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Nach 20 Jahren

Als ich in diesem Sommer 1904, wo ich noch allein in Dresden lebte, einmal in mein Vaterland zurückkehrte, um mich mit meiner Frau wegen ihrer Übersiedlung zu beraten, kündigten große rote Plakate ein Volksfest des sechsten böhmischen Wahlkreises an, das am nächsten Tage, einem Sonntag, stattfinden sollte.

Ich fuhr deshalb am nächsten Morgen nach Aussig, um wenigstens den Festzug zu sehen und dann wieder nach meiner neuen sächsischen Heimat zu radeln. Von allen Seiten kamen da die Arbeiterbataillone anmarschiert und stellten sich in der Langen Gasse in die Reihen. Musikklänge schallten von allen Seiten. An der Spitze des Zuges standen kleine, fünf- bis achtjährige, weißgekleidete Mädchen, hinter denen kamen die größeren. Dann kamen die Jungen in demselben Alter. Hinter den Jungen stand ein Wagen der Arbeiterbäckerei, auf dem die Göttin der Freiheit stand, die sich bei jeder Bewegung des Wagens nach links und rechts beugte, als lüde sie die umstehenden Zuschauer ein, mit in die Reihen einzutreten. Dann kamen die erwachsenen Männer und Frauen von Aussig, Bodenbach und allen Orten: ihre Gesichter strahlten vor Freuden.

Ich stand da wie versteinert und sah tief bewegt zu, wie sie triumphierend vorüberzogen. Ich mußte mich bezwingen, um nicht laut aufzuweinen; aber die Tränen standen mir in den Augen.

»Achtzehntausend sind es!« sagte ein Ordner, als die letzte Reihe vorbei war, er hatte die Reihen gezählt.

Ich stand und schaute dem Zuge nach.

Dann setzte ich mich stumm auf mein Rad und fuhr nach Hause, und dachte über den Unterschied zwischen der Arbeiterbewegung von jetzt und vor zwanzig Jahren nach.

 

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig

 


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