Arno Holz
Ignorabimus
Arno Holz

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Georg: (nach einer kurzen Pause, in die erneut ein Auto tönt, quer über den Vordergrund, bis an Uexküll, wieder auf und ab; vollständig veränderte, beherrscht-ruhigere, fast wie dozierende Tonart; der Vogellärm hat inzwischen ganz aufgehört) Ich gebe absolut zu, daß es von mir vollkommen verfehlt war, dich heute mit aller Gewalt zu dieser von vorneherein dumm und unsinnig extemporierten Sitzung zu drängen! Ich begreife durchaus, daß es nach allen Dingen, die hinter uns lagen, dein brennender Wunsch hatte sein müssen, mir grade mit diesem letzten Schlußspurt einen wenigstens nach außen hin kompletten Sieg zu verschaffen! Ja, ich verstünde es sogar, und könnte es, nach einem eventuell offnen Geständnis von dir, gradezu fast entschuldbar finden, wenn du bei dieser ganzen Vermummerei . . . um mir über einen gewissen, mich sehr berührenden Punkt, (mit einem schnellen, unwillkürlich wieder mißtrauisch-forschenden Blick dabei Uexküll streifend) auf den ich noch deutlicher hier nicht anspielen und zurückkommen möchte, endlich hinwegzuhelfen . . . unter irgendeinem plötzlich aus dir aufgetauchten, für dich übermächtigen, sagen wir »seelischen Zwang« gehandelt hättest! (seine Stimme wieder hebend) Aber einen schlechteren Dienst, einen böseren, übleren Beweis deiner »kameradschaftlichen« Freundschaft und Zuneigung zu mir, eine vernichtendere Niederlage vor mir selbst, dessen darfst du nun schon mal versichert sein, hättest du mir nicht antun, verschaffen und zufügen können!

Marianne: (noch ganz betäubt-hilflos, sich zu verteidigen suchend) Ich . . . habe diesen Schleier . . . Ich kann mich nicht entsinnen . . .

Dufroy: (noch immer neben ihr; ihrer Behauptung nichts weniger als gläubig gegenüberstehend; fast wie ihr »gut zuredend«) Es ist der Hochzeitsschleier deiner Mutter!

Onkel Ludwig: (ähnlich; mit einem sie beschuldigenden, milden Vorwurf nicht zurückhaltend) Du mußt doch wissen . . .

Georg: (in der Mitte vorn, ihr direkt gegenüber, wieder stehngeblieben; mit aller Energie sie jetzt zu einem »Geständnis« zu drängen versuchend) Wenn man eine Tat, für die es an und für sich, von Rechts wegen und genau genommen, eigentlich eine Entschuldigung überhaupt nicht gibt, aus irgendeinem plötzlichen Impuls oder Beweggrund, über den man, außer sich, keinen andern zum Richter setzen will, tut oder getan hat, so sollte man anständigerweise mindestens hinterdrein auch den Mut haben . . .

Marianne: (sich aufraffend, mit letzter, äußerster Bestimmtheit) Ich habe diesen Schleier . . . noch nie in meinem Leben . . . gesehn!!

Georg: (mit einem höhnisch-wütenden, verächtlichen, halb Zisch-, halb Nasallaut seinen Gang wieder aufnehmend) Thä . . .!

Dufroy: (verwarnend-»väterlich« auf sie einredend; dabei wieder auf seinen Platz zurück) Es ist doch im höchsten Grade unwahrscheinlich . . . (abbrechend und, während er sich in seinen Sessel niederläßt, sofort von neuem) Ich erinnre mich mit aller positiven Gewißheit, daß dieses alte Andenken, nebst einer ganzen Reihe noch andrer, und zwar in meiner Gegenwart, von Großmutter deiner Schwester geschenkt wurde, als diese mit ihrem ersten Kinde (Kopfbewegung nach dem Garten rechts) zum erstenmal drüben bei uns war! Du mußt ihn also unter der von dir geordneten Hinterlassenschaft Mariettes unbedingt . . .

Marianne: (die sich inzwischen endlich etwas gefaßt hat; ruhig und mit gutem Gewissen sich verteidigend) Die Erinnrungen an Mutter lagen alle in ein und derselben Kommodenschublade, ich habe diese, einen Tag nach der Beerdigung Mariettes, flüchtig geöffnet, die einzelnen Stücke gar nicht einmal durchgesehn und seitdem nie wieder an den Sachen gerührt!

Georg: (der kaum »seinen Ohren getraut«; links vorn wieder stehngeblieben; noch ganz »starr«) Das . . . wagst du mir hier vor allen . . . in diesem Augenblick . . .

Marianne: (die ihn von sich aus ebensowenig versteht; Geste mit beiden ausgestreckten Armen; ihre Aussage bekräftigend) Da es doch der absoluten . . . Wahrheit entspricht?

Dufroy: (sich ins Mittel legend; stockend; Georg zu beruhigen versuchend, so wenig er auch, zu seinem Schmerz, seiner Tochter in diesem Moment glaubt) Wenn Marianne dir das . . . mit einer derartig präzisen Bestimmtheit . . .

Onkel Ludwig: (ebenfalls zu Georg; ähnlich) Du kannst ihr doch nicht beweisen . . .

Georg: (erregt fuchtelnde Geste mit der Rechten; seinen Gang jäh wieder aufnehmend; wieder Vogellärm, wenn auch nicht mehr so stark, wie oft vorhin) Also! . . . (bis zur Mitte der Bühne gelangt, wo er, mit derselben Geste, ebenso jäh wieder umkehrt) Und nun, bitte, knöpft die Ohren auf! . . . (von neuem im Vordergrund links; immer mit den entsprechenden, lebhaftesten Gesten) Ich war eben vorhin oben, fand die betreffende »Kommodenschublade« weit auf, verschiednes noch aus ihr raushängend und rund vor ihr verstreut, und in ihr, wie aus einer jähen Eingebung, oder einem fliegenden Entschluß, mit eiligen Händen das Oberste zu unterst gewühlt! (sich, womöglich noch empörter, wieder in Bewegung setzend) Genügts?

Marianne: (die ihm mit ganz entsetzt aufgerissenen Augen zugehört; flammend und dabei doch mit einem bereits leis irritiert-hilflos-unsichern Unterton) Das ist nicht . . . wahr! Das ist . . .

Georg: (vorn rechts, wie angewurzelt, wieder stehngeblieben; heftigst ausgestreckte Rechte nach der großen Flügeltür) Soll etwa jetzt Herr Baron und dein Vater . . .

Marianne: (gegen seine furchtbare Anklage, die sie fast zerschmettert, sich verzweifelt zur Wehr setzend) Wenn das . . . der Fall ist . . . wenn du mein Zimmer wirklich in dieser mir ganz unerklärlichen Unordnung gefunden hast . . . so muß ich in einem Moment . . . an den ich auch nicht die minimalste Erinnrung mehr in mir verspüre . . .

Georg: (kalt-verächtlich wieder auf und ab; mit ihr jetzt kein Erbarmen mehr kennend) Nicht recht glaubhaft und wahrscheinlich! (entsprechende Kopfbewegung nach rechts zurück) Als du vorhin drüben in den Saal tratst, wo wir bereits eine geraume Zeit auf dich gewartet hatten, warst du allem An- und Augenschein nach . . . (mit betreffendem »Blick« nach ihr) ich beobachtete dich ziemlich aufmerksam . . . vollkommen gelassen und gefaßt! Man merkte von einer innerlichen Unruhe und Aufregung, oder gar den Resten irgendeiner geistigen Minderverfassung bei dir auch nicht das Geringste! Du kannst also dieses dir angeblich bis zu dieser Stunde gänzlich unbekannt gebliebne, (instinktiv-sarkastisch halb nach Uexküll rüber) ehemalige Hochzeitsrequisit, auf dessen faszinierende Wirkung du bei uns traurigen Böotiern so fest und so sicher bautest, daß du die Eventualität einer möglichen Wiedererkennung deines schimmernden Talismans durch einen von uns nicht einmal in Rechnung stelltest, du kannst deine auf diese Weise sozusagen mißglückte Wundertarnkappe also nur bei vollem, klarem, ungestörtem Bewußtsein an dich gebracht haben und bist dann mit ihr, ebenso wie mit dem Kettchen . . .

Marianne: (die sofort, von einem unbestimmten Grauen gepackt, und fast schon erratend, um welches »Kettchen« es sich hier nur handeln kann, aufgehorcht; sich, ganz entsetzt, wieder bei allen umblickend) Mit welchem . . . Kettchen?!

Georg: (ihr ihre Frage, ohne sich in seinem Gang dabei aufhalten zu lassen, verächtlichst beantwortend und ihr sofort daraus einen neuen Strick drehend) Mit dem kleinen, goldnen Kettchen aus deiner ersten jungen Mädchenzeit, das du gleichfalls zu dir gesteckt hattest, in der Absicht, uns hier unten als deine wiederauferstandne und auf einmal wiedergekehrte Schwester Mariette . . .

Marianne: (wie vorhin; mit wachsendem Grauen) »Mariette«?!

Georg: (in seiner vernichtenden Aufrollung, ihre Frage ignorierend, weiter) Eine mitleidig-rührselige und, wie ich jetzt eigentlich fast zugeben muß, gar nicht einmal so unrationell gedachte Beruhigungs-, Begütigungs- und Vertuschungsszene vorzuspielen! Eine Absicht, die dir dann aber durch den natürlichen Trance, der plötzlich dazwischengetreten war und alles Geplante und in der Hast eiligst Vorbereitete in sein diametralstes Gegenteil verkehrte, und zwar gründlichst vorbeigelang! So daß grade dieses Kettchen, das du mit einmal zum Schluß um den linken Arm trugst . . .

Marianne: (wieder wie vorhin; nur noch gesteigerter; den Arm unwillkürlich dabei hochhebend und ihn entsetzt anstarrend) Um den . . . linken . . .?

Georg: (ihre Anfrage ihr höhnisch bestätigend, mit noch gesteigertem Ingrimm) Um den linken Arm trugst, der letzte, entscheidende Anlaß wurde, als wir der ganzen Maskerade müde . . .

Marianne: (in fast gelähmtem Entsetzen von neuem ihn unterbrechend) »Der . . . ganzen . . . Maskerade . . .«?!

Georg: (vorn links wieder stehngeblieben; ihr ins Gesicht) Oder willst du etwa gar zum Überfluß noch leugnen, daß selbstverständlich ebenso auch das weiße Gewand, (mit den entsprechenden Armbewegungen) das drüben blieb, (Blick nach Uexküll) als man dich hier herübertrug . . .

Marianne: (die ihn sofort begriffen, ebenfalls Blick zu Uexküll rüber; fast aufgestanden) Wer?! . . . Wer hat mich hier herübergetragen?

Georg: (einen Moment, unwillkürlich, noch stockend, dann brutalst und sich sofort darauf wieder in Bewegung setzend) Ich nicht! (Auto).

Uexküll: (der sich verpflichtet fühlt, jetzt einzugreifen; mit dem Versuch, Marianne, die ihn wieder und zwar diesmal gradezu wie geistesabwesend anstarrt, zu beruhigen) Gnädigstes Fräulein . . . sollten sich wenigstens im Moment noch . . . über all diese Dinge . . .

Dufroy: (der sehr wohl bemerkt hatte, wie sie unter den letzten Worten Georgs zusammengezuckt war; nachdem er Uexküll einen wie etwas erstaunt-mißbilligenden Blick zugeworfen; fast nervös-unwillig) Das kann dir doch schließlich . . .

Marianne: (hochaufgerichtet; ausbrechend; zu allen) Ich will . . . die Wahrheit wissen! Ich will endlich die Wahrheit wissen! Die volle, rückhaltlose Wahrheit, was mit mir in dieser Sitzung . . .

Georg: (vorn links einen kurzen Moment wieder stehngeblieben und allerelementarst nach ihr zurück) Die . . . »Wahrheit« . . . daß du uns diesmal . . .

Dufroy: (schnell aufgestanden und nun ebenfalls allerstärkst) Ich verbiete dir mit meiner ganzen Autorität . . .

Onkel Ludwig: (den Kopf in beide Hände gestützt, ohnmächtigst-verzweifelt) Ist das ein . . . Tag! . . . Ist das ein . . . Tag!

Marianne: (während Dufroy, zornigst, sich inzwischen wieder gesetzt und Georg, von seiner inneren Empörung, die er nicht vollst aus sich herausschleudern durfte, überwältigt, den rechten Ellenbogen gegen die Tür links gepreßt, den Kopf in die Hand, die Linke geballt, nun in ohnmächtiger Wut keuchend nach Luft ringt; sich, mit aller Gewalt aufgerafft, stolz-entrüstet verteidigend) Den Schleier, den ich auf so niedrige, häßliche Art und Weise zu so nichtswürdigen Zwecken aus seinem Verwahrnis entwendet haben soll, kenne ich nicht, das kleine, goldne Kettchen, das ich schon seit acht Jahren nicht mehr aus seinem blauen Etui genommen, muß sich meines Wissens mit aller Bestimmtheit in Mariettes Schreibtisch, in irgendeinem Kästchen, oder sonstwo, jedenfalls aber oben in einem meiner beiden Zimmer befinden, und das . . . (stockend) Gewand . . . das weiße Gewand . . .

Georg: (jähst wieder nach ihr zurückgedreht und, selbst jetzt sich noch steigernd, mit den entsprechenden, erregtesten Gesten) Wünschest du und bestehst du darauf, daß ich dir beides, drüben aus dem Saal, den ich selbst hinter mir verschlossen habe, sofort hier vor allen zur Stelle schaffe?

Marianne: (von seiner bebenden Entrüstung fast wie physisch in ihren Sessel wieder zurückgeschleudert; trotzdem mit letzter, verzweifeltster Bestimmtheit) Das . . . wird dir nicht möglich sein! Das . . .

Georg: (schon auf dem Weg nach rechts) Du sollst nach drei Minuten . . .

Dufroy: (aufhaltende, abwehrende Geste zu Georg rüber) Wir waren alle Zeugen! Es ist jetzt wahrhaftig nicht noch nötig . . .

Marianne: (wieder aufgerichtet, noch bestimmter) Trotzdem!

Onkel Ludwig: (ihr tollpatschigst zuredend, doch lieber »klein beizugeben«; Seitenbeschwerde) Auch der Redlichste kann mal . . .

Marianne: (nach wie vor zu Georg; mit letzter, bittrer Entschiedenheit) Du siehst, daß jetzt sogar auch Onkel Ludwig . . . (abbrechend und sofort weiter) Da ich in diesem Sinne gern und mit Freuden darauf verzichten möchte, zu den »Redlichsten« gezählt zu werden, muß ich dich noch mal und zwar herzlichst bitten . . .

Georg: (während alle ihm nachblicken, jetzt schon in der Tür) Wie du willst!

Marianne: (nachdem Georg, der in der Eile die Tür hinter sich nicht fest geschlossen, verschwunden; ganz erstaunt-irritiert zu Onkel Ludwig; am Himmel bereits die ersten, schwachroten Wolken; der Vogellärm völlig verstummt) Ich denke . . . das weiße Gewand . . . hatte sich doch bisher noch immer . . .

Onkel Ludwig: (widerstrebend-bedenklich; Hand an der Hüfte) Das ist ja wahr! Aber . . . (abbrechend, da in diesem Augenblick deutlich zu hören ist, wie Georg die Tür des Musiksaals erst aufschließt und dann sofort heftig aufklinkt).

Dufroy: (zu Marianne; ihr nun absolut keine Hoffnung mehr lassend) Er wird es dir gleich bringen, und du wirst sehn . . .

Uexküll: (ausholend und nach Worten suchend) Es wäre vielleicht allerdings immerhin . . . möglich, es . . . könnte sein . . . es käme mir jetzt eigentlich . . . gar nicht mehr . . . so außer aller Welt . . . und Wahrscheinlichkeit vor . . .

Dufroy: (nervös-ungeduldig, fast scharf; ihn wie gar nicht verstehend) Ja was denn?

Uexküll: (behutsam weiter) Daß dies seltsame Gewand . . .

Dufroy: (abweisend-sarkastisch) Aber mein Hochzuverehrendster!

Onkel Ludwig: (empört-ähnlich) Sie werden uns hier doch nicht ernsthaft . . .

Dufroy: (noch gesteigerter) Eine solche Abstrusheit! Ich bitte Sie!

Uexküll: (unbeirrt; mit entsprechender Kopfbewegung) Nach dem, was wir drüben . . . vor knapp einer Stunde . . . doch alle . . . kaum eben erst erlebt haben . . . sehe ich aufrichtig und ehrlich keinen Grund . . .

Onkel Ludwig: (unterstrichen-betont; dabei mit einem halben Blick Marianne streifend, die jetzt Uexküll, immer erstaunter, anstarrt) »Aufrichtig«? . . . Und »ehrlich«?

Uexküll: (der seinen »Hieb« sehr wohl verspürt hat; mit wachsender Sicherheit und Bestimmtheit) Aufrichtig und ehrlich, warum dieses sonderbare, weiße Gewand nicht auch heute wieder . . .

Onkel Ludwig: (entrüstet; jetzt auf Marianne nicht die geringste Rücksicht mehr nehmend; entsprechende Geste nach der Decke hoch) Bei dem . . . brenzlichen Befund? . . . Bei der offnen, geplünderten Kommodenschublade da oben?

Dufroy: (in seinem Mißtrauen gegen Uexküll durch dies kleine Intermezzo noch verstärkt; jetzt nun schon beinah gradezu grob) Von der und überhaupt jedem akzessorischen Indizium radikal abgesehn! Eine absolute, totale, pure Unmöglichst in sich diskutiert man nicht erst! Die ganze, plötzliche Stellungnahme von Herrn Baron ist mir komplett unverständlich!

Uexküll: (höflich-korrekt) Bei allem Exzellenz gebührendem Respekt, aber ich habe . . . fast bereits die innere Gewißheit . . .

Marianne: (der nur mühsam die Worte kommen) Sie? . . . Sie sind jetzt auf einmal . . . der einzige, der hier . . .

Uexküll: (sich verbeugend) Mein . . . Allergnädigstes?

Marianne: (noch gesteigert) Sie? . . . Der Sie doch . . . ? (Pferdegetrappel).

Uexküll: (beglückt, ihr jetzt endlich seine »Erklärung« machen zu dürfen) Hätten mich nicht vorhin, nach meiner anfänglichen, unfairen, Sie persönlich verdächtigenden, häßlichen Bezweiflung, für die ich jetzt kaum noch um Entschuldigung zu bitten wage, schon die Phänomene selbst eines andern und Bessern überführt, jedes Wort, das Sie eben sprachen, jede Bewegung, jeder Blick hätten mich so umstimmen müssen, daß ich nun bereits längst . . .

Marianne: (ausbrechend, schmerzlichst; zu ihrem Vater und Onkel Ludwig; zuletzt wieder nach Uexküll) So . . . spricht ein Fremder . . . ein Wildfremder, der noch dazu . . .

Dufroy: (allerpeinlichst dadurch berührt) Beruhige dich!

Marianne: (fast bereits tränenerstickt) Und ihr . . .

Onkel Ludwig: (unbehaglich-unruhigst in seinem Sessel hin und her; sich verteidigende Geste; Seitenbeschwerde) Es ist uns doch wirklich nicht . . .

Marianne: (außer sich; wie hysterisch) Ihr, die ihr mich kennen solltet, ihr . . . (von draußen rechts, heftigst, wieder die Tür) die ihr mir oft gesagt habt, daß ihr mich liebt, (beide Arme über den Tisch, den Kopf in sie vergrabend, konvulsivisch schluchzend und wie aufgelöst) ihr . . . ihr . . . ihr . . .

Georg: (noch draußen; in höchster Erregung) Die weiße Kleidung (eingetreten und mit seinem Blick alles überfliegend; stärkst) ist nicht mehr da!

Onkel Ludwig: (zurückgeprallt) Ist nicht mehr . . . ?

Uexküll: (fast gleichzeitig; mit unverhohlnem Triumph) Wie ich . . .

Dufroy: (der sich sofort, unwillkürlich, erhoben; nach Georg zurück; fast ebenso gleichzeitig und beinahe noch konsternierter als Onkel Ludwig) Un-faßbar!

Georg: (heftig über die Bühne quervorn bis nach links und bei seinen letzten Worten nach allen wieder zurückgedreht; schnellste, sich fast überstürzende Steigrung) Ich habe den ganzen Raum gradezu beinah um und umgedreht! Nicht die geringste Spur!

Onkel Ludwig: (beklommen-unsicher zu Marianne, die sich in ihrem Sessel wieder aufgerichtet hat) Sollten wir dir doch . . . ?

Georg: (zu Dufroy; rapides Tempo; erregteste, lebhafteste Gesten) Du hattest als erster die Türen geöffnet, (zu Uexküll) Sie transportierten die Bewußtlose hierher herüber, ich hatte die nur wenigen Sekunden, die der Vorgang anfangs gedauert hatte, vergeblich nach dem auf einmal wie plötzlich verschwundnen Kettchen gesucht, (zu Onkel Ludwig; mit noch erhobnerer Stimme) bleibt also nur der eine Schluß . . .

Onkel Ludwig: (in seinem Sessel, empört, quer zurückgelehnt; beide Hände wieder unwillkürlich gegen seine Seitenbeschwerde) Was?! Ich?? Ich soll jetzt gar . . .

Georg: (sich wieder in Bewegung setzend; noch gesteigert) Jawohl! Nur du kannst dich an dem lachhaften Lumpen, um deine Schutzverbündete vor allen Weitrungen, die du sofort ahnend vorauswittertest . . .

Onkel Ludwig: (in Georgs Satz höhnisch weiter) Zu bewahren . . .

Georg: (heftigst) Vergriffen haben!

Onkel Ludwig: (erbittert; mit entsprechendem »Blick« nach Marianne rüber) Natürlich! (Hand wieder an der Hüfte) Ein Opferlamm . . .

Georg: (höhnisch; ohne ihn anzublicken) »Genügt« mir noch nicht! Selbstver ständlich! Jetzt kommst du auch noch an die Reihe! (in der Mitte der Bühne plötzlich jäh wieder nach ihm zurückgedreht) Wer hat den würgenden Plunder, als die halb Erstickte ohnmächtig nach Luft rang, ihr sofort, zu gleich mit mir ab- und runtergerissen und somit als einziger und allein in unsrer begreiflichen Verwirrung die bequeme Gelegenheit gehabt . . .

Onkel Ludwig: (ihn unterbrechend; zu allen übrigen; Ton ehrlichster, tiefster Entrüstung) Das hab ich jetzt nu davon, daß ich mit meinen alten, müden, zermürbten Knochen . . .

Georg: (nicht mehr ganz so sicher) Wenn du das alberne, jammerhafte, stupide Spitzenlaken nicht an dich genommen hast, wer . . .

Onkel Ludwig: (wie vorhin; nur ihm bereits überlegen; betreffende Geste) Ich möchte wirklich wissen, in welche große Westentasche . . .

Dufroy: (der sich inzwischen längst, nachdenklichst, wieder gesetzt; erst jetzt imstande, sich in die Debatte zu mischen; präzisierendste, sicherste Bestimmtheit) Ich verließ den Saal, nachdem ich die Tür vor euch geöffnet hatte, (zu Georg) erst hinter dir, (zu Onkel Ludwig) du hieltst den Schleier, als du an mir vorbei die Schwelle passiertest, anscheinend ahnungslos, daß du ihn überhaupt trugst, krampfhaft, fast zitternd, gegen die rechte Brust gepreßt, und ich sah deutlich, dicht vor dem Podium, (wieder zu Georg) bevor du das Licht ausdrehtest, (betreffende, illustrierende Geste) wie der weiße Placken . . .

Onkel Ludwig: (befriedigt-erbittert) Nu also! (zu Georg; seine ganze Malice jetzt in eine gepfefferte, knurrende »Ironie« tunkend) Wenn du ihn nicht vielleicht zum Schluß »aus Versehn« . . .

Georg: (der sich solange nicht von seinem Platz gerührt; mit von neuem gesammelter Energie; alle Akzente schärfst betont) Ich hatte den Schlüssel, den einzgen, der zu dieser Tür existiert, und den wir vorhin noch erst lange hatten suchen müssen, sofort, nachdem ich den Saal selbst verschlossen, abgezogen und zu mir gesteckt, keine Menschenseele hat den Raum nach mir noch betreten können, wo also, ich frage hier noch mal und alle, wo sollen diese mindestens fünf oder sechs Meter Mull, Tüll, Zwirngardine oder was es nun war, in der kurzen Zwischenzeit geblieben sein? Wollt ihr mir vielleicht darauf Rede und Antwort stehn?

Dufroy: (sehr kühl und ruhig; gegen den vor Aufregung jetzt gradezu Fiebernden, der ihn und die übrigen mit seinen Blicken »fast verschlingt«, unbedingt im Vorteil) Da du doch noch vor wenigen Stunden, als ich mir bescheiden erlaubte, dir auf deine rund tausend Folioseiten, mit einigen kleinen, schüchternen Fragezeichen zu kommen, der ganz naiven Überzeugung warst, daß die einzelnen, winzigen Stoffteilchen damals, die du in jene »ovale Kapsel« getan, sich mit der Zeit, wie dein schöner Originalausdruck lautete, »zersubstanziiert« hatten, warum . . . ich frage zurück . . . sollte jetzt nicht im Prinzip und . . . ebensogut . . .

Marianne: (die seiner geschickt-unangreifbaren, verblüffenden Kontroverse mit gespanntester Aufmerksamkeit gefolgt war; zu Georg; langsam) Das . . . meine ich doch . . . auch!

Onkel Ludwig: (ähnlich) Quod rectum partibus, aequim toti! Was den Teilen früher recht war, müßte doch jetzt schließlich dem Ganzen . . .

Uexküll: (in ihrem Bunde als Dritter) Nach allen Regeln menschlicher Logik . . . ?

Georg: (seinen Gang, wuterstickt, beide Fäuste geballt, wieder aufnehmend; kaum fähig, aus dem Chaos, das jetzt in ihm tobt, auch nur die ersten, kümmerlichsten Worte zu formen) So kann ein einziger, plumper Betrug genügen . . .

Marianne: (erregt, wie von seiner ungestümen Leidenschaft plötzlich psychisch angesteckt, in seinem Satz weiter) Oder wenigstens schon ein einziges, unglückliches, Zusammentreffen scheinbarer, zufälliger Verdachtsmomente, die, wie von einer schadenfroh boshaften, teuflischen Macht, Kraft, oder Gewalt heimtückisch inszeniert und herbeigeführt . . .

Onkel Ludwig: (ganz erschreckt-betroffen) Aber Kind!

Dufroy: (fast entsetzt-unwillig) Marianne!

Marianne: (jetzt wieder direkt gegen Georg gewandt und mit sich abermals steigernder Heftigkeit noch immer in ihrem selben Satz) Fast nach einem solchen Betrug aussehn . . . (Auto) um einen Menschen, der so hart und ungerecht denkt, wie du . . . der so grausam und herzlos ist . . . der mit sich und andern . . . und wenn sie auch noch so an ihm hängen, oder . . . gehangen haben, kein Mitleid kennt . . .

Dufroy: (der sich von seinem Sessel wieder erhoben; mit aller Energie; die letzten Worte halb nach Uexküll) Komm wieder zu dir! Nimm dich zusammen! Du darfst hier nicht in Gegenwart . . .

Marianne: (verzweifelt; sich kaum mehr kennend; auch jetzt sich noch steigernd) Wenn man mich, während ich ohnmächtig daliege und nichts von mir weiß, einem vollkommen Fremden überläßt, so kann jetzt auch dieser vollkommen Fremde . . .

Dufroy: (nun bereits neben ihr und wieder halb über sie gebeugt; noch eindringlich-stärker) Du darfst . . .

Georg: (der sich inzwischen wieder gesammelt; von neuem vorn links und mit letzter Wucht, während Dufroy sich empört-drohend nach ihm aufrichtet, zu Marianne rüber) Vollkommen Fremde, oder nicht! Durch diesen einen, dir nachgewiesen Betrug . . . nachgewiesen, selbst wenn dir der halbe, lahme Gegenbeweis gelänge, daß du nicht bewußt gehandelt, was du aber bei dem ganzen Gesamttatbestand, der für dich der denkbar gravierendste ist, auch nur wahrscheinlich zu machen, noch nicht einmal in der Lage bist, durch diesen einen Betrug, der alles wettmacht, was du für mich getan, der alles in Nichts auflöst, was Gemeinsames hinter uns liegt, und der jetzt unsre Leben für immer . . .

Dufroy: (in seine jetzt einen Moment unwillkürliche Pause; allernachdrücklichst; dabei nochmaliger, ihn wie gewissermaßen »zur Ordnung« und zur Besinnung rufender Blick nach Uexküll) So sehr und mit Freuden ich das . . .

Georg: (der weder auf seine Worte noch auf seinen Blick auch nur im geringsten geachtet hat, in seiner Anklage gegen Marianne, der jetzt fast die Sinne schwinden, mit jedem Atemzug sich wieder steigernd, weiter) Durch diese eine einzige Treulosigkeit, treulos gegen dich und mich, hast du es fertig und zuwege gebracht, daß ich jetzt nicht mehr bloß, wie früher, an allerlei uns Überkommnem und Überliefertem zweifle und noch hunderttausend verschieden andern schönen, angeblich ewigen, menschlichen Institutionen, Wahrheiten und Dingen, sondern vor allem und in erster Linie an mir selbst!

Dufroy: (während Georg sich jetzt, nach Atem ringend, wieder in Bewegung gesetzt, längst, selbst erregt, im Hintergrund auf und ab) Alles ganz gut und recht, aber . . .

Onkel Ludwig: (erbittert nach Georg rüber) Mir kommt gradezu vor . . .

Dufroy: (einfallend ; flüchtige, empört-aufgebrachte Geste nach der Stirn) Als ob wir hier einer nach dem andern . . .

Onkel Ludwig: (in ihrem jetzt gemeinsamen Satz, beide Hände wieder in der rechten Seite, weiter) Gradatim . . .

Georg: (ohne sich in seinem Gang dadurch aufhalten zu lassen, von neuem und noch ingrimmig-verbissner) Ein Kretin, der sich durch sein bißchen . . . persönliches Pech und Malheur . . . so übertölpeln ließ . . . daß er alles, was ihm bis dahin den tiefsten, letzten, Bestinhalt seines Strebens bedeutet hatte, mit einem Ruck aufgab und achtlos undankbar von sich warf, um, vielleicht bloß verführt durch ein hinterhältig verschlagnes, raffiniertes Gaukelspiel, (Onkel Ludwig entrüstet sich in Positur setzend) sich mehr und mehr in die älteste, abgeschmackteste und fixeste aller atavistischen Ideen zu verrennen, bis sich ihm die ganze Welt schließlich auf den Kopf stellte, ein solcher Idiot . . . (vor Erregung fast sinnlos, nicht mehr fähig, weiterzusprechen).

Onkel Ludwig: (dem sich erst jetzt die Zunge löst) »Gaukelspiel«? . . . (zitternder, weit ausgestreckter Zeigefinger nach der Tür rechts) Wo du dich doch noch eben erst selbst . . .

Dufroy: (stehngeblieben und sich nochmals zur Ruhe zwingend; ähnlich wie bereits eine ganze Weile vorher) Nachdem das Gewand nun einmal, wie es scheint, tatsächlich verschwunden ist, jedenfalls aber, da wir dir selbstverständlich Glauben schenken müssen, drüben im Saal nicht mehr vorhanden war, und du auch das Kettchen zu deinem Leidwesen nicht wieder hast auffinden können, läge als vorläufiger Schluß, wenigstens für dich und deine bisherige Anschauungsweise einstweilen doch wohl näher . . .

Onkel Ludwig: (in seinem Satz, da Dufroy jetzt wie abwartend innehält, triumphierend weiter) Daß auch dieses Kettchen wieder nicht das Kettchen Mariannes . . .

Georg: (wieder ohne sich dadurch auch nur eine Sekunde lang aufhalten zu lassen; rausplatzend, allergröbst) Blech!!

Dufroy: (ebenso wieder, nur in seinem Hintergrund rechts auf und ab; »amüsiert-befriedigt«) Allerdings! Allerdings!

Onkel Ludwig: (ganz verdutzt-verdattert; von einem zum andern rüber; »a« kurz und betont) Ja, aber nu . . . warum denn nich?

Georg: (wie vorhin ; allerheftigst) Ich lehne ab, radikal ab, und erkläre es für den albernsten Nonsens, daß Gegenstände, Merkmale, oder Wahrzeichen, die man Toten mitgegeben . . .

Onkel Ludwig: (ihn unterbrechend; naiv; wie sich bei allen über diesen unerhörten Unverstand Georgs beschwerend) Wenn die Toten selbst wiederkehren können?

Georg: (elementar) Blödsinn!!

Dufroy: (»unbarmherzig«) Zwei Kettchen dieser Art existieren nur!

Onkel Ludwig: (in seiner Beweisführung, durch diese unverhoffte Hilfe nun noch sichrer und überzeugter, weiter) Und sollte es sich also nu herausstellen, daß das eine Exemplar, das hier oberhalb dieser unsrer Erdkruste verblieben . . .

Georg: (noch aggressiv-ausfälliger) Hirnverbrannt!!

Onkel Ludwig: (wie vorhin; sich dabei auf das Zeugnis Uexkülls und Dufroys berufend) Da wir doch nu mal alle das Kettchen . . .

Georg: (wieder bereits auf dem Weg nach der Tür rechts; neue, sich abermals übergipfelnde Steigrung) Auch das Kettchen muß noch da sein! Auch das Kettchen kann sich nicht in leeren, lächerlichen, nebulosen Dunst verflüchtigt haben! (schon im Abgehen) Es wäre doch wahrhaftig mehr als aberwitzig, wenn ich euch nicht diesen Beweis . . .

Uexküll: (der, ebenso wie die übrigen, dem Davongestürmten, der die Tür diesmal fast sperrangelweit aufgelassen, nachgeblickt – in diesem Moment klappt bereits die Tür zum Musiksaal – zu Marianne) »Wen die Götter . . .«

Marianne: (nickend; schwer) »Verderben wollen . . .«

Onkel Ludwig: (aus seinem Sessel sich jetzt aufrappelnd, trotzdem er sich dabei wieder die schmerzende Seite halten muß; zu Dufroy rüber, der die kleine Szene zwischen Marianne und Uexküll etwas verwundert-mißbilligend beobachtet hat) Komm! . . . Komm! . . . (schon fast in der Mitte der Bühne; einen Augenblick lang schlotternde Geste schräg nach der Decke hoch) Er soll sich mit dir da oben überführen, daß er in seiner kurzsichtigen, sträflichen, unkurierbaren Verblendetheit . . .

Dufroy: (bedenklich; mit hochgezogenen Schultern) Lieber Bruder, ich . . . fürchte . . .

Onkel Ludwig: (nachdrücklichst-vorwurfsvoll; dabei halb nach Marianne rüber) Du zweifelst . . . noch immer . . . an ihrem Wort?

Dufroy: (wie vorhin) So gern . . .

Uexküll: (vorsichtigst; Onkel Ludwig zur Hilfe kommend) Exzellenz . . .

Onkel Ludwig: (zu Dufroy) Wo sich der Tatbestand . . .

Uexküll: (noch mal wie vorhin) Exzellenz sollten jetzt die kleine Mühe . . .

Marianne: (in ihren fast halb wie irren Anstand wieder zurückverfallen; schnellste, heftigste, gradezu sofort wieder erschreckendste Steigrung) Hinter diesem ganzen Wirrwarr . . . Nichts . . . wird mehr helfen! Nichts . . . wird uns retten! Nichts . . . wird das Unheil . . .

Dufroy: (sie unterbrechend; fast unwillig) Wenn du wieder . . .

Marianne: (von neuem; wie visionär) Hinter diesem ganzen Wirrwarr . . . so über alles Denken grauenhaft dieser für mich einzig mögliche Schluß . . . mir im Augenblick auch noch erscheinen will und vorkommt . . . Hinter diesem ganzen Wirrwarr . . .

Dufroy: (da sie jetzt, wie vor ihrem eignen Gedankengang zusammenschaudernd, unwillkürlich abbricht; nervös-abwehrende Geste mit der erhobnen Rechten) Es ist entschieden besser . . .

Onkel Ludwig: (in Mariannes Satz, zu Dufroy und Uexküll, als handle es sich um das denkbar Allerselbstverständlichste von der Welt, fortfahrend) Da kann auch für mich und meine mentale Auffassung . . . (einen Moment zu Marianne rüber) und ich glaube . . . daß ich dich da sehr recht verstehe . . . eigentlich . . . nu schon so gut, wie zweifellos . . . doch bloß ein Wesen stecken . . .

Dufroy: (der Onkel Ludwig so lange angeblickt, als ob dieser allen Ernstes plötzlich übergeschnappt wäre; bereits wieder auf und ab) Ein »Wesen«!

Onkel Ludwig: (dadurch nur um so verstockt-hartnäckiger) Das uns hier alle . . .

Marianne: (in ihrem jetzt gemeinsamen Satz, wie aus einem tiefsten, innerlichsten Zwang, weiter) Einen, wie den andern . . .

Onkel Ludwig: (ebenso; nun auch vor der letzten, krassesten Deutlichkeit nicht mehr zurückschreckend) Post suam mortem und bis über sein frühes, ich möchte fast gradezu sagen selbstgeschaufeltes Grab hinaus . . .

Dufroy: (einen Moment stehngeblieben und dann sofort wieder weiter; jetzt bis vor die offne Tür rechts; allerheftigst) Entschuldigt, bitte, entschuldigt, aber eine derartige »Auffassung« . . . nun obendrein auch noch »mental« zu nennen . . . das geht ja fast über den primitivsten Schamanismus des zurückgebliebensten Samojeden!

Onkel Ludwig: (auf den dieser zornige Ausbruch seines sonst so gesitteten »Herrn Stiefbruders« aber auch nicht den geringsten Eindruck gemacht) Du willst dich nich . . . (Kopfbewegung schräg vor sich nach der Decke hoch) überzeugen?

Dufroy: (nervös-aufgebrachte Geste mit beiden Händen, ohne Onkel Ludwig dabei anzublicken) »In irgendeinem Kästchen, oder sonstwo . . .« (einen Moment, wieder mit der entsprechenden Geste, zu Marianne rüber) jedenfalls aber in einem deiner beiden Zimmer . . . da können wir lange . . . (Pferdegetrappel).

Onkel Ludwig: (fragend nach Marianne hin; jetzt einen Augenblick ebenfalls nicht ganz unbedenklich; »a« kurz, das übrige ein seltsam zaudernder, sich unbestimmt verflüchtigender Nasalton) Cha . . . ? . . . N . . .

Uexküll: (Marianne wieder zur Hilfe kommend; ebenso zu Dufroy, wie zu Onkel Ludwig; die letzten Worte unwillkürlich etwas nach der Tür zurück) Es würde sich doch aber . . . schließlich lohnen, genau . . . wie vorhin mit dieser Kleidung . . .

Onkel Ludwig: (jetzt wieder, ganz naiv-unschuldig, zu Dufroy rüber) Da hast du ja auch gesagt . . .

Dufroy: (noch nichts weniger als dadurch überzeugt) Du zwar ebenfalls, und ich enthalte mich immer noch jedes Urteils . . .

Marianne: (die, wie grübelnd, die ganze Zeit vor sich hingeblickt; lebhaft) Ich weiß es jetzt! Ich weiß es jetzt ganz bestimmt! Ihr werdet das Kettchen finden! . . . Es liegt bei alten Briefen Georgs! . . . Auf einem von mir versiegelten Tagebuch . . .

Dufroy: (der, jetzt ziemlich vor der Tür rechts, erstaunt aufgehorcht; stehngeblieben) Tagebuch?

Marianne: (noch versichernd-bestimmter) Tagebuch Mariettes, von dem ich dir sprach . . . (jetzt wieder auch zu Onkel Ludwig rüber) und das ich euch dringend bitte nicht zu öffnen, in deren Schreibtisch! . . . (von neuem zu Dufroy) Ein schmales Geheimfach links . . . das ich zufällig entdeckte! . . . (wieder zu Onkel Ludwig) Du drückst auf die kleine Intarsienrose . . .

Onkel Ludwig: (schon weiter auf seinem Weg nach der Tür rechts; nickend; beruhigt-überzeugte Geste) Und es wird aufspringen! (Hand auf der Schulter Dufroys) Es wird schon aufspringen!

Dufroy: (seinen Widerstand aufgebend) Gut! . . . (letzter Blick nach Marianne zurück) Gegen alle meine Überzeugung!

Onkel Ludwig: (jetzt schon fast an der Tür; die schlotternde Linke prophetisch erhoben; zugleich heftigste Seitenbeschwerde) Glaub s mir! . . . Glaub s mir! . . . Auch dir . . . wird deine Stunde noch kommen! Auch dir . . . werden die Augen jetzt aufgehn! Auch dir . . . ( Dufroy, der ihm gefolgt war, bereits draußen: »Darf ich dich stützend . . . Du scheinst mir doch etwas . . . Stimme Onkel Ludwigs, ähnlich wie bereits im Anfang des Akts: »Karzinom hat sie gesagt! . . . Karzinom!« . . . Aufgehn der Tür des Musiksaals; verwundert, die Stimme Georgs: »Nanu« . . . Stimme Dufroys, bevor die Tür sich wieder schließt: »Wir wollten dich bitten . . .«).

Marianne: (die bei den Worten Onkel Ludwigs sofort gestutzt; mit schreckhaft weit aufgerissnen Augen) »Karzinom«?

Uexküll: (neben den Stuhl rechts getreten, dessen Lehne er erfaßt; zuerst noch schnell wie sich versichernder Blick, daß die beiden auch ja jetzt weg sind; verhalten leidenschaftlich) Es kommt mir wie ein größtes, unerwartetes Glück vor . . .

Marianne: (noch verstört-entsetzter) »Karzinom«??

Uexküll: (auf ihre Frage wieder nicht antwortend; wie vorhin; nur noch gesteigert) Jede Minute können die Herren . . . Sie müssen mir vergeben und vergessen! . . . Sie müssen mir verzeihn, was ich Ihnen heute nachmittag . . .

Marianne: (wie noch immer diese schrecklichen drei Laute nicht fassend) »Karzinom«???

Uexküll: (seinen Versuch einer »Erklärung« jetzt aufgebend; zögernd einen Schritt wieder zurück) Das böse . . . herzlose Wort . . . das die Erscheinung . . .

Marianne: (vor sich hin; durch die Zähne) Infam!

Uexküll: (ihren Gedankengang erratend; sich innerlich gegen ihren vorhin geäußerten »einzig möglichen Schluß« mit aller Energie zur Wehr setzend) Glauben Sie wirklich . . . auch nur einen Augenblick ernsthaft . . . daß dies furchtbare Phantom . . .

Marianne: (die gar nicht auf ihn gehört; von Grauen fast geschüttelt) Nur . . . weil der arme, alte, gutmütige Mann . . . mich in sein Herz geschlossen hat! . . . Diese . . . Erinnye!

Uexküll: (in seiner Abwehr noch gesteigert) Die Vorstellung . . . daß ein bereits abgeschiednes, menschliches Wesen . . . von einem noch lebenden . . . körperlich, wie seelisch, zeitweilig Besitz ergreifen kann . . . und daß das hier diesmal . . .

Marianne: (die Linke vor der Stirn, als ob er auch jetzt wieder überhaupt nicht zu ihr gesprochen; immer erschütterter) Mariette! . . . Mariette! . . . Nun wird mir alles klar! . . . Seit Jahr und Tag schon!! . . . Seit Jahr und Tag!

Uexküll: (noch stärker als vorhin) Eine Tote, die . . . wiederkehrt . . . eine Begrabne, die . . . aufersteht . . . eine Verstorbne, die . . . (abbrechend und in seinem selben Satz von neuem; Auto) eine solche Vorstellung ist für meinen Verstand . . .

Marianne: (für die er wieder gar nicht gesprochen; mit seltsamer, zum Schluß gradezu absoluter Bestimmtheit) Diesen Schleier . . . ich weiß das jetzt . . . diesen Schleier, mir schwante das schon fast, als er mir hier vorhin so rührend harmlos, mit zittrigen Händen gereicht wurde . . . diesen Schleier trug an jenem Abend meine Schwester, als Ihre . . . brutale, rücksichtslose Selbstsucht . . .

Uexküll: (noch einen weiteren Schritt zurück; irritiert-beteuernder Tonfall) Sie klagen mich an, Sie . . . bezichtigen mich einer Schuld . . . ohne daß ich mir . . . eigentlich . . .

Marianne: (zu ihm vorgebeugt) Sie sind sich einer Schuld . . . (wieder, unwillkürlich, etwas zurück, mit stärkst wachsendem, empörtem Erstaunen) Sie sind sich der ganzen, nichtswürdigen Verwerflichkeit Ihrer damaligen Handlungsweise . . . nicht bewußt?

Uexküll: (noch gesteigert, reserviert-lebhaft) Ich stünde nicht hier . . . es ginge mir, allein schon rein gesellschaftlich, gegen jeden Takt und Geschmack . . . es wäre für mich die elendeste, dreisteste, bodenloseste . . . verzeihn Sie, gradezu Unverschämtheit und Aufdringlichkeit . . .

Marianne: (ihn anstarrend wie ein »fremdes Wundertier«) Ihre Naivität ist mir ein Rätsel!

Uexküll: (wie vorhin; sich verteidigend; mit jedem Atemzug selbstsichrer und sie nicht einen Moment dabei aus den Augen lassend) Was ich bis dahin . . . an Männern, wie Frauen . . . an Frauen, sowie Männern . . . gesehn, beobachtet, oder erlebt hatte . . . war für mich und mein urteilendes Empfinden . . . vom Standpunkt . . . oder unter dem Gesichtswinkel irgendeiner höheren, sittlich-moralischen Weltabwertung . . . so grenzenlos unsinnig . . . zugleich lächerlich, und, wenn man will, grauenhaft gewesen . . . daß ich mein ganzes . . . um alle etwa weiteren Folgen unbekümmertes, taktisches Vorgehn an jenem Abend . . . (Auto) bis eigentlich fast zu dieser Sekunde . . . für mein absolut selbstverständliches . . . gutes Recht gehalten hatte!

Marianne: (die ihm mit gespanntester Aufmerksamkeit zugehört; ausbrechend-bitter) Ihr . . . »gutes Recht!«

Uexküll: (noch immer wie vorhin; durch ihren empörten Ausruf nicht im geringsten aus seiner jetzt fast gradezu stolzen, abweisend-aufrechten Ruhe gebracht) Das Schicksal Ihrer armen, aufs tiefste beklagenswerten Frau Schwester hätte sich auch ohne mich und zwar schon an jenem Abend erfüllt . . .

Marianne: (ihn unterbrechend; scharf; fast wie ihm mit etwas drohend, oder ihn davor warnend) Das . . . wissen Sie so genau?

Uexküll: (unerschüttert; Achselzucken) Die Medikamente . . .

Marianne: (seinen Satz fortsetzend; ähnlich wie vorhin) Die Sie der Unglücklichen damals . . . wahrscheinlich heimlich . . .

Uexküll: (mit einer leichten, diskret-skeptischen Bewegung dies mehr als in Frage stellend) Heimlich?

Marianne: (nachdrücklichst-bestimmt; in ihrem selben Satz und in ihrer sonderbaren, ihm ganz unverständlichen Tonart weiter) Jedenfalls aber wider ihren Willen abgenommen hatten, waren, zum mindesten in dieser auffälligen Menge, ein gefährlichstes Gift gewesen!


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