bewohner von Tannroda waren systematisch ausspioniert worden. Und stets hatte in der Nähe des Tatortes dieses Auto gewartet, das mit dem Auto des Herrn Andagola identisch zu sein schien.

Das waren die Tatsachen. Und einzig die Anwesenheit Ulrich Gottschalks brachte Sinn in alle diese verworrenen Dinge. Ließe er Ulrich Gottschalk aus, so stünde er vor Rätseln, die kaum ergründbar wären. Nein, dieser älteste Sohn Gottschalks blieb für seine Vermutungen einfach notwendig. Alles mußte mit ihm zusammenhängen.

Hempel vertraute in solchen Dingen immer seinem Instinkt. Aber man konnte sich schließlich auch irren.

 


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