Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Meine Schulzeit

Eines Tages früh kündigte mir meine Mutter an, daß nun die Zeit gekommen sei, wo ich in die Schule gehen müsse. Was auch geschah, nachdem sie mich angezogen und das Lesebuch mir hingelangt hatte. Der Lehrer war ein vollbärtiger, schlanker Mann. Sein Blick und seine Tonart machten auf mich einen guten Eindruck. Nachdem er mit Mutter einige Worte gesprochen, nahm er mich an der Hand und führte mich in die erste Bank rechts. Rechts saßen wir Jungen und links die Mädchen. Sämtliche Schulkinder waren in einem Schulzimmer in zwei Reihen Bänken eingeteilt.

Einige Tage lernten wir Kleinen in der ersten Bank nichts und hörten nur zu, wie die andern lasen oder rechneten. Am Ende des ersten Vormittagsunterrichts bekam ich vom Lehrer ein Stück Silbergeld und dazu noch eine Zuckerdüte.

Das freute mich! Noch größer war aber meine Freude dann, wie das Lesen begann, die Reihe an mich kam, ich die Buchstaben nacheinander dem Lehrer vorlas und er mich dafür lobte. O, hätte ich doch dem Lehrer zeigen können, wie ich schon hinten in dem Buche auch lesen konnte. Dazu kamen wir aber diesen Winter nicht.

Im Herbst, als ich in die Schule eintrat, begann das neue Schuljahr. Und bevor wir vom A bis zum Z gelangten, war es ziemlich Frühjahr geworden. Bei diesem Buchstabieren, das mir schon langweilig geworden war, blieb ich unter meinen sieben neu eingetretenen Schulkameraden in der ersten Bank der Erste. Sehnsüchtig wartete ich und freute mich sehr darauf, bis wir weiter zum Lesen kämen, um dem Lehrer zu zeigen, was ich schon könne, und daß ich auch da der Erste sein würde. Es sollte aber nicht so kommen, wie ich es hoffte. Meine Freude wurde getäuscht. Ich ahnte ja nicht, daß meine Eltern schon wieder einen neuen Wanderplan beschlossen hatten. Die Schulgenossen meinesgleichen waren so glücklich, das zu erreichen, nach dem ich mich so sehnte, ich aber nicht.

Ich war nicht wenig erstaunt, als ich wieder einmal aus dem Schlafe erwachte und mich wieder in einer ganz andern, mir fremden Gegend sah. Vor mir bewegten sich viele Menschen, Männer und Frauen, jung und alt. Sie wimmelten hin und her. Sangen und hetzten. Hackten und schaufelten den roten Lehm in zweiräderige Karren, fuhren hin und her. Manche fluchten und schimpften, wie ich es bis dahin nie gehört hatte, worauf ich aber diese Menschen für sehr böse hielt und auch vor ihnen große Angst bekam.

Die Onkels, Tanten, auch der Onkel Anton mit seiner Frau, die ich noch nicht kannte, sie alle hatten sich hier wieder zusammengefunden. Sie gruben mit andern Leuten durch den hohen Berg, auf dessen Rand ich mich herumtummelte, einen breiten, tiefen Graben. Später erfuhr ich, daß das ein Einschnitt war. Ringsum, nahe und in der Ferne, stand Wald. Im Tale erblickte ich Häuser, hörte die Hähne krähen und Hunde bellen. Das war das Dorf Seltsch. Abends marschierten wir, alle Verwandten und auch noch viele andere Leute, die da arbeiteten, in das Dorf. Wir gingen in ein Bauernhaus, das auf einer Anhöhe stand. Dort nahmen wir Platz in einer Scheune. Dann aßen wir Milch und Brot, das Mutter und die Tanten herbeibrachten.

Dieser plötzliche Wechsel in den Verhältnissen machte auf mich solch einen Eindruck, daß ich mich in das alles, was ich da gesehen und gehört hatte, nicht hineinfinden konnte. Das meiste war mir zuwider. Besonders, als ich mich auf das Stroh hinlegen sollte, und als Kopfpolster und Zudecke nur ein paar Kleidungsstücke bekam. Auf welche Weise ich wieder in diese Umgebung gelangte, ist mir ebenfalls unbewußt geblieben. Sicher in dem Handwagen, mit dem wir später auch nach Hause fuhren. Aber da mag ich wohl auch so gut und sanft wie bei den vorhergehenden Wandertouren geschlafen haben.

Dort, wo meine Eltern und Verwandten arbeiteten, war der Bahnbau von Rakonitz nach Saaz. Auch ich fand hier meinen Kräften entsprechende Beschäftigung. Sie bestand darin, daß ich die Lehmhacken in die Schmiede zum Schärfen schaffte. Zwei oder drei zu tragen, war für mich zu schwer, deshalb ging ich immer nur mit einer. Oft holte ich auch Bier aus der Kantine. Auch erhielt ich einmal ein Kästchen und sollte aus dem Magazin, das sich gleich neben der Schmiede befand, Wagenschmiere bringen. Als ich dort hinkam, fand ich das Faß, wo die Schmiere drin war, ziemlich leer, nur ganz wenig noch auf dem Boden. Niemand war anwesend, der mein Kästchen gefüllt hätte, meine Arme waren zu kurz, die Schmiere von unten herausholen zu können. Der gute Rat war teuer! Verlegen sah ich ein paarmal hinein, ging um das Faß herum, sann nach, wie ich das anstellen solle, um die Schmiere herauszukriegen. Nach längerem Überlegen stieß ich es um. Aber auch da blieb mir nichts anderes übrig wie hineinzukriechen, wenigstens so weit, daß ich mit den Händen hinten auf den Boden langen konnte. So gelang es mir, mein Kästchen doch zu füllen. Aber, / dann, wie ich herausgekrochen war, da sah ich aus! Die Hände, Knie, Hemde, die Mütze, alles war vollgeschmiert. Schon das, was ich selbst an mir sehen konnte, weckte in mir Unsicherheit, was dazu meine Leute sagen würden, wenn ich vor ihnen in diesem Zustande erscheinen würde. Auf dem Rückwege traf ich im Walde schönes, grünes Gras. Mit dem versuchte ich die Sache aus dem gröbsten gutzumachen. Immer mit einer Handvoll nach der andern bemühte ich mich, die Schmiere von meinen Kleidern abzuwischen, aber vergebens. Je mehr ich wischte, je breiter wurden die schwarzen, fetten Flecke. Langsamen, unsicheren Schrittes begab ich mich, nachdem ich einsah, daß meine Mühe umsonst war, zu meinen Leuten. Ach, das Gelächter, das mir da entgegenscholl, als ich sie erreichte und sie mich erblickten! Hätten mich die Tanten und die Mutter nicht in Schutz genommen, so hätte ich gewiß von dem Vater mit dem Leibriemen etwas zu spüren bekommen. Auf diese Weise ist aber die Sache noch gut abgelaufen. Und ich bekam einen neuen Anzug, zu dem jeder von den Verwandten etwas steuerte. Dies war also die erste Schmiere in meinem Leben. Wäre es doch die letzte gewesen.

Auf diesem Bahnbau kam mir die Lebensweise, das abscheuliche Benehmen, wie ich es bei den meisten sah, und die rohen Ausdrücke, die ich von ihnen hörte, noch als sehr ungewöhnlich vor, trotzdem ich schon in dieser Einsicht ein bißchen abgestumpft war. War ich doch schon aus einer Gegend in die andere geschleppt worden! Aber solche Menschen wie hier kamen mir außer den Zigeunern noch nicht vor die Augen. Die Menschenkreise, unter denen ich mich bisher befunden hatte, waren doch meistens friedliche, nüchterne Menschen gewesen, aus deren Mund man selten etwas so Schlechtes hörte, wie es hier täglich, stündlich der Fall war.

Damals traten vor meine kindliche Seele ganz andere Bilder wie bisher. Schon das äußere Aussehen der Mehrzahl der hier Arbeitenden erfüllte mein Inneres mit großer Furcht und Scheu. Ihre Gesichter waren rot, blau und aufgedunsen. Ihre wilden Blicke verrieten ein rohes Gemüt. Die Haare sahen struppig aus, Hände und Füße schmutzig, als hätten sie sich schon sehr lange nicht gewaschen. Schuhe keine. Die Kleider waren zerfetzt, die Lumpen hingen von ihren Leibern herunter. So sahen die meisten aus. »Schwein, Rindvieh, Hund, Esel«, das waren ihre liebsten Ausdrücke. Mein jugendlicher Verstand hielt sie für eine ganz andere Menschenrasse und nannte sie Zigeuner, die ich schon früher öfters zu sehen bekam. Und erst dann, wenn sie anfingen, ihre rohen Ausdrücke an den Mann zu bringen, da flüchtete ich jedesmal wie von einem Geschoß getroffen, vor Angst am Körper zitternd oder mit vor Scham errötendem Gesicht, in den nächsten Winkel. Kurz, dies Eisenbahnerleben erzeugte eine Wirkung nach der andern, wie das wechselnde Wetter in Apriltagen. Während des Tages entstand da und dort ein Streit, der oft mit Schlägerei endete. In solchen Fällen war die Hacke und Schaufel die allernächste Waffe, dabei hörte man die gemeinsten und rohesten Ausdrücke aus den Kehlen der Wütenden, die sich manchmal wie die Bestien zerfleischten. Und dann hörte ich gewöhnlich: »Wenn sie nicht besoffen wären, wäre es nicht soweit gekommen!«

Auch hörte ich vielmals von meinen Verwandten oder daneben Arbeitenden: »Wenn wir es auch so machen würden wie diese Lumpen, dann wären wir vom Partieführer auch besser angesehen und möchten mehr verdienen, so wie die.« Doch das Mehrverdienen nutzte ihnen auch nichts, sie liefen trotzdem halbnackt herum, weil sie alles in der Kantine versoffen. Dies und ähnliches, was ich da hörte, war mein jugendlicher Verstand nicht imstande, sich zu erklären. Erst in meinen späteren, reiferen Jahren, nachdem ich selbst genügende Erfahrung aus solchen Verhältnissen erworben hatte, dachte ich über das früher Gesehene und Gehörte nach, dann wurde mir vieles klar. Die da klagten, waren immer die, die besser gekleidet gingen, nicht so verwildert wie die ersteren aussahen. Und aus deren Mund man nicht so häufig die rohen und gemeinen Ausdrücke hörte. Sie wurden aber von den echten Bahnbau-Lumpenproletariern wegen ihrer sittlicheren Lebensweise verspottet, beschimpft und gehaßt. Als Namen, mit denen sie betitelt worden sind, wurden immer die schlechtesten erdacht: Bauernknecht, Tölpel, Ochsentreiber und ähnliche. Wenn es doch dann und wann einem über die Geduld ging, und er sich verteidigen wollte, da war der Krach fertig. Das Gebrülle und Geschimpfe hielt manchmal lange an, in beiden Lagern. Denn die Lumpen hielten zusammen und die andern auch.

Die letzteren, die Minorität, »Dörfler« nannte man sie auch oft, mußten gewöhnlich nachgeben, den Sieg den echten Eisenbahnern überlassen. Denn diese gingen bei jedem Zank und Streit rücksichtslos vor. Ihnen lag ja nichts daran, wenn es zum Schlimmsten kam. Sie trugen doch das Bewußtsein in sich, daß sie vor den Vorgesetzten als Lieblinge galten, weil sie jeden verdienten Kreuzer in der Kantine vertaten. Dies war auch die Ursache, warum sie immer die bessere Arbeit bekamen und mehr wie die »Dörfler« verdienten. Dem Partieführer gehörte die Kantine. Auch die Schachtmeister standen dem Unternehmen nicht fern. So hatte man über einen jeden Arbeitenden die Übersicht, wieviel er in der Kantine fahren ließ, und danach behandelte man ihn auch. Die »Dörfler« stellte man deshalb nur dann in die Arbeit ein, wenn die erwünschteren, auf ein halbwegs menschliches Dasein verzichtenden Individuen nicht zureichten. Aus diesem Grunde gingen auch die Herren jedem Streite aus dem Wege, der hier und da entstand.

Die Bewohner von Seltsch hatten auch einmal nicht nur einen Streit, sondern schon mehr einen Krieg auszufechten. Ich kann mich noch gut erinnern, daß, als wir nach der Arbeit abends nach Hause gingen und bis zu der Schmiede, die gleich am Eingange des Dorfes stand, kamen, eine Menschenmenge wartete und niemanden von den Bahnbauern hereinlassen wollte. Uns ließen sie aber doch herein. Hinter uns aber kam eine ganze Kompagnie der Echten!

Als sie herankamen, lief ihnen der Schmied, ein großer, starker Mann, entgegen, etwas in Händen hochhaltend. Kaum vor die erste Reihe gelangt, brach er zusammen. Wir und die andern liefen auseinander. Die Eisenbahner stürmten nach. Dann erzählten meine Leute untereinander, daß der Streit und die Schlägerei schon den Tag vorher, am Sonntag, begonnen hatte, auf dem Tanzsaal und im Schenkzimmer. Der Schmied sei totgeschlagen worden. Als Täter bezeichneten sie einen gewissen Kowanda, auch vom Bahnbau. Was weiter aus der Geschichte geworden ist, weiß ich nicht.

Was mir noch aus diesem Eisenbahnerleben im Gedächtnis geblieben, ist, daß bei dem Materialsprengen einem Manne die Beine zerschlagen wurden. Wie er fürchterlich schrie. Auch eine Frau / wohl seine Gattin / weinte sehr, taumelte hin und her, die Hände ringend. Andere Frauen bemühten sich, sie zu beruhigen. Dann noch, wie ich mit der Mutter einmal in die Kantine nach Bier ging, dort einer unter den vielen Schwarzen auf der Bank saß, seinen einen Fuß hoch hob und ihn frug: »Was willst du, Würste oder Schäfte?« »Ach lieber Würste!« antwortete er selber. Die andern lachten. Er war also schon so gesunken, daß er mit der eignen Not Luderei trieb.

Der hohe Berg war durchgegraben, was die schaffende Kraft der sich hier schindenden Sklaven mit Hilfe der Lehmhacke nicht bewältigen konnte, das hatte der eiserne Bohrer und das Sprengpulver vollbracht. Es waren nur noch Böschungen zu machen und die Sohle des Einschnittes für das Bahngeleise zu ebnen, das schon weit in das Innere des Einschnittes reichte, während Lokomobilen schon die leeren und vollen Bahnwägen hin und her schoben. Da haben wir die Eisenbahner verlassen und sind von Seltsch nach Hause zurückgewandert. Vorher nahmen wir noch Abschied von den Bauersleuten, die uns während des Bahnbaues beherbergt hatten. Ich aber besonders von ihren zwei Jungen, die etwas älter wie ich waren, und unter denen ich meine freien Stunden im Garten oder auf ihrem Kegelschub spielend zubrachte. Aus Dankbarkeit aber nahm ich, bevor ich mich von ihnen trennte, noch eine von ihren Kugeln mit und steckte sie verstohlen in den Tragkorb meiner Mutter. Aber ich fand sie nicht darin, als wir nach Hause ankamen, worüber ich sehr verdrießlich war. Wahrscheinlich hatte die Mutter die Kugel noch vor der Abreise in dem Korbe entdeckt und herausgeworfen. Sie war also ehrlicher wie ich! Jedoch ließ sie nichts von sich hören, daß sie auf die Spur meiner Sündentat gekommen war.

Als ich von Seltsch ging, ahnte ich nicht, welches Schicksal mich in einigen Jahren wieder hinführen würde. Ja, ich kam wieder. Als Bahnbauer? Nein! Als Dienstbote? Auch nicht! Als Bettler? Ja!

Na, ein direkter Bettler war's gerade nicht. Denn während der Zeit, wo ich Seltsch verlassen und nicht gesehen hatte, war aus mir ein kleiner Künstler geworden, ein Ziehharmonikaspieler. Und als solcher kam ich wieder hin, die Leute dort zu belustigen. Natürlich tat ich das nicht aus Liebe zu ihnen. Das, was mich dazu nötigte, war die Not und der Hunger. Musikliebende Menschen, die sich die hinreißenden Töne meines Instrumentes anhören wollten, verlangten meine Mühe nicht umsonst und gaben mir dafür: Geld, Brot, Mehl usw. Mit diesen stillten wir, ich und meine Geschwister, unsern Hunger.

Untertänigst dankte ich für alles, nur nicht für die Kartoffeln, wenn mir manche Bäuerin welche hinlangte. Was das mit den Kartoffeln für eine Plage war, will ich erst später erzählen. So wie ein jedes Handwerk seine Leiden hat, so auch dieses.

Nach unserer Heimkehr nahm ich meinen Schulbesuch wieder auf. Meine Angst und Sorgen, was der Lehrer mit mir machen und mir sagen würde, wenn ich in der Schule erschiene, erwiesen sich als unbegründet, als ich das erstemal wieder in die Schule kam. Wohl sah er mich forschend an, sagte mir aber sonst kein Wort wie: »Na, läßt du dich auch wieder einmal sehen?« und wies mich dann in die erste Bank, auf meinen früheren Platz. Nach einigen Tagen erst sah ich ein, wie viel ich versäumt hatte durch meine Abwesenheit. Im Lesen ist mir zwar auch damals noch keiner aus meiner Bank zuvorgekommen, aber in andern Lehrgegenständen doch. So im Schreiben und Rechnen. Davon kannten zwar die andern auch nicht viel, ich aber noch weniger. Pardon! Es gab noch einen Gegenstand, in dem ich meinen Schulgenossen nicht nachgeblieben war, nämlich das »Beten«. Aber gerade dieser Lehrer nahm es mit dem »Beten« nicht streng. Das Gebet, das wir vor und nach dem Unterricht hersagten, war sehr kurz. Denn es war sogar uns Schulkindern bekannt, daß der Lehrer auf das Beten wenig hielt. Ich hörte manche erwachsene Leute sich beklagen, daß in der Schule zu wenig Religion gelehrt würde. Das mag wohl auch die Ursache gewesen sein, warum dieser Lehrer nach kurzer Zeit von hier versetzt wurde.

Bald begann das neue Schuljahr. Schüler traten aus und andere in die Schule ein. Die noch Schulpflichtigen wurden in die höheren Bänke versetzt. Und ich / ich blieb von neuem in der ersten Bank sitzen, weil ich in der kurzen Zeit die andern Schüler nicht hatte einholen können. Dazu will ich noch bemerken, wie die Schule eigentlich eingerichtet war. Es befanden sich da links acht und rechts acht Bänke, wie ich schon vorne anführte. In jede Bank konnten sieben bis acht Schüler hineingepreßt werden. Jede solche Bank galt so viel wie anderswo eine Klasse. Im ersten Jahre kam man in die erste Bank, dann jedes Jahr, wenn man genügend vorgeschritten war, höher. Demnach mußten natürlich auch die Lehrgegenstände in dem Lehrplan eingeteilt sein. Jede Bank hatte ihren Stundenplan. Schon daraus ist zu ersehen, daß die Arbeit des Lehrers keine leichte war. Die Anfänger nahm er, einen nach dem andern, an seinen Tisch und lehrte sie lesen. Die größeren Schüler durften nacheinander, in der Bank stehend, laut vorlesen. Wenn z. B. der Schüler Pelz eine Weile gelesen hatte, unterbrach ihn der Lehrer und zeigte auf einen andern Schüler, der von dort an, wo der erste aufhörte, weiter lesen mußte. Da kam es vor, daß mancher nicht aufpaßte, nicht im stillen mitgelesen hatte, und dann nicht wußte, wenn der Lehrer auf ihn zeigte, von wo an er lesen sollte, wofür er nichts zu lachen hatte. Denn er konnte dann den Artikel drei- bis vier-, ja noch mehrmal abschreiben. Und war eine härtere Strafe, als hätte er den Rohrstock fühlen müssen. Gerechnet wurde auf der Wandtafel, gewöhnlich früh, die Schüler einer Bank nach der andern. Das Schönschreiben kam immer nachmittags dran, das auf einer andern Wandtafel vom Lehrer vorgeschrieben stand. In anderen Gegenständen, wie Geschichte usw., saßen wir alle still auf unsern Plätzen und horchten zu.

Bevor der Winter verging, brachte ich es doch in die zweite Bank, hatte also meine Kameraden so ziemlich eingeholt. Denn diesmal war es mir noch nicht so schwer, ihnen nachzukommen, weil sie nur im Schreiben und Rechnen mir um etwas voraus waren.

Schlechter ging es mir dann, als ich kurze Zeit darauf wieder der Schule entrissen wurde, auf einen neuen Bahnbau wandern mußte. Da blieb ich sitzen in der zweiten Bank, also zweiten Klasse. Und brachte es auch später nicht viel weiter.

An der Strenge fehlte es bei diesem Lehrer nicht, trotzdem er sonst sehr gut war. Was uns Kindern bei ihm gefiel, war, daß er den Rohrstock sehr selten gebrauchte. Wenn jemand von uns etwas Dummes gemacht oder gar gestohlen hatte, da besaß er ein besonderes Geschick und Gemüt, die Sache, je nach ihrem Fall, zu richten und zu schlichten.

Mich haben z. B. auch einmal die Schüler beschuldigt, dem einen von ihnen einen Federhalter genommen zu haben. Es beruhte nicht auf Wahrheit. Aber der Lehrer erfuhr das, die Jungen trugen ihm das zu. Nach der Schule befahl er mir, dazubleiben. Als wir allein waren, hieß er mich, sich neben seinen Tisch auf den Stuhl zu setzen, und selbst setzte er sich auf einen andern mir gegenüber und fing an: »Sage mir aufrichtig, hast du den Federhalter genommen!« Der Ton, in dem er mich frug, klang sehr freundlich, trotzdem es mir schien, als wollte er mich mit seinen scharfen Blicken, die er mir forschend zuwarf, durchbohren. »Nein!« war meine Antwort, seinen Blicken standhaltend. Denn mein Gewissen war ja rein. »Nun gut!« fuhr er weiter. »Ob du ihn genommen oder nicht genommen hast. Merke dir, was ich dir jetzt sagen werde. Jeder Spitzbube fängt klein an, hat er beim ersten Versuch Glück, so wiederholt er es, und ist mit wenigem nicht zufrieden und trachtet, noch mehr zu erlangen. Ist es dir bekannt, wohin es solche Menschen bringen, wenn's ihnen einmal nicht gelingt, und sie dabei erwischt werden? Ins Zuchthaus! Du bist noch jung!« fuhr er nach kurzer Pause wieder weiter, »du mußt dir schon von jetzt an ein rechtschaffenes Leben zu führen angewöhnen. Das was dir nicht gehört, darfst du nicht angreifen und dir aneignen wollen. Gewiß würdest auch du unzufrieden sein, wenn dir jemand Schaden zufügen würde. Also möchtest du ein schlechter, unehrlicher Mensch, ein Zuchthäusler werden? Hast du den Federhalter genommen?«

Ich blieb bei meiner ersten Antwort: »Nein!« Nach diesem Verhör konnte ich abrücken. Selbstverständlich war die Untersuchung und Belehrung noch etwas größeren Inhaltes, als wie ich es hier wiedergebe. Aber die Worte, die ich da anführte, sind die, die mir heute noch im Gedächtnis, im Blut und Fleisch sitzen geblieben sind. Und sie wurden auf meiner Lebensbahn die besten Begleiter. In dem Labyrinth, dem das Arbeiterleben gleicht, herumirrend, traf ich Untugenden, schlechte Menschen, Gelegenheiten und Verleiter genug. Aber ich taugte seitdem zum Stehlen nichts. Ob mich die Worte des Lehrers hinderten, oder ob ich dazu schon zu dumm geboren war, ist mir nicht bewußt, wenn ich manchmal schon vor der Tat, etwas zu nehmen, stand, erinnerte ich mich jedesmal an die Worte: »Schlechter, unehrlicher Mensch«, »Zuchthäusler!« Das heißt: zum großen Spitzbuben brachte ich es seitdem nicht. Aber hin und wieder eine Kleinigkeit, die nicht mein, habe ich doch mitgenommen. In solchen Fällen wurde gewöhnlich der gute Wille, nichts Böses zu tun, von dem rücksichtslosen Magen besiegt, wenn der leer war, nötigte er mich so lange, bis ich etwas, etwa ein Stückchen Brot, oder, wenn ich etwas Eßbares nicht erlangen konnte, dieses mitnahm. Das letztere mußte dann für Brot umgetauscht werden.

Daß der Lehrer mit seinem Verfahren recht hatte, und daß das, was er zu mir sagte, das Richtigste war, bezweifelte ich schon damals nicht, trotzdem ich noch nicht die volle Tragweite seiner aufrichtigen Meinung verstand. Auch nahm ich an, daß er es mit mir gut meinte, weshalb hätte er mit mir so freundlich, so väterlich gesprochen? Nachher stellte sich's auch heraus, daß den Federhalter ein anderer Schüler genommen hatte. Auch ihm ging es so wie mir. Ein Schüler / ein Bauerssohn / erzählte mir auch, wie er nach der Schule dableiben mußte und der Lehrer ihm wegen schlechten Lernens eine Lehre gemacht hatte, die, wie ich merkte, auf ihn gut wirkte, weil er fleißiger geworden war.

Als ich in meinen älteren Jahren die Comenius-Didaktik einmal in die Hände bekam, leuchtete mir erst ein, daß dieser Lehrer manches von Comenius' Lehrgrundsätzen inne hatte.

Eines Sonntags kam zu uns der Onkel Matthias. Ich glaubte, er wäre nur auf Besuch zu uns gekommen, und freute mich ihn wiedersehen zu können. Nach dem Mittagessen kündigten mir meine Eltern an, daß ich mit dem Onkel zu den Großeltern gehen solle. Das war ein Weg von sechs Stunden. Unterwegs nahm dann der Onkel seine Taschenuhr ab und steckte sie mir in meine Westentasche, nachdem er die Silberkette in das Knopfloch geknüpft hatte. Ich stolzierte neben ihm vorwärts. Hinter dem Dorfe Wazlava begegneten wir im Walde zwei Männern, einer von ihnen war ungewöhnlich groß und stark, trug ein nicht großes Paket unterm Arm und hielt einen dicken Stock in der Hand. Der andere Mann war kleiner und viel schwächer, und trug auch ein Paket und ging ohne Stock. Beiden diesen Männern mußte diese Gegend unbekannt sein, sonst hätten sie nicht den Onkel angehalten und ihn gefragt, ob sie auf dem richtigen Wege nach Wazlava wären. Als die Männer halt machten und den Onkel anredeten, bemerkte ich, wie sein Gesicht errötete. Was ich mir nur damit erklären konnte, daß er vor dem starken Manne erschrocken war. Auch ich erschrak nicht wenig, erstens vor dem Manne und zweitens, wie ich sah, daß der Onkel auch Angst hatte. Glücklicherweise ist uns nichts passiert.

Aber was mich bei dieser Geschichte lange wunderte und beunruhigte, war, daß der Onkel errötete und Angst zeigte. Besonders auch deswegen, weil ich wußte, daß er Soldat gewesen war. Und Soldaten hielt ich für unerschrockene Helden! Auch in der Schule hörte ich vom Lehrer erzählen, wie die Soldaten in Kälte, wie Hitze, hungrig, doch mutig und tapfer vor den Feind rücken und ihn heldenmütig besiegen. Solche Geschichten las ich auch in meinem Lesebuche. Nach dem aber, was ich an meinem Onkel bemerkte, war ich im Zweifel, daß die Soldaten solche Helden wären, die ich in ihnen vermutete. So philosophierte ich für mich und zottelte dabei hinter dem Onkel her, und warf ihm immer wieder meine forschenden Blicke zu. Meinem Philosophieren machte erst das Erscheinen der weißen Friedhofmauer ein Ende. Es war der Friedhof unweit der Stadt, von wo meine Mutter stammte, und von dem sie mir oft Wunderbares erzählt hatte. Ihr liebstes Thema war nämlich, uns Kindern in freien Stunden von Geistern dieses Friedhofes zu erzählen. Jeder Geist hatte eine andere Buße, mußte so lange büßen, bis ihn jemand befreite. Einer z. B. hatte, als er noch lebte, die Grenzsteine aus den Feldrändern herausgerissen und wo anders hin versetzt. Nach dem Tode hatte er im Grabe keine Ruhe, lief auf den Feldern herum von zwölf bis ein Uhr nachts, schleppte die Grenzsteine herum, wußte aber nicht mehr, wo er den einen oder den andern weggenommen hatte, dabei rief er fortwährend: »Wohin mit ihm? Wohin mit ihm?« Ein Betrunkener, der da zufällig hier nach Hause taumelte und in seinem Rausche keine Furcht vor Geistern kannte, gab zur Antwort: »Nun, zum Teufel dorthin, wo du ihn genommen hast!« »Ich danke dir für die Erlösung!« antwortete darauf dankend der Geist. Kurz, jeder dieser Geister mußte so büßen, die Dinge so verrichten, wie er sich durch sie in Lebzeiten versündigt hatte.

Hu / die Kälte überrieselte mich jedesmal, wenn ich solche Geistergeschichten hörte. Und doch horchte ich mit Vorliebe zu, wenn uns die Mutter so etwas erzählte, und ich unter ihrem Schutz in der Stube mich befand. Schlechter war es aber abends, wenn ich wohin geschickt wurde, schließlich auch sogar, wenn ich tags einen weiteren Weg machen sollte. Da erwachte jedesmal in mir eine durch diese Geschichten mir eingeimpfte Angst, die mich immer mit aller ihrer Macht packte, so daß ich am ganzen Körper zitterte. Räuber und Geister wimmelten dann vor meinen Augen. Ich danke denen, die mich einsehen lehrten, daß das nur Unwahrheit, Aberglaube, die Ausgeburten der geistigen Rückständigkeit sind, sonst wäre gewiß auch aus mir so ein Held geworden, wie ich ihn nun in meinem Onkel sah. Und doch, wie froh war ich, daß der Onkel damals mit mir ging: Hätte ich allein an dem Friedhof vorbei gemußt, lieber hätte ich einen großen Umweg gemacht. So tief wurzelte die Furcht und Angst in meinen Gliedern, die meine Mutter mit ihren Schauergeschichten großgezogen.

Kurz hinter mir und Onkel kamen auch meine Eltern nachgereist. Alle die Verwandten, wie ich sie in Seltsch gesehen hatte, fanden sich wieder in der Stube der Großeltern zusammen. Bevor ich sie alle so beisammen sah, war ich in dem Glauben gewesen, daß ich nur gekommen wäre, um die Großeltern zu besuchen. Nun aber, wo ich allerhand beraten hörte, die Sachen einpacken sah, nahm ich an, daß es gewiß wieder irgendwohin auf einen Bau gehen werde, was sich auch bald bestätigte. Die Tanten hockten alsbald ihre Tragkörbe auf, die Onkels griffen nach ihren Stöcken und dann ging es fort. Ich natürlich mit. Mein kleinerer Bruder Albert und eine noch kleinere Schwester blieben bei den Großeltern. Wohin wir wanderten, wußte ich nicht. Erst unterwegs sagte mir eine Tante, als ich sie danach gefragt hatte, daß wir auf den Bahnbau hinter Plaß gingen. Nach dieser Mitteilung verschwand alle meine Hoffnung, die ich mir immer noch gemacht hatte, auch so viel zu lernen wie die andern Schüler, um dann in die höheren Bänke versetzt werden zu können. Mein Bestreben, mein guter Wille, das zu erreichen, war getäuscht. So viel, daß die Arbeit auf dem neuen Bahnbau längere Zeit dauern werde, und ich so lange nicht in die Schule gehen könne, verstand ich schon. Auch zweifelte ich nicht, daß ich nach solchen Umständen wieder sitzen bleiben würde, wenn ich in die Schule zurückkehrte. Und, wenn ich nun noch anfing zu rechnen, wie alt ich schon war, und wie lange ich erst in dieser Zeit die Schule besucht hatte, da verlor ich nun alle Lust und Liebe zum Lernen. Acht und ein viertel Jahr alt, und mein Schulbesuch machte, gut gerechnet, bis zu dieser Zeit ein ganzes Jahr aus. Das und anderes erwog ich, währenddem ich bald unter meinen Leuten oder hinter ihnen herzottelte. Während dieser Zeit verschwanden einige Dörfer hinter uns, aber es ging immer noch weiter vorwärts. Überall wo ich mich hinwandte, war nichts zu sehen als Felder, Obstgärten oder Wald, kein Berg; die Gegend, wo wir gingen, war eben. Endlich ein räumiger Wald. Als wir an dessen Ende kamen, erschienen uns in nicht weiter Ferne Häuser. »Jetzt kommt Plaß!« hieß es. Auch diesen Ort, der vielleicht nur mir, weil ich ihn das erstemal sah, mit seiner Umgebung romantisch erschien, erreichten wir bald. Plaß, das ich das allererste Mal zu sehn bekam, war ein kleines Städtchen, um das sich wie eine Kette ringsherum in verschiedener Höhe Hügel zogen, die rechts, oberhalb der Stadt, an zwei hohe, kegelartige, kahle Felsen anschlossen. Durch den schmalen Zwischenraum, der sie teilte, strömte der gefürchtete Fluß Strêla (deutsch Geschoß) abwärts durch die Stadt, wo über ihm eine Kettenbrücke hing. Links, wo wir hereinkamen, lag ein Friedhof, um dessen Mauer dicht nebeneinander Fliederstöcke gepflanzt waren, die mit ihren vollen und duftenden Blüten die Luft wohlriechend machten, und die durch ihre verschiedenen Farben die heilige Stätte zierten. Auf der rechten Seite stand ein großes Gebäude, es war dies das größte von allen denen, die ich in diesem Orte zu sehen bekam, und das ebenfalls der Flieder und verschiedene andere Bäume schmückten, gleich wie den Friedhof. Das war das Kloster. Wir überschritten die Brücke, hinter der mir ein Krankenhaus gezeigt wurde, das in einem großen Garten stand und sich wie ein Paradies ausnahm. Auch um die übrigen Häuser, die meistens nicht dicht aneinander standen, waren Gärten und blühende Bäume zu sehen, die die Dächer so verschatteten, daß man nur ihre Spitzen sehen konnte. Außerhalb der Stadt lagen schöne grüne Wiesen mit verschiedenfarbigen Blumen besät und Obstgärten. War das eine schöne malerische Gegend! Sie kam mir vor wie das Paradies, wie ich von ihm in der biblischen Geschichte gelesen hatte. Die Bewohner schienen sehr fromm. Jeder, der uns begegnete, ob jung oder alt, grüßte uns mit: »Gelobt sei Jesus Christus!« Zu dem allem herrschte hier noch eine ungewöhnliche, eine Grabesstille. Und nun noch / es war Mittag / ertönte hinter uns vom Kloster her das Glöcklein, um meinen Eindrücken die Krone aufzusetzen. Denn es machte auf mich den Eindruck, als wenn dieser Ort in sich etwas Göttliches bürge. Damals ahnte ich nicht, von welchem schrecklichen Unglück er in kurzer Zeit betroffen werden sollte.

Der nächste Ort hinter Plaß, dem wir zureisten, und der uns so lange, wie der Bahnbau dauern würde, Gastfreundschaft gewähren sollte, war das Dorf Kaznov. Dort marschierten wir auch gleich links, unweit der Straße, auf der wir gingen, in einen Bauernhof hinein. Auch dort empfing uns die korpulente Bäuerin mit dem Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus!« Was mir an dieser Frau sowie an den übrigen, die ich in dieser Gegend gesehen hatte, auffiel, war ihre Tracht. Ein kurzer Rock, lange Strümpfe, niedrige Schuhe, glattanliegendes Leibchen; und auf dem Kopfe saß ein vom Kopftuch gemachtes Käppchen. So sah ich dann später nur die mährischen oder die wendischen Frauen in Sachsen gekleidet. Auch hier quartierten wir uns wieder in eine Scheune ein, schliefen auf dem losen Stroh. Als Kopfkissen oder Zudecke dienten die Kleider, in denen tagsüber gearbeitet wurde. Das Essen früh und abends durfte auf der Ofenplatte in der Bauernstube gekocht werden, das wir dann in der Scheune oder, wenn's nicht regnete, auf den Sitzbänken vor dem Hause verzehrten. Auf diesen Bänken wurden auch immer abends nach der Arbeit allerlei Wunder- und Mordgeschichten erzählt. War die Witterung ungünstig, so geschah dieses in der Stube. Eine von diesen Geschichten will ich hier als Muster vorführen.

Damals war es noch auf dem Lande Sitte, daß, wenn ein wandernder Handwerker oder sonst einer um Nachtquartier anklopfte, er nicht abgewiesen wurde. Versprach er, etwas Schönes erzählen zu können, so bekam er sicher noch abends und früh zu essen. Ja, ein guter Erzähler konnte noch dazu auf ein Trinkgeld hoffen, wenn's den Leuten recht gut gefallen hatte.

Am besten traf es natürlich so einer, der recht packenden, reizenden und sensationellen Stoff wählte und anwandte. Zeitung kam ja bei diesen Leuten das ganze Jahr durch nicht ins Haus. Deshalb waren sie auf das angewiesen, was sie von jemandem andern hörten und besonders von so einem, der die Welt durchgereist, viel gesehen und gehört hatte. Er mußte doch mehr erfahren sein wie sie, die sehr selten viel weiter wie hinter das Dorf gekommen waren. So einer kam also auch einmal in das Bauernhaus, wo wir logierten. Er hatte ein sehr gutes Mundwerk, dem sein äußeres Aussehen zwar nicht entsprach, aber das machte nichts, er blieb eben da. Schon während des Essens erzählte er verschiedenes. Unsere Leute, die Bäuerin, Knecht, Magd, Kuhjunge, auch Nachbarsleute kamen angerückt und alle drängten sich um den Unbekannten. Nachdem sie ihre Plätze gefunden, saßen sie wie angenagelt und spitzten ihre Ohren. Eine Stille herrschte wie in der Kirche. Der Husten wurde zurückgehalten, damit der Erzähler nicht gestört werde. Und nun begann das Erzählen. Von den vielen den Abend erzählten Geschichten blieb mir am meisten die im Gedächtnis, wie ein Bauer / wo er wohnte und wie er hieß, weiß ich nicht mehr / der sehr gottlos, frevelhaft und lästerlich war, seine Nachbarn wegen Kirchengehen und Beten immer auslachte. Über die Prozessionen spottete er auch und ließ sich noch andere Sünden gegen die Religion und ihre Einrichtungen zuschulden kommen.

Eines Tages brach über das Dorf, in dem der Lästerer wohnte, ein solches Windgestüm, von Finsternis begleitet, herein, das die Einwohner so erschreckte, daß sie annahmen, der »Jüngste Tag« wär gekommen, sie liefen hin und her, kreuzten sich an der Stirn, Mund und Brust, und kniend vor ihren Wandbildern flehten sie Gott und Heilige um Hilfe an. Der Sturm hielt nicht lange an, es wurde wieder still und hell. Aber, / aber, was war derweil geschehen? Der Teufel war die Ursache des Sturmes. Er hatte den lästerischen Bauer abgeholt, seine Nachbarn hatten es gesehen, wie der Teufel ihn geschleppt brachte, sich mit ihm auf einen Baum setzte. Und wie der Bauer strampelte, um Hilfe rief. Aber es nutzte ihm alles nichts, seine Seele war dem Satan verfallen. Na, und der Teufel, sah der aus! wie eine Menschengestalt, aber ganz schwarz, sah er aus, zwei Flügel, zwei Hörner und auch zwei Pferdepfoten hatte er. »Ja, ja, meine Lieben, so ein schreckliches Ende nahm der Bauer wegen seines sündenhaften Lebens, wie wird es ihm aber dort in der Hölle noch gehen?« Alle, auch ich dummer Kerl, saßen da wie versteinert, mir war so, als hätte mich jemand mit kochendem Wasser überschüttet. Auch die andern saßen nach dem Schluß der Geschichte schwer atmend und errötend da, und mögen wohl geradeso wie ich gedacht haben: »Gott sei Dank, daß ich nicht so ein Sünder bin, um nicht vom Teufel geholt zu werden, wie der Bauer!«

Die Beschreibung des Teufels selber überraschte und erschreckte mich freilich gar nicht. Denn das, wie er aussieht, hatte ich schon mehr wie hundertmal auf der ersten Seite der biblischen Geschichte gesehen. Dort stand er abgebildet, wie er mit den geratenen, Gott treu gebliebenen Engeln Krieg führte, wie sie ihn besiegen, in den Abgrund der Hölle stürzen. Nur das, wie er den Bauer abholte, machte mir meinen Kopf voll. Niemand von den übrigen Zuhörern zweifelte an dem Erzählten, niemand wagte etwas einzuwenden. Es blieb also auch mir nichts anderes übrig, als die Geschichte für wahr anzuerkennen, warum sollte das auch nicht wahr sein, wenn nicht einmal meine Onkels etwas zu erwidern hatten, die ja schon beim Militär gedient hatten, und schon deshalb mehr wie alle andern Menschen wissen mußten! Übrigens wurde diese Wahrheit noch damit erhärtet, daß sich einige von den Umhersitzenden zum Wort meldeten und die Geschichte des Fremden durch ähnliche Beispiele zu bekräftigen und bestätigen suchten. Auch meine Mutter säumte nicht, mich nachdrücklich auf die Teufelsgeschichte aufmerksam zu machen, indem sie sich zu mir wandte und mir sagte: »Wenzel, hörst du, was der Vetter sagt? Sei brav, daß dir's nicht auch so geht!« Nun war aller Zweifel verschwunden. Der Teufel, nein Dutzende solcher, wimmelten vor meinen Augen. Auch das Höllenfeuer schien ich zu sehen, in dem ich mir den Bauer bratend dachte. Ja, und ewig! So eine schreckliche Strafe! Hu! Es fuhr mir bis in die Knochen, ich zitterte am ganzen Körper vor Angst.

Die Teufelsgeschichte bereitete mir in meinem weiteren Leben manche angstvolle Stunde. O! hätten mich doch meine Leute von ihr ferngehalten, mich sie nicht anhören lassen. Aber nein. Sie waren anderer Ansicht, lebten wohl in dem Glauben, daß der Mensch nur durch Angst und Furcht zum ehrlichen, rechtschaffenen Menschen erzogen werden kann. Nur die Angst vor dem Teufel und vor den ewigen Qualen und Leiden in der Hölle sollte / nach ihrer Meinung / den Menschen vor sündenhaften Taten schützen. Und mit dieser Art Erziehung mußte natürlich in den jüngsten Lebensjahren angefangen werden. Sie bemühten sich vergebens. Denn diese Erziehungsmethode wirkte auf mich nicht dauernd, schützte mich nicht vor allerlei Sündhaftem. Ein Verbrecher ist zwar aus mir nicht geworden. Gestohlen habe ich wohl, aber freiwillig selten, gezwungen öfter. Dafür tat ich manchmal Dinge, mit denen ich es für mich und meine mitleidenden Klassengenossen gut meinte, die aber von anderen Leuten für schlecht, bös, ja gar für strafbar gehalten und erklärt wurden. Aber schon als Jüngling gewann ich durch vielseitige Erfahrung die Überzeugung, daß diese und ähnliche Geschichten nur die Kinder religiösen Wahnes, der geistigen Rückständigkeit der Menschen sind. Alles, was mich diese Menschen und die verschiedenen heiligen Schriften einst gelehrt, bin ich später allmählich losgeworden. Was ich von dem allen heute noch für möglich und wahr halte, ist: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« und: »Was du selbst nicht gern hast, das tue nicht den andern!«

Wunderbar! Ja wunderbar ist es, wie die Lüge im Menschen, die ihm als heilige Wahrheit gelehrt ward, stirbt, während die wirkliche, unverfälschte Wahrheit in ihm fort, bis zur letzten Minute seines Lebens, lebt. Jawohl, die Worte des Lehrers waren eine Wahrheit, die in mir heute noch lebt, sich in meinem Herzen noch ihres Platzes freut! Sie waren geeignet, die Menschen zum Guten zu erziehen, klangen freundlich und überzeugend. Seine Absicht war edel. Daran, was mir der Lehrer damals sagte, glaube ich noch heute. Denn schlechte Menschen, Zuchthäusler habe ich gesehen, aber Hölle und Teufel? Nein! O, wie sehr dankbar bin ich dir, lieber Lehrer! In deinen Worten lag Vernunft und Weisheit. Auf meiner weiteren Lebensbahn waren sie / denk ich / meine Wegweiser zum Guten und Sittlichen. Oder lag das in meiner Natur, daß ich nach so vielen Versuchungen kein Zuchthäusler geworden bin? Jedenfalls: du hast's verstanden, was dem Menschen für sein Leben nützlich sein kann, wenn die Verhältnisse deine Mühe nicht zunichte machen müssen.

Der Bahnbau lag im Walde, eine halbe Stunde Wegs hinter Kaznov. An dem Feldwege dorthin, rechts, standen zwei Kohlenwerke. Zum erstenmal in meinem Leben bekam ich Bergleute zu sehen, so wie sie hier gekleidet waren. Hohe Stiefeln, breiten Hut. Hose und Jackett schienen mir von Leder zu sein, wenigstens ihrem Glanze nach. So gingen sie herum und arbeiteten wohl auch so in dem Anzuge. Die Dampfmaschine ächzte, stieß rasch nacheinander eine Menge Dampfes zum Rohr über dem Dache heraus, was großen Lärm machte. Auch muß diese Maschine das Wasser, das von dort in einem Graben stark hinabfloß, aus dem Schachte gepumpt haben.

Ich nahm auf dem neuen Bahnbau wieder meine frühere Beschäftigung auf, die Lehm- und Spitzhacken in die Schmiede zum Schärfen zu schaffen. Mein Erwarten, ob es auch hier so ein Leben und solche Menschen wie in Seltsch geben werde, hat sich aber nicht erfüllt. Auf dem Streckenteile, wo wir arbeiteten, befand sich außer unserer Partie noch eine solche, die auch aus ordentlichen Menschen bestand. Daß die echten Bahnbaubrüder hier gefehlt hätten, bezweifle ich; sie werden gewiß anderswo gearbeitet haben. Sie waren doch die doppelt nützlichen Subjekte für den Unternehmer sowie für die Partieführer und noch andre. Der Einschnitt, der da zu machen war, war nicht breit und auch nicht tief, ungefähr zwei Meter. Mit dem losen Material wurden die tieferen Stellen ausgefüllt, was mit Hilfe der zweiräderigen Karren geschah. Das war die Dux-Pilsner Eisenbahn! Besondere Bilder des Eisenbahnerlebens kann ich von hier nicht geben, weil sich hier nicht so viel Ungewöhnliches mir bot wie in Seltsch.

Einmal als wir Samstag nachmittags nach Hause, nach Kralowitz kehrten / was jeden Samstag geschah / erlebte ich doch wieder etwas sehr Ungewöhnliches, trotzdem meine Gefühle durch Mordgeschichten verschiedener Art schon ein bißchen abgestumpft waren.

Schon in Seltsch hatte ich gesehn, wie ein Mensch von einem andern totgeschlagen worden war. Und nun auf diesem Heimwege war ich wieder von der allernächsten Nähe Zeuge eines Mordversuches, den wieder ein Mensch mit der Schießwaffe gegen seinen Mitmenschen machte.

Hinter Plaß holten uns einige Männer ein, die sich mit meinen Verwandten duzten und sehr lustig waren. Unter Gesang und Erzählen ging es weiter. Als wir ungefähr die Hälfte des Waldes hinter uns hatten, trat plötzlich an der linken Seite aus dem Gebüsch ein Heger mit der Flinte über der Schulter an die Straße heran. Einer von den uns Vorausgehenden rief, mit der Hand auf den Heger zeigend: »Wegen dieses Lumpen mußte ich drei Monate sitzen!« Der das rief, hieß Woditschka. Ein Schuß krachte, dem ein Schmerzensschrei: »Jesus, Maria, Joseph!« folgte. Der Mann mit der Flinte verschwand, einige von unsern Gängern liefen ihm sofort nach, aber ohne Erfolg; es war schon zu dunkel. Der Woditschka, den der Schuß in die Beine getroffen hatte, wurde in das unweite Dorf getragen, von wo sie ihn mit Gespann nach Kralowitz schafften. Ich hörte erzählen, daß der Woditschka ein Wilddieb gewesen sei und mit dem Heger schon öfteren Zusammenstoß gehabt hätte, wofür sich nun der Heger an ihm rächte. Nachher erfuhr ich, daß er für die Tat drei Jahre Gefängnisstrafe bekommen hat.

An einem späteren Samstag begaben wir uns, ich und die jüngste Tante Marie, gleich nach dem Mittagessen auf den Heimweg. Hinter Plaß sahen wir ängstlich, wie sich immer mehr und immer dunklere Wolken über die ganze Gegend zusammenzogen. Nicht lange dauerte es, und es fing an zu regnen. Der Regen fiel immer stärker, bis das Wasser förmlich herunterströmte. So war es auch mit dem Blitzen und Donnern. Nun wurde Laufschritt angesetzt. Bei mir aber ließ das Laufen bald nach. Die Tante hockte mich auf und weiter ging's. Das Donnerwetter wurde immer heftiger, ein Donner folgte dem andern, die Blitzstrahlen kreuzten sich von allen Seiten. Nach jedesmaligem Blitzen bekreuzten wir uns an Stirn, Mund und Brust und wiederholten einen Spruch, den ich in deutschsprachigen Gegenden nie gehört habe: »Gott mit uns, heilige Marie über uns.« Das Bekreuzen und der Spruch sollte uns vorm Erschlagen durch den Blitz schützen. Die Tante und die Großmutter behaupteten das und glaubten fest daran. Ich glaubte dem natürlich auch, hauptsächlich aus dem Grunde, weil uns nichts passierte. Aber gegen den Regen nutzte das Kreuzen und der Spruch gar nichts. Denn bevor wir nach Kralowitz kamen, waren wir durch und durch naß. Den Abend noch verbreiteten sich schon Gerüchte, daß das ein Wolkenbruch gewesen sei, der Häuser, Brücken, Mühlen, Straßen weggerissen, ja sogar Menschenleben vernichtet hatte. In Kralowitz selbst habe ich den andern Tag nur zwei kleine Wohnhäuser niedergerissen gesehen, die unterm Deiche standen; sonst war aber dort nichts geschehen. Aber ein ganz anderes, viel traurigeres, ja schreckliches Bild bot sich uns in Plaß, als wir Montags früh hier wieder durch nach Kaznov gingen. Hier hatte das Wasser schrecklich gehaust. Häuser, die nahe dem Flusse standen, waren niedergerissen. Die Brücke war weggeschwemmt. In dem Klostergebäude aber steckten in Türen und Fenstern starke Bäume, als wären sie absichtlich von Menschen hineingeschoben worden. Auch von dem erst neugebauten, hohen Hause, rechts vor der Brücke, sah man nichts mehr wie niedrige Mauerstumpeln, im Innern mit Wasser gefüllt, in dem kleine Fische herumschnalzten. Wie ich hörte, soll in dem Hause ein reicher Sonderling gewohnt haben, der, als die Gefahr drohte, dreimal gewarnt und sein Leben zu retten gemahnt wurde; aber vergebens, er stand nicht aus seinem Bette auf. Es kostete ihm sein Leben. Links, tiefer wie die Straße, stand ein Haus unbeschädigt, das einem Viehhändler gehört haben soll. Im unteren Gebäude befanden sich die Stallungen, mit Sand ganz verschwemmt, nur die Köpfe, Ohren oder Hörner der Tiere waren noch zu sehen. Was auf dieser Seite verschont blieb, war der Friedhof; aber hätte er nicht auf einer Anhöhe gelegen, hätte gewiß das wütende Element auch die Leichen in ihrer Ruhe gestört, sie auf den Wiesen und Feldern herumgestreut. Der Fluß war oberhalb der Brücke ganz voll mit Sand, Steinen und anderem Material geschwemmt. Meine Leute orientierten sich, daß man über den Fluß hinübergehen könne, trotz des Wassers, das sich weit und breit ergoß und stellenweise bis an die Knie reichte. Der Onkel Joseph hockte mich auf und dann ging's langsamen Schrittes vorwärts; bevor ein Schritt getan wurde, mußte jedesmal erst mit dem Stocke in der Hand die Tiefe erprobt werden. So ging's zwar langsam aber sicher durch das Wasser hinüber auf das andere Ufer des Flusses. Ich glaube, daß die Kinder Israels viel schneller durch das Rote Meer wanderten wie wir damals durch die Strêla. Auch drüben hinter dem Fluß bot sich uns ebenso ein schreckliches Bild wie hüben. Von vielen Häusern standen nur noch Reste des Mauerwerkes da. Männer, Frauen, Kinder liefen weinend, händeringend hin und her, richteten ihre Blicke bald auf- bald abwärts des Flusses, als täten sie etwas suchen. Wohl ihr Hab und Gut, oder ihre Angehörigen? An einem Hause stand eine ältere Frau, die auch sehr weinte, aus deren Worten man entnehmen konnte, daß sie ihren Mann verloren hatte. »Lieber Gott, helfe mir, wo ist mein guter Mann? Heilige Mutter Gottes, erbarme dich, wo soll ich die gute Seele finden?« So und ähnlich bat sie weiter und benahm sich wie eine Wahnsinnige! Ein weißbärtiger Mann, der unweit von ihr stand, trat an die Unglückliche heran mit tröstenden Worten. »Verzweifeln Sie nicht, liebe Frau, vertrauen Sie auf Gott, er hat genommen und wird wieder geben.« Und die schönen grünen Wiesen, die Obstgärten, alles / alles war vernichtet. Die malerische Gegend ganz in ein Jammertal verwandelt! Ach! so dachte ich mir wieder, wie mag es nun erst damals nach der Sintflut ausgesehen haben. Hier büßten nur einige Menschen und Tiere ihr Leben ein, nur ein Teil des Landes war verwüstet. Aber dort! Ja, aber wo mag das gewesen sein? Darüber konnte ich mir niemals klar werden. Und dort ließ der Herrgott sämtliche Menschen, sämtliche Tiere ersaufen und hat nur den Noah, mit einem Paar von jeder Tiergattung, am Leben in der Arche zurückbehalten! Aber von diesem schrecklichen Ereignis brauchte ich mir nicht erst selbst sinnliche Bilder zu machen, die Bibel stellte mir ja das Bild des Schreckens, wenigstens vor der Katastrophe dar. Wie die Menschen sich auf die Berge flüchteten, ihre Hände zum Himmel hoben und nach ihren Gebärden um Erbarmung baten. Aber vergebens, sie wurden nicht erhört. Doch das waren immer nur abgebildete Gestalten, ihre Gebärden konnten mich also doch nicht so leicht erweichen, in mir Mitleid wecken. Auch waren sie stumm, ihre Schmerzensstimme konnte nicht in mein Herz dringen. Anders aber war es hier, hier sah ich Menschen von Wasserfluten getötet, andere stöhnend, jammernd und weinend herumgehen. Das war herzzerreißend, es weckte in mir Mitleid, Mitgefühl, es bezwang mich, ich weinte mit.

Noch viel traurigere Auftritte erwarteten uns auf dem Friedhof, als ich mit meiner jüngsten Tante, die in der Arbeit einen halben Tag ausgesetzt hatte, hinging, um dem Trauerspiel der Beerdigung der Umgekommenen zuzuschauen. Es hatten sich so viele Menschen eingefunden, daß der Friedhof ziemlich überfüllt war. Viele von den Anwesenden knieten an Gräbern, wohl ihrer toten Angehörigen, beteten und manche weinten auch dabei. Viele Särge mit Leichen standen da. Um jeden Sarg standen mehr oder weniger hinterbliebene Angehörige weinend und lamentierend da. An einem Sarge, der, braun gestrichen, auf dem Deckel den gekreuzigten Jesus zeigte und an dessen Seiten Engel von gelbem Blech angemacht waren, stand ein Bursche ganz allein, der von allen Anwesenden am meisten weinte und jammerte. Er beugte sich immer wieder über den Sarg, streichelte und küßte die Leiche, und rief ihr mit klagender Stimme zu: »O, meine liebe, teure Mutter, du mußt mich verlassen. Was soll ich arme Waise ohne dich hier anfangen? Ach! Ach, ich Unglücklicher!« Auch an den übrigen Särgen wollten die weinenden, klagenden Stimmen nicht aufhören. Der Geistliche kam. In seiner langen Rede tröstete er die Unglücklichen, Verzweifelnden, weihte die Gräber mit Weihwasser, die Sänger stimmten das Grablied an, dann knieten wir alle nieder und beteten für die Toten. Und dann wurden die Särge in die Gräber gesenkt. Das war der Zeitpunkt des Scheidens für immer. Der Zeitpunkt der traurigsten, herzzerreißendsten Auftritte. Die Hinterbliebenen weinten und schrien noch mehr wie vorher, manche von ihnen hätten sich gar in das Grab gestürzt, wenn man sie nicht gehalten hätte. Alle, auch alle, die ich da sah, standen traurig, kopfhängend da, weinten und tränten. Nur einer weinte und tränte nicht, der Geistliche.

Der Einschnitt war fertig und die Arbeit zu Ende.

Mit einer großen Kiste, in der sich wohl unsre wertvollen Sachen befanden, auf einen Schiebock geladen, traten wir, ich und Vater, den Rückweg nach Prilep an. Ich zog an dem Strick, der an der Leiter vorn angebunden war und der Vater schob. Schwer war die Last gerade nicht, mit der Zeit aber kriegte man es doch satt, denn wir hatten ja sechs Stunden Wegs wegzumachen. Gesungen, gelacht oder erzählt wurde nichts, wir schritten jeder, ich vorn und der Vater hinter dem Schiebock, vorwärts seines Weges, in seinen Gedanken, ohne sich einer um den andern zu kümmern.

Was wird der Lehrer sagen, weil ich so lange nicht in die Schule kam? Wo ich die Zeit war, was ich gemacht habe, wird er wohl fragen. Wie weit werden meine Schulkollegen vorgeschritten sein, kann ich sie wieder einholen? Nein! Gewiß bleibe ich in der zweiten Bank sitzen. Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten mich unter Angstgefühl während der ganzen Heimkehr. Und je mehr ich mir meine Aussichtslosigkeit und Erfolglosigkeit in dem künftigen Schulbesuch auseinandersetzte, desto mehr erfüllte mich Unlust zur Schule.

Der Tag, wo ich in die Schule kehren sollte, war da. Ach, wie ungern, langsam, schwermütig betrat ich diesmal den Schulweg; er war nicht lang, es war nicht weit, aber fünfmal mehr Zeit wie sonst brauchte ich gewiß, bevor ich das Schulgebäude erreichte. Je näher ich kam, je mehr spürte ich, wie mein Herz klopfte, der Kopf glühte. Verschämt, nicht rechts, nicht links schauend, schritt ich vorwärts. Nun stand ich auf dem Korridor, vor der Türe des Schulzimmers. »O Gott!« seufzte ich, »was wird der Lehrer sagen?« Ängstlich, zitternd streckte sich, nach längerem Zögern, die rechte Hand nach dem Türdrücker. Die Türe ging auf, ob vom Drucke meiner Hand, wußte ich nicht. Der Lehrer stand vor mir. Schüchtern, kopfhängend trat ich ins Schulzimmer, mit dem Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus!«, nachdem ich meine Mütze abgenommen hatte. Aber kein Wort des Schimpfens oder Fragens hörte ich aus des Lehrers Munde. Ich staunte. Und begab mich wieder auf meinen früheren Platz in der zweiten Bank. Wie war mir plötzlich leicht geworden, als wäre von mir eine Zentnerlast gefallen! Am Ende der letzten Unterrichtsstunde trat der Lehrer an mich heran und forderte mich auf, nach der Schule in die Küche zu gehen und zu warten, bis er nachkomme. Nun packte mich die frühere Angst von neuem, aber doch nicht so wie des Morgens. Als er gekommen war, frug er mich nach der Ursache meines so langen Ausbleibens aus der Schule. Ich erzählte, wo wir waren und daß wir auf der Eisenbahn gearbeitet hätten. »Du hast auch gearbeitet?« fiel er mir fragend ins Wort und sah mich verwundert an. »Die Hacken zum Schärfen in die Schmiede geschafft«, war meine Antwort. »So? Na, aber für dich ist das eine traurige Geschichte. Auf diese Weise kannst du natürlich nicht viel lernen, was dir in deinem Leben sehr schaden wird.« Nach diesen gutgemeinten und Wahrheit enthaltenden Worten konnte ich abtreten.

Wie viele Male dachte ich nachher an diese Worte. Was nutzte alles, ich war zum geistigen Krüppel verurteilt! Ganz ohne Wirkung blieben des Lehrers Worte jedoch nicht. Sie ermutigten mich von neuem und ich legte mich ins Zeug, in dem kindlichen Glauben, das Versäumte doch noch nachholen zu können. Von zu Hause aus ermutigte mich niemand. Der Vater arbeitete in einer anderen Zuckerfabrik in Rakonitz. Von uns zwei Stunden Wegs entfernt, kam er nur in drei oder vier Wochen einmal nach Hause, gewöhnlich spät abends, und war schon wieder fortgegangen, bevor wir Kinder früh aufstanden. Die Mutter verstand von alldem, was die Schule betraf, nichts, und blieb höchst gleichgültig. Ihr lag nichts daran, ob man in der Schule was lernte oder nicht. Vielmehr hinderte und wehrte sie mich, meine Schulsachen auf den Tisch zu legen und Aufgaben zu machen. »Schon wieder kommst du mich ärgern mit deinen Wischen!« Wenn ich mir manchmal einzuwenden erlaubte, daß ja das Lernen nützlich sei, da war sie sofort mit einer Antwort da: »Wer viel lernt und studiert, der wird verrückt, kommt ins Narrenhaus.«

Erwiderte ich, daß ich doch nicht wie sie, nichts lernen möchte, da antwortete sie lachend: »Ich lebe ohne das auch.« Brauchte ich manchmal ein bißchen mehr Platz und legte meine Schulsachen auseinander, da schrie und drohte sie mir, die Partessen (so nannte sie die Schulbücher) vom Tische zu werfen. Solche und ähnliche Ausdrücke und Vorwürfe konnte ich jedesmal hören, wenn ich Schulaufgaben zu machen hatte. Zum Glück folgte ich nicht ihrer Ansicht, ließ mich in meinem Vorhaben wenigstens nicht ganz stören und lernte, wie sich mir die Gelegenheit bot.

Es tut mir sehr leid, daß ich gerade an dieser Stelle von meiner Mutter so etwas erzählen muß, aber die Wahrheit soll doch gesagt werden. Heute, als Mann, weiß ich wohl, daß nicht sie allein die Schuld trifft, daß es vielmehr der Fluch der gesellschaftlichen Verhältnisse war, der von einer Generation Armer auf die andere übertragen wird. Und mich traf das Unglück der geistigen Verkrüppelung doch noch nicht so hart wie meine Geschwister: Sie alle haben noch viel weniger, ja fast gar nichts, in der Schule gelernt. An ihnen hat sich Mutters geistige Rückständigkeit noch mehr geltend gemacht. In anderer Hinsicht war meine Mutter, wie schon einmal erwähnt, ein großer Geist, nämlich im Erzählen von Räuber-, Geister- und Wundergeschichten, in denen immer ein Räuber, ein Heiliger oder eine Heilige die Hauptrolle spielten; oft war auch der Teufel der Held. Das war wirklich das einzige Fach ihrer geistigen Tätigkeit, in dem ich sie viele Male bewunderte. Denn sie hat ja das, was sie uns dummen, neugierigen Kindern erzählte, nirgends gelesen, sondern auch nur von Leuten erzählen gehört, und doch merkte sie sich alles sehr genau. Und schon ihre Haltung bei dem Erzählen machte auf mich einen so tiefen Eindruck, daß ich gar nicht wagte, an der Wahrheit des Erzählten zu zweifeln. Oft kam es dabei vor, daß unser kindlicher, noch dummer Verstand nicht das oder jenes begriff. Ach! wie gern, wie bereitwillig kam sie uns da jedesmal entgegen und beantwortete mit Nachdruck die von uns gestellten Fragen. Wie viele Abende haben wir mit diesem unsinnigen Zeug nutzlos verschwendet, erregt, unter Angstgefühlen, Räuber-, Geistergestalten vor uns schweben sehend, dagesessen. Wie viel Angst und Furcht hat uns die Mutter mit diesen Erzählungen eingeflößt, die uns dann in der Einsamkeit oder Dunkelheit wie ein krankhafter Zustand verfolgten! Sie tat das unbewußt, hatte nichts Besseres gewußt, nichts Besseres gelernt! Sie war unsere Mutter, aber, zum Bedauern, keine wahre Erzieherin.

Wäre der Vater abends, so wie früher, zu Hause gewesen, hätte er mir doch auch nicht viel nützen können. Denn im Lesen konnte ich mich immer noch mit den mit mir eingetretenen Schülern messen. Und in den übrigen Lehrgegenständen, wo ich fremde Hilfe brauchte, war auch er mit seinem Wissen zu Ende. Ich war also nur auf den Lehrer angewiesen, der sich auch wirklich mit mir Mühe gab, nachdem er wohl meinen Fleiß und guten Willen eingesehen hatte. Er ließ mich öfters lesen, und weil ich kurzsichtig war und die an die Wandtafel geschriebenen Aufgaben, die bis an der Zimmerdecke oben hingen, nicht sehen konnte, schrieb er mir alles auf ein Blatt Papier. Schlecht ging's beim Rechnen. Ratlos, verlegen, verzweifelnd mit den Fingern spielend, stand ich an der Tafel, so oft ich dran kam, eine Rechnung zu machen. Mir fehlte Aufschluß, weil ich die vorhergegangenen Rechnungen versäumt hatte. Da half mir immer der Lehrer aus meiner Verlegenheit. »Einmal will ich dir's sagen, das zweite Mal verlange ich es zu wissen.« O, wie gut, nein, heute sage ich, wie verständnisvoll war doch dieser Lehrer! Und wie froh war ich noch, daß er das Auslachen der Schüler untereinander wegen schlechten Lernens nicht duldete.

Das neue Schuljahr begann. Schüler wurden in höhere Bänke versetzt und ich? / Ach! ich blieb sitzen in meiner zweiten Bank. »Du bleibst noch sitzen, vielleicht kommst du später nach«, sagte der Lehrer zu mir. Das betrübte mich zwar, nahm mir aber doch nicht die ganze Hoffnung, daß auch ich nach kurzer Zeit höher versetzt werden könne. Der Eifer stieg. Wochen vergingen, ich tröstete mich und hoffte immer noch das Beste. Währenddem ich so träumte, mir mein Lernen in den schönsten Farben malte, wälzten sich schon wieder neue Hindernisse meinem Schulbesuche in den Weg. Diesmal war es nur kein mehrmonatiges Fernbleiben, sondern nur ein halb- oder ganztägiges Unterbrechen. Aber das war ja ebenso schädlich. Entweder hatte nämlich die Mutter Brennholz aus dem Walde oder Kohlen vom Schachte zu holen, oder sie ging zum Bauern Getreide dreschen, ging waschen und andere Arbeit auswärts verrichten. Jedesmal, wenn sie so etwas vorhatte, mußte ich aus der Schule zu Hause bleiben und auf meine Geschwister achtgeben. Wandte ich manchmal ein, daß ich so nichts lernen könne und wieder in der zweiten Bank sitzen bleibe, fuhr sie mich an: »Soviel du brauchst, wirst noch lernen, und ruhig!« Oft wurde ich stützig, wollte mir den Schulgang erzwingen, aber da: ein Sprung und Griff hinter den Ofen und schon spielte der Stiel des Rutenbesens seine Künste auf meinem Rücken und Kopf. Denn es war alles eins, wo es hintraf, und jeder Schlag war noch mit verschiedenen Schimpfworten gewürzt: »Du wirst ja so noch ganz blind werden vor lauter Hineingaffen in deine Partessen. Ich will dir helfen. Wenn ich dich schicken werde, dann gehst du und nicht früher. Meine Arbeit geht vor, nicht deine Schule. Es wird doch sonst nichts weiter aus dir, wie ein Taglöhner werden!« Mit solchen und anderen Worten noch wurde ich jedesmal überschüttet, wenn ich nicht zu Hause bleiben wollte. Natürlich sah ich damals nicht ein, welche Ursachen meine Mutter zu dieser Handlungsweise zwangen, daß sie wegen Mangel an Gelde kein Holz und Kohlen kaufen und nach Hause fahren lassen konnte, daß sie arbeiten gehen mußte, um uns nicht hungern lassen zu müssen. Während Mutters Abwesenheit / sie ließ uns immer hinter Schloß und Riegel / waren dann meine Aufgaben: Aufwaschen, Stube kehren und auf das kleinste Schwesterchen aufpassen, sie versorgen und besonders ihr den »Zummel« zurecht machen. Viele von der jetzigen Generation werden wohl kaum verstehen, was ich eigentlich mit dem Zummel meine, was das für ein Ding ist und wie er aussieht. Nun, der Zummel war ein Ernährungs- und Beruhigungsmittel des Kindes und wurde folgendermaßen fabriziert: Brot und Zucker wurde im Munde zu Brei gekaut, dann in einen weißen Leinwandfleck gespuckt, dieser dann zusammengezogen und Zwirn darum gewickelt, daß es das Aussehen eines Puppenkopfes erhielt. Dieses Fabrikat tauchte man dann in Milch, häufiger in Kaffee, ein, drückte es am Ende des Kopfes ein bißchen zusammen und steckte es dann dem Kinde in den Mund. Das nannten wir auf dem Lande in dieser Gegend Zummel! Der Zummel machte mir viel zu schaffen, nicht nur, weil ich ihn fabrizieren mußte, sondern auch deswegen, weil ich fortwährend aufpassen mußte, daß er der Kleinen nicht aus dem Munde fuhr, sonst schrie sie als hätte man sie mit Nadeln gestochen. Manchmal schrie sie trotzdem auch, denn oft sehnte ich mich auch nach der süßen Eigenschaft des Zuckers; dann kam die Kleine schlechter weg, aber sie schmeckte es sofort. Auch dann raubte mir der Zummel viel Zeit, wenn die Mutter zu Hause war. Er mußte nach ihrem Auftrag gut gemacht werden und die Kleine mit ihm pünktlich versorgt werden. Wehe mir, wenn ich mit meinen Schulsachen zum Tisch kam, und sie zu schreien anfing, da spielte wieder der Besen seine Künste, meine Sachen flogen herum und Grobheiten überfluteten mich wie ein Wolkenbruch. In meiner Ohnmacht erblickte ich in ihr eine Tyrannin! Dagegen um anderes, wie etwa um das Einwickeln der Schwester, brauchte ich mich nicht zu kümmern, das besorgte die Mutter, bevor sie irgendwohin ging, jedesmal selbst. Sie packte dann das Würmchen in Windeln und Federbetten ein, zog das Wickelband so fest an, daß das arme Wesen wie eine Holzpuppe aussah und bekreuzte sie dann noch auf Stirn, Mund und Brust mit den Worten: »So schlafe süß mein Engel, Gott behüte dich!« Wie oft dachte ich nicht schon über diese geistige und körperliche Erziehungsmethode der Mutter nach, wie auch mir mag im Leibe und Gliedern gewesen sein, wenn ich so geschnürt, stundenlang dalag, wie ich mich wohl auch nicht rühren und strecken konnte, bis ich dann meiner Fesseln befreit wurde. Heute möchte ich so etwas an mir nicht erproben wollen, da hätte ich doch Angst, daß mein Körper verkrüppeln würde, trotz der Hut Gottes. Die Menschen damals hatten eine andere Ansicht, nämlich die, daß der Mensch auf diese Art gerade und gesund erhalten wird. Und wie mag es in meinem Körper, in meinem Blute und Magen ausgesehen haben, als auch mir immer wieder der schmutzige, sauer gewordene Zummel in den Mund gestopft wurde, in dem sich doch nebst Brot und Zucker auch Speichel vielleicht eines kranken Mundes oder doch verwesende Speisereste aus den Zähnen befanden! Wievielmal mag's mich wohl zum Brechen genötigt haben, mir übel geworden sein? Da wird wohl die Mutter dann Gott um Hilfe gebeten haben, nachdem sie mir unbewußt selbst die Gesundheit geschädigt. Und so werden Hunderttausende von Menschen körperlich und geistig erzogen, dort, im Reiche der Armut, wo die Menschen ganz unter dem Drucke religiöser und wirtschaftlicher Vorurteile handeln und leben müssen.

Und nun wieder zu meinem Schulbesuche. Infolge dieser häufigen Versäumnisse wurde meine Lage in der Schule immer schwerer. Im Anfange bemühte ich mich, das, was während meiner Abwesenheit in der Schule gelehrt worden war, bei den anderen Schülern zu erfragen, machte wenigstens mit und nach ihnen die Schulaufgaben, aber der Lehrer beachtete das nicht mehr; denn was gingen mich die Aufgaben an, wenn ich nicht da war. Alles übrige aus dem Unterricht entging mir ganz. Wir, ich und der Lehrer, wurden immer lauer. Ich, weil ich die Nutzlosigkeit meines Bemühens einsah und er des seinen. Es blieb mir sonst nichts übrig, als mich wenigstens mit dem Lesen und Schreiben über dem Wasser zu halten; dazu suchte ich immer wieder die Zeit, die ich zu Hause frei hatte, auszunützen. Aber aus den halben und ganzen Tagen wurden dann im Winter sogar Wochen, in denen ich nicht mehr in die Schule kam. Und damit wurde meine Lage wieder ein Stück schlechter.

In diese Zeit fällt auch ein Theaterspiel, das ich besuchen durfte. Der Lehrer hatte nämlich, wie ich hörte, mit Zustimmung des Ortsvorstandes, eine Theaterbühne angeschafft und wollte mit Burschen, größeren Schuljungen und Mädchen Vorstellungen geben. Die Stücke, die da gespielt wurden, schweben heute nur noch vor mir wie geträumte Bilder. Es waren, wie ich sie mir heute noch dunkel vorstelle, Stücke aus dem Volksleben. Das Theaterspiel gefiel mir sehr, besonders wohl deswegen, weil wir Schulkinder freien Zutritt hatten.

In der Faschingszeit wurde damals für uns Schulkinder auch ein Tanzkränzchen veranstaltet. Jeder von uns mußte sauber gewaschen, gekämmt und sonntagsmäßig erscheinen. Das Trinken und Essen kostete uns nichts. Als der Tag herankam, an dem das Kränzchen stattfinden sollte, füllte sich gleich nach der Mittagsstunde der Saal mit Schulkindern und anderen Gästen. Auch ich erschien bald, nicht gerade in schönem Anzuge und feinen Stiefeln, denn beide wiesen schon mehrere Flickflecke auf; doch hatte ich den Anzug vorher rein ausgebürstet und die Stiefel mit Wichse geglänzt. Freudenausdrücke kreuzten sich, jubelnde Stimmen schallten von allen Seiten, feierliche Laune strahlten unsre Blicke und der Anfang der Musik konnte nicht erwartet werden. Endlich ertönte das Blashorn vom Chore: Traaa / daaa! wonach eine Grabesstille eintrat. Der Lehrer trat hervor, hielt eine Ansprache an uns alle, rief dann Jansas Rosa auf, die ein schönes Gedicht vortrug, das von einem Getöse auf der Saaldecke begleitet wurde, als wenn es donnerte. Dann wurden wir darüber aufgeklärt, wie jeder zu tanzen hätte. Die Tanzordnung lautete: Die Großen tanzen auf der äußern Seite des Saales und die Kleinen inmitten des Ringes. Die Musik fing an und nun ging's los, hopsa, heisa, hopsasa! jeder nach seiner Art und wie er es eben konnte, Jungen mit Jungen, Mädchen mit Mädchen. Jungen mit Mädchen, sich tapfer festhaltend, tummelten sich herum oder schwebten jubelnd nach dem Musiktakte rings umher. Bald purzelte ein Paar da, bald dort, die hinterher Kommenden purzelten über die ersten drüber, manche lachten, andere weinten. Die Musik spielte weiter, auf und fort ging's wieder und der kleine Unfall oder blaue Fleck wurde bald vergessen.

Den erwachsenen Zuschauern machte unser Getümmel großen Spaß. Über uns kleinere Tänzer wurde besonders viel gelacht. Denn Takt? Was hieß bei uns Takt halten? Jeder sprang eben so, wie er es am besten weg hatte. Als wir so einige Touren weggemacht hatten, passierte auch mir ein kleiner Unfall. Ich tanzte mit meinem Schulkollegen Rudolf Pelz, der um etwas kleiner wie ich war, wir hüpften und hüpften. »Au / au!« schrie ich da plötzlich und griff nach meinem Kinn, die Zunge blutete. Doch nur eine kurze Weile und schon wieder drehte ich mich lustig auf dem Tanzboden herum. Diesmal war es aber kein ungeschickter Junge, sondern ein Mädchen, das meine Arme hielten, und mit dem mich die Musikwellen förmlich fortrissen. O, wie froh war ich da! Stillschweigend ließ ich meine Blicke ihr danken, daß sie mir nicht den Korb gegeben. Es war die Fanny Sorkuß! Von da an aber war's mit dem Tanzen in der Mitte für immer vorbei.

Das Frühjahr nahte. Der Vater ließ sich einige Tage zu Hause blicken, denn die Fabrikkampagne war zu Ende. Dann sah ich ihn wieder nicht. Er war fortgereist nach Sachsen. »Arbeit suchen«, sagte die Mutter. Die Feldarbeit begann, das Getreide wurde gesät, Hopfen gepflanzt, Arbeitskräfte gesucht. Auch meine Mutter ging wieder aufs Feld arbeiten. Und jedesmal, wenn sie mittags oder abends von der Arbeit nach Hause kehrte, waren ihre ersten Worte: »Hat der Vater geschrieben?« bevor sie nach anderm fragte. Später frug sie nicht nur nach des Vaters Schreiben, sondern auch noch, ob er schon Geld geschickt hätte. Ich, der ich den ganzen Tag zu Hause war und die Hauswirtschaft führte, mußte ihre Fragen entweder mit »Nein!« oder »Ja!« beantworten können. Lange, lange dauerte es, bevor ich mit »Ja!« antworten konnte. Er hatte uns endlich geschrieben, nein! nur schreiben lassen; es war ja nicht seine Handschrift; so schreiben konnte er ja gar nicht. Er habe nach langem Suchen doch Arbeit gefunden, könnte deshalb nicht mehr wie sechs Mark schicken. Sechs Mark! nach unserem Gelde wußte ich nicht wie viel das war. Als ich mit dem Lesen des Briefes zu Ende war, sank Mutter Tränen schluchzend auf die Ofenbank nieder und weinte bitterlich. »Hier!« wandte sie sich dann, auf den Brief zeigend, uns zu, »solltet ihr von dem leben, was der Vater euch schickt, dann könntet ihr eure Mäuler auf den Balken hängen und verhungern! Ich muß mich Tag und Nacht schinden, plagen und wie ein Hund abhetzen und noch langt es nicht.« Wir Geschwister standen um sie herum, sahen und hörten ihre Worte, die wie ein Vorwurf uns galten, traurig zu. Ich fühlte mich als der Hauptschuldige, da ich doch der größte war und deshalb auch das meiste aß.

Wenn der Holzvorrat ausging oder die Feldarbeit nachließ, da ging die Mutter in den Wald und schleppte auf ihrem Rücken das Brennholz nach Hause. Bei dieser Arbeit war auch meine schwache Wenigkeit nötig. Der Schulbesuch wurde dann wieder beiseite geschoben und mit ging's in den Wald. Bruder Albert versah während unsrer Abwesenheit meinen Posten / als Hausverwalter. Das Holzholen war eine sehr schwere Arbeit, besonders für eine Frau. Es war im gräflichen Walde erlaubt, sich die dürren Äste von den Bäumen herunterbrechen zu dürfen, das nur mittels eines an einer langen Holzstange angemachten Hakens geschehen konnte. Die Stange mußte natürlich so lang sein, wie die Bäume hoch waren, man band sie gewöhnlich aus zwei Hälften mit einem Strick zusammen, je nach der Höhe der Bäume, dann wurde sie mit dem unteren Ende an einen Baum gestemmt und in die Höhe gerichtet. Und nun ging die Mutter, die zehn, zwölf Meter lange Stange in ihren Händen haltend, nach den dürren Ästen oben spähend, von Baum zu Baum; hatte sie einen Ast erblickt, setzte sie den Eisenhaken an und schon krachte er herunter. Unten erwartete ich ihn und legte so einen nach dem anderen schön auf einen Haufen. Aber wehe uns, wenn ein Ast zu dick, zu zäh war, nicht brechen wollte. Da mußten Mutter und ich an der Stange mit aller Kraft ziehen. Dann brach er oft plötzlich ab und wir verloren die Balance. Die Stange aber fiel mit aller Wucht lang nieder auf die Erde und zerbrach manchmal in drei, vier Stücke. Hatten wir genügend Äste heruntergerissen, wurden sie dann zu einem gewöhnlich großen Bund mit Stricken zusammengebunden und Tragbänder angemacht, in die die Mutter dann kniend beide Arme steckte und sich dann an mir mühsam aufrichtete.

Dann ging's nach Hause. Ich zog immer die Holzstange hinter mir her. Ein Waldgang dauerte gewöhnlich einen halben Tag, vielemal auch länger, je nach dem Vorhandensein dürrer Äste. So »Holz zu machen« verrichteten eigentlich nur Männer. Von Frauen war meine Mutter die einzige, die ich ihnen das nachmachen sah. Ach! wie leid tat mir da meine Mutter, wenn sie die schwere Stange immer wieder absetzte, über Hände und Halsschmerzen klagte. Oder wenn ich sah, wie sie den ganzen Tag, die ganze Woche über auf dem Felde arbeitete oder in der Scheune das Getreide mit Flegeln drasch, dann nachts das kleine Mädchen versah, die Wäsche wusch und unsre Sachen flickte. Sie schien mir wie eine Heldin! Trotzdem, daß manchmal der Zorn mein Inneres gegen sie erfüllte, weil sie mich im Schulbesuch hinderte und so brutal mit mir verfuhr. Heute verzeihe ich ihr gänzlich; sie mußte so tun, die Verhältnisse drängten sie.

Als ich nach langem Ausbleiben wieder in die Schule kam, war schon ein anderer, neuer Lehrer da, dessen Statur, sein weißes Haar, sein Bart, seine Gesichtszüge und Gebärden den Eindruck eines frommen, barmherzigen Bruders machten. Wozu aber sein hitziges Temperament entschieden nicht paßte. Denn bei dem Geringsten regte er sich sehr auf, überschüttete jeden schuldigen Schüler mit einer Masse donnernder Worte, focht mit dem Stock in der Luft herum. »Schade um jeden Hieb, der daneben fällt!« war seine Erziehungsansicht. Zwei bis fünf auf jede Hand oder fünfundzwanzig auf den Hintern wurden gezählt. Es wurde drauf gehauen / und gut. Was der Stock bei dem früheren Lehrer zu wenig tat, tat er bei diesem zu viel. »Tanzen und Komödie wird bei mir nicht gelehrt«, wiederholte er bei jeder passenden Gelegenheit im höhnischen Tone. Das machte auf mich, und wohl auch auf manche andere Schüler, den Eindruck, als wollte dieser Lehrer uns wirklich mehr wie der andere lehren. Was die weitere Erfahrung jedoch nicht bestätigte. Die Hauptlehrgegenstände waren nun Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion. Das Beten vor und nach dem Unterricht und Erzählen religiöser Geschichten nahm nun die meiste Zeit ein. Für den Unterricht in der Naturlehre, Geschichte war ich selbst noch nicht reif. Ich sah aber auch nicht wie früher, daß die großen Schüler von nun an etwas von diesen Lehrgegenständen gelernt hätten. »Ich werde euch andere Manieren lehren!« schrie oft der fromme Herr. »Ihr seid ganz verhätschelt!« Nach etwas zu fragen, wie wir es bei dem früheren Lehrer durften, wagte nun niemand, denn man hatte Angst, eine Antwort mit dem Stock zu bekommen. Unsicher, wie auf Nadeln, saß man in der Bank, verstohlen blickend, wohin sich der Lehrer bewegte, ob nicht wieder ein Hieb geflogen käme, wie es oft geschah. Auch ich bin einmal von so einem unverhofften Schlag zum Krankwerden erschreckt worden. Als ich wieder einmal in der Bank emsig in meinem Hefte schrieb und mitunter auf den Lehrer hinblickte, ob er mich beobachtete, fühlte ich plötzlich einen Hieb über den rechten Arm und hörte gleich: »Ich werde dich lehren, beim Schreiben die volle Hand auflegen.« Ein anderes Mal erhielt ich wieder auf jede Hand viere mit dem Stock, daß ich dann, wie mich die Mutter einkaufen schickte, den Handkorb kaum halten konnte. Eine geringe Strafe war das Aufstellen, eine Stunde oder noch mehr vorn bei dem Ofen stehen.

Das viele Strafen brachte oft große Uneinigkeit unter die Schüler. Die Bestraften wurden auf dem Heimwege von den andern Schülern ausgelacht und verspottet, was sich diese gewöhnlich nicht gefallen lassen wollten. So ging die Prügelei los, die oft blutig endete. Den andern Tag gab's dann wieder in der Schule Verhör der Täter und von Zeugen darüber. Es bildeten sich Parteien, auf eine Lüge kam's im Notfalle nicht an. Die schwächere Partei wurde stets überwiesen, sie verspielte, wurde verurteilt und gleich bestraft.

Die Strafe, bei dem Ofen zu stehen, empfand ich, als ich auch einmal so bestraft wurde, als härter, wie einige Hiebe mit dem Stock. Die höhnischen Blicke der Schüler und auch des Lehrers weckten in mir Haß und Verachtung gegen ihn. Die Höflichkeit, die er verlangte, geschah nicht aus Liebe, die Untertänigkeit war nicht die Hochachtung, die man jedem gerechthandelnden Menschen entgegenbringt und die wir auch wirklich vor dem früheren Lehrer hatten. Es war nur die Furcht vor dem Stock. Diese Handlungsweise nahm einem das bißchen Lust, die man noch zu dem Lernen hatte, vollends weg. Dieser neue Lehrer schien mir als das schlimmste aller meiner Hindernisse auf dem Wege des Lernens. Nun erst sahen ich und auch andere Schüler ein, wie gut und vernünftig der frühere Lehrer war. Bereitwillig hatte er jedem Auskunft gegeben, der das oder jenes wissen wollte und darum frug. Alles wurde freundlich, mit guten Worten geschlichtet, gerichtet, erklärt, ohne den Stock. Der neue Lehrer schien mir dagegen wie ein Teufel.

Der Herbst verfloß wieder, ohne daß ich die Schule besucht hätte. Denn der Vater, der aus der Fremde heimgekehrt war, ging mit Mutter Hopfen pflücken und dann Zuckerrüben ausmachen. Ich mußte wieder das Haus versehen und die Geschwister besorgen. Später, als mein Bruder imstande war, meinen Posten zu versehen, mußte ich mit aufs Feld und mich an dieser Arbeit beteiligen. Da war wieder keine Rede von in die Schule zu gehen. Nur im Winter gab's dann einzelne Tage, wo die Mutter nicht Getreide dreschen ging oder ich nicht Brennholz und Kohlen zu holen hatte. Da konnte ich dann wieder einmal in die Schule gucken gehen. So ging das bis in das zwölfte Jahr. Dann war von der Schule überhaupt keine Rede mehr. In diesem Winter aber, der nun gekommen war, stellte sich noch etwas Besonderes ein, so daß ich die Tage meines Schulbesuches bis zum Frühjahr noch schneller wie sonst zusammen zählen konnte.

Meine Eltern hatten nämlich den Beschluß gefaßt, sich ein Häuschen, ein eigenes Heim zu bauen. Eine Baustelle war schon gekauft. Streit und Zank mit dem Hauswirt und seiner Frau mag wohl dazu beigetragen haben, daß mit dem Hausbau Ernst gemacht wurde. Alle nötigen Vorbereitungen wurden getroffen, um mit dem Bau im Frühjahr anfangen zu können. Die bisherige Wohnung wurde geräumt und wir zogen in das Haus des Schusters Wendler, der meinen Eltern die Baustelle verkauft hatte.

Die Frau des Schusters war unsre Patin. Die Wohnung nahmen meine Eltern dort nur einstweilen, bis die eigene Wohnung fertig wäre. Wir hätten dort auch nicht lange wohnen können, denn der Mann war ein Sonderling, der sich mit seinen Nachbarsleuten nicht vertrug. Ich sehe ihn heute noch im Geiste, wie er duckmäuserisch wie ein Fuchs herumging, spähend oder schadenfroh herumblickte. Die meisten Leute gingen ihm lieber aus dem Wege und nannten ihn den verrückten Schuster. Ganz und gar geistig beschränkt war er jedoch nicht. Denn er pfuschte außer in seinem Handwerk auch in manches andre hinein. Auch fungierte er als der einzige Zahnzieher im Dorfe, obwohl er dazu kein besonderes fachgemäßes Werkzeug hatte. Nur mit einem gewöhnlichen Schusterzängel betrieb er diese Kunst. Ich möchte gar nichts davon erzählen, wenn ich selbst nicht diese zahntechnische Schuhmacherkunst dieses Mannes hätte erproben müssen. Als ich einmal heftiges Zahnweh hatte, führte mich die Mutter zu ihm zum Zahnziehen. Ich zitterte schon vor Angst als der Schuster sein Zängel von dem Arbeitstisch in die Hand nahm. Dann aber sah ich kein Zängel und keinen Schuster mehr. In meinem Kopfe knallte es und stach, als wenn hundert Nadeln drin herumfahren täten. Da, wohl durch eine wehrende Bewegung mit meinen Händen, schlug ich dem Künstler die Zange aus seiner Hand. Selbst die Türe zu suchen, um auszureißen, brauchte ich nicht / ich hätte sie auch vor lauter Schwindligkeit nicht gefunden / aber eins, zwei, lag ich schon von seiner Hand draußen vor der Haustüre an der frischen Luft. Der Zahn war noch im Munde, aber seine Schmerzen vergingen plötzlich, wie abgeschnitten. Auch Weinen und Schreien ließ nach. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Seitdem ließ ich mir nie wieder einen Zahn ziehen.

Ein anderes Mal bestellte mir meine Mutter bei diesem Schuster ein Paar Schuhe. Beim Maßnehmen sagte er prahlerisch: »Na, ich will ihm ein Paar gute, feste Schuhe machen!« Und er hatte wirklich recht. Die Schuhe waren fest, gut gemacht, so daß ich froh war, wie sie zerrissen waren, um sie nicht mehr anziehen zu brauchen. Die Mutter war natürlich froh, daß sie solange hielten, aber ich? Ach! hatte ich ein Leiden mit diesem Schuhwerk! Sie waren nämlich von dem sogenannten Rindsrückenleder gemacht, das erstens sehr stark und zweitens so körnig war, daß es keine Fettigkeit annahm. Ich konnte schmieren wie ich wollte, sie blieben eben hart. Dazu erhielten sie noch bedeutend an Gewicht durch die Stiefeleisen und die vielen Zwecken, die sich in den Sohlen befanden. Meine Füße waren immer wund, weil sie mich bei jedem Schritt und Tritt drückten und rieben. War ich froh, wie ich diese Schuhe in die Lumpen werfen konnte. Zum Glück waren auch das die ersten und die letzten von diesem Schuster.

Weniger Qual hätten mir wohl die Schuhe bereitet, wenn ich nur den Schulweg zu gehen gehabt hätte. So aber mußte ich diesen Winter oft / ja sehr oft in den Wald. Wenn kein Brennholz zu holen war, dann wurde Bauholz geschleppt, starkes zum Dachstuhlbau und das schwächere zu den Latten, die von den Zimmerern kantig zugehackt, und auf die dann Dachziegel drauf gehängt wurden. Bei dem Brennholzholen brauchten wir keine Angst auszustehen, denn das Brechen der dürren Äste war, wie ich schon sagte, erlaubt. Anders war es aber bei dem Bauholz; die grünen, gesunden Stämme zu fällen und aus dem Walde zu schleppen, war streng verboten, wer dabei erwischt wurde, ward zu mehrtägiger Gefängnisstrafe verurteilt, vor dem Gericht aber hatten alle natürlich große Angst, schon weil das Maß der Strafe jedesmal stieg. Bei dieser Gelegenheit hätte ich wirklich im Stehlen etwas lernen können, wenn ich nicht gar so dumm und gar so unfähig gewesen wäre. Die Mutter nahm da eine Axt, wickelte sie in einen Hader, und dann gingen wir nach dem Walde zu, der ungefähr eine halbe Stunde von unserm Dorfe entfernt war. Öfters erzählten wir einander allerhand auf dem Wege; aber je näher wir dem Walde kamen, desto mehr nahm die Redelust ab. Denn nun hieß es aufpassen, ob die Luft rein war. Die Mutter warf nun ihre Blicke nach allen Seiten, um sich zu überzeugen, ob nicht der Heger oder gar der Förster irgendwo auf der Lauer stehe. Gelangten wir schließlich ohne Hindernisse bis in den Wald hinein, so schritten wir einige Male kreuz und quer, spähend und horchend. War nichts Verdächtiges zu sehen, zog sie ihre Axt aus ihrem Versteck, und fing an, den passenden Baum umzuhauen. Nach einigen Hieben schaute sie sich immer wieder ängstlich um und horchte. Nach gewonnener Sicherheit machte sie ihn vollends nieder; aber das Umfällen des Baumes machte wieder besonders großen Lärm. Dann wiederholtes Gucken und Horchen. Dann hackte sie schließlich die Äste ab, die schnell seitwärts gebracht werden mußten. Dann bedeckten wir den gebliebenen Wurzelstock mit Gras oder Moos. Der Stamm aber wurde auf die Schultern gehoben; die Mutter ging vorn am starken und ich hinten am schwachen Ende. Ob da die Last zu schwer war oder ob es drückte, das zu bedenken gab's dann keine Zeit. »Fort, schnell aus dem Walde!« hieß es. Ach! Wie oft stürzte ich, wenn wir so mit unsrer Bürde auf dem schmalen Feldrand forteilten und ich mit der Mutter nicht Schritt halten konnte, der Stamm deshalb schwankte und mich hin und her schob! Mit wie vielen Tränen habe ich da das dürre Gras an diesem Fußwege genäßt! Es nutzte mir aber nichts; keinen Pardon gab's, sondern noch eine Portion Grobheiten und Prügel, zumal wenn ich hinten stürzte und die Mutter ihn auch vorn abwerfen mußte. Mit dem Lattenholz, das wir auch stahlen, war die Plage wenigstens nicht so groß. Da nahm die Mutter drei oder vier Stämmchen, mit einem Strick zusammengebunden, auf die Schulter, und ich eins in die Hände, das doch wenigstens nicht so schwer war, und mit dem ich gehen konnte, wie ich wollte.

Ach, wäre es auf meine Angst angekommen, da hätten wir sicher kein Holz heimgebracht, mit dem wir unser Häuschen hätten decken können. Obwohl wir vor dem Heger keine Angst zu haben brauchten, der, wie ich aus der Mutter Munde einmal hörte, bestochen gewesen sein soll. Ich erfuhr es, als sie einmal einer Nachbarin das Geheimnis anvertraute. »Aber nur Ihnen sage ich's, weil ich weiß, daß Sie eine gute, schweigsame Seele sind«, sagte sie zu der Frau vertraulich und ermahnte sie gleich dabei: »Aber ich bitte Sie, niemandem etwas davon zu sagen!« Na, ich war noch ein dummer Junge, aber der Frau hätte ich so etwas doch nicht anvertraut. Denn ich, der sich stets unter dem Weibervolks herumtrieb, viel unter ihnen zu tun hatte, war anderer Überzeugung wie die Mutter, daß es nämlich nicht lange dauern würde, bis die meisten Nachbarn das Geheimnis wissen würden. Denn wie oft war ich schon dabei gewesen, wo die oder jene Frau zu uns kam, um meiner Mutter ebenfalls ein Geheimnis mitzuteilen und anzuvertrauen, das auch niemand wie sie allein wissen, behalten solle. »Nur Ihnen sage ich das. Aber erzählen Sie's niemandem weiter!« Kaum war die Frau mit ihrem ausgeschütteten Herz aus der Türe hinaus, kam eine andere. Mutter ihr Herz konnte die Last des Geheimnisses nicht ertragen, brühheiß teilte sie es vertraulich mit derselben vorigen Betonung und Ermahnung der neu Angekommenen mit. Und so machten es alle. Alle lebten aber in dem guten Glauben, daß niemand anders von ihnen etwas Schlechtes wisse. Aber wenn dann einmal der Faden der Freundschaft riß, da ging der Krieg unter den Weibern los. Die Granaten der in beiden Kriegslagern angehäuften Geheimnisse flogen schmetternd hin und her. Mit schimpflichen Ausdrücken wurde nicht gespart, die Ehre nicht geschont. Die das beste Mundwerk hatte, sich am besten ausreden konnte, blieb die Siegerin. Die schwächeren räumten das Schlachtfeld.

Als wir wieder einmal aus dem Walde mit unsrer Bürde eilten, ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, erblickte plötzlich die Mutter einen Mann mit einer Flinte. »Wegwerfen!« erscholl vorn das Kommando und schon flog der Stamm in den Graben. Nun liefen wir, wie die vom Feind verfolgten Krieger, nach unsrem Dorfe zu, einen großen Umweg machend, um dem Manne, in dem wir den Heger oder Förster vermuteten, nicht in die Hände zu fallen. Der Schweiß rollte stromweis vom Gesicht / wenigstens mir / die Knie schlotterten, der Körper zitterte vor Schreck, als wir unsere Wohnung erreichten. Neugierige Weiber kamen auf uns zu, mit schadenfroher Miene fragend, warum wir so rennen, was uns passiert wäre. Als die Mutter das daliegende Holz mit Hadern, Wäsche und Stroh bedeckte, brauchten sie nicht mehr zu fragen und konnten leicht erraten, um was es sich handele. Nach der Beobachtung von unserer Wohnung aus / wir wohnten auf einer Anhöhe, Zizkaberg, sagten wir kurz / stellte sich's heraus, als der Mann näher kam, daß er kein Heger und auch kein Förster war, sondern der Bauer Rügel. Nachher lachten wir über die Geschichte natürlich vor Freuden. In umgekehrtem Falle aber wäre das für uns eine böse Sache gewesen.

Dies Bau- und Brennholzschleppen erforderte viele Tage und dauerte bis ins Frühjahr hinein, weil die Mutter nebenbei noch auf Arbeit ging. Wenn die Mutter keine Arbeit beim Bauer hatte, weil es gefroren hatte oder regnerische Witterung war, dann konnte ich jedesmal den halben oder ganzen Tag die Schule besuchen. Und da ist es wohl begreiflich, daß ich von diesem zeitweisen Besuche nicht viel erzählen kann, und daß es mit dem Lernen immer schlechter stand. Am Anfang seines Amtsantrittes wollte der Lehrer das Versäumen der Schule nicht dulden, schimpfte und drohte mit der Anzeige bei der Behörde. Nach und nach lebte auch er sich in die Verhältnisse dieses Ortes hinein und wurde ruhig. Denn es waren nicht nur die Kinder der armen Leute, die die Schule versäumten, sondern die der Bauern auch. Auch diese behielten ihre Kinder zu Hause, wenn sie Ernte oder andere nötige Arbeit hatten.

Trotzdem ich so selten in die Schule kam, brachte ich es diesen Winter um eine Bank höher. Ich wurde in die dritte Bank versetzt. Warum mir so geschah, konnte ich mir gar nicht entziffern. Alt war ich zwar genug dazu, aber gelernt hatte ich noch verdammt wenig. Lesen und Schreiben, das ging so halbwegs, da übte ich mich doch so viel, wie es mir meine freien Stunden zu Hause erlaubten. Aber im Rechnen und anderen Lehrgegenständen war ich schlecht daran. Schließlich fand ich den Grund meines Aufsteigens darin, daß die zweite Bank überfüllt war. Sieben Schüler hatten Platz darin, mit dem achten war sie schon gepreßt voll. Wohl weil ich der Älteste war, versetzte gerade mich der Lehrer. Und doch, am schlechtesten von allen meinen Schulkameraden ging's wohl mir beim Rechnen. Denn ich war ja der unter ihnen, der am meisten in der Schule fehlte und den der Aufschluß durch die vorhergehenden Rechnungen zu den späteren entgangen war, und der sich dann in keine Rechnung auf der Wandtafel hineinfand. Ratlos, verlegen stand ich da, wenn die Reihe an mich kam, eine Rechnung zu machen, die der Lehrer vorgeschrieben hatte:

»Wird es bald werden?« erscholl hinter mir seine Stimme, wenn ich immer noch unbewegt dastand. Das half mir nicht aus meiner Verlegenheit. Noch stand ich da wie ein Hackstock.

»Na, ich will dir helfen!« und schon pfiff der Stock durch die Luft, ein Hieb fiel nach dem andern.

Und wenn das noch nicht half, dann fuhren seine Finger in meine Haare, der Kopf flog wie ein Gummiball nach allen Seiten, auch an die Tafel, und trug oft eine Beule davon. Dabei schrie er erbost:

»Du Gottesgabe, du leere Kleie! Du Kommißbrötchen, was hast du in deinem Affenköpfchen?«

Das waren seine gewöhnlichen, seine liebsten Ausdrücke.

O! / wie viele Schläge mußte ich da ertragen. Wie oft mußte ich mich so herumstoßen, herumschütteln lassen? Unschuldig! Der alte, weißhaarige Mann war nicht imstande einzusehen, daß nicht ich an meiner Rückständigkeit schuld war, daß ich sehr gern lernen wollte, aber durch Not und Dürftigkeit meiner Eltern hierin gehindert wurde. Heute möchte ich ihm schon gern die Ursachen erklären wollen; aber zu spät, er ruht schon lange unter der Erde.

Auch die schönen Vorträge des früheren Lehrers über fremde Länder und Völker, über ihre Sprachen, Sitten und Lebensweise, über Naturlehre, Himmelskunde waren nun längst eingestellt. O, ihr schönen, aber getäuschten Hoffnungen!

Der Globus auf dem Tische, die Landkarten an der Wand wären nun verstaubt, wenn die Tochter des Lehrers sie täglich nicht abgewischt hätte. Die neu eingetretenen Schüler werden wohl gar nicht begriffen haben, zu welchem Zweck diese Gegenstände eigentlich dahingen oder standen. Die Zeit, die früher die belehrenden Vorträge und Erzählungen einnahmen, füllten nun stunden- und halbe Tage lange Märchen von Geistern und Wundern, ähnlich, wie ich sie von meiner Mutter zu hören gewöhnt war. Zwei von ihnen sind mir besonders wegen ihres wunderbaren Inhalts im Gedächtnis geblieben. Und die eine von ihnen lockte mich deshalb später einmal so auf die Leimrute, wie mir's seitdem nicht wieder passiert ist. Doch will ich an einer andern Stelle davon erzählen.

Als der neue Lehrer wieder einmal erzählte und über die bösen Eigenschaften der Menschen zu sprechen kam, führte er unter anderem auf, daß immer in den Menschen zwei Geister, ein guter und ein böser, den Kampf um seine Seele führen. Der erstere leite den Menschen zu guten Taten, damit seine Seele nach dem Tode das Himmelreich erlange. Der böse Geist dagegen verleite ihn zu schlechten und bösen Taten, derer er sich dann freut, weil er so die Seele für sein Reich, die Hölle, gewinnt. Um es unserem Begriffsvermögen besser zu veranschaulichen, führte er ein Beispiel von Pribram an: Dort soll, wie er sagte, eine Frau von so einem bösen Geist, einem Teufel, besessen gewesen sein. Geistliche pilgerten hin zu der Frau, um ihn aus ihr zu vertreiben, sie von ihm zu befreien. Viele hatten ihr Glück versucht, aber vergebens! Jedem, der zu ihr herantrat und zu beten bei ihr anfing, schleuderte sie seine Sünden entgegen, die er von Kindheit bis zur letzten Stunde begangen hatte. Und so mußte jeder unverrichteter Sache abziehen. Der böse Geist in ihr blieb Sieger! Schließlich kam noch ein sehr junger Kaplan, dem sie sonst nichts vorwerfen konnte, nur, daß er als kleiner Junge einen Kreuzer gestohlen hätte. Darauf bekam sie starkes Schütteln am ganzen Körper, kniete nieder und betete mit dem Geistlichen. Damit war sie geheilt: Durch des jungen Geistlichen Unschuld also war der Teufel endlich besiegt. Wenn ich noch heute manchmal über diese Märchen nachdenke, so sehe ich immer noch im Geiste den Lehrer mit seinem ernsten Gesicht, das er jedesmal dabei machte. Und dies schon ließ keine Zweifel in uns aufkommen. Es mußte wahr sein!

Ein anderes Mal war wieder der Gegenstand des Wunders ein Tischler. Er hatte sich selbständig gemacht, in einem Orte seine Werkstatt eingerichtet. Anfangs erhielt er keine und auch später nicht viel Arbeit. Seine Ersparnisse, die er sich als Geselle gemacht, und das Erbteil von seiner Mutter hatte er in Werkzeug und Material gesteckt; zum Leben war nicht viel bares Geld übriggeblieben. Die Not wurde immer größer. Aber er vertraute auf Gott und verzweifelte nicht. Vor der Kirche stand ein Kreuz mit dem Heiland, dort ging er alle Tage hin und bat den Gott um Hilfe. Und siehe! Als er nach mehrmaligem Bittgang wieder einmal hinkam, lag unterm Kreuze ein wunderschönes Bild, für das er in der Stadt siebenhundert Gulden bekam. Das Geld schaffte ihm nicht nur seine Not vom Halse, sondern brachte ihm auch viel Segen in seine Werkstatt. Nach kurzer Zeit hatte er so viel Arbeit, daß Gesellen aufgenommen werden mußten. Glücklich lebte er dann weiter!

Ganz etwas Neues in diesem Ort war damals die Errichtung einer Schulbibliothek, deren Bücher aber denselben Inhalt hatten wie die angeführten Erzählungen. »Die Räuber in der Mühle«, »Die Schmuggler«, »Doktor Faust« hatte ich mir geborgt und gelesen. Daß ein Mensch wie der Faust den Degen seines Feindes in ein Strohseil verwandeln oder ihm Hörner anzaubern könne, hielt ich aber schon damals für unmöglich.

Einmal teilte uns der Lehrer mit, daß er in der deutschen Schrift, im Lesen, sowie in Musik Stunden geben wolle, was monatlich nur einen Gulden Honorar koste. Wer also Lust hätte, eins davon zu lernen, der solle sich melden. Ich war der erste mit und wählte den deutschen Unterricht. Freudenvoll lief ich nach Hause und teilte meiner Mutter meinen Entschluß mit. Aber da kam ich schön an. »Du brauchst in der Schule nicht Deutsch zu lernen. So viel du brauchen wirst, lernst du unter den Leuten, so wie ich es auch lernte. Und noch dazu dafür Geld zahlen, wo es nicht einmal zum Fressen langt? Nein, da gibt's nichts!«

So etwas hatte ich doch nicht erwartet. Ich versuchte durch Bitten die Mutter für mein Vorhaben zu gewinnen, aber vergebens! Mein Bemühen blieb erfolglos. Sie blieb bei ihrer Antwort: »Nicht ist's und gut!« Traurig, schweren Herzens, mußte ich dem Lehrer melden, daß ich nicht lernen dürfe.

Wie töricht kann so ein junger Kopf doch sein! Solche unbesonnenen Pläne! denke ich mir, wenn ich mich heute an diese Geschichte erinnere. Wo ich nicht einmal recht Tschechisch schreiben konnte, wollte ich schon wieder das Deutsche lernen. Vielleicht war die Mutter doch klüger wie ich. O, du Not, welchen Fluch hast du über die Familie gehen lassen, von der ich abstamme?

Noch seltner als in die Schule kam ich in die Kirche. Gewöhnlich hatte ich schlechte Stiefeln und der Gang dorthin war doch über eine halbe Stunde Weges lang, meistens sehr kotig. Und wenn's diese Not nicht gab, so hatte ja immer Sonntags die Mutter volle Hände Arbeit, so daß ich verschiedene Wege machen oder die kleinen Geschwister warten mußte. Schüler, die mit mir in die Schule eintraten, waren schon einigemal zur Beichte gewesen; ich aber kam nicht dazu. Deshalb verstand ich auch gar nichts von dem kirchlichen Kult. Diese Unwissenheit verschuldete es auch, daß ich mir in den Augen der Großmutter eine große Sünde zuzog, als ich bei ihr einmal auf Besuch war. Die Großmutter war nämlich sehr fromm und gottesfürchtig. Sie ging jeden Tag früh in die Kirche. Ich mußte natürlich, weil ich da war, mit. Sie setzte sich immer in eine Bank und ich stellte mich an das Geländer vor dem Altar. Einmal, als ich wieder so dastand und schon mehrere »Vaterunser« heruntergebetet hatte, kamen zwei junge Frauen und stellten sich neben mich hin, kurz darauf kamen noch drei Herren dazu, ich stand nun mitten unter ihnen. Dann trat vor uns der Geistliche, mit einem Gefäß in der Hand, aus dem er etwas herausnahm und jedem von uns Dastehenden in den Mund reichte, wobei er etwas mir Fremdes sprach. Als er zu mir kam, langte er mir auch so ein Ding her, ich machte auch den Mund auf und schon klebte es an der Zunge. Was das war, wußte ich nicht, das erfuhr ich erst von der Großmutter. Denn auf dem Heimwege erzählte ich ihr, wie und was ich von dem Geistlichen bekommen hätte. Plötzlich blieb sie stehen, sah mich erstaunt an und schlug dann die Hände zusammen. »Was? was? Du infamer Kerl!« schrie sie mich an. »Gott, verzeihe ihm die große Sünde! Kommuniziert hast du, ohne erst gebeichtet zu haben.« Eilig griff sie in ihre Tasche und reichte mir ein silbernes Sechserle: »Marsch, schau daß du nach Hause zu deiner Mutter kommst!« Ich durfte nicht einmal mehr mit in ihre Wohnung. Verwundert horchte und sah ich ihr zu, wußte gar nicht in dem Augenblick, wie und warum mir so geschah. Und eine lange Weile hörte ich sie noch hinter mir herschimpfen. Diese große Sünde lastet heute noch auf mir, weil ich sie auch bei den folgenden zwei Beichten in meinem Leben / jedesmal, wenn ich heiratete, habe ich später noch »gebeichtet« / dem Geistlichen nicht beichtete. Mit dieser Sünde hoffe ich auch von dieser Welt zu scheiden.

Das Frühjahr kam heran. Die Bausteine, die der Schuster Wendler den Winter über brach, standen schon auf der Baustelle aufgeschlichtet. Mein Vater begann dazu noch die ägyptischen Ziegel zu machen, und zwar von dem Lehme, der sich auf der Baustelle befand. Diese Ziegel / wir nannten sie Patzen / wurden auf dieselbe Art wie die Mauerziegel gemacht, nur daß sie im Maß länger, breiter und höher wie diese waren. Außerdem wurde noch in den Lehm kurzgehacktes Stroh gemengt. Gebrannt wurden sie nicht, nur getrocknet. Und so wurden sie auch vermauert.

Der Vater und ich, wir machten die Patzen miteinander, dazu hatten wir zwei Formen und einen Tisch, einen sogenannten Stock. Erst machte er den Lehm zurecht und dann füllte er die Formen, eine nach der andern. Immer, wenn eine Form gefüllt war, nahm ich sie und lief keuchend, gebeugt, von der Last fast zur Erde gezogen, nach dem Plan hin, wo ich den Patzen auskippte; schnell rannte ich wieder zurück, schob die leere Form in den neben dem Tische stehenden Waschtrog, der mit Wasser gefüllt war, nahm wieder die volle Form und so ging das bis spät abends. Wenn dann das Patzenmachen aufhörte, mußten noch die, die schon abgelüftet und härter geworden waren, aufgeräumt, in ein Bankel geschlichtet und mit Stroh gedeckt werden. Darüber war's dann gewöhnlich schon finster, bevor wir mit all dieser Arbeit fertig waren. Ach, war ich jedesmal müde! Und den nächsten Tag wußte ich nicht, wie ich vor Schmerzen in meinen Gliedern bei der neuen Arbeit zugreifen sollte. Klagen? nein, das nütze nichts! Es hieß nur: »Los, los, los!« Trotzdem interessierte mich das Patzenmachen sehr, so daß ich immer, währenddem der Vater den Lehm zurecht machte, versuchte, selbst welche zu machen. Es ging mir schwer von der Hand und sehr langsam, aber meine Versuche gelangen doch, so daß die Patzen, die ich gemacht hatte, brauchbar waren. Das brachte wohl den Vater zu dem Einfall, ob ich die noch fehlenden Patzen allein machen wollte, da er dann wieder seiner Arbeit in der Ziegelei nachgehen könnte. Die Beratung darüber war kurz und der Beschluß, das so zu halten, wurde sofort gefaßt. Mir war das ja lieber wie das Kinderwarten und ich war froh, daß ich diese Bürde auf meinen Bruder abwälzen konnte. Den Lehm brauchte ich natürlich nicht auch noch zurecht zu machen, das besorgte der Vater, wenn er abends aus der Arbeit kam und frühzeitig, bevor er wieder in die Arbeit ging. Meine Tagesleistung betrug 150 bis 200 Stück. War das eine schmutzige Arbeit! Meine Kleider waren den ganzen Tag durchnäßt, überall hing Lehm dran, ja, ich hatte ihn auch im Gesicht, Haaren und Ohren, weil, wenn ich den Lehm in die Form hineinhaute, er mit dem Wasser rings um mich herumspritzte. Zwei oder drei Wochen / bestimmt weiß ich es nicht mehr/ war ich wohl so mit dem Patzenmachen beschäftigt. Dann blieb der Vater wieder aus der Arbeit zu Hause und der Bau begann.

Zwei Maurer übernahmen die Arbeit im Akkord für 68 Gulden. Wegen dieser Verabredung gerieten meine Eltern nachher noch in großen Streit. »Gut, für achtundsechzig Gulden wollen wir den Bau übernehmen, aber ohne Kalkputz der Zimmerwände«, sagten die Maurer. »Nein, putzen nichts!« antwortete ihnen nachgebend mein Vater. Dabei blieb's auch. Als die beiden dann fort waren, ging der Zank und Streit zwischen den Eltern los. Die Mutter meinte, daß die Maurer für das Geld auch noch den Putz gemacht hätten, wenn der Vater nicht so willig nachgegeben hätte. Er hätte dumm gehandelt, nun könnte er ihnen diese Arbeit extra bezahlen, »Putzen nichts, putzen nichts!« rief sie ihm überall nach, wo sie ihn sah. Dies mußte er sich noch lange Zeit anhören.

Während des Baues war meine Beschäftigung, Wasser zu tragen, soviel immer den Tag über und während des ganzen Baues dazu gebraucht wurde. Damit ich die Wasserkannen nicht in den Händen tragen mußte / übrigens hätte ich das gar nicht gekonnt, weil ich noch zu klein war und die Kannen auf der Erde hingeschleift hätte / machte mir der Vater sogenannte »Trägerhäkchen«. Das ist eine Holzstange, an deren Enden, links und rechts, ein Eisenhaken durch einen Strick angebunden war; dies war das Werkzeug, das man dann mit den vollen oder leeren Kannen auf der rechten oder linken Schulter balancierte. Das Wasserloch befand sich unten am Berge. Der Weg war sehr steil und steinig, sehr mühsam nur kam man von unten hinauf. Ach! und wie oft bin ich da unter der Last der zwei vollen Wasserkannen ausgerutscht, wie oft goß sich das Wasser über mich, daß ich durch und durch naß war und die leeren Kannen rollten den Berg hinunter, von wo ich doch eben erst so mühsam heraufgekrochen kam. Wie viele Tränen vergoß ich auf diesem Fußsteig. Dabei rollte der Schweiß über mein Gesicht, die Knie schlotterten, ich schnappte nach Luft, wenn ich einmal den Weg zurückgelegt hatte und auf dem Berge oben war. Und doch mußten meine jungen, schwachen Glieder diesen Weg den Tag über oft machen. Sehr selten kam mir jemand von meinen Eltern zu Hilfe. Sie konnten sich ja keinen Arbeiter zu der Arbeit aufnehmen, es langte das Geld nicht dazu, wir mußten also alles allein machen. Der Vater selbst machte den Mörtel / es wurde nur mit Lehm gemauert / und fuhr den Maurern die größeren Steine zu. Die Mutter brachte ihnen die Patzen herbei, und so hatten wir alle Hände voll Arbeit. Die inwendige Seite der Wände wurde von den Patzen gebaut und die äußere von Steinen. Gebrannte Mauerziegel wurden nur zu Sims und Fensterumrahmung verwendet. Endlich, in vierzehn Tagen, war der Bau so weit, daß die Zimmerleute, die das Holz aus dem gräflichen Walde gezimmert hatten, den Dachstuhl heben und stellen konnten. Sie bekamen für ihre Arbeit siebzehn Gulden. Und dann der Hebeschmaus! Die Mutter brachte eine Kanne mit Bier, Brot, Butter und Käse. Alle Mitarbeiter wurden eingeladen, an dem Tische, auf dem wir erst die Patzen gemacht hatten, Platz zu nehmen. Und dann ging's ans Essen und Trinken. Auch ich bekam eine Butterschnitte mit Käse und ein Gläschen Bier dazu. Wie lange schon hatte ich kein Butterbrot erhalten. Das gab's schon lange Zeit nicht mehr bei uns. Besonders vor und während des Baues, da ging's sehr sparsam zu. Brot gab's nur trocken und das wurde knapp abgeteilt. Hatte ich noch Hunger und verlangte noch mehr Brot, da sagte gewöhnlich die Mutter: »Der Vater borgt sich Geld zum Bau und euch gebe ich's zum Verfressen, ihr habt keinen Verstand!« Daß sie recht hätte, sah ich damals noch ein. Aber der Hunger tat weh. Dazu mußte ich noch schwer arbeiten.

Das Wohnhäuschen bestand aus drei Wohnräumen. Das eine Zimmer war ungefähr fünf Meter lang, vier breit und drei Meter hoch. Das zweite Zimmer war um die Hälfte kleiner und das Kämmerchen wieder um die Hälfte kleiner wie das zweite. Einstweilen ließ der Vater nur die beiden letztgenannten Wohnräume zum Wohnen herrichten. Das große Zimmer blieb derweil roh stehen, die Fenster wurden mit Ziegelstücken versetzt. Erst später ließ er auch dieses vorrichten. Fußboden von Bretter gab's auch keinen. Der wurde nur von feuchtem, gestampftem Lehm gemacht.

Die Türen waren nur aus einfachen Brettern zusammengenagelt. Anstatt eines Türdrückers brachte man auf der inwendigen Seite des Türstockes eine Holzhaspe, die etwa wie ein Haken aussah, an, befestigte an der Türe durch einen Nagel ein Holzlättchen, band einen Bindfaden dran und zog es durch das gebohrte Löchel in der Türe auf die auswendige Seite. Wer herein wollte, der mußte an diesem Bindfaden ziehen, das Lättchen ging dann in die Höhe und die Türe ging auf. So etwas Billiges, das doch auch seinen Dienst tat, kennen die Stadtbewohner natürlich nicht. Zum Dachboden führte auch nur eine gewöhnliche Leiter, keine Treppe.

Das Häuschen wurde mit Dachziegel gedeckt. Ein Dachdecker war nicht nötig. Denn sie hingen ohne Kalk auch. Daß die Sonnenstrahlen oder die Regentropfen durch die Fugen drangen, oder im Winter der Schnee durchstöberte, darüber mußte freilich das Auge zugedrückt werden.

Das Dachfußbodenlegen wurde auch auf später verschoben. Man legte einstweilen ein langes Brett über die Balken, das hin und her geschoben werden mußte, je nachdem, wo und nach welcher Seite man gehen wollte.

Von außen gab's auch keinen Putz, geschweige eine Fassade. Auch das war zum Drinwohnen nicht nötig. Und das bißchen Hofraum konnte auch nicht umzäunt werden. Dazu mußte erst wieder das nötige Holz aus dem Walde gestohlen werden.

Der Bauplan, den ein Maurerpolier gemacht hatte, »das bißchen Geschmiere«, wie's die Mutter nannte, kostete fünfzehn Gulden. Wieviel Mauer- und Dachziegel kosteten, erfuhr ich nicht; sie waren von dem Ziegeleibesitzer bezogen, bei dem der Vater arbeitete und Schuld wurde wöchentlich vom Lohne abgezahlt. So stand das neueste Haus, Nummer 84, da, in das wir bald feierlich, voller Freuden, ein eigenes Heim zu besitzen, einzogen.

Ich? Ach! ich war nicht lustig bei dem Überräumen. Denn ich lag schwerkrank im Bett. Bei der letzten Maurerarbeit, am vorderen Giebelbau, kam ich zu einem Unfall. Als ich in der Backschüssel Steine trug, rutschte einer herunter und fuhr mir auf meinen rechten Fuß. Die Wunde schwoll an und entzündete sich immer mehr, bis ich liegen bleiben mußte. Bald trat noch eine andere Krankheit dazu, was es für eine war, weiß ich bis heute nicht. Große Rücken- und Kopfschmerzen traten ein. Und am ganzen Körper eine Mattigkeit, daß ich mich kaum allein im Bett aufrichten konnte. Die Eltern hatten keine Zeit und wohl auch kein Geld, mir einen Arzt von Kolleschowitz zu holen. Ich ward der Gottesgnade empfohlen. Die Eltern hatten nicht einmal so viel Zeit, daß sie sich hätten mit mir abgeben oder mich pflegen können. Nur wenn der jüngere Bruder, der gewöhnlich mit den Geschwistern draußen spielte, hereingesprungen kam, konnte ich etwas verlangen, wenn er nicht gar ohne erst auf mich zu hören, gleich wieder davonlief. Die Mutter aber kam nur zur Mittagszeit oder abends zu mir herein. Das Heftpflaster, das sie mir auf die Wunde legte, half nicht viel. Es wurde im ganzen immer schlimmer mit mir. Als sich dann meine Krankheit allzu bedenklich zeigte, holte die Mutter die Kräuterfrau Walter. Das war der Ortsarzt für solche arme Leute, wie wir waren. Sie war selbst auch die Ärmste unter uns Armen und fristete ihr Leben eigentlich nur durch Betteln. In ihrer »freien Zeit« sammelte sie Kräuter, für die sie niemals etwas verlangte. »Zerstampfte Schafgarbe, kühl auflegen, das nimmt die Hitze«, sagte sie, als sie gekommen war, und zwar Deutsch, denn sie konnte besser Deutsch wie Tschechisch. Dann untersuchte sie mich noch. »Hm, zu viel Hitze, Nervenfieber. Das ist von der Überanstrengung«, meinte sie. Dann, nach längerer Zeit kam sie wieder, mit Kräuter, Hausbrot und Milch von Bauern. Nachdem sie der Mutter alles angegeben hatte, was und wie es mir zu verabreichen sei, streichelte sie mich noch einmal im Gesicht, tröstete mich mit freundlichen Worten von baldigem Gesundwerden und humpelte, sich an ihrem Stock stützend, zur Tür hinaus. Sie besuchte mich ein- bis zweimal täglich. Ob ich wohl diesem armen Wesen mein weiteres Leben zu verdanken habe? Möglich, sogar sehr wahrscheinlich. Einst, als ich wieder einmal in Ohnmacht fiel, was damals oft vorkam, sah ich, wie ich wieder zur Besinnung kam, meine Eltern und andere Leute um mein Krankenlager herumstehen. Vater und Mutter weinten. Hinter meinem Kopf stand eine brennende Kerze. Ich verstand, was das alles bedeuten sollte. Man war überzeugt, daß das Ende meines Lebens nahe sei.

Endlich aber trat doch Genesung ein. Es ging freilich langsam. Aber nachdem ich mich noch mehrere Wochen ausgeruht hatte, und nachdem schließlich auch der Fuß ganz geheilt war, nahm mich mein Vater mit zum Ziegelwegtragen in die Ziegelei. Bei dem Ziegelmachen waren wir ihrer drei: Der Vater machte den Lehm, die Tochter des Ziegelmeisters machte die Ziegel und ich trug sie weg. Und zwar mußte ich einen nach dem andern hübsch in Reihen auf den geebneten Platz unter dem Schuppen setzen; keiner aber durfte schief stehen.

So ein Ziegel, von frischem, nassem Lehm gemacht, wog sicher fünf Kilogramm. Wenn ich eine neue Reihe anfangen mußte, hatte ich sehr weit zu laufen. Da hieß es dann schon rennen, wenn ich wieder zurück sein wollte, sowie der neue Ziegel fertig war. So viele Ziegel also fertig wurden im Tage, so vielemal mußte ich rennen, also tausend- bis elfhundertmal. Bei dieser Eile kam es vor, daß ich mit meinem Ziegel hinpurzelte, der dann weggeworfen werden mußte. Im Anfange blickte man über den Schaden weg. Später aber kam der Vater mit dem Fahrband und belehrte mich durch einige Hiebe, besser aufzupassen und geschickter zu sein. Oder wenn ich noch nicht zurück war, wenn der fertige Ziegel schon dastand und das Mädchen deswegen brummte, da erscholl Vaters Stimme: »Na, soll ich dir deine Faulheit heraustreiben?« Ich kannte meinen Vater bisher wenig, weil er sich nicht viel zu Hause aufhielt, und wenn er da war, so machte er sich mit uns Kindern wenig zu tun, verhielt sich vielmehr uns gegenüber gleichgültig. Nun aber gefiel er mir gar nicht. Lieber wäre ich nicht hingefallen, hätte immer zur Zeit zurück sein wollen, wenn ich nur anders gekonnt hätte.

Früh wenn die Arbeit begann, spürte ich schon Schmerz in allen Gliedern. In Beinen vom Laufen, in Händen und Rücken von dem Tragen. Den ersten Ziegel anzugreifen hat mir immer gegraut. Es half aber nichts; immer wieder mußte ich mich meinem Schicksal fügen. Es nötigte mich oft zum Weinen; ich mußte es aber unterdrücken. Denn erblickte mein Vater Tränen, sagte er gewöhnlich spöttisch: »Schäme dich, so ein junger Kerl soll gar nicht klagen, daß ihm etwas weh tut. Wie ich so alt war, mußte ich anders beim Bauer arbeiten und niemand bedauerte mich.« Wenn ich zu Hause etwas sagte, tröstete mich die Mutter, daß das Ziegelbrennen nicht solange dauern würde. Der Vater könne sich nicht helfen, da er jetzt Geld brauche, deshalb müßte er sehen, daß ich etwas mit verdiene. Ich duldete also und zählte die Tage und Wochen bis das Ziegelmachen aufhöre. Dabei hoffte ich, daß ich wohl wieder in die Schule werde gehen können, um wenigstens dort nach den Anstrengungen auszuruhen.

Meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Arbeit in den Hopfengärten, und dann auf den Zuckerrübenfeldern, folgte. Wir hatten eine Stunde Weges zu gehen. Früh nach vier Uhr hieß es schon ausrücken und erst abends im Finstern kamen wir wieder nach Hause. Diese Arbeit war für mich aber doch viel leichter wie die in der Ziegelei.

Der jüngere Bruder Albert mußte nun den Tag über die Hauswirtschaft führen und sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Es waren auch die Hühner, Gänse und die Ziege zu füttern. Seitdem wir das eigene Haus besaßen, hielten wir diese Haustiere.

Ach, das war ein Klagen, ein Gejammer, wenn wir abends nach Hause kamen. Von weitem schon kamen uns die kleinen, wie Aschenbrödel aussehenden Geschwister entgegen, weinend hängten sie sich an Mutters Kleider. Klagten, der Albert hätte sie geprügelt. Er klagte, sie hätten nicht folgen wollen. Es nahm kein Ende! Gewöhnlich wurde der Bruder als der schuldigere verurteilt und mit dem Besenstiel oder was sonst der Mutter am nächsten lag, geschlagen. Die Mutter war in dieser Beziehung nicht wählerisch. »Ach, du armer Bruder!« dachte ich manchmal, »so ging's auch mir, wie ich deinen Posten versehen mußte.« Überall, wohin sich die Mutter bewegte, liefen ihr abends die kleinen Wesen nach. Das kleinste war noch an der Brust. Den ganzen Tag hatten sie doch nicht ihre Mutter gesehen, und dann schrien sie immer nach Essen. Aber bevor sie das Feuer angemacht und etwas zu essen gekocht hatte, waren die armen Teufel in irgendwelchem Winkel des Zimmers oder Hofes hungrig eingeschlafen.

Ich fütterte derweil die Gänse und die Ziege mit dem Grase, das wir vom Felde mitbrachten. Und wenn die Mutter noch keine Zeit hatte, mußte ich das Tier auch melken. Bei der Melkerei verdiente ich mir auch manche Portion Grobheiten. Das Vieh ließ sich wahrscheinlich nicht gern von mir melken, trampelte hin und her, bis der Topf umfiel und die Milch herauslief. Bevor wir mit der häuslichen Arbeit abends fertig wurden, war's elf bis zwölf Uhr nachts und um drei Uhr früh mußte wenigstens die Mutter wieder aufstehen. Gebenedeit seist du unter den Weibern, du Heldin! Schon nur deswegen verdienst du, geehrt zu werden.

Noch will ich etwas von der Ziege erzählen. Das dumme Vieh hätte mich einmal, als ich sie Hüten treiben mußte, bald totgeschleppt. Sie war nämlich an meine Mutter so gewöhnt, daß, wenn sie irgendwo eine Frau zu sehen bekam, sie ihr gleich nachrannte. Als ich sie wieder einmal in das sogenannte Lettental auf die rechte Böschung geführt hatte, wo recht viel Dornensträucher waren, rupfte sie hübsch die Blättchen ab. Um sie recht fest zu haben, drehte ich mir den Strick, an dem ich sie führte, um die rechte Hand. Plötzlich hob sie ihren Kopf, auf der andern Seite erblickte sie, eher wie ich, eine Frau. »Meee, meee!« hupf, hupf, und schon ging es über die Böschung hinunter, mich durch die Sträucher schleppend. Hände und Füße waren beschunden, die Kleider zerrissen. Wie ich das der Mutter erzählte, freute sie sich, daß ihr das Tier so zugetan war. Und meinte, ich wäre dümmer wie das Vieh, sonst hätte ich mir nicht den Strick um die Hand gewickelt. Na, ein anderes Mal war ich auch gescheiter.

Auch die Feldarbeit ging schließlich zu Ende. Der Bau war auch fertig. Es schien mir nun, als wenn ich jetzt nicht mehr so sehr wie bisher brauchte mit arbeiten zu müssen, und daß deshalb mir wieder mehr Zeit zum Schulbesuch bliebe. Aber nun zeigte sich ein neues Hindernis, und zwar dort, wo ich es gar nicht geahnt hatte. Nämlich in meiner allerdings bescheidenen Kunst, die Ziehharmonika zu spielen. Ein Sohn unsres Nachbars Kochlöffel spielte wunderschön auf seiner zweireihigen Harmonika. Die Töne, die er aus diesem Instrument herausbrachte, entzückten mich. Ich sah in Albert einen Künstler. »O, könnte ich auch so spielen!« waren meine Gedanken und mein Wunsch. Ich beneidete ihn. Diese Eigenschaft haftete schon damals an mir. Jeden beneidete ich, der mehr wie ich konnte. Obwohl ich mich durchaus nicht als seinen Feind fühlte. Warum war's mir nicht gegönnt, auch etwas Rechtes zu lernen?

Nach längerem Bitten entschloß sich die Mutter doch, mir auch eine Harmonika zu kaufen, welch eine Freude! Es war ein Gelegenheitskauf. Acht Tasten und zwei Bässe hatte sie und kostete nur achtzig Kreuzer. Das war gewiß billig. Einige Wochen vergingen, ehe ich etwas zusammenbrachte, das natürlich noch lange nicht so klang, wie das Spiel Alberts. »Der kleine Fischer« war mein erstes Lied, das ich auf dieser Harmonika lernte, dann folgten andere. Meine Freude war grenzenlos. Aber meine Liebe zu dieser Kunst wäre wohl nicht so leidenschaftlich emporgeflammt, meine Freude an dem Gelingen des ersten Stückes wäre nicht so groß gewesen, wenn ich hätte ahnen können, welche Strapazen, welches leidvolle Leben mir das Erlernen des Spieles noch bereiten sollte. Daß ich mich in der Kälte, im Regen und in Schneestürmen würde von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf herumtreiben und mir und den Meinigen so das Brot verdienen müssen. Die Feder fängt an zu zittern, wenn sie davon schreiben soll. Aber ich wußte ja damals, wie ich die Harmonika das erstemal in die Hand nahm, nicht, daß ich mich damit zu einem richtigen, wenn auch noch sehr jungen Bettelmusikanten einzuüben anfing.

Die Not erreichte wieder mal bei uns die höchste Stufe. Der Vater arbeitete zwar, gab aber sehr wenig Geld her zum Leben. »Gehet zum Vater, daß er mehr zum Leben hergibt, dann geb ich euch mehr zum Fressen«, lautete immer Mutters Antwort, wenn wir noch Hunger hatten und mehr Brot verlangten. Als wieder einmal die Mutter das Essen dem Vater in die Fabrik trug und wieder heimkehrte, lamentierte sie, weinte und schimpfte auf den Vater. Mir ging das sehr nahe, ich begriff ihr Leiden. Da fuhr mir die Tischlersgeschichte in den Kopf. Wir lebten ja auch in der Not wie der, als er sich zum Gott wandte, vielleicht gelingt es mir auch. Und dann hörte ich immer im Geiste das Sprichwort: »Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.« Kurz entschlossen und ohne jemandem mein Vorhaben zu verraten, ging ich abends zu der mitten im Dorfe stehenden Kapelle, betete und flehte Gott um Hilfe an. Im Geiste machte ich mir Pläne, wie ich die Mutter überraschen würde, wenn ich Geld brächte. Ich wiederholte meinen Bittgang pünktlich jeden Abend, acht- oder zehnmal, aber vergebens. Niemals fand ich das, was ich mir wünschte und hoffte. Schließlich gab ich alle Hoffnung auf. »Vielleicht bin ich auch ein großer Sünder, daß ich die Gottesgnade nicht verdiene«, entschuldigte ich meinen Mißerfolg. Noch nie habe ich bis heute jemandem von dieser Geschichte erzählt, um nicht ausgelacht zu werden, daß mich der Lehrer so derb auf den Besen gebunden hatte.

Die Not blieb also weiter unser unvermeidlicher häuslicher Gast, da der Vater hart blieb und nicht mehr hergab. Wir wollten aber essen. In ihrer Bedrängnis blieb der Mutter nur noch der Rat übrig, es zu versuchen, ob uns der Bauer Jansa, der einen Kaufladen hatte, etwas borgte. Das war ein Versuch, den sie schon öfters vergebens vorher machte. Ich natürlich kam dabei am schlechtsten weg, weil ich als der Vorgeschickte mir immer das Geschimpfe der Frau Jansa anhören mußte. »Ach was!« hieß es immer, »da könnten wir viel Ware haben, wenn wir jedem, der nichts hat, borgen wollten.« Dabei machte sie ein sehr böses Gesicht, fuchtelte mit den Händen und sparte nicht mit ihrer Stimme. Und weil sie mir jedesmal so die Lust abkaufte, hatte ich auch dieses Mal keine große hinzugehen und zu borgen. Diesmal kam ich aber besser an und bekam alles, was ich bringen sollte. Das Schuldenmachen hatte die Mutter sehr ungern, weil sie von ihrem Verdienst die Schuld niemals bezahlen konnte. Und wenn es dann der Vater erfuhr, da gab's einen Teufelstanz zu Hause, weil er zum Schluß doch bezahlen mußte. Heute noch höre ich die Worte des jüngsten Bruders Gottlieb, der damals erst zu reden anfing: »Vater dumm, gibt kein Geld. Kein Ne-ne zu essen«, mit den letzten Worten meinte er Brot. Wir mußten trotz unsrer Verzweiflung dazu lachen. Sogar die Mutter, die ihm durch ihr Lamentieren und Geschimpfe über den Vater Anlaß dazu gegeben, lachte mit.

Als ich wieder einmal mit der Mutter in den Wald ging, kritisierte sie wieder das Verhalten des Vaters, meinte, er spare nur für die Bude und kümmere sich nicht darum, ob sie mit uns etwas zu essen habe oder nicht. Sie wüßte nun keinen anderen Ausweg, wie den, daß ich auch wie die Jungen Babyk und Peschek, mit der Harmonika in die umliegenden Dörfer spielen gehe. Sie brächten Geld, Brot und Kuchen nach Hause. So könnten wir uns helfen. Lange redete sie mir so zu, ohne von mir eine Antwort zu hören. Zum Schluß meinte sie: »Na, das ist doch keine Schande. Dir geht es durch, weil du noch nicht so alt und groß bist, daß die Leute auf dich zeigen könnten, daß du arbeiten könntest und nicht betteln gehen brauchtest.« Starr sah ich vor mich hin und fühlte, wie mir mein Gesicht glühte. Mein Mund, der wie eingefroren war, antwortete nicht auf Mutters Vorschlag. Ich wußte gar nicht, wie mir in diesem Augenblick zumute war. Es war mir, als hätte mich jemand mit kochendem Wasser beschüttet. Hundert Gedanken kreuzten sich in meinem Gehirn. Mir schien, als wenn sich alles um mich herum drehe. »Betteljunge!« werden mich meine Schulkollegen rufen, wenn sie mich werden mit Harmonika und Handkorb kommen sehen. Diese und ähnliche Gedanken wirrten in meinem Kopfe. Daß die Mutter recht hatte, sah ich wohl ein. Aber ich konnte mich doch nicht zu einer bestimmten Antwort entschließen. Dann, am Abend, als wir schon im Bett lagen, erneuerte sie ihren Vorschlag. Sie erhielt aber wieder keine Antwort von mir. Früh, nach dem Essen, versuchte sie dann abermals mich zum Spielengehen zu bewegen. »Nun, Wenzel gehst du oder nicht?« Wieder keine Antwort, »Wenn nicht, dann habt ihr heute nichts mehr zu essen.« Traurig, niedergeschlagen, den Kopf hängend, holte ich da die Harmonika aus dem Kleiderschranke. Es war das schon die zweite, mit zehn Tasten. Mutter band sie in ein Kopftuch, ich nahm sie dann untern Arm, ergriff den schon vor mir stehenden Handkorb und schritt langsam, ganz stumm zur Türe hinaus. Hinter der Haustüre blieb ich noch eine Weile stehen, nach allen Seiten guckend, ob sich niemand von Nachbarn draußen befände, der mich sehen könnte, wohin ich wohl gehe. Niemand. Wie ein Fuchs schlich ich nun um das Haus rechts herum, auf das da hinter liegende Feld, über das ich die Richtung nach dem Feldweg zu nahm, um den Nachbarhäusern auszuweichen. Es ging schnell vorwärts. als hätte ich etwas gestohlen. Erst als ich das Dorf hinter mir hatte, mäßigte ich meine Schritte.

Der erste Ort, in dem ich mein Bettelmusikantenglück zu versuchen beschloß, war Knezowes. Das war das größte Dorf der Umgebung. Mit einem Kirchspiel. Je näher ich kam, desto langsamer wurde mein Gang. Als die ersten Häuser ziemlich erreicht waren, setzte ich mich erst in den Straßengraben und hielt noch einmal Rat mit mir selbst, ob ich das Dorf betreten solle. Mehr Lust hatte ich natürlich zum Umkehren. Nach längerem Überlegen raffte ich mich aber auf und ging in ein großes Bauernhaus hinein. Ich spielte im Vorhause zuerst den »Kleinen Fischer«, dann noch ein paar andere Lieder. Die Bäuerin brachte mir ein hübsches Stückchen Brot heraus. Der Versuch im ersten Hause war geglückt. Nun ging's frischern Mutes weiter und weiter, ohne Zwischenfall. Nur dort durfte ich nicht spielen, wo die Kinder schliefen. Wo anders wieder, wo sie unruhig waren und schrien, waren die Mütter oder die Kindermädchen froh, daß ich kam. Nachmittags, die Sonne stand noch hoch, war ich das Dorf durch. Der Handkorb war voll Brot und Kuchen. An Gelde hatte ich, meist von den Geschäftsleuten, zwanzig bis fünfundzwanzig Kreuzer zusammen. Ich war mit diesem Erfolg zufrieden. Trotzdem erwachte aber immer noch keine Liebe in mir zu diesem Handwerk. Doch im Geiste freute ich mich, stellte mir vor, wie sie sich zu Hause freuen, mir entgegenspringen und über den Inhalt des Korbes herfallen würden. Und das war noch das einzige, das mich über diesen Erwerb ein wenig tröstete, wieder, wie am Morgen, schlich ich wie ein Spitzbube mit seiner Beute ins Haus herein. Der Auftritt, den ich ahnte, erfüllte sich, als ich die Stube betrat. Alles, was laufen konnte, sprang mir entgegen. Händeklatschen erscholl, als ich den Korb hinstellte und öffnete.

»Brot, Kuchen! O, o, o!« riefen freudevoll die Geschwister. Die Mutter zwang sich auch zum Lachen, ich sah aber, wie ihr die Tränen in den Augen standen. In dem Augenblick vergaß ich meine Leiden, die ich beim Spielen ausgestanden. Sah ein, wie viel Gutes meine doch noch so bescheidene Kunst hatte, daß mein Instrument, das mein Belustigungsgegenstand in den freien Stunden sein sollte, nun unser Retter in der Not geworden war.

Von jetzt an ging ich öfters spielen, aber immer in ein anderes Dorf. Willig, aus eigenem Trieb, ging ich jedoch niemals. Wenn ich gehen sollte, mußte mir die Mutter immer erst ihre Lage auseinandersetzen und mich mit guten Worten dazu bewegen. Die Gendarmen, vor denen ich anfangs viel Angst hatte, schauten mich gar nicht an und die Dorfpolizisten erst recht nicht. In den meisten Dörfern gab's überhaupt keine. Meine Verschämtheit ließ nach und auch die Schüchternheit. Ich wurde schließlich so gleichgültig und kaltblütig, daß ich offen mit Harmonika und Handkorb hin und her ging, ohne mich mehr um die Nachbarsleute oder Schulkollegen zu kümmern.

Am schwersten war ich zum Spielen dorthin zu bringen, wo Juden ansässig waren. Und das war in dem Städtchen Kolleschowitz und auch in der Bezirksstadt Rakonitz. Vor den Juden hatte ich nämlich eine große Furcht. Ich hatte von der Mutter und auch andern Leuten erzählen hören, daß sich die Juden, um ihren abscheulichen Rassengeruch vom Leibe loszuwerden, in Christenblut waschen müßten. Das nötige Blut dazu täten sie sich so verschaffen, daß sie Christen unter verschiedenen Vorwänden in ihre Häuser und dort auf eine Falltür lockten, durch die sie dann in einen unterirdischen Raum stürzten und sich auf die unten aufgestellten Messer spießten. Das Blut liefe dann in Fässer. Kein Wunder also, wenn ich die Juden nach diesen schreckenvollen Erzählungen im Magen hatte. Die zwei genannten Orte besuchte ich deshalb nur dann, wenn ich schon in allen Dörfern der Umgebung herum war. Aber allein ging ich nie, da mußte jedesmal mein Bruder mit, den ich dabei auch, über die Juden aufklärte. Und ihm einschärfte, nicht weit in das Haus hineinzugehen und immer vorn bei der Haustüre stehen zu bleiben, wenn wir zu einem Juden kämen. Auch die Bewegung eines jeden, der aus- und eingeht, solle er beobachten und sich ja nicht in das Innere des Hauses locken lassen. War das immer ein Beraten schon unterwegs. Und Angstgefühl bedrückte unsre Herzen schon, bevor wir noch die ersten Häuser erreichten.

Ich glaube zwar heute an keinen rituellen Mord mehr, trotzdem muß ich hier aber von einem Fall erzählen, der mir bis heute unaufgeklärt blieb. Als ich wieder einmal, aber allein, in Rakonitz gespielt und in allen Gassen schon herum gewesen war, ging ich noch am Marktplatz von Haus zu Haus. Und als ich in der Durchfahrt eines Hauses links vor der Türe spielte, kam ein Bürschchen zu mir gesprungen, schloß die Türe auf und hieß mich hereinkommen. Ich ging und er schloß hinter mir zu. In dem Zimmer, in das ich nun eintrat, standen noch ein Herr und eine junge Frau, hübsch gekleidet. Sie sprachen vertraulich untereinander, wohl Jüdisch, denn Tschechisch oder Deutsch hätte ich verstanden. Nach längerer Weile bekam ich einen Kreuzer, das Bürschchen schloß die Türe wieder auf und ich konnte wieder gehen. Wie mir war, als das Bürschchen nach meinem Eintritt die Türe verschloß, und die beiden, bei ihrem Gespräch mich anguckten und betrachteten, kann ich heute gar nicht mehr ausführlich genug ausführen. Aber wenn es nur noch einen Augenblick länger gedauert hätte, so hätte ich wohl um Hilfe gerufen. Das Blut stieg mir schon zum Gehirn, mein Gesicht glühte, ich zitterte am ganzen Körper vor Angst. Ich sah im Geiste die blutigen Fässer und die Messer im Kellerraum. Bänglich dachte ich an die Mutter und die Geschwister. An dem Tage war's mit dem Spielen alle. Wie ein Kranker schleppte ich mich die anderthalb Stunden Wegs nach Hause. Es dauerte einige Tage, bevor der Schreck aus meinen Gliedern verschwand.

Einmal ging ich auch in das Dorf Oleschna, um die Leute zu belustigen. Dort war ich da das erste- und auch das letztemal. Denn die Frauen dieses Ortes belohnten mich für meine Mühe mit Kartoffeln und nur mit Kartoffeln! Drei, vier Häuser und mein Handkorb war voll. Ich bat eine Frau, mir die Kartoffeln derweil da zu behalten und ging mit dem leeren Korb weiter, aber mit demselben Glück. Ich trug sie wieder zu der Frau und so ging das fort. Zwei Stückchen Brot und ein Kreuzer aus der Spiritusbrennerei war alles, was ich nebst den Kartoffeln erhielt. Nächsten Tag holte die Mutter mein Honorar mit dem Tragkorb. Sie zeigte aber keine große Freude, als sie heimkehrte, war es doch auch eine volle Stunde Wegs zu gehen.

In diesem unsern Erwerbe übten wir uns, ich und mein Bruder, allmählich immer besser ein. Wir wurden nach und nach immer praktischer. Wenn Kirchweihfest oder Jahrmarkt war, da wagten wir es auch schon, in die Gasthäuser spielen zu gehen. Denn das trug mehr ein, als von Haus zu Haus zu gehen. Drei Stücke spielen, bei zehn oder zwanzig Gästen, brachte mindestens ebensoviel Kreuzer ein wie aus allen Häusern zusammen. Natürlich nahmen wir aber auch zu solchen Zeiten noch die Privathäuser mit.

Einmal als in Kolleschowitz Jahrmarkt war, machten wir es eben wieder so. Nachdem wir alles abgeklopft hatten, begaben wir uns unter die Verkaufsbuden und schauten uns alles an, was da zum Verkauf ausgelegt war. Schließlich gelangten wir auch zu einer Schaubude, einem / Panorama! Ein Fräulein rekommandierte: »Nur hereinspazieren, meine Herrschaften! Es kostet nur zwanzig Kreuzer Entree!« Erzählte, was alles drin zu sehen war, was noch zu dem Entree jeder Besucher als Prämie erhalte, wenn er aus dem Innern zurückkehre. Dabei hielt sie in den Händen eine Uhr in fein geschnitztem Gehäuse, hob sie immer wieder hoch, um sie uns vor der Bude zu zeigen. Das lockte! »Für zwanzig Kreuzer so eine Uhr bekommen zu können,« dachte ich und wohl auch mein Bruder, wir sahen einander immer wieder an, mit fragenden Blicken, wir beide hätten gern wollen hineingehen, aber vierzig Kreuzer war zu viel Geld. Das was ich in der Tasche hatte, es waren gegen zwei Gulden, brauchte die Mutter zu Hause, sie wartete ja schon darauf. Eine lange Weile stand ich nun da, horchte und sah dem Fräulein zu, ohne mich entschließen zu können, das Geld herauszurücken, damit wenigstens einer von uns hineingehen könne. Aber schließlich, nach längerem Zureden des Bruders, ließ ich mich doch bewegen, ihm zwanzig Kreuzer zu geben. Er brachte aber keine Uhr / o, schade! mit heraus, sondern nur einen ganz kleinen Wandspiegel. Nun versuchte ich auch mein Glück: »Maximilians Rücktransport von Mexiko nach Wien im Nachtzuge«, »Eine Löwenjagd« sah ich mir an, und dann fix wieder hinaus. Mit zitternder Hand reichte ich meine Losnummer hin. »Drei Blechlöffel!« Mit traurigen Gesichtern standen wir noch eine lange Weile da, sehnsüchtig nach der Uhr blickend, denn das, was wir erhalten hatten, hatte in unsern Augen nur einen geringen Wert. Und immer wieder rief das Fräulein: »Nur hereinspazieren, meine Herrschaften!« Ach hätte doch der Budenbesitzer gewußt, wie wir barfüßigen, armgekleideten Herrschaften mühsam zu dem Gelde kamen, das er uns an der Kasse abnahm! vielleicht hätte er es nicht übers Herz gebracht und uns unser Geld zurückgegeben!

Auf solche Weise ernährte ich einige Jahre, hauptsächlich im Winter, die ganze Familie. Denn auch der Vater kam schon im Januar oder Februar nach Hause arbeitslos, weil die Kampagne in der Zuckerfabrik infolge technischer Erfindungen immer kürzer wurden. In die Fremde zu gehen, war's aber noch zu früh und im Orte gab's keine Arbeit. In diesen Wochen reichten aber die nächst umliegenden Orte nicht mehr zu, weil ich nicht zu oft hintereinander hinkommen durfte, damit die Leute darüber nicht ungehalten werden sollten. Deshalb hieß es nun, weitere Touren zu machen, von wo man nicht am selben Tag zurückkehren konnte, sondern erst in drei oder vier Tagen. Einmal ging's in die Petersburger Gegend. Dort bekam man weniger Geld, dafür aber meistens Mehl und Brot. In der Postelberger Gegend gab's wieder kein Mehl, sondern nur Brot, Kuchen und Geld. Dem war auch in der Saazer Gegend so. Die tschechischen Gegenden besuchten wir selten, weil dort die Leute nicht sehr freigebig waren.

Auf diese Touren mußte immer noch jemand mit als Träger. Dazu war der Bruder noch zu schwach, daß er, besonders am letzten Tage, bis dreißig Pfund hätte tragen können. Denn dann waren es ja vier bis fünf Stunden zu gehen. Etlichemal im Anfang ging die Mutter mit, während der Vater das häusliche besorgte. Mehrere Male war auch ein gewisser Dominik mit. Na, der Dominik! War das ein Geschöpf. Eine wirkliche Gottesgabe, leere Kleie, wie der Lehrer immer zu uns gesagt hatte. Er war gerade nicht verrückt, hatte aber auch nicht alle Sinne beisammen. Konnte weder Lesen noch Schreiben. Auch pflegte er sich nur sehr ungern zu waschen und sah deshalb aus wie ein Zigeuner. Sein Alter betrug ungefähr zwanzig Jahre; er hatte langes, blondes Haar. Seine Hände aber waren voll Hautausschlag / es soll die Krätze gewesen sein. Im Sommer beschäftigten ihn die Bauern als Gänsehirten. Im Winter ging er mit seiner Mutter auf die Dörfer, den Leierkasten zu spielen, was er aber auch sehr ungern machte. Um das Leierkastenspielengehen loszuwerden, schraubte und stimmte er so lange am Kasten herum, bis er verdorben war. Seine alte, arbeitsunfähige Mutter, die selbst eine Almosenfrau war, mußte dann den Kerl noch füttern. So bat sie denn meine Mutter / sie wohnten bei uns in der kleinen Kammer / daß ich ihn mitnehmen solle. Wenn wir von der Tour heimkehrten, wurde dann das Geld geteilt. Der größere Teil war immer meiner. Dann ruhten wir einen Tag aus und dann ging's wieder in eine andere Gegend. Länger blieben wir zu Hause nur dann, wenn die Witterung zu ungünstig war und wir genug zu essen hatten. Übernachtet haben wir gewöhnlich im Kuhstall eines Meierhofes, weil es dort unentgeltlich war. Dazu bekamen wir meistens die Milch, von der wir uns abends und früh Suppe in der Gesindestube kochen durften, auch umsonst. Sehr selten übernachteten wir in einem Gasthause.

Einmal, als wir spät nachmittags in Petersburg waren und wegen schlechten Wetters nicht weiter konnten, kehrten wir in das herrschaftliche Gasthaus ein, um dort zu übernachten, hinter uns kamen noch drei Frauen und zwei Männer, auch Bettelmusikanten, sie hatten aber Geigen und Harfen. Am Abend versammelten sich dann die gräflichen Beamten, wohl aus der Dampfmühle, Brauhaus und Schloß in dem Zimmer neben der Gaststube, wo wir saßen. Die fünf spielten auf ihren Instrumenten und kassierten ein. war das eine schöne, hinreißende Musik! Und meine mit der Harmonika? Ein Gedudle dagegen. Ein Beamter kam zu mir, wohl in gut meinender Absicht, und forderte mich auf, auch einige Stücke zu spielen, um mir auch etwas zu verdienen. So etwas hätte ich nicht erwartet. Ich wollte nicht. Vor diesen Herren mich mit meiner bescheidenen Kunst zu produzieren, hatte ich keine Lust. Ich schämte mich und richtete verlegen meine Blicke nach dem Fußboden. »Nun Kleiner, schäme dich nicht und spiele, mag es klingen wie es will!« sagte noch ein Herr, der auch zu mir herangetreten war. Auch einer von den Musikanten kam dazu, um mich zum Spielen zu bewegen. Langsam griff ich nach meiner auf dem Tisch liegenden Harmonika und spielte. Aber kein Händeklatschen, kein Bravorufen erscholl am Ende des Stückes, wie vorher bei den anderen Musikanten. Beim Einkassieren frug mich dann ein Herr, wie alt ich wäre und ob ich noch Eltern und Geschwister hätte. »Elf Jahre. Vater und Mutter haben keine Arbeit. Geschwister habe ich noch vier,« antwortete ich schüchtern. Die Mutter sah ich gar nicht gern mitgehen. Denn sie machte mir vor den Leuten zu viel Lamentationen. »Ach Gott! Muß sich der arme Junge wegen seines schlechten Augenlichts so elend in der Welt durchschlagen,« so barmte sie jedesmal, wenn uns die Leute frugen, wo wir her wären. Das war eine Lüge! Davon war ich überzeugt. Ich ging doch nicht meinetwegen betteln, sondern wegen uns allen. Einer unsrer Nachbarn verfertigte von Holz Quirle, Rührlöffel, Wandkörbchen und Spielmöbel für die Kinder. Ich guckte mir das von ihm ab und machte es ihm, wenn ich Zeit hatte, nach. Das wurde dann auf der Tour auch noch gegen Mehl umgesetzt.

Im Dorfe Nesuchin, wo nur das Tschechische Umgangssprache war, übernachteten wir auch einmal in einem Gasthause. Bauern kamen zum Biere, zwei von ihnen setzten sich unweit von uns an einen Tisch allein, sie mochten wohl etwas Geheimes untereinander zu reden haben, denn sie hießen mich ununterbrochen spielen. Kaum hatte ich aufgehört, hieß es schon wieder: »Jen dál! Nur weiter!« Ums Essen und Trinken war keine Not; wir konnten gar nicht wegbringen, was sie bestellten. Auch gezahlt haben sie gut. Ein Zwanziger nach dem andern verschwand in meiner Tasche. Spät nachts gingen die beiden erst auseinander. Darauf brachte uns der Wirt zwei Schütten Stroh herein, die wir ausbreiteten. Dann steckten wir oben, damit es unterm Kopf höher wurde, Stuhllehnen drunter, legten uns drauf, deckten uns mit einer Pferdedecke zu und schliefen wie die Fürsten. An dem Abend hatten wir reich verdient, wenn aber die Mutter nicht dabei gewesen wäre, hätte es vielleicht nicht so viel ausgemacht. Sie nötigte mich, öfters das Spielen zu unterbrechen, als sie sah, daß nach jedem Unterbrechen ein Zwanziger auf dem Tische klang.

Einen Lachabend genossen wir, als wir einmal in einem deutschen Ort Tschernutz, in der Saazer Gegend, übernachteten. Auf dem Stroh im Pferdestall eines Gasthauses lagen wir, um unsre müden Knochen auszuruhn. Der Stall war voll lauter Übernächtler, von denen nun jeder abwechselnd etwas, entweder Trauriges oder Lustiges, erzählte. Es war gerade Fasching. Oben auf dem Saale spielte die Musik. Lustig ging's dort zu, während wir uns auf dem Stroh herumwälzten. Am meisten unterhielten uns da ein alter Kartenschläger, dessen Mund wie eine Osterratsche ging, und dann ein / wie er uns sagte / Lackierer, der aber, wie's schien, vielmehr die Menschen, als sonst etwas anderes lackierte. Unter andern erzählte er, daß er auch in der Türkei gewesen wäre. Daß dort die Haustüren nicht so wie bei uns mit Schlössern verschlossen wären, sondern daß nur seidene Schnüre übers Kreuz von einem Türwinkel zum andern gezogen würden, über die niemand das Haus zu betreten wage. Täte er's, so hätte er zu erwarten, daß er nach der dortigen Sitte erschossen würde. Der Kartenschläger, der während des Erzählens immer wieder laut lachte, entgegnete darauf höhnisch, mit gezogener Stimme: »Aber geheee doch! Du, und in der Türkei? Und dann die Türe. Ha, ha, ha! Ich bin ein Kartenschläger. Gescheiter wie du. Mich? nein, mich kannst du nicht lackieren, da mußt du zu jemandem andern gehen, mein Lieber!« weiter erzählte er noch, wie die Türken und Türkinnen, als er auch einmal in einer dortigen Schenke übernachtete, nach Pfeifen und Tamburinen tanzten, und sich am Schluß noch mit Handscharen rauften. »Ach, war das eine Metzelei!« meinte er. Der Alte unterbrach ihn wieder und lachte noch mehr wie erst. Auch die übrigen Schlafgenossen lachten stürmisch, dem Alten zustimmend, plötzlich wurde diese Unterhaltung durch ein Geschrei, Fluchen und Schimpfen vom Hofe her unterbrochen. »Laßt mich los, ich schlage ihn tot!« hörte man unter vielen Männern und Frauen eine Stimme schreien. Alle, auch meine Mutter, sprangen von ihrem Strohlager auf, und wollten hinaus, zu sehen, was los sei. Aber die Türe war verschlossen. Der Lärm ließ bald nach und wir schliefen alle sanft ein. Ach! welcher Unterschied war da zwischen unserm Leben und dem von Tieren im Stalle?

»Wenzel!« sprach einmal meine Mutter zu mir. »wenn du nach Stohetitz kommst, so kannst du bei der Gelegenheit dort deinen Paten aufsuchen. Da bekommst wohl hübsches Nachtquartier und auch zu essen umsonst. Frage nach dem Schindelorsch, er hat ein eigenes Haus und ist als Straßenräumer angestellt.« Der Vorschlag gefiel mir, aber mich dem Paten als ein Bettelmusikant vorzustellen, das paßte mir nicht. Nach vielem Zureden entschloß ich mich doch, dies zu tun, als wir unsere Marschroute wieder einmal dorthin richteten. Es war spät nachmittags, als wir den Ort erreichten. Kalter Wind trieb uns den Regen ins Gesicht, wir waren durchnäßt. Nach langem Fragen und Suchen gelang es uns doch, das Häuschen, das meinem Paten gehören sollte, zu finden. Die Haustüre war aber verschlossen, als wir nach dem Türdrücker griffen. Es war also niemand zu Hause. Wir warteten im Hofe. Nach längerer Zeit, als es schon sehr dunkel geworden, kam schließlich ein langer, starker Mann mit einer Frau auf das Haus zu. Ich trat vor, schickte meine Zunge zu einem recht freundlichen Gruß zu, ehe ich aber dazu kam, erscholl schon die mächtige, donnernde Stimme des Mannes: »Schau, ist nicht wieder so eine Spitzbubenbagage da? Man darf nicht den Rücken wenden,« und so ging's weiter. Als er sich doch ein bißchen beruhigte, stotterte ich ängstlich: »Bitte, Sie sollen mein Pate sein. Meine Mutter hat's gesagt, ich heiße Holek.« »Was / ich dein Pate? Eines solchen Herumziehers? Marsch!« und schon fühlte ich seine Hand an meinem Kragen und flog aus dem Hofe auf die Straße. Und dasselbe Schicksal traf auch den Dominik. Eine hübsche Portion Grobheiten folgten noch nach. Hätte ich mich doch von der Mutter dazu nicht überreden lassen! bereute ich nachher. Ein schöner Pate! Aber ich, der sich in so einer Lebensstellung befand, hätte eigentlich nichts anderes erwarten können.

Aus all dem ist leicht zu ersehen, daß ich unter solchen Verhältnissen nicht mehr in die Schule kam. Niemand dachte mehr an sie, auch ich selbst nicht. Die frühere Lust und Liebe zum Lernen war nun in mir ganz unterdrückt und vernichtet. Stumpfsinnig und gleichgültig unterwarf ich mich meinem Schicksal. »Schreiben / aber halt wie? / und Lesen kann er, und mehr braucht er doch nicht«, hieß es. Aber ein Lob holte ich mir vom Lehrer doch noch. Nicht freilich, weil ich etwas gekonnt hätte, nein! Aber deshalb, weil ich mich bei einer Gelegenheit recht ehrerbietig zeigte. Ich stand nämlich einmal mit einigen Schülern auf dem Dorfplatze. »Der Lehrer kommt!« fisperten da die andern und liefen davon. Ich aber blieb stehen, bis er an mich herankam, nahm meine Mütze ab, grüßte und küßte ihm die Hand. So verlangte er es. In der Schule stellte er mich dann, als ich wieder einmal einige Tage dort erschienen war, den anderen Schülern als Beispiel vor und lobte mich für mein Betragen. Und das ist das letzte Kapitel aus meinem Schulbesuche.

Nach dem, was ich hier nun alles von der Schule erzählt habe, könnte jemand einwenden, daß das alles in einem Lande, in dem das Schulgesetz seit 1871 einen achtjährigen Schulbesuch und für solche, die nicht genügend in dieser Zeit lernen, sogar einen neunjährigen Schulbesuch vorschreibt, ja gar nicht möglich ist und deshalb unwahr sein muß. viele Leute, mit denen ich über diese Sache schon gesprochen, schüttelten darüber ihren Kopf. Und doch ist es eine Tatsache! Der Schlendrian ging nämlich so zu: Die Bauern, aus denen sich der Ortsschulrat zusammensetzte, kannten sehr gut die Lage der armen Teufel ihres Ortes; sie waren deshalb sehr nachsichtig und machten niemals Anzeige bei der höheren Schulbehörde. Diese Behörde erfuhr also ganz einfach nichts davon, wie es in der Schule dieses Ortes zuging. Ja, wie ich schon einmal sagte, behielten die Bauern in gewissen Jahreszeiten ihre Kinder auch selbst zur Arbeit zu Hause. Der Lehrer aber paßte sich eben den Verhältnissen an und sagte auch nichts. So aber war es nicht nur in unserem Orte, sondern auch in anderen. Denn so fand ich es noch in vielen Gegenden Böhmens, überall, wo die Arbeiterklasse auf dem Lande in besonders schwerer materieller Not schmachtete, der dann also auch die geistige Not folgte. Ja, sogar heutzutage gibt es noch Gegenden in Böhmen, wo so etwas, wenn auch nicht in dem Umfange wie damals, noch vorgeht.


 << zurück weiter >>