Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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20

Hermann Hempel wanderte an jenem Abend noch lange in seinem Zimmer auf und ab und grübelte über jedes Wort Andagolas nach.

So sehr er sich sein Mienenspiel vergegenwärtigte, er kam zu keinem einheitlichen Eindruck. Sogar ausgesprochene Lügen wurden ihm aufgetischt!

Daß Andagola, äußerlich betrachtet, den denkbar besten Eindruck machen mußte, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Eine scheinbar von Herzen kommende Liebenswürdigkeit ging von ihm aus.

Dennoch, seine Reserviertheit bei jedem Versuch, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren, war verdächtig und mußte den Glauben an sein offenes Wesen erschüttern.

Schlimmer waren die ausgesprochenen Unwahrheiten. Als zum Beispiel von den Naturschönheiten Österreichs die Rede war, wobei Hempel mit Absicht den Semmering erwähnte, bemerkte Andagola:

»Bisher hatten wir leider noch keine Gelegenheit, jene Gegend kennenzulernen.«

Und dabei hatte er am 28. März bereits die halbe Steiermark mit seinem Auto durchfahren und war im Semmering-Hotel sogar abgestiegen, um zu essen!

Auch die Behauptung, er besäße in der alten Heimat weder Bekannte noch Verwandte, war natürlich eine Lüge. Denn was hätte ihn sonst nach Tannroda führen können?

Diese Unwahrheiten belasteten den Mann und ließen all seine Offenheit in einem andern Lichte erscheinen.

Und er behauptete, in wenigen Wochen abreisen zu wollen!

»Nein, das stimmt eben auch nicht!« rief Hempel ärgerlich. »Es beweist nur, daß ich genau wie zuvor im Dunkeln tappe!«

*

Am nächsten Tag machte Hempel von der freundlichen Einladung Gebrauch, sich noch weitere Auskünfte geben zu lassen.

Frau Hela Andagola kam ihm ebenfalls sehr freundlich entgegen. Sie interessierte sich für seine bevorstehende Reise, lud ihn herzlich nach Solis ein und meinte, wenn Herr Doktor Merker seine Reise etwas hinausschöbe, könnte man vielleicht die Überfahrt sogar gemeinsam machen.

Während man so Tee trank und plauderte, war von dem geplanten Ausflug nach Steiermark mehrfach die Rede. Durch scheinbar absichtslos hingeworfene Fragen brachte Hempel immer wieder das Gespräch darauf.

Andagola wich nicht aus. Er nannte die Orte, die er besuchen wollte. Grainau war nicht darunter, und die beabsichtigte Reiseroute führte nicht einmal in die Nähe.

»Und Mittelsteiermark, besonders Graz, die schöne Hauptstadt des Landes, wollen Sie sich nicht ansehen?« fragte Hempel.

»Ach nein, dazu reicht unsere Zeit nicht mehr. Wozu auch? Provinzstädte bieten so wenig!«

Hempel wußte, daß Andagola in diesem Augenblick die Unwahrheit sagte. Während er nämlich die einzelnen Orte aufzählte, die sie berühren wollten, war sein Gesicht auf einmal gar nicht mehr so offen. Seine Frau aber warf ihm einen Blick zu.

Ein Zwischenspiel, das nur Sekunden dauerte – doch Hempel war sicher, daß die Frau um den eigentlichen Reiseweg Bescheid wußte. Vielleicht sogar um den Plan, der ihn nach Tannroda führte?

Als er wieder in sein Zimmer trat, lag dort ein Brief mit der Anschrift »Herrn Dr. Hans Merker«, den nach Angabe des Kellners ein Dienstmann überbracht hatte.

Er wies die wunderlichen Schnörkel auf, die Hempel von den Schreibversuchen seiner Haushälterin Kata her bekannt waren.

Ein zweiter Brief steckte in dem Umschlag. Hempel riß ihn auf. Er überflog kurz die Zeilen.

»Lieber Herr Hagemann«,

»Hagemann, Hagemann?«, Hempel kratzte sich am Kopf. Ach ja, nun fiel es ihm wieder ein. Das war ja der Name, den er sich zugelegt hatte, als er bei Frau Waser in der Alserstraße in Untermiete war. Aber woher hatte sie erfahren, daß er eigentlich Hempel hieß? Er sah sich die Anschrift auf dem Kuvert nochmals an. Es war nicht an seine Privatwohnung adressiert, sondern an das Kriminalinspektorat im ersten Bezirk. Die hatten ja um seinen Decknamen gewußt und ihm den Brief nachgeschickt. Aber weshalb sandte ihm Frau Waser einen Brief an das Kriminalinspektorat? Er hatte sich ja damals als Kaufmann ausgegeben.

»Lieber Herr Hagemann«, begann er wieder zu lesen.

»Ich habe mir nach Ihrer plötzlichen Abreise Gedanken darüber gemacht, was Sie eigentlich dazu bewogen haben könnte, so rasch Ihr Zimmer wieder aufzugeben. Und da meinte ich, daß es sicher mit der plötzlichen Abreise des Herrn Walter in Verbindung stehen könnte, und daß Sie vielleicht von der Polizei seien. Was muß man auch heute noch alles erleben! Nun, ich hatte alles schon wieder vergessen, da ich bereits neue und liebe Mieter habe. Für beide Zimmer. Aber gestern kam ein Telephonanruf, der mir merkwürdig schien. Und so versuche ich mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, obschon ich nicht gerne mit der Polizei zu tun habe. Aber Sie waren ja ein so freundlicher Mieter und haben sogar meinen ›Hansi‹ bewundert. Da dachte ich mir, es könnte Ihnen vielleicht nützlich sein, wenn ich Ihnen alles berichte. Ja, da hat gestern also eine Frau angerufen und wollte den Herrn Walter sprechen. Ich sagte, er sei für immer abgereist. Die Frau ließ aber nicht locker und behauptete zuerst, der Herr Walter hätte mir Auftrag gegeben, ihn zu verleugnen. Sie erklärte dann, daß sie die Schwester von Herrn Walter sei und Alma Lobing heiße. Das machte mich stutzig. Der Herr Walter sagte mir doch ausdrücklich, er habe keine Geschwister. Und ich erinnerte mich, daß er mir sogar einmal erzählt hatte, es gäbe da so ein verrücktes Frauenzimmer, das behaupte, sie sei seine Schwester. Er bat mich damals, alle Personen abzuweisen, die sich auf seine Verwandtschaft berufen würden. Das fiel mir jetzt natürlich wieder ein. Und so fragte ich, wo sie eigentlich wohne. Sie teilte mir ihre Adresse mit und sagte, sie sei immer über das Gasthaus im Liebhartstal zu erreichen. Da ich gerade nicht viel Zeit hatte zum Weitersprechen, versprach ich ihr, dem Herrn Walter alles auszurichten, sobald er wiederkommen würde. – Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Da heute in Wien so vieles geschieht, was Unrecht ist, wollte ich Ihnen das doch schreiben. Denn den Herrn Walter habe ich in der Nase, seitdem er mir bei seiner Abreise so frech kam und nicht einmal die schuldige Miete bezahlen wollte. Aber ich habe ihm das Geld schon abgenötigt, trotzdem ich eine ältere Frau bin.

Mit freundlichem Gruß Ihre
Zimmervermieterin Waser 
Alserstraße.«           

Hempel ließ nachdenklich den Brief sinken. Entsprang dieser Brief bloß der Rachsucht der alten Dame über ihren ungehobelten Gast, oder steckte wirklich etwas dahinter, was für die Abklärung des Falles wichtig sein würde? Wenn dieser Walter wirklich eine Schwester besaß, die er verleugnete, so war da sicher etwas herauszuholen.

So beschloß Hempel, Frau Alma Lobing aufzusuchen.

Herr Andagola wunderte sich, daß Herr Dr. Merker seine Verabredung nicht einhielt. Sie hatten nämlich abgemacht, sich am gleichen Nachmittag zu treffen. Aber vielleicht war er verhindert worden. Ein wenig hegte er ja Zweifel an diesem Herrn Dr. Merker. Irgend etwas schien mit ihm nicht zu stimmen. Er beschloß, in Zukunft etwas zurückhaltender zu sein.

 


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