Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Musmann: (hat behutsam die Tür aufgemacht, durch den Spalt neugierig ins Atelier gesehn und bemerkt nun Hollrieder. Zieht sich wieder zurück, klinkt die Tür vorsichtig zu und klopft leise. Tritt dann ein und beobachtet ihn; ungefähr in der Mitte der Bühne. Mittelgroß. Kleidung genau wie Hollrieder, nur schmuddlig-salopp. Schwarzes, glattglänzend gescheiteltes Slawenhaar; kurzer, »mottenzerfreßner« Vollbart mit Hängeschnurrbart. Gedunsen bleichbräunliches Gesicht mit schlaffen Zügen. Die schwarzen Augen zugleich glupend und stechend. Dreht in diesem Moment dem Zuschauer den etwas unadrett krummgehaltnen Rücken zu) Wem . . . Kuckst denn da so nach?
Hollrieder: (in den Raum zurückgetreten und die Tür hinter sich schließend) Man kloppt erst an! (Musmann: nochmal das Atelier musternd; wobei man ihm anmerkt, daß ihn namentlich die neu hinzugekommenen Stücke Urls interessieren; Hollrieder, der wie in plötzlich angewiderter Abneigung hinter den Tisch links getreten) Hast du nicht gehört?
Musmann: (ohne ihn dabei anzusehn) Wenn du . . . keine Ohren hast . . .
Hollrieder: (in den Vordergrund links) Hast dich jetzt drei Wochen lang nicht mehr blicken lassen. (nach ihm zurückgedreht) Also was willst du?
Musmann: Ihr zieht hier . . . (mit den Augen nach dem Regal) Netze um mich.
Hollrieder: (erregt nach rechts; dann sich umdrehend, heftig an seinem Joppenkragen ruckend; stehngeblieben) Jawohl.
Musmann: Erst hat man euch beide . . . zusammengebracht . . . und das ist dann jetzt . . . der Dank!
Hollrieder: Sonst noch was?
Musmann: (schnuppernd; ironisch anerkennend) Pafühm! . . . Seit wann . . . (wieder schnuppernd) gehts denn bei euch . . . so wohlriechend zu?
Hollrieder: (wieder nach links zu) Seitdem du dir hier deine Visiten schenkst.
Musmann: (mit einem Blick nach der Tür zurück; mit der Hand das Rauschen von Röcken andeutend) Sogar . . . seidne Unterröcke hat selbst.
Hollrieder: (stehngeblieben; kurz; schroff) Hn?
Musmann: (nach einer kleinen Pause; seinem Blick standhaltend) Du hast mir . . . schon mal . . . von einer nichts gesagt!
Hollrieder: (seinen Gang fortsetzend; abschneidend) So ist es!
Musmann: (hartnäckig) Du ent . . . sinnst dich doch noch?
Hollrieder: (nicht reagierend)
Musmann: (den Kopf vorgeduckt; lauernd) Fräulein . . . Sibylle Lipsius!
Hollrieder: (wieder stehngeblieben; links bei den Bildern; abwartend) . . . Und? . . .
Musmann: (hämisch) Biste schön dumm gewesen! . . . N blutjunges . . . nacktes, bildhübsches Mädel im Mondschein . . . und du selbst . . .
Hollrieder: (sich bezwingend) Halt dein . . . ungewaschnes . . .
Musmann: Paradiesisch . . . (abbrechend und in seiner »praktischen Philosophie« weiter) Nach dem du selbst dir erst . . . so schön paddelnaß . . . aus m Schlingkraut gefischt! . . . Könnteste heute der Schwiegersohn von nem mehrfachen Millionär sein!
Hollrieder: Soso. (sich wieder nach dem Vordergrund links in Bewegung setzend) Jaja. Na! (alle dreimal »a« kurz; dann hinterdrein) . . . Scheinst ja dann später selbst etwas die Absichten gehabt zu haben.
Musmann: (scheinbar wie aus den Wolken gefallen) Ich?
Hollrieder: (auf seinem Weg von links nach rechts) Du hast sie doch (bezeichnende kreisförmige Drehung vor der Stirn) »suchen« wollen.
Musmann: (ihn nicht aus den Augen lassend; mit höhnisch explizierend vorgestreckter Rechten; seine permanente, intensive, innere Beschäftigung mit diesem ganzen Problem verratend) Hätte man doch bloß . . . rauskriegen brauchen, wo selbst den berühmten . . . Hochzeitsschmuck ihrer verstorbnen Frau Mutter gelassen!
Hollrieder: (die erste Silbe als kurzer, ärgerlicher Lachlaut) Nachdem Jahre drüber vergangen!
Musmann: (seinen Haß nicht länger zurückhaltend) Das hat euch . . . wohl nicht gepaßt? Das war euch . . . unbequem!
Hollrieder: (wieder, Vordergrund rechts, stehngeblieben) »Euch«?
Musmann: Dir und dem . . . Alten!
Hollrieder: (mit Mühe an sich haltend; mit der rechten Stiefelspitze nervös den Fußboden klappend)
Musmann: Fideler lieber Herr . . . dein edler Wohltäter.
Hollrieder: (drohend) Wie?
Musmann: So die kleenen . . . Lämmerchen! Berlin W! (mit überlegen-absprechendstem Nasenrümpfen) Nobelste Gesellschaft!
Hollrieder: (auf ihn zu) Halt den Mund!
Musmann: (mit Mittelfinger und Daumen ein kleines, kokettes Kreisrund markierend) Altersgrenze so bis höchstens Siebzehn! . . . Und wenn einer mal . . . aus Versehen . . . was dagegen hat . . . (Heranwink mit dem Finger) Bitte, meine Herren! . . . (mit beiden Händen Geste; mit der rechten die des Schießens; ein Auge zugekniffen) Gleich quer übers Schnupptuch! . . . Das mögen damals . . . nette Dinge gewesen sein!
Hollrieder: (vor ihm stehngeblieben) Willst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken? Vielleicht langts noch!
Musmann: Du glaubst . . . ich hab mich nicht mehr in der Gewalt? . . . So weit . . . hast du mich noch nicht! . . . Und du wirst mich auch nicht . . . soweit kriegen!
Hollrieder: (sich wieder nach links in Bewegung setzend) Lieblich! . . . Befindest dich ja mal wieder in einem reizenden Zustand!
Musmann: Du denkst wohl . . . ich weiß das nicht? Was du mir auch nie . . . gesagt hast?
Hollrieder: (von neuem stehngeblieben; vor den Bildern links nach ihm zurückgedreht) » Auch nie«? . . . (wieder gereizt, nach dem Regal zu) Also denn los, los! Genier dich nicht!
Musmann: (sich umsehend) Hast du n . . . Schnaps da?
Hollrieder: Bedaure. Den mußt du dir selbst halten.
Musmann: Erst . . . gewöhnst du einem . . . sowas an . . .
Hollrieder: (wieder, Vordergrund links, stehngeblieben) Bist du des Deubels?
Musmann: So. Na, wer hat mich denn immer . . . vor soundsoviel Jahren . . . bei zwölf Grad Kälte in »seinen« Schnee geschleppt?
Hollrieder: (von neuem nach rechts) Wenn du so n Schwachmatikus warst . . . Ich hab keinen getrunken!
Musmann: (vor dem Tisch; mit dem Finger drauf zeigend) Aber so n . . . Ziehjarrn kann ich mir doch . . .?
Hollrieder: (ohne sich umzublicken) Nimm!
Musmann: (die Zigarre sich anbrennend) Einzje Tugend von dir! Wenn du doch in allem so wärst.
Hollrieder: (wieder, Vordergrund rechts, nach ihm zurückgedreht stehngeblieben) Also willst du dich nun mal endlich . . . Spuck nicht!
Musmann: (boshaft) Du hoffst, ich hab die . . . Schwindsucht? . . . Du hast selbst!
Hollrieder: (von neuem in Bewegung, nach links) Die Schwindsucht, den Krebs, die Syphilis, die Paralyse, und bucklig bin ich noch außerdem!
Musmann: (dessen Augen flinkern) Man kann das nie . . . wissen! . . . Aber das weiß ich! Und wenn du s mir auch noch so verborgen gehalten hast: deinem Alten seine Drachen-Donna, mit Sternenschleier und sonst, wie se noch heut . . . auf allen Postkarten paradiert . . . (kurzer, abgebrochner Grunzlaut) in seinem Schlafzimmer . . . steht selbst anders! Porträtähnlich! Von Bademantel nich die Spur, und der Lindwurmkopp, in den selbst rinpiekst, is zufällig sein eigener! . . . Zufällig!
Hollrieder: (bei dem Wort »porträtähnlich«, Vordergrund links, wieder stehngeblieben) In seinem . . . Schlafzimmer? . . . Woher weißt du das?
Musmann: Das . . . sag ich nicht.
Hollrieder: (nachdem er ihn einen Moment fixiert hat; wie etwas von sich weisend) Quack! (dann von neuem unruhig, während er seine Promenade längs den Bildern links wieder aufgenommen hat) Und kurz und gut, selbst einen Augenblick angenommen, es wäre so? Was willst du damit andeuten?
Musmann: Andeuten? . . . Ich? . . . Nichts!
Hollrieder: Denn quatsch nich!
Musmann: Wer war denn die . . . (als ob er einen Geruch in sich zöge) Dame?
Hollrieder: (sich zurückdrehend) Meine verstorbne Großtante.
Musmann: Deine . . . »verstorbne Großtante«. Mit ner Kammerjungfer, die Französisch spricht!
Hollrieder: Na denn weißt es ja! (nach einer kurzen Pause, da Musmann nicht geantwortet, ärgerlich hinterdrein; wieder, Vordergrund links, stehngeblieben) Scheinst also wieder schön rumspioniert zu haben!
Musmann: Das . . . willst du ja! . . . (da Hollrieder ihn daraufhin verwundert ansieht) Dazu hältst du mich . . . doch an! . . . Daß das nicht . . . aus mir selbst kommt . . .
Hollrieder: (der ihn jetzt begriffen hat) Natürlich! Das hab ich dir »suggeriert«! Um dich immer wieder hinter meine angeblichen Geheimnisse kucken zu lassen! (nach rechts) Ich bin schon einer!
Musmann: (nach den Vasen rüber; zugleich dabei nach dem Kranich glupend, der ihn ganz besonders beunruhigt) Die hat er dir wohl . . . geschenkt?
Hollrieder: Und n Rittergut zu jeder noch obendrein!
Musmann: (mit dem Finger nach dem Wandschränkchen zeigend) Sogar die . . . Giftapotheke!
Hollrieder: (ohne sich nach ihm umzudrehen) Falls du dich bedienen willst . . .?
Musmann: (geduckt-mißtrauisch zu Hollrieder rüber, wie ungewiß, ob dieser das ernst meint; dann mit heimlicher Wut höhnisch nach dem Regal schielend) Dieser . . . glattrasierte Erzengel! Acht Tage geht das nu schon! Immer, wenn du weg bist! Und auf seiner alten Quetschkommode . . . Glaubst du, ich hör und seh nichts?
Hollrieder: (zurückgedreht und auf dem Wege nach links) Hör und sieh, was du Lust hast.
Musmann: Daß (gestreckter Daumen über die Schulter nach dem Balkon hin) die nicht zu deinem . . . (ähnlich nach dem Leuchter hin) gerupften Paradiesvogel kommt . . . o nein, mein Lieber. Jetzt täuschst du mich nicht mehr! Heut hab ich dich beklappt! . . . (plötzlich) Soll ichs dir sagen? . . . (ihn gespannt beobachtend) Das ist se!
Hollrieder: (mit einem Ruck im Vordergrund links stehngeblieben und ihn einen Moment lang anblickend) Wieder mal! . . . (von neuem nach rechts in Bewegung) Zum soundsovielten! Die alte Leier! Es braucht nur irgend n Weibsbild aufzutauchen, und der Drehdich ist bei dir fertig!
Musmann: (verächtlich-schadenfroh; um ihm nur ja noch den Hieb zu versetzen) Bis auf n Balkon biste jerannt! . . . Wärst ihr am liebsten . . . nachgesprungen! . . . Hast dich doch sonst nicht so!
Hollrieder: (im Vordergrund rechts stehngeblieben; Kopfbewegung nach der Tür hin, durch die Musmann gekommen) Möchtest du mich nicht jetzt doch n bißchen . . .
Musmann: (plötzlich; unruhig nach den Bildern hin; man merkt ihm eine besorgte Angst und Spannung an) Hast du schon was?
Hollrieder: (brüsk) Ich frag ja dich nicht!
Musmann: (triumphierend) Du hast also noch nichts! . . . Sieh, sieh! Tttt! . . . (hämisch) Seit wieviel Monaten . . . kannste denn nu schon eigentlich nischt mehr?
Hollrieder: (noch immer stehngeblieben; drohend) Du? . . . Nimm dich in acht!
Musmann: (versteckt) Wo du jetzt . . . (wieder nach dem Regal hin) so viel andres zu tun hast . . .
Hollrieder: (noch immer in der selben Stellung) Du darfst die Geduld, die ich mit dir habe . . . (sich bezwingend; wieder nach links) Kaffer.
Musmann: (mit den Augen ihn verfolgend) Du . . . bist gar kein Maler!
Hollrieder: (mit verbißnem Grimm, ohne sich in seiner Promenade dadurch stören zu lassen) Nein. Ich bin Bildhauer. Was ich die zehn Jahre zusammengepinselt habe, ist ohnmächtiger Kitsch! (wieder nach rechts) Dieser alte Schlaumeier von Lipsius hat mir meine ersten primitiven, bunt kolorierten Knetversuche, die ihm damals sicher und ganz zweifellos mit gutem Recht zu exzessiv malerisch vorgekommen waren, weshalb er mir lebhaft sofort riet . . . (abbrechend und in seinem unterbrochenen Satz wieder weiter) nur deshalb ausgeredet, weil er in mir seinen künftigen Konkurrenten witterte! (wieder rechts angelangt und nach links zurück) Die ganze Welt steckt voller Gauner und Schurken, und jetzt möchte ich dich am liebsten wieder vergiften, weil du der »Heimliche Kaiser« bist und ich vor Neid auf deine kommende Größe fast platze!
Musmann: (der bei dem Wort »vergiften« mit einem Ruck zusammengefahren war; über seine linke Schulter mit heimlichem Grauen nach dem Schränkchen hin; leise für sich) Vergiften? . . . (dann wieder zu Hollrieder) Warum hast du mich denn . . . die ganzen Jahre . . .?
Hollrieder: (links stehngeblieben) Du meinst, aufgepäppelt! . . . Male ich, wie du malst, oder malst du, wie ich male?
Musmann: Du willst doch nicht etwa . . . damit sagen . . .
Hollrieder: Gewiß will ich das damit sagen!
Musmann: Das war doch wohl nur . . . Parallelentwicklung!
Hollrieder: (sich wieder nach rechts in Bewegung setzend) Nette Parallelentwicklung!
Musmann: Auf deine Veranlassung . . . war ich damals von der Akademie gegangen.
Hollrieder: Hör auf!
Musmann: Ich wäre heute zehnmal weiter . . .
Hollrieder: (wieder auf ihn zu, stehngeblieben) Hältst du nu die Labbe, oder nicht? . . . Das geht ja auf keine Kuhhaut!
Musmann: (vor ihm zurückgewichen; mit arbeitender Brust; seine Stimme wie über innere, heimliche Katarakte) Möchtest du nicht . . . bei dieser Gelegenheit . . . mal endlich . . . die große Güte haben . . . mir offen zu sagen . . . oder . . . das heißt, wenn du . . . ehrlich sein willst . . . zu verraten . . . was ich eigentlich . . . so Schweres . . . gegen dich verbrochen habe? . . .
Hollrieder: (mit erneut aufsteigender Ungeduld; wieder nach rechts; halb durch die Zähne) Herr gott Herr gott!
Musmann: (an seinen Worten wie würgend; die Augen quellen ihm aus dem Kopf) Immer . . . deine Gedanken denken! . . . Wenn ich aufwache . . . stehst du da! . . . (Hollrieder in Haltung und Stimme in ein eingebildet »Teuflisches« karikierend; immer ohne ihn dabei anzusehn) »Halts Maul! . . . Kusch dich! . . . Die ganze Malerei . . .« (abbrechend; wieder in seinem eignen Ton; fast schäumend) So n . . . Blödsinn! . . . Als ob alles . . . nach deiner Pfeife tanzen müßte! . . . Ich bin Mensch! Ich . . . will auch leben . . . Ich kann malen! . . . Ich hab Augen . . . und Hände wie du! . . . Ich kann mir sogar jetzt . . . mein Geld verdienen! . . . Ich brauch dich nicht mehr! . . . (plötzlich umschlagend; weinerlich) Ich hab dir doch . . . nichts getan! Warum . . . (in sich hineinwimmernd).
Hollrieder: (dicht vor ihm; beide Hände, ihn begütigend, ihm auf die Schulter gelegt; vollständig anderer Tonfall) Also nu nimm mal Vernunft an. Was du da faselst, is Unsinn. Ich bin dein Kamerad, nicht dein Henker.
Musmann: (unartikulierter Laut; auf einmal wieder ganz verändert; vor sich hinstarrend) Mir ist zumut . . . ! (knirschend) Dieses . . . Weib!!
Hollrieder: (der ihn wieder losgelassen; energisch) Ruck dich zusammen! Du kannsts! . . . Wenn dich andre so sehn! . . .
Url: (in der Tür; erstaunt auf Musmann sehend) Was? . . . (zu Hollrieder, der sofort, nachdem er die Stimme Urls gehört, Musmann läßt und nach dem Fenster geht) Der ist schon wieder da? (zu Musmann, der mit kaum glaublicher Selbstbeherrschung sofort, bis auf einige Kleinigkeiten, seine ganze Haltung geändert hat) Ich habe Sie doch eben erst . . .
Musmann: (nach ihm rüberschielend; zugleich zu Hollrieder hin) Dein neuer . . . Herzensbruder!
Url: (ihn verächtlich, namentlich auf sein »Habit« hin, von oben bis unten und von unten bis oben musternd) Sie . . . Ableger!
Musmann: (der diesen Blick sehr wohl kapiert hat; dumm-dämlich, die Rechte ausgespreitet vor der Brust, sich selbst inspizierend) Det is n sehr scheenes . . . (zu Url rüber, der angewidert noch in der Tür steht).
Hollrieder: (abgewandt; durchs Fenster starrend; unwirsch, aber ohne Härte) Mach, daß du jetzt endlich rauskommst.
Musmann: (einen Augenblick unschlüssig; dann zu Url; dir Tür passierend) Na, warten Sie! (ab).
Url: (der die Tür hinter ihm geschlossen, näher getreten; und Hollrieder; nach der Tür zurück) Und diesen Halunken . . .
Musmann: (den Kopf nochmal durch den Türspalt, nachdem er die Tür nochmals leise geöffnet; zu Hollrieder rüber, der sich unwillkürlich etwas zurückdreht) Aber du! Das Bild, an dem ich jetzt male . . .
Url: (an seinem Platz wie festgewurzelt; empört zu Hollrieder; wie nicht begreifend, daß Musmann sich eine derartige Frechheit herausnehmen darf).
Musmann: (nach den Bilder hin) Das ist nicht mehr so n Abklatsch!
Url: (auf ihn zu) Alle Wetter!
Musmann: (noch schnell, bevor er die Tür zuzieht) Da wirste was erleben! (ab).
Url: (im Vordergrund rechts) »Pathologisch«! Damit läßt sich alles zudecken. (langsam etwas nach Hollrieder hin) Du mußt in eurer ersten Zeit von einer Blindheit gewesen sein . . .
Hollrieder: Laß. (nach einer kleinen Pause; wieder am Tisch, wo er von neuem seine Zigarre ansteckt) Du bliebst lange.
Url: (auf dem Weg zu ihm stehngeblieben; scheinbar gleichmütig; ihn aber dabei heimlich beobachtend) Es schien dir wohl nur so.
Hollrieder: (der kaum einige Züge aus der Zigarre getan, sie wieder hinwerfend und nach den Vasen links) Weißt du, an wen mich die Person im ersten Augenblick erinnert hat? . . .
Url: (da Hollrieder nicht gleich fortfährt; gespannt) Du willst es mir nicht sagen?
Hollrieder: (vor den Vasen einen Moment stehngeblieben, dann wieder weiter) Eh! Is ja gleichgültig . . . Is ja auch gleichgültig!
Url: (unruhig; ihm nach bis an den Sessel rechts) Hast du zu ihr . . . darüber gesprochen?
Hollrieder: (verbissen; halb zurückgedreht) Zu der neugierigen Pute? . . . (noch mehr nach dem Vordergrund) Es gibt wichtigere Dinge, die mich im Moment beschäftigen! . . . Nischt mehr hören, nischt mehr sehn! Einsame Insel und n paar Meter hoch Stacheldraht drum rum! . . .
Url: (auf ihn zu und ihm die Rechte auf die linke Schulter legend; veränderter Tonfall) Du wirst jetzt . . . deine Malschule aufgeben.
Hollrieder: (halb zurückgewandt; rauh) Fängst du jetzt auch an?
Url: Du darfst für die nächste Ausstellung nicht ohne ein neues Bild sein. Du kannst dich nur dann durchsetzen . . .
Hollrieder: (seine Hand abschüttelnd und nach rechts) Wer will sich denn durchsetzen?
Url: (ihm nachblickend) Nach deinen . . . Mißerfolgen . . . Übrigens »Mißerfolge«! Als ob du schon je welche gehabt hättest! . . . Über dein Können sind sich die Leute einig! Wenigstens die, an deren Urteil dir einzig und allein was liegen darf! Weil sie selbst was können. Also darüber . . . (Geste, daß er sich nach der Richtung nicht zu beklagen braucht) Jedenfalls nach deinen, sagen wir also rein äußeren Mißerfolgen ist deine Stimmung ja begreiflich.
Hollrieder: (der unterdessen im Bogen an der Chaiselongue vorbei wieder die Mitte der Bühne erreicht hat; stehngeblieben; ausbrechend) Stimmung? Was nun schon länger, als ein ausgeschlagenes Jahr bei mir anhält? Was an mir rumfrißt? Seit du mit deinem verklausulierten Enthusiasmus über den Schund den Stein damals ins Rollen gebracht hast? Was mich zum Kretin gemacht hat? Was ich seit Monaten keinen Pinsel mehr in die Hand nehmen läßt? (nach den Bildern hin) An den . . . Stumpfsinn hab ich geglaubt! An den . . . Dreck hab ich mein Leben gesetzt! Wenn andre ihr Theater flunkerten, hab ich hinter einem alten Bauzaun gehockt und mich abgemartert, ein idiotisches Stück Vieh zu klecksen, das in widerlichem Kehricht nach Lumpen harkt! Wenn andre ihre »Seligen Inseln« schmierten, war ich so hirnverbrannt, mich in irgend so n Proletenwinkel zu verkrallen, vor dem mir jetzt die Haut schaudert! . . . Natur!! Das eine packts nicht und das andre nicht! Das eine schießt rechts vorbei und das andre links! Wir sind alle Schwindler! Alle!! . . . Gibt mir einen Grund, auf dem ich wieder stehn kann, eine Idee, an die ich wieder »glauben« darf, ein einzjes, das alles umfaßt, die ganze Skala, und . . . (erschöpft; auf den Sessel rechts zu, den er packt und an dem er sich hält) ich würde es . . . nochmal . . . versuchen.
Url: (auf den Tisch zu, auf den er die Hand legt; nach einer kleinen Pause) Du wirst diese . . . Synthese finden! Dir wird diese Idee . . . aufgehn!
Hollrieder: (sich in den Sessel werfend) Aus meinem Hirn . . . wächst nichts mehr! Ein Kaputter mehr in einer Kunst, die vielleicht längst schon . . .
Url: (hinter den Sessel links getreten) Zum alten Eisen gehört! Weil »der erste beste Grasfleck« et cetera! Deine neuste Verzweiflungstheorie! Mit solchen Anforderungen, wie du sie stellst, hättest du dich überhaupt nie . . .
Hollrieder: Hättest!
Url: Also hörst du? Ich bestehe darauf! (nach seinen Vasen zurück) Ich brauch den Krempel nicht! Ich möchte wissen, was ich noch damit anfangen soll? Du mußt jetzt deine ganze Zeit haben! Und du wirst sie haben! Ich bleibe bei dir nicht einen Tag mehr, wenn du noch länger gegen dich in dieser Weise bis zur Selbstzerstörung wütest!
Hollrieder: (aufgestanden; sich unwillkürlich reckend) Zehn Jahre! . . . Gearbeitet wie ein Sträfling, Qualen ausgestanden wie ein Verdammter, und das . . . der Schluß! . . . (wieder Mitte der Bühne) Kunst! Greifen, was sich nicht greifen läßt, einem Phantom nachjagen, das unerreichbar ist, auf einer Nadelspitze tanzen, auf der noch nicht mal Raum für den zehntausendsten Teil eines Stäubchens ist! (fast hysterisch; schon halb schluchzend) Auf solche . . . Idiotie zu verfallen! . . . (sich wieder zusammenraffend; verbissen) »Kunst«!! (kurzes, einmaliges Auflachen) . . . Und unterdessen (höhnisch) leben andre das Leben!! . . .
Url: (bitter vor sich hin) »Leben!« Wie mans auch lebt . . .
Hollrieder: (scharf nach ihm hin) Wie es der alte Lipsius gelebt hat! (Url: aufblickend) Der hats gelebt! Gründlichst! Der hat sich vor nichts geekelt! . . . Trotz seiner bereits Sechs- oder Siebenundfünfzig! Der ist noch heute jünger, als wir beide zusammengenommen!
Url: (durch seine Stimme, wider Willen, zittert Ekel) Du würdest ein solches Leben . . . (den Sessel lassend und nach dem Vordergrund links zu)
Hollrieder: (wieder im Bogen an der Chaiselongue vorbei nach dem Vordergrund rechts) Weil ich zu dumm bin! Verpfuscht schon vor allem Anfang und noch mehr durch diese blödsinnigen . . . (in ohnmächtiger Wut zu seinen Bildern hoch; dann halb nach der Tür rechts) durch die ich auch andre noch verpfuscht habe! . . . (wieder zu Url; stehngeblieben; von neuem; mit noch immer ich steigernder Heftigkeit) Und so ein Dummkopf . . . siehst du?! (das Wort nochmal und allerheftigst) so ein Dummkopf . . . bist du auch! (noch weiter in den Vordergrund rechts) Alles hättest du haben können! Alles! Und was hast du gehabt? Wie hast du dir die schönsten Jahre verfumfeit? . . . (auf ihn zu) Zwischen deinen Mappen hast du gehockt, in deine Bücher hast du dich gewühlt, in nichts wie in deinen ganzen, alten, albernen, übergefahrnen, schnurrpfeiferischen Krimskrams warst du verdöst! Nichts, nichts, nichts, was nicht ödester, blödester, hirnverbranntester, hirnverbrühtester, hirnverrammeltster Selbstbetrug war! Und jetzt? Jetzt bist du fertig! Fertig wie ich! Jetzt darfst du dort . . . Stallknecht werden, wo wahrscheinlich andre . . . im Sattel sitzen! Gratuliere!!
Url: (im Vordergrund links; einen Schritt vor ihm zurück) Was habt ihr . . . gehabt? Sie war außer sich! Sie will ihren Fuß nicht mehr über diese Schwelle setzen!
Hollrieder: (sich umdrehend und wieder nach rechts) Freut mich! Dann probt ihr in Zukunft eben anderswo! Sehr einfach!
Url: (erst in diesem Augenblick mit sich zum Entschluß gekommen) Ich werde die Stellung . . . jetzt annehmen.
Hollrieder: (ihm rechts gegenüber) Nimm sie und werde aus einem anständigen Kerl ein Pudel, der ihr die Schleppe nachträgt!
Url: Du hast mir doch selbst . . .?
Hollrieder: (nach der Chaiselongue zu) Vor einer Viertelstunde! . . . Jetzt kenne ich sie und weiß (mit letztem Grimm) was den, der ihr unter den Frachtwagen gerät, mit tödlichster Sicherheit erwartet. (nach ihm zurück) Ein Probestück, dem du, lieber Sohn, nicht gewachsen bist!
Url: (unruhig; wieder auf den Tisch zu; nach ihm hin) Sie scheint ja einen . . . merkwürdigen Eindruck auf dich gemacht zu haben.
Hollrieder: (vor der Chaiselongue stehngeblieben; zu ihm rüber; grimmiger Hohn) Während sie dich ja . . . ganz kalt gelassen hat.
Url: (noch unruhiger; stockend; Hollrieder immer dabei beobachtend) Das . . . habe ich . . . nie gesagt!
Hollrieder: (seiner Eifersucht einen Moment wider Willen die Zügel lassend) Na also!
Url: (die eine Hand vor der Brust; eindringlich) Ich gebe dir mein Wort! Was mich an sie fesselt, hat mit dem, was du mir jetzt unterschiebst, nichts mehr gemein! (seinem verwunderten Blick voll begegnend) Nicht das Geringste mehr!
Hollrieder: (sich kurz von ihm wegdrehend; brüsk; nach dem Vordergrund rechts) Das glaub dir einer! . . . (höhnisch nach ihm zurück) Seit fünf Minuten! Nicht wahr? Läufst ja schon diese ganzen Wochen wie so n Hypnotisierter rum!
Url: (durch seine Leidenschaft fast verletzt) Wenn du meinst, daß ich dich in diesem Augenblick belüge . . .
Hollrieder: (gar nicht mehr auf ihn achtend, im Vordergrund auf und ab) Kommt einem mal wirklich was in die Quere, wo man fast ahnt, was einem das Dasein (wieder mit einem Blick über seine Bilder) statt dieses vertrottelnden Hinvegetierens alles zu bieten hätte, und man benimmt sich, wie n . . . (abbrechend) Wir sind schon n Paar stupide Burschen, alle beide! (Url: wortlos von ihm abgewandt) . . . Jawohl. Du wirst sie nicht kriegen, und ich werde sie nicht kriegen! Du, weil man dir alles verbuttert hat, und ich, weil ich der kompletteste Idiot bin. Also in die Perücken brauchen wir uns deshalb nicht zu geraten. Gott sei Dank nicht! . . . (da Url noch immer schweigt) Du! . . . (ihn an die Schulter packend) Url! . . . Mensch! . . . Sei doch vernünftig! . . . (durch die Zähne) Wegen solchem . . . (das Wort nicht aussprechend).
Url: (unter seiner Brutalität zusammengezuckt; einen Schritt zurück; ihm gegenüber) Wenn ich nicht . . . genau wüßte . . . daß du an deine . . . Maßlosigkeiten selbst nie glaubst . . .
Hollrieder: (wieder von ihm weg; ohne ihn dabei anzusehn; nach links hin) Na, was is denn so n Weib? Gib ihr (rapid) zehn-, zwanzig-, dreißig-, vierzig-, meinetwegen fünfzigtausend Mark, und du hast se!
Url: (der ihm ernst nachgeblickt, langsam auf die Chaiselongue zu) Ich wünschte nur, daß du dich damit nicht täuschtest zu deinem Unglück!
Hollrieder: (wieder vor dem Kalender) Elfter Januar! (mit beiden Unterarmen und den ohnmächtig geballten Fäusten gegen die Wand schlagend) Elfter Januar!! . . . Als ob sich alles gegen einen verschworen hätte! . . . (wieder auf den Tisch zu) So ein Pech! Mußtest du ihr auch grade in den Weg rennen! Als ob es ausgerechnet nur die eine Straße gäbe! . . . Was war denn das überhaupt für n . . . (stehngeblieben; sich räuspernd-würgend, dann mit doppelter Wut das ihm infame Wort aus sich stoßend) Stiesel? . . . Alt oder jung? Schon n Tattrich, oder . . . (sich plötzlich selbst unterbrechend. Im letzten Drittel der Bühne nach dem Fenster hin, durch das über den inzwischen immer blauer gewordenen Schneedächern jetzt ein tiefroter Sonnenuntergang brennt; die Arme etwas seitlich nach hinten ausgestreckt, beide Fäuste geballt; in die Dachlandschaft vor sich wie gebannt starrend) Herr Gott . . . die . . . Sonne!! . . .
Url: (der auf der Chaiselongue sitzt; auf der selben Stelle wie am Anfang; einen Moment nach dem Fenster zurückgedreht; langsam fragend-schmerzlich; Hollrieders letztes Wort wie mechanisch zweimal wiederholend) »Sonne«? . . . »Sonne«?? . . . (die Ellbogen auf den Knieen, den Kopf in beiden Händen; aus seiner Stimmung dunkeldüster vor sich hin) Finsternis!
Hollrieder: (noch in der selben Stellung; wie visionär-entrückt; Urls letztes Wort automatisch-echoartig aufgreifend) »Finsternis!« . . . (plötzlich, wie elektrisiert, zu Url rüber) Du!! . . . (Url, von dem seltsam elementaren Ton, mit dem Hollrieder diese eine Silbe ausgerufen, aus seinem Brüten aufgeschreckt; Hollrieder, wieder nach dem Fenster blickend, noch wuchtiger) Ich habs! . . . (wieder zu Url rüber, der unwillkürlich erwartungsvoll aufgestanden) Eben! . . . Diese Sekunde! . . . (wieder nach dem Fenster hin; mit dem Finger deutend; fast keuchend; zwischendurch immer wieder nach Url zurückblickend) Sieh! . . . Sieh!! . . . Das ist noch nichts! . . . Das ist noch gar nichts!! . . . Vor fünfzehn Jahren! . . . Jene . . . große Sonnenfinsternis!! . . . (nach Url zurückgedreht; mit halb erhobenen Händen, wie an einer Vision formend) Berlin an jenem unvergeßlichen Augustmorgen! . . . Hunderttausend, die früh auf den Kreuzberg gezogen waren . . . aus allen Ständen, in allen Gruppen . . . Menschen, Tiere . . . der Himmel in hundert Farben, rund der qualmende Riesenhorizont . . . das ganze Tempelhofer Feld, unabsehbar, eine wimmelnde Masse . . . Erwartung . . . aufschauernde Kühle, und dann, langsam . . . das Grauen! Hier noch ein grelles Stück Sonnenlicht, leuchtendste Wipfel, Turmspitzen, die Gesichter lachend, fröhlich, dort schon die Dämmrung; die Tiere unruhig, die Menschen grünbleich, schwirrende Dunkelheit, Entsetzen! . . . In diesem Moment stak alles! Alles!! Die ganze Skala!
Url: (der ihm mit steigender Ergriffenheit zugehört; unfähig sich von seinem Platz zu rühren; unwillkürlich) Ja! Ja!!
Hollrieder: (wie plötzlich über sich selbst gewachsen; noch immer sich steigernd) Lichtwirkungen, Lichtausschüttungen, Lichtoffenbarungen, daß einem vor Staunen und Grausen kaum noch . . . das Herz schlug . . . Mienen, Gebärden, Gesten, Bewegungen . . . Szenen, die sich in die Seele . . . wie Senkblei gruben . . . eine Idee, eine Zusammenballung . . . eine Synthese, die Augen wie Hirn . . . mit gleichem Zauber, mit gleichem Entzücken . . . mit gleichem Schauer füllte . . . die ein alles umfassendes, alles umreißendes, alles umgreifendes . . . Symbol, war . . . und die dich . . . mit ihrer zermalmenden Größe, ihrer schillernden Vielfalt . . . ihrer unausschöpfbaren Tiefe . . . bis in den letzten Nerv traf. Da gab es nicht einen, nicht einen . . . keinen . . . der nicht zitternd davon . . . gepackt war! . . . Das . . . mal ich! . . . (auf den Sessel zu, die Worte kaum noch aus sich rausbekommend) Sollte ich . . . noch ein mal . . . (vor dem Tisch schluchzend zusammenbrechend) . . .
Url: (erschüttert auf ihn zugegangen; ihm die Schulter streichelnd) Lieber . . . lieber . . . lieber Kerl! . . . (neben ihm; fest; aufgerichtet) Es . . . wird dir . . . gelingen!
(Vorhang)