Arno Holz
Sonnenfinsternis
Arno Holz

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Hollrieder: (mit halb erhobenen Armen; sein Ausdruck hat etwas starr Visionär-Ekstatisches angenommen; bei dem Wort »einen« zwei Schritte auf ihn zu und wieder stehnbleibend) Denk dir . . . einen Marmorberg! . . . (nach jedem »in« immer zwei weitere Schritte auf ihn zu; bei den Worten »flimmernden«, »schimmernden«, »schillernden« immer wieder stehnbleibend; die ein wenig gesenkt auseinandergebreiteten Arme vor dem zweigen und dritten »in« immer weiter sinken lassend) In allen . . . verflirrend schwimmend flimmernden Tönen . . . in allen . . . märchenhaft schimmernden Tuschtinten . . . in allen . . . feeenhaft schillernden Farben! . . . (in der vorderen Mitte der Bühne stehend; die Arme bei jedem Wort immer wieder hebend; diesmal in stärkeren Rucken; zuletzt wie zwei Fackeln) Kompakt! . . . Mächtig!! . . . Riesig!!! . . . (mit machtvoll weitauseinandergebreiteten Armen) Den . . . » Berg des . . . Lebens«! . . . (von jetzt ab halb zu seinem Gegenpartner, halb nach dem Zuschauer; alle seine ringenden Worte durch korrespondierende Gesten und allerbelebtestes Mienenspiel fortwährend wie in eine Art transzendentale Musik wandelnd; keinen Ton dabei trotz beständig wachsenden Tempos »unter den Tisch« fallen lassend; jeden Laut, permanent sich steigernd, mit entsprechend letztem Ausdruck und in schärfster, äußerster, geistiger Konzentration; so daß seine ganze Seele, sein ganzes Leid, seine ganze Qual mehr und mehr sich entschleiern und das geträumte Werk, aus farbigst funkelndstem Laut-, Ton- und Wortmosaik, bis in alle Einzelheiten, fast plastisch, vor dem Innern des Zuhörers aufwächst, aufsteigt und wie gewissermaßen schon jetzt zu einer Art existierender Wirklichkeit wird. Die Kommata, wie schon im Vorangegangenen, bedeuten kurze Ausdrucks-, die Punkte etwas längere Ausholpausen, die eingefügten Regiebemerkungen noch längere Gedankenpausen) Und auf ihm . . . aus ihm . . . über ihm . . . in Höhlen und Schlünden . . . in Grotten und Gründen . . . auf Kuppen und Klippen . . . rasend . . . zur infernalischen Musik . . . eines fiedelnden Entfleischten . . . der aus Erz und . . . Elfenbein ist . . . aus Onyx, Silber . . . Malachit, Beryll und Jade . . . der imperatorisch, gigantisch . . . breitbeinig . . . mit leeren, grausen . . . grünschwarz glimmenden Augenlöchern . . . die grinsen . .. mit stakrig fahlbeinern . . . spitzig bloßgelegten Knochenarmen . . . die faulen . . . mit langdürr bleichblank . . . modrig kralligen Knöchelfingern . . . die verwesen . . . den hohen, blauen . . . von tausend . . . giftgärend, giftschwärend, giftsinternd . . . verfließenden, verrieselnd, verrinselnden . . . Pestbeulentunken . . . wie glasig . . . überronnenen Gipfel krönt . . . und dems noch . . . klackernd, schlackernd . . . schlumpig . . . von allen Gelenken . . . von allen . . . Hals-, Brust-, Lendenwirbeln und Rippen . . . von beiden Beckenbeinen und Schulterblättern baumelt . . . jenen ganzen . . . öden, blöden . . . wütend, idiotisch hirnverbrannten . . . übergeschnappten Sanktveitstanz . . . den unser rührendes deutsches Wörterbuch . . . so amüsant, stupid naiv . . . zum Kugeln, treuherzig anerkennenswert . . . mit . . . »Liebe« betitelt! . . . (mit vor sich geballten Fäusten, finster, höhnisch, grimmig, wie in eine bodenlos vor ihm gähnende Abgrundtiefe blickend) »Liebe«!! . . . (jetzt direkt zu Url rüber; in Ausdruck, Geste und Mienenspiel alles lebendigst, gleichsam wie aus ihm unsichtbar zuströmendem Stoff formend; dem von ihm so Dargestellten entsprechender, anderer Tonfall) Vom zartesten, sanftesten . . . schmelzendsten Adagio . . . bis dir vor Grauen . . . die Zähne klappern! . . . (von neuem wachsendes Tempo) Von der . . . unberührt, unschuldig, hingebend keuschen . . . sogenannt »reinen« . . . rosig erglühend, zärtlichen Jungfrau . . . bis zur . . . abstoßendst, abschreckendst . . . verworfensten, verderbtst, triefäugigst alten . . . kropfadrigst höllischsten Vettel! . . . (den Rhythmus, der der Rhythmik der Vorgänge und Dinge bis ins letzte entspricht, an dieser Stelle noch ganz besonders liebevoll heraushebend) Vom schmachtenden, schwärmerischen . . . lockig mondhin, sehnsüchtig flötenden Jüngling . . . bis zum zittrigen, balzenden . . . zahnlos kahlköpfig, geldbeutelhoch, lüstern meckernden Greis! . . . (nachdem er eben zuletzt die beiden Gegenfiguren »Jüngling« und »Greis« auch durch »illustrierendste« Mimik und Geste entsprechend ganz besonders lebhaft zur Darstellung gebracht, jetzt in eisernster Ruhe, die Arme herabhängend, mit der energischst geballten Linken sämtliche »alle« durch kleine, wie elektrische Rucke unterstreichend, nur bei dem letzten fast wie zu einem Hammerschlag stärker ausholend) Alle Situationen . . . alle Komplikationen . . . alle Praktiken, alle Taktiken . . . alle . . . Möglichkeiten! . . . (wieder ganz Feuer, wieder ganz Funkensprüher, wieder ganze Flamme; jedes Einzelwort von charakteristischer Färbung, jeder Tonwert beseelt, jeder Superlativlaut aus empfundenster Notwendigkeit; alle von ihm wie aus dem Nichts in Licht und Luft gestellte drei Vorstellungs-Widerpaare qualvollst von ihm gefühlteste, schöpferischst gestaltete, lebendigste Organismen) Gewagteste, verruchteste . . . herausforderndst zynischste Grotesken . . . und grimmste, verzweifeltste . . . herzbeklemmendst schaurigste Tragödien! . . . Einzelne, einsame . . . stupid schimpflichst schändliche Solos . . . und . . . heiße, glühende . . . ekstatischst, traumtiefst verzückteste . . . verstrickteste . . . beseligtst, weltvergessenst verschlungene Duos . . . orgiastischst, wollüstigst . . . farcenhaftst freche . . . ausschweifendst tolle Trios . . . und taumelndst tumultuarische . . . faunischst, viehischst, wie beseßne . . . bachantischst, buhlerischst . . . wüste Massenchöre! . . . (nach der enormen, unerhörten, seelischen Entladung, die hinter ihm liegt, jählings wie eine Erzstatue; die Worte wie eherne Schläge) Mann und Weib! . . . Weib und Mann! . . . Mann und . . . Mann!! . . . Weib und . . . Weib!! . . . (von neuem sich aufruckend; in sofortiger, stärkster, rapidester Steigerung) In allen . . . erdenkbar, ersinnbar, ergrübelbar . . . raffiniert, brutal . . . absonderlich zügellosen Posen . . . in allen . . . dämonisch, frenetisch paroxystisch . . . überschäumenden, übersprudelnden . .. verfänglich un sagbar bizarren . . . sinnverwirrenden Nuancen . . . in allen ausfindbar . . . in allen vorstellbar . . . in allen einbildbar . . . entmenschst, satanischst scheusäligen . . . hirnkrankst krassen . . . entnervendst, horriblen Perversionen! . . . (zuerst hochaufgereckt wie ein Weltenrichter, dann wie ein reuiger Gerichteter, mit der geballten Linken sich mehrmals dröhnend vor die Brust schlagend, zuletzt, die noch immer geballte Linke eine Handbreit über dem Herzen, den Kopf etwas vorgeduckt, wie über alles in tiefstem Abscheu das letzte Urteil aus sich schleudernd) Taumel und Anbetung! . . . Inbrunst und Brunst! . . . Cherub und Tier! . . . Selbstbetörung, Selbstbegimplung, Selbstbetäubung . . . Selbstbetrug . . . und bewußte . . . bewußteste Gemeinheit!! . . . (veränderter Ausdruck; mit erhobenen, auseinandergebreiteten Armen, beim zweiten Wort diese noch höher hebend; sich steigernder Hohn, die Blicke nach oben) »Liebe«!! . . . »Liebe«!! . . . (den Blick voll aufwärts, wie zum »Schöpfer aller Dinge«; die Arme biblischst ganz nach oben; letzter, vibrierend-verächtlichster Grimm, Spott und Hohn) »Liebe«!!! . . . (wieder veränderter Ausdruck; beide Fäuste im spitzen Winkel vor sich geballte; die Worte »so soll«, sich steigernd, jedesmal mit ihnen unterstreichend; bei den gleichen Worten immer zwei Schritte auf Url zu und dann wieder stehnbleibend; äußerste Energie, angespanntester Wille, intensivste Konzentriertheit; zuletzt, bei den Worten »noch . . . noch keiner« usw., direkt vor Url, der in treuster Spiegelung, wie gebannt auf seinem Platz, das ganze, kommende Zukunftswerk Hollrieders schon jetzt in sich erlebt hat; die Augen sprühend in seinen) So . . . soll man dies Mordbiest . . . so . . . soll man diese Canaille . . . so . . . soll man dies . . . Rabenaas . . . so . . . so soll man es noch nie . . . noch . . . noch keiner soll es . . . so dargestellt haben! . . . (sich von ihm abwendend; wie nach einem niedergeprasselten Gewitter; letzte Donner und Blitze) Frei sein! . . . (nach der vorderen Mitte der Bühne zu) Von diesem Wahnwitz nichts mehr wissen! . . . (abermals weiter; noch heftiger) Auf ihn . . . speien . . . und ihn in Stein hinstellen! . . . (von neuem weiter; allerletzter Schlag) Aere perenius!! . . . (jetzt beinah auf seinem alten Platz; sich nach Url wieder zurückwendend; einen Augenblick fast stolz-triumphierend; das Wort »weiß«, wie mit einem ersten, vorweggenommenen Meißelschlag, mit der geballten Rechten wuchtigst unterhauend) Dann . . . weiß man doch wenigstens . . . wo zu man mal . . . da war! . . . (mit flackernd halberhobenen Händen, die ihm allmählich ruckweis wieder sinken, bis sie zuletzt mit offen leer ausgespreiteten Flächen rechts und links von ihm fast wie erstorbne, kaum noch zu ihm gehörige Wesen hängen; in zuerst wieder grimmster Steigerung, dann verebbend; zuletzt mit schmerzlichst geschloßnen Augen; seinen ganzen Seelenzustand ihm jetzt direkt offenbarend) Wo zu man . . . durch dies . . . Purgatorium . . . wo zu man . . . durch diesen traurigen . . . graurigen, gräßlichen Höllensumpfpfuhl . . . wo zu man . . . durch all dies Entsetzen . . . wo zu man durch diesen Wust . . . wo zu man durch diesen Mulm . . . wo zu man durch diesen . . . Dreck geschleift ist! (sich von Url abdrehend nach vorn; beide Hände über die wie hämmernden Kopfhälften; die Augen großauf vor sich hin; wie vor etwas langsam zurückweichend; bei dem Wort »Leben« stehngeblieben, die Arme nach unten wie von sich schleudernd und zuletzt sich wieder ganz nach oben hebend; letztes, zusammenfassendes Endurteil) Dann hat dies ganze . . . ruchlos infame . . . widrige . . . scheußliche, lächerliche, nichtswürdige Sinnlosigkeit . . . die sich »Leben« nennt . . . »Leben«! »Leben«!! »Leben«!!! . . . doch wenigstens etwas . . . wie »Sinn« gehabt!!! . . . (sich umdrehend und nach dem Hintergrund).

Url: (der einen Moment wieder nach der Tür links gesehn; nach einer kleinen Pause; einige Schritte auf Hollrieder zu, der, auf das dunkle Fenster starrend, im Hintergrund stehngeblieben ist) Willst du . . . möchtest du . . . diese Idee . . . nicht jetzt auch . . . offen deiner Frau mitteilen? . . .

Hollrieder: (schweigt).

Url: Sie hat ein . . . Anrecht darauf.

Hollrieder: (sofort; nach ihm zurückgedreht; scharf) » Anrecht«? . . .

Url: So sehr sie . . . ein etwas in deinem Plan . .. schmerzen würde . . .

Hollrieder: (nach dem Vordergrund links; harter, unbarmherziger Lachlaut) Hhä! . . . (letzter Grimm und Hohn) Na also! Da haben wirs ja! . . .

Url: (ihm nachblickend) Sie wird seine Größe . . . nicht verkennen. Und im letzten Grunde . . . doch froh sein . . .

Hollrieder: (der vorn links stehngeblieben war; längs der Wand nach hinten; heftig; eigensinnig; wie aus einer fixen Idee heraus) Also wenn dus darauf anlegen willst . . . wenn ihr beide wollt . . . (nach einem Blick auf die Tür links sich jäh umdrehend und seinen Weg zurück) daß ich euch den ganzen Krempel wieder . . . vor die Füße schmeiße . . . für jetzt und für immer . . . (vorn wieder stehnbleibend) dann bitte! Bitte!! . . .

Url: (stumm. Einen Augenblick Pause; niemand rührt sich).

Beatrice: (durch die Tür links; man merkt ihr an, daß sie nur noch ihre letzte Kraft zusammen nimmt; sie hat noch den Mantel um) Bin ich hier . . . überflüssig?

Hollrieder: (der sich wieder zusammengeruckt hat) Nicht im geringsten! . . .

Beatrice: Verzeih! . . . Wir hatten geglaubt . . .

Hollrieder: (nach rechts rüber) Was hattet ihr geglaubt?!

Beatrice: (mit einem halben Blick nach Musmann) Du bist von einer Gefaßtheit . . . Als wir gestern abfuhren . . .

Hollrieder: (zerstreuter Blick; jetzt ebenfalls nach Musmann) Ach so! . . . Jaja! (zweites »a« kurz) . . . (sich wieder umdrehend, nach links) Den Kopf soll n andrer flicken!

Beatrice: (hinterm Tisch; von Url angstvoll beobachtet, zu Boden blickend).

Hollrieder: Und wenn er das Ganze . . . kurz und klein geschnickst hätte! . . . (vorn links stehngeblieben, ohne sie anzusehn) Geht mich nichts an! . . . Rührt mich nicht mehr! . . .

Beatrice: Du willst es . . . nicht wenigstens versuchen?

Hollrieder: Nein! . . .

Beatrice: (schweigt).

Hollrieder: (dem die schroffe Form seiner Ablehnung in seinem Innern bereits leid tut; dabei wieder rechts rüber) Solche Dinge sind doch nicht bloß Handgelenk! Solche Dinge sind Stimmung! . . . Willst du mir vielleicht sagen . . . wo ich die jetzt hernehmen soll? . . .

Beatrice: (die Augen wie im Schmerz geschlossen; auf die Tür nach dem Balkon zu) . . .

Hollrieder: (vorn rechts stehngeblieben; zu Beatrice, die die Balkontür inzwischen geöffnet hat) Du wirst dich erkälten.

Beatrice: (die Tür wortlos hinter sich schließend).

Hollrieder: (nach einer kleinen Weile) Es regnet nicht mehr! . . .

Url: Nein. Es hat aufgehört. (nach einer neuen kleinen Pause) Entschuldige.

Hollrieder: (ihn fragend anblickend).

Url: Du warst . . . zu deiner Frau eben zu schroff.

Hollrieder: (wieder nach links) Das beruht bei uns auf Gegenseitigkeit! . . . Sie kümmert sich um mich nicht mehr, ich sehe also nicht ein . . .

Url: Du hast sie verletzt!

Hollrieder: (einen Moment stehngeblieben, stumm nach ihm rüberblickend und wieder weiter).

Url: Du hast ihr weh getan!

Hollrieder: (wieder stehngeblieben und nach ihm rüberblickend).

Url: (mit einer halben Wendung nach dem Balkon zu) Möchtest du sie nicht jetzt . . . wenigstens reinholen?

Hollrieder: (scharf nach ihm hingedreht) Sie, die um einen andern Trauer trägt?

Url: Dann will ich es tun.

Hollrieder: (unwillig ausholende Bewegung mit der Rechten, zugleich dabei kräftigst mit Daumen und Mittelfinger knipsend, so daß Url unwillkürlich innehält) . . . Ich wünschte auch nicht, daß man mir in solchem Falle nachliefe! . . .

Url: Bei all deiner . . . momentanen Erregtheit, die ich begreife: du gingst entschieden zu weit! . . . Sie faßt es persönlich auf!

Hollrieder: (unwirsch) »Persönlich!« . . .

Url: Ich weiß, du willst sie nicht kränken!

Hollrieder: (wieder nach rechts; kurz) Will ich auch nicht.

Url: Aber du tust es! . . . Durch jede Bewegung! . . . Durch jede Miene! . . . Durch jedes Wort! . . . Wohin soll das führen? . . . (nach der Tür rechts hin; Hollrieder stehngeblieben) Als sie vorhin eintrat . . . ich erschrak ordentlich! . . . So . . . vollständig verändert hat sie sich!

Hollrieder: (gereizt; kurz wie vorhin; nach ihm rüber) Bin ich daran schuld?

Url: Sie etwa?

Hollrieder: ! . . .

Url: (erregt) Weißt du auch . . . daß du sie mit diesem Achselzucken . ..

Hollrieder: (dreimal mit der rechten Fußspitze auf den Teppich klopfend).

Url: Daß du sie damit einfach . . .

Hollrieder: (von neuem nach links) Das ist nicht deine Sache! . . . (nach einer kurzen Pause; andrer Tonfall; stehngeblieben, zu ihm hin) Wie ich jetzt klar sehe . . . (sich wieder in Bewegung setzend nach rechts) wie ich unter dem, was sie sich wahrscheinlich nicht einmal selbst gesteht . . . leide . . . leide . . . leide!! . . . (stehnbleibend; Geste des unsäglichsten Leidens; einen ganz kleinen Augenblick Pause; sich wieder umdrehend und nach links) über diesen Komplex . . . über diesen Punkt . . . über dieses Thema . . . wünsche ich jetzt mehr . . . mit niemand zu reden! . . . Mit niemand! . . . (kurzer Blick nach ihm hin) Auch mir dir nicht! . . .

Url: (einige Schritte auf Hollrieder zu, der wieder vorn links stehngeblieben) Es scheint . . . ihr solltet euch mal rückhaltlos miteinander aussprechen! . . . Ich warne dich! . . . (Hollrieder nach ihm umgewandt) Auch mit ihrer Kraft . . . könnte es mal . . . zu Ende gehn! . . . (hat die ganze Zeit über wiederholt unruhig nach dem Balkon geblickt).

Hollrieder: (der jetzt unwillkürlich ebenfalls dahingeblickt hat; wieder zu Url, dessen Hand er krampfhaft gepackt hält; noch gedämpfter als vorhin; schwer; jedes Wort betont) Liebster Junge! . . . Wenn ich so leichtfertig wäre, deinen Rat zu befolgen . . . ihr die Binde von den Augen zu reißen, daß sie sich selbst sieht . . . selbst . . . ohne gnädigst bergende, schützende, hüllende Verpackung . . . in letzter, seelischer, grausamster Gürtellosigkeit und ohne Schleier . . . und seis auch nur den blitzenden Bruchteil einer einzigen, flüchtigsten, winzigsten Zehntelsekunde . . . (nach einem nochmaligen Blick nach dem Balkon) Es gibt keinen Ausweg! (ganz nah zu ihm; fast flüsternd) Nicht einmal Verdacht gegen sich darf sie fassen!

Url: (erschüttert) Und so . . . wollt ihr euer Leben . . .

Hollrieder: (der seine Hand inzwischen losgelassen und nach der Chaiselongue zu sich in Bewegung gesetzt; andrer Tonfall; nach Url zugedreht) Wüßtest du eine andre Möglichkeit? . . . (da Url schweigt; nach seiner Uhr sehend) Es wird Zeit . . . (auf Musmann zu, den er rüttelt) He! Du! . . . (angewidertst-stärkst) Ferkel!

Musmann: (der die ganze Zeit über wie »tot« gelegen und nur einmal, während Hollrieders großer Werk-Vision, bei dem letzen »Liebe«!!! sich erschreckt-unbemerkt etwas aufgerichtet hat; ihn wie traumtrunken anglotzend und sich dann wieder mit einem plötzlichen, lauten Schnarchen auf die Chaiselongue zurückfallen lassend).

Hollrieder: Ist drüben auf?

Url: (von seinem Entsetzen noch immer nicht ganz zu sich gekommen) Ich glaube nein.

Hollrieder: (Musmann, vor dem er steht, mit geballten Fäusten so zornig anblickend, daß Url besorgt wird) Dieser . . . Wo mag er die Schlüssel haben? (da Url sich sofort bemüht; diesen am Arm packend; aus letztem, seelischem Wutekel und seiner fast kaum noch mächtig; die Augen zusammengepreßt) Hilf mir, daß mir nicht . . .

Url: (Musmann die Schlüssel aus der Tasche holend) Sofort.

Hollrieder: (die Schlüssel in Empfang nehmend; nach einem neuen Blick auf die Balkontür; letzte, wuchtigste Eindringlichkeit; die Rechte dabei warnend erhoben, Url fest in die Augen sehend; langsam) Also höre! . . . Ich verlasse mich drauf! . . . Du sagst ihr nichts! . . . Du sagst ihr gar nichts! . . . (ab).

Url: (der Hollrieder wie betäubt nachgeblickt hat, während Musmann einen Augenblick lang wieder den unruhigen Schläfer markiert; nach einem Blick auf ihn, schnell auf die Balkontür zu, die er hastig öffnet; steigende, letzte Eindringlichkeit) Fassen Sie sich! Sie dürfen unmöglich . . . Sie müssen ihm jetzt das erste Wort geben!

Beatrice: (wieder im Raum; kaum noch fähig, sich aufrecht zu halten; Url hat die Balkontür in der Eile nur hinter sich angelehnt) Ich bin ihm . . . nur noch im Wege!

Url: Sie tun ihm Unrecht! So schroff er auch immer scheint! Er meint es nicht so! Sie haben zu lange um den Toten getrauert! Sie gehören nur noch dem Lebenden!

Beatrice: (leichte, kaum merkbare Bewegung nach der Tür links; einige Schritte nach vorn) Ich habe vorhin . . . Er sprach zuletzt . . . so laut und erregt . . . daß ich fast alles . . . gehört habe.

Url: (erschreckt).

Beatrice: (zusammenschauernd; noch weiter nach vorn) Diese . . . grauenhafte Idee! . . .

Url: (der kein Auge von ihr läßt; ihr folgend) Sie ist jetzt das einzge . . .

Beatrice: Alles, was er vor mir . . . verborgen hatte, was er finster . . . mit sich herumtrug, diese . . . schreckliche Zeit über . . . alles spricht sich in ihr aus! Alles! . . . Sein ganzer . . . Widerwille gegen mich! Sein ganzer . . . Abscheu! Seine ganze Verachtung!! . . . Nie, nie, nie würde ich . . . mit meinen Augen . . . ein solches . . . Werk von ihm sehn können! . . .

Url: (sie entsetzt anstarrend) So dürfen Sie nicht denken! Es ist jetzt . . . unsre Aufgabe . . .

Beatrice: (in letzter, verzweifeltster Mutlosigkeit) Ich habe . . . keine Aufgabe mehr! . . . Er hat seine Idee mal gefaßt, und . . . nichts, nichts wird ihn mehr . . . nichts, nichts, nichts . . . von ihr abbringen! Ich kann ihn jetzt nur noch . . . von mir befreien! . . .

Url: (nach einer kleinen Pause; fast tonlos) Sie würden ihn . . . todunglücklich machen!

Beatrice: Eine Zeitlang. Ja. Aber dann . . . (ausbrechend; noch weiter nach vorn) Durch wieviel Hände glaubt er mich vielleicht schon gegangen. Mit wieviel Schmach glaubt er mich schon beladen! Von wieviel Schmutz glaubt er mich überhäuft! Für ganz . . . besudelt hält er mich! . . .

Url: (der ihr wieder gefolgt ist; nach Atem ringend) Sie täuschen sich! Eine solche . . . Niedrigkeit, eine solche . . . verächtliche Abscheulichkeit, eine solche letzte, seelische . . . häßlichste Roheit, daran . . . denkt er nicht einmal! Das liegt ihm völlig . . . Was ihm jetzt . . . so unerträglich scheint . . .

Beatrice: (entsetzt) Was? . . . Was ist ihm jetzt so . . . unerträglich?!

Url: Ich werde sofort . . . (sich bereits zum Gehn wendend).

Beatrice: (angstvoll) Nein! . . . Nein! . . . Holen Sie ihn nicht! Tun Sie s nicht! Ich will es nicht wissen! Ich . . . Ich würde . . . Sie zwingen mich . . . (sich wie irr im Raum umsehend).

Url: Ihre und seine Qual muß ein Ende nehmen! Ich verspreche Ihnen! In einer Minute! (von Angst gejagt ab).

Beatrice: (einen Augenblick aufatmend) In einer Minute! . . . (dann sich wieder wie irr und nach Hilfe suchend im Raum umblickend; unsicher vor Musmann, um sich zu vergewissern, ob er noch schläft) . . .

Musmann: (sich aufrichtend) Madam? . . .

Beatrice: (vor ihm zurückschaudernd) Was . . . wollen Sie von mir?

Musmann: (während sie vor ihm bis an den runden Tisch zurückgewichen ist, um den sie jetzt beide, langsam, kreisen; keiner den Blick aus den andern Augen lassend) . . . Lilith! . . . Du bist . . . Lilith! . . . Du hast ihn . . . in den Tod gehetzt! . . . Wie du uns . . . alle in den Tod hetzt! . . . Du hast ihn . . . verführt!

Beatrice: (unter seinem Blick wie gebannt; angstfiebernd; kaum hörbar) Ja! . . .

Musmann: Wie du uns . . . alle verführst!

Beatrice: (wie aus einer inneren Erleuchtung sich mehr und mehr selbst begreifend) Ja! . . . Ja!! . . .

Musmann: Vampir! . . . (sein Gesicht verzerrt sich, seine Finger strecken sich leicht krallenartig vor, halb als ob er sie liebkosen, halb als ob er sie würgen wolle) Täubchen?! . . .

Beatrice: (jetzt die Kraft findend, von der grauenhaften, langsamen Jagd um den Tisch rum plötzlich nach dem Schränkchen zurückzuspringen; sie hat es bereits erreicht, als er sie einholt; aus Ekel und Abscheu vor ihm zurückweichend, da ihr davor graut, daß er sie berühren könne; verzweifelt) Weg! . . . Gehn Sie da weg! . . .

Musmann: (zwischen ihr und dem Schränkchen; höhnisch grinsend) So n kleines . . . Beruhigungspülverchen! . . . Das . . . möchteste wohl!

Beatrice: (deren ganze Haltung sich wieder gestrafft hat) Sie . . . gehn nicht?

Musmann: (dessen Augen fast aus den Höhlen treten; in geduckter Wut) Er soll dich . . . nicht wieder loswerden . . . der große Goliath! . . . Wie die . . . Katzen sollt ihr euch noch . . .

Beatrice: (ihm ohnmächtig gegenüber; vor Abscheu fast zitternd; etwas zurückgewichen) Teufel! . . .

Musmann: Kaputt soll er an dir gehn! . . . Kaputt! . . . Mitsamt seinem . . . »Werk«!!

Beatrice: (aus ihrem Mantel blitzschnell die langen Handschuhe ziehend und sie ihm quer übers Gesicht schlagend) Da! . . . (»a« kurz; Musmann, fast geblendet, auf sie zu; sie stößt ihn mit letzter Kraft, daß er hintenüber umschlägt; dann schwingt sie sich mit dem rechten Fuß schnell auf die Chaiselongue, drückt das Schränkchen auf und wühlt die kleinen Flakons und Büchsen um, von denen einige bis auf den Fußboden kollern).

Musmann: (der sich noch nicht aufgerichtet hat; schon halb in seinem beginnenden Kollaps) Hilfe! . . . Hilfe!! . . .

Beatrice: (steht da und bemüht sich vergeblich, eins der Fläschchen aufzubekommen; da in diesem Augenblick vom Flur bereits eiligste Schritte schallen, wirft sie in dem selben Moment, wo Url die Tür aufstößt, das Fläschchen von sich, reißt die Balkontür auf und stürze sich über die Brüstung; von der Straße rauf ein Schrei, dann ein Fall).

Url: (der sie noch fast erreicht hätte; zurücktaumelnd; von unten Lärm und Geschrei) Herr-Gott!!

Hollrieder: (jetzt ebenfalls in der Tür; eine Sekunde wie betäubt stutzend, dann schnell bis zur Mitte der Bühne; zu Url, der die Balkontür hinter sich angelehnt und jetzt dasteht, als ob er ihm den Weg versperren wollte; noch wie blöde, obgleich sein Innerstes längst alles begriffen hat) Was ist?! . . .

Url: (mit ausgebreiteten Armen vor der Tür) Nicht! . . . Nicht!! . . .

Hollrieder: (unartikulierter, furchtbarer Aufschrei, aus dem seine ganze Qual zittert, sein ganzes Entsetzen).

Musmann: (der sich wieder aufgerichtet hat; unwillkürlich langsam wie eine zweibeinige Klapperschlange, die noch im Flüchten nach der Ferse sticht, nach dem Winkel rechts retirierend) Nu kannst du ihr . . . ja nachspringen! . .. Jetzt . . . hast du se ja . . . so weit! . . .

Hollrieder: (der sich auf ihn stürzen will) Hund!!

Url: (der schnell zwischen beide gesprungen; Musmann mit seinem Körper deckend) Halt! . . . (fest) Für den sorge ich! . . .

Hollrieder: (in der Mitte der Bühne; nach dem Sessel rechts wankend und auf ihm mit einem dumpfen Laut, Arme und Kopf auf dem Tisch, zusammenbrechend; während von der Straße her noch, etwas gedämpft, der Lärm klingt).

Musmann: (hinter Url; idiotisch mit dem Finger nach ihm) Da! . . . (während Url ihm, von Grauen gepackt, Platz macht; langsam auf Hollrieder zu; zuletzt ganz krumm und fast hockend) Da! . . . Da! . . . (alle drei Male »a« kurz).

Hollrieder: (sich im Sessel wieder aufrichtend; Kopf zurück, Arme krampfig über die Lehnen, Augen geschlossen) Ich . . . Mörder!

(Vorhang)


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