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Allmählich bergab

Eines Tages im Jahre 1891 besuchte mich auch wieder einmal mein Vater. Er war sehr traurig und niedergeschlagen. Ich sah es ihm auf den ersten Blick an, daß ihm etwas Unangenehmes zugestoßen sein mußte. Er ließ mich auch nicht lange von der Neugier plagen und klagte sein Leid mit zitternder Stimme, wobei ihm die Tränen in den Augen standen. »Ich bin ohne Arbeit. Der Direktor Berounsky sagte, daß er mich nicht mehr brauchen könne. Dreizehn Jahre war ich recht und nun geht es auf einmal nicht mehr; warum, ist mir unbekannt. Vielleicht weil ich schon zu alt bin!« Das überraschte mich nicht, denn ich kannte meinen Vater, wußte, daß er stets nüchtern und arbeitsam, und mit allem zufrieden und vor seinen Vorgesetzten untertänig gewesen war. Es konnte also in der Tat an seiner Entlassung nichts anderes schuld sein, als sein Alter. Aber ich tröstete ihn und meinte, daß er sich deshalb nicht den Kopf herunterreißen brauche; es würde schon wieder Rat werden. Und er mietete die Stube, die in demselben Hause, in dem wir wohnten, gerade leer stand, und zog von Charwatetz nach Aussig; und mit ihm kam natürlich auch meine Mutter und meine drei Schwestern. So brachte uns das Schicksal alle wieder zusammen. Vater fand bald Arbeit auf einem Baue. Im Herbst aber ging er dann in die Zuckerfabrik nach Türmitz, wo er heute noch als Nachtwächter dient.

Danach sollte in Prag ein Parteitag stattfinden. Unsere Parteiorganisation vom Orte wählte mich und Beran als Delegierte. Wir erhielten auf die drei Tage, die der Parteitag dauern sollte, jeder zehn Gulden. Drei Gulden kostete aber schon die Fahrt auf der Bahn hin und her. Am ersten Weihnachtsfeiertage früh um vier Uhr bestiegen wir den Zug, unsere Pflicht zu erfüllen. Es war das erstemal, daß ich die so verherrlichte Hauptstadt meines Vaterlandes zu sehen und mich an ihren Schönheiten ergötzen sollte. Und im Saale der Schützeninsel kamen wir dann zusammen. Delegierte von Böhmen, Mähren, Schlesien und Wien kamen. Zwei Kommissäre aber standen an der Türe, revidierten die Einladungskarten und schrieben sich jeden Namen auf eine Liste. »Na, da werden wir sie bald auf dem Halse haben, wenn wir wieder nach Hause kommen,« meinte Beran, als wir in den Saal traten.

Doch machte mir das keine große Sorge. Eine viel größere erwartete mich, als ich nach Hause zurückkam. Da trat meine älteste Schwester zu mir und erzählte mir, daß ihr das Verhältnis zwischen meiner Frau und unserm Logismann Krunzel nicht gefalle. Sie hätte die letzte Zeit immer schon auf die beiden aufgepaßt, bis sie nun dazugekommen sei, wie die Luis vor Krunzels Bette stand, ihn an der Hand hielt und im Gesichte streichelte. »Wenzel, du hast wohl noch nichts bemerkt?« Ich stand eine lange Weile vor ihr wie versteinert. Ich war keines Wortes mächtig und zitterte am ganzen Körper. »Fanni, hast du es wirklich gesehen?« »Warum sollte ich lügen und unter euch Unfrieden stiften, wenn es nicht wahr wäre?« Das klang in der Tat durchaus überzeugend. In dieser Nacht / ich hatte Nachtschicht / machte ich meine Arbeit, und wußte nicht wie. Tausende Gedanken wirrten in meinem Kopfe. Doch aber wollte ich nicht recht daran glauben, daß die Luis sich so weit vergessen hätte. Vierzehn Tage lang trug ich noch das Geheimnis auf meinem Herzen, wollte mich erst selbst mit eigenen Augen überzeugen, ob sie mir wirklich untreu geworden, bemerkte aber nichts. Schließlich wurde ihr selbst meine Sprachlosigkeit und Niedergeschlagenheit auffällig, und sie frug mich nach der Ursache. Da sagte ich ihr, was mich beunruhigte und drückte, und in welchem Verdacht sie stehe. Aber sie schwur bei ihrer Seele, daß es nicht wahr sei und daß sie unschuldig sei. Dann ließ sie ihren Bruder und ihre Schwester von Charwatetz kommen, um die Sache zu untersuchen. Luis schwur auch vor ihnen, daß sie unschuldig wäre. Und es gelang jenen, uns wieder zu versöhnen.

Kurz danach, als einmal der Direktor mit dem Inspektor Scheftschik durch die Hütte gingen und an mir vorüberkamen / ich stand gerade an dem Schmelzofen / zeigte der Inspektor auf mich hin. »Hören Sie mal!« sagte da der Direktor, »es wäre besser für Sie, wenn Sie von dem roten Zeuge ablassen möchten!« und ging wieder weiter, ohne erst meine Antwort zu hören. Kurz nachher, als ich eines Abends meine Arbeit antrat, kam der Portier Wanek und brachte mir einen Zettel. Darauf stand zu lesen:

»Wenzel Holek, Hafenofen II. Es wird Ihnen hierdurch mitgeteilt, daß Ihr Arbeitsverhältnis in unserm Betriebe nach acht Tagen gelöst ist. Die Direktion.« Das war die nachträgliche Frucht meiner Prager Reise! Und den gleichen Zettel erhielt auch der Karban, nur mit dem Unterschiede, daß er noch acht Tage länger arbeiten durfte wie ich. »Na, Joseph, was fangen wir nun an, wenn sie uns werden von hier abgeschoben haben?« frug ich ihn, als er den nächsten Tag in die Fabrik kam. »Ich wandere aus nach Amerika!« war seine Antwort. »Bist wohl nicht gescheit! Mit fünf Kindern und der Frau?« »Ohne Spaß,« erwiderte er. Und es war auch durchaus ernst gemeint. Er trug sich wirklich mit der Absicht der Auswanderung.

Mir aber ließ am letzten Tage meiner Kündigungszeit der Maschinist Wagner aus der Bornemannschen Färberei, bei dem mein Bruder wohnte, sagen, daß ich dort zu arbeiten anfangen könnte, was auch wirklich zu meiner Freude geschah. Denn leicht war auch mir der Gedanke an die Zukunft nicht gewesen. Ich kam zum Appreturmeister Starke, den ich sofort an seinem Dialekte als Sachsen erkannte.

»Ach, Servus Holek! Na, da haben wir nun den richtigen hier!« rief mir der Genosse Richter entgegen, nachdem mir der Meister meine Arbeit angewiesen hatte und verschwunden war. Dieser Richter las immer im Leseverein vor. In der Abteilung, in die ich eingestellt wurde, waren wir beiden und noch zwei Mädchen. Ich fühlte mich hier gleich den ersten Tag heimisch, trotzdem ich unter lauter deutschen Kollegen war. Aber überall, wo ich mit einer Rolle hinkam, ertönten die Stimmen: »Servus Holek! Bist du auch hier?« Die meisten von ihnen waren Mitglieder des Lesevereins.

Die Arbeit, die ich da zu verrichten hatte, war leicht. Früh kochte ich eine hübsche Portion Leim, weißen Sirup und Glyzerinöl zusammen. Durch diese Mischung wurden die Stoffe gezogen, damit sie einen harten Griff erhielten. Dann hatte ich eine Maschine zu bedienen, mit einer eisernen, inwendig mit Dampf gefüllten Walze, über die ich einige Rollen Stoff laufen ließ, die dann wie geplättet aussahen. Lohn gab's einen Gulden und zwanzig Kreuzer pro Tag.

Einige Tage nach meinem Austritt aus der Glasfabrik hatten die Genossen eine öffentliche Versammlung einberufen. Auf der Tagesordnung stand: »Die Bezirks- und Betriebskrankenkassen«. Die Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen, um mein Herz auszuschütten, und die Mißstände in der Betriebskrankenkasse der Glasfabrik vor aller Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen. Sehr lieb war es mir, als ich sah, daß auch ein Regierungsvertreter in dieser Versammlung eintraf, während ich sprach, saß der Kommissar dicht neben mir und notierte alles auf. Und schon am dritten Tag nach der Versammlung wurde ich auf die Hauptmannschaft vorgeladen. Hier maß mich der Kommissar mit scharfen Blicken, faßte mich mit der Hand an meinem Jackett auf die Brust und zupfte damit leicht hin und her. »Wissen Sie, daß wenn Sie so was aus sich herausschütteln, es auch nachweisen müssen?!« sagte er hurtig und erbost zu mir. »Bitte, Herr Kommissar! Alles, was ich in der Versammlung sagte, ist wahr, und ich will es beweisen!« entgegnete ich ruhig. Dann wurde ich über alle Einzelheiten, die ich in der Versammlung anführte, gefragt. Als dann alles aufgeschrieben war, bestätigte ich es mit meiner Unterschrift, daß es wahr sei, was ich angab.

In meiner neuen Arbeit hatte ich mich in ein paar Tagen eingerichtet, und es gefiel mir da viel besser, als in der Glasfabrik, da ich nun wenigstens die Nachtschichten losgeworden war und alle Sonntage frei hatte. Der Meister Starke war auch ein anständiger Mann, und wie ich merkte, war er mit mir zufrieden. Nur eins mag ihm nicht gefallen haben, nämlich, daß er mich öfter mit dem Richter sprechend traf, was er mir einmal auf dem Hofe in väterlicher Meinung merken ließ. »Holek! Ich mache Sie aufmerksam, sich mit dem Richter nicht zu sehr abzugeben. Er ist ein Sozialdemokrat! lassen Sie sich von ihm nichts einreden!« »Ja, ja! Geben sie acht, das ist ein echter Roter!« pflichtete der Maschinist Wagner bei, der gerade vorbeikam und stehen blieb. »So? / Na, da muß ich achtgeben!« erwiderte ich. Dieser Vorgang machte uns Genossen viel Spaß.

Dann kam der erste Mai wieder einmal nahe herbei, und weil er dies Jahr auf einen Sonntag fiel, wurden auf beiden Seiten, sowohl der deutschen, wie der tschechischen Genossen, Vorbereitungen getroffen, ihn soviel wie möglich zu feiern. Es sollten vormittags zwei Volksversammlungen abgehalten werden, eine deutsche und eine tschechische; für den Nachmittag wurde ein gemeinsames Volksfest auf der Ferdinandshöhe geplant. Nun hatten wir Tschechen Not um einen Redner zu der Versammlung. Von Prag, von wo wir einen verlangten, bekamen wir überhaupt keine Antwort, und von anderwärts war schon gar keiner zu kriegen.

Nach langem Hin- und Herberaten sollte ich es übernehmen und über das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht und den Achtstundenarbeitstag referieren. Doch ich hatte dazu keine Lust. Nicht, weil ich mich dieser Aufgabe nicht gewachsen gefühlt hätte, sondern weil ich voraussetzte, daß, wenn ich öffentlich auftrete, ich wieder meine Arbeit verlieren könnte. Und ich äußerte offen meine Befürchtung. »Ach, so gefährlich ist es nun doch nicht mehr. Und wenn es doch der Fall sein sollte, so ist jetzt Frühjahr, wo überall Arbeit zu finden ist,« sagten meine Genossen. Nach langem Zureden ließ ich mich schließlich bewegen, am ersten Mai zu sprechen. Nur ungefähr acht Tage hatte ich noch Zeit, um mir mein Referat ausarbeiten zu können.

Als der Tag kam, auf den wir uns alle so sehr freuten, da schien es, als ob wenigstens die Natur uns Trotz bieten wollte, weil wir gerade an diesem einen Tage nach dem Willen und der Macht des Kapitals nicht zu arbeiten gezwungen waren. Früh hingen dichte Wolken über der Stadt, und der Regen strömte nur so herunter. Den Versammlungen schadete das freilich nicht. Aber was sollte mit dem Volksfest werden? Beide Versammlungen waren gut besucht. Und ehe wir sie endeten, drangen schon die goldigen Sonnenstrahlen zu den Fenstern des Saales bis an unsere Tische herein. Nach ein Uhr machten wir dann einen demonstrativen Spaziergang durch die Stadt bis auf die Ferdinandshöhe, wo wir uns, Deutsche und Tschechen, untereinander gemütlich und brüderlich unterhielten.

Am nächsten Tag ging's wieder erfrischten Geistes in das Joch der Arbeit. Die Maschinen bewegten sich wieder, und wir verrichteten unsre Handlangerdienste, die sie von uns forderten, was drüben im Kontor geschmiedet wurde, ahnten wir noch nicht. Doch sollten wir es bald erfahren, vor der Vesperpause kam der Meister Starke zu mir, zählte mir Geld aufs Fenster hin und erklärte: »Es müssen fünfzehn Mann einige Tage aussetzen, weil nicht genügend zu tun ist. Sie können aber wieder nachfragen kommen, wenn Aufträge einlaufen, werden Sie wieder eingestellt.« wir durften nicht einmal mehr bis Ende der Schicht arbeiten. Und das war eine unliebsame Sache, denn man mußte ja mit einer jeden Stunde rechnen, und nun sollte man den Verdienst von wer weiß wie vielen Tagen verlieren. Im ersten Augenblick stand ich da wie abgebrüht. »Na, wegen ein paar Tage mag es immer noch gehen!« dachte ich schließlich und zog mit diesem Trost im Herzen nach Hause ab. Am folgenden Tage, Dienstag, brachten dann auch die beiden Lokalblätter, der »Aussiger Anzeiger« und die »Elbe-Zeitung«, kurze Berichte über die beiden Sonntagsversammlungen, was auf der Tagesordnung gestanden, und wer dazu gesprochen hatte. Und Mittwochs kam zu mir, direkt aus der Fabrik, der Genosse Richter, und erzählte, daß schon wieder etliche von den Beurlaubten angefangen hatten. »Aber du,« / es wollte ihm gar nicht über seine Lippen / »du brauchst nicht mehr bei uns anzufragen. Der Starke sagte zu mir, er hätte ja gegen dich nichts einzuwenden, aber der Chef hätte ihm befohlen, dich nicht wieder aufzunehmen.« Nun war ich schon gefaßter. Ich meinte nur: »Daß das so gekommen, wundert mich nicht, mein Freund. Eher hätte mich das Gegenteil gewundert.« Am vierten Mai holte ich mir dann noch mein Arbeitsbuch. Die sieben Wochen, die ich in dieser Fabrik zubrachte, waren eingetragen. Und dann standen am Schlusse die Worte: »Austritt am 2. Mai.«

Mit diesem Kainskennzeichen versehen, mühte ich mich nun wieder wochenlang ab, von einer Fabrik zur andern um Arbeit zu betteln. Einigemal schien es, als wenn doch jemand gebraucht würde. In Neuschuls chemischer Fabrik, Schichts Seifenfabrik und in der Zuckerfabrik Schönpriesen wurde mein Buch verlangt, man sah hinein und gab es mir dann schleunigst mit den Worten zurück: »Kommen Sie noch einmal anfragen, vorläufig ist nichts.« Schließlich kriegte ich die ganze Sache satt, schickte das Buch mit dem Elbstrome nach Hamburg und holte mir ein anderes.

Nach der Abrechnung von dem Volksfeste am ersten Mai wurde der Reinertrag prozentual unter die deutsche und tschechische Partei geteilt, wir erhielten siebzig, jene über hundert Gulden, und bestimmten den Betrag zum Preßfonds, wie die Deutschen ihn dann durch Sammlungen noch erhöht hatten, schritten sie schnell zur Herausgabe eines Wochenblattes, das sie »Gesellschafter« betitelten. Als Verleger, Herausgeber und Redakteur wurde der Genosse Ernst Börner bestimmt. Und alles schien zu gelingen. Die erste Begeisterung für den »Gesellschafter« war unter den Arbeitern groß, ebenso wie früher für die Vortrags- und Unterrichtsabende desselben Genossen, die nun ganz abgeflaut waren. Die Auflage des Blattes stieg in kurzer Zeit auf 2600 Exemplare, eine Höhe, die die bürgerlichen Blätter von Aussig damals noch nicht erreichten. In der Verkaufsstelle, die aus einer ganz kleinen Bretterbude bestand, und sich auf der Pockauer Straße beim Kohlenhändler Kreische! befand, wurden allein 1500 bis 1600 Exemplare verkauft. Die Redaktion aber befand sich einstweilen in Börners Wohnung. Dort wurde geschlafen, geschrieben, expediert, nur nicht gedruckt.

Unterdessen gründeten wir nun auch ganz offen einen politischen Verein. Zum erstenmal genehmigte die böhmische Statthalterei die Statuten, nach denen wir die sozialdemokratischen Grundsätze fördern durften. Aber mit der Gründung dieses Vereines vermehrten sich auch wieder meine Funktionen; ich wurde Obmannstellvertreter. Die drei Funktionen des Obmanns und seiner zwei Vertreter wurden an die verteilt, die als Redner auftreten konnten, waren auch auswärts Versammlungen einberufen, so mußten wir sie eröffnen und gelegentlich auch über ein Thema sprechen. Dabei wurden uns auch zum erstenmal Reisespesen, Fahrgeld und zwei Gulden Zehrgeld für vierundzwanzig Stunden, festgesetzt. Unser neuer Verein umfaßte eigentlich ganz Böhmen. Der Sitz aber war Aussig. Auswärts sollten nur Zahlstellen gegründet werden, die alle zusammen die politische Organisation der Sozialdemokratie darstellen sollten. Unser Plan und Wille war also gut.

Inzwischen hatten wir gemeinsam mit den Deutschen auch einen Fachverein der Textilarbeiter ins Leben gerufen. Ich hatte seine Gründung während meiner Arbeitsdauer bei Bornemann angeregt. Und gleich anfangs traten ihm etwa fünfzig Mitglieder bei. Auch gründeten wir Tschechen kurz vorher in Schönpriesen, eine halbe Stunde von Aussig, einen Arbeiterbildungsverein. Dort stand eine Zuckerraffineriefabrik, und eine noch größere wurde noch im nahen Dorfe Hostomitz gebaut. Unter den vielen Arbeitern dort war ein solcher Verein sehr notwendig; er sollte die allerersten Grundlagen für eine bessere Bildung und sozialistische Gesinnung legen. Die Aufgabe war sehr schwer, wir fanden unter den dortigen, meist aus dem flachen Lande angewanderten, noch ganz rückständigen Leuten nicht einmal einen Ausschuß zusammen, der die Fähigkeit hatte, den Verein selbständig zu leiten. Ich mußte deshalb schließlich auch diese Obmannstelle noch auf mich nehmen, wenigstens um die Leute erst einzurichten. Mindestens einmal in der Woche, gewöhnlich Samstag, mußte ich / ich war damals noch in der Fabrik / gleich von der Arbeit weg ziemlich eine Stunde gehen, um die Leseabende zu leiten, das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz zu erläutern oder sonst einen Vortrag zu halten. Ein, zwei Uhr nachts kam ich dann gewöhnlich erst nach Hause. Für die damit verbundenen Auslagen aber mußte ich selbst aufkommen, der Verein war ja noch arm. Und dann herrschte auch noch allgemein die Meinung, daß man sich einen solchen Dienst nicht bezahlen lassen dürfe, daß man aus Bruderliebe solche Opfer bringen müsse; sonst hätte es ja auch wie Ausbeuterei ausgesehen, gegen die man doch gerade ankämpfte. Der erste Andrang auch zu diesem Vereine war so, wie wir es gar nicht gehofft hatten. Die Mitgliederzahl stieg immer höher. Viele wandten sich von den Christlichen und ihrem Versprechen, der Erlösung nach dem Tode, ab und warfen sich auf die Hoffnung, daß diese Erlösung aus ihrem Jammertale nun noch während ihres Lebens durch den Sozialismus kommen werde.

Nach allen diesen allzuraschen Erfolgen und nach dem Aufschwung des deutschen Blattes tauchte auch unter uns Tschechen die Meinung auf, daß wir eigentlich auch so wie die Deutschen ein Arbeiterblatt herausgeben könnten, um den Arbeitern ganz Nordböhmens ein Sprachorgan zu schaffen und die Aufklärung besser fördern zu können. Nach mehreren Beratungen in Vertrauensversammlungen, wo alle günstigen und ungünstigen Momente erwogen wurden, kamen wir auch endlich zu dem Entschluß, ein solches Blatt herauszugeben. Und ich / ich wurde zum Herausgeber, Verleger und Redakteur gewählt. Als Gehalt wurden mir einstweilen sechs Gulden wöchentlich versprochen. Später sollte ich nach Möglichkeit mehr erhalten. Es war kein hoher Lohnsatz; aber man mußte sich ja oft für so wenig Geld beim Unternehmer schinden; warum sollte ich also dafür nicht auch diese mir viel liebere und leichtere Arbeit für meine Klassengenossen tun? Als Titel des Blattes wurde »Svornost« gleich »Eintracht« gewählt. Der Reinertrag vom Maifeste bildete, wie schon gesagt, den Preßfond, der nun noch durch Sammlungen erhöht wurde.

Daß ich zum Redakteur gewählt wurde, entsprach durchaus meinem damaligen Ehrgeize. Ich glühte in dem Bestreben, es auf der Leiter geistiger Entwicklung so hoch wie möglich zu bringen, mich aus meiner früheren Nichtigkeit loszumachen und auch im öffentlichen Leben etwas zu bedeuten, was mich allein beunruhigte, ich aber niemandem verriet, war, daß ich mich der neuen Pflicht doch nicht ganz gewachsen fühlte. Als Genosse Börner von meinem Schritte erfuhr, war auch er aufs höchste erstaunt. »Holek!« rief er mir entgegen, »wie kannst du es wagen, eine Zeitung zu redigieren? Kannst du rechtschreiben?« »Ich will tun, was in meinen Kräften steht. Und dann hoffe ich auch, daß du mir deine Hilfe nicht absagen wirst!« »Ja, wenn ich nur auch nicht mit Arbeit überlastet wäre!« Und richtig, wie dann die Zeit herankam, wo ich die ersten Manuskripte in die Druckerei schicken mußte, war Börner verreist; sie mußten also ungeprüft fort. Er prüfte den Inhalt erst dann, als ich die ganze Auflage von 1200 Exemplaren von der Bahn geschleppt brachte und sie ausgepackt hatte. Gespannt erwartete ich sein Urteil. »Schön und gut ist das Blatt geworden!« sagte er dann, als er es durchgelesen hatte. Dieses Urteil freute mich über alles!

Ich blieb nun bei dieser Ausgestaltung und Tendenz des Blattes, vor allem und zuerst aufklärend auf die Arbeiter zu wirken; ich war ja so überzeugt, wie sehr nötig sie das hatten. Leere, marktschreierische Schlagworte liebte ich nicht, sie konnten ja auch niemanden belehren. Die Leitartikel, die ich schrieb oder aus dem Deutschen übersetzte, behandelten immer bestimmte und einzelne soziale Fragen. Wie oft mußte ich aber gerade deshalb hören, daß das Blatt zu wässerig sei!

Seit dem, wo ich bei der Hauptmannschaft zu jener Protokollaufnahme war, waren nun schon viele Wochen vergangen, und die Mißwirtschaft in der Betriebskrankenkasse der Glasfabrik war immer noch dieselbe wie früher. Erst als Börner einmal bei einer passenden Gelegenheit den Kommissar Keyser frug, wie es komme, daß gegen diese Mißstände auch jetzt nicht eingeschritten werde, wurde auch der Direktor aus der Glasfabrik einmal vorgeladen, um auch ihn zu hören, ob das wahr sei, was ich gesagt hatte. Als ich kurz darauf einmal in die Redaktion des »Gesellschafters« kam, sprang mir Börner freudenvoll entgegen und rief: »Holek, du kannst den Direktor aus der Glasfabrik verklagen, er hat oben erklärt, daß du ein infamer, niederträchtiger Mensch wärest, und alles, was du angegeben hättest, Lüge sei. Du hättest es nur aus Rache geschwatzt, weil er dich aus der Arbeit entlassen hätte. Das ist eine Beleidigung, wegen der ich an deiner Stelle klagen würde.« »Nein, ich werde nicht klagen, sondern überlasse das dem ehrlichen und wahrheitsliebenden Herrn Direktor!« entgegnete ich und setzte mich hin, um eine Erklärung im »Gesellschafter« abzugeben, und schrieb:

»An den Herrn Direktor der Glasfabrik, hier.

Auf Grund Ihrer Erklärung bei der Bezirks-Hauptmannschaft, erkläre ich vor der Öffentlichkeit, daß alles das, was ich in der Versammlung über Ihre Betriebskrankenkasse vortrug und bei der Behörde zu Protokoll gab, auf Wahrheit beruht, und daß ich es auch vorm Gericht beweisen will. Und wenn Sie mich als niederträchtigen Lügner bezeichnen, dann müßte es erst nachgewiesen werden, wer von uns beiden in dieser Haut steckt. Ich habe noch keine Behörde belogen oder Arbeiter betrogen.

Wenzel Holek.«

Als aber der »Gesellschafter« diese Erklärung gebracht hatte, und ich dann am Mittag dieses Tages nach Hause ging, kamen meine Mutter und meine älteste Schwester mir in höchster Wut entgegen. Beide schrien und schimpften schon von weitem: »Du miserabler Lump! Du hast uns ins Unglück gestürzt! Emil, Marie und Anna, wir sind alle wegen dir aus der Glashütte entlassen worden! pfui, du elender Hund!« und schon fühlte ich ihren Mundschaum im Gesichte. Ich mußte sehen, daß ich eiligst fortkam. Alles, was Holek hieß, hatte aus der Fabrik hinausgemußt. Doch wurde dann die Suppe nicht so heiß ausgegessen, wie sie gekocht war. Der Direktor ließ sich von meiner Mutter auf ihr inständiges Bitten bewegen, alle drei wieder arbeiten zu lassen, wie ich bei der Unterredung weggekommen, konnte ich mir freilich gut ausdenken. Aber beim Gericht verklagt hat mich der Herr nicht, was ich so gerne gesehen hätte. Dann aber wurde doch wenigstens den Arbeitern das Krankengeld statutengemäß ausgezahlt.

Die Verhältnisse bei unserem Blatte besserten sich inzwischen nicht, wie ich es gehofft hatte, wir arbeiteten bei jeder neuen Nummer mit immer größerem Defizit, von den tausend Exemplaren Auflage, die wir mindestens machen lassen mußten, bekamen wir im höchsten Falle fünfhundert bezahlt, das übrige blieb zu Hause oder bei den Kolporteuren liegen. Feste Abonnenten waren nur gegen dreißig eingetragen, und so waren wir fast ganz auf den Linzelverkauf angewiesen. Im Teplitzer Bezirk aber nahm die Zahl der Genossen immer mehr ab. Die in das Preßkomitee Gewählten zeigten sich anfangs sehr eifrig, dann aber fehlten auch sie immer häufiger in den Sitzungen, bis alle Sorgen auf mir allein blieben. Ich selbst war sehr betrübt, weil ich nun schon voraussah, daß sich das Blatt nicht würde behaupten können. Bei der sechsten Nummer brachte ich noch die siebzehn Gulden für den Drucker zusammen, aber für mich zum Leben blieb schon nichts übrig. Ich mußte Schulden machen, wir versuchten dann noch einen Ausweg. Auch der mißlang. So ging dies erste tschechische Blatt in Aussig schnell wieder ein.

Aber was sollte nun ich anfangen? Ich war jetzt so gezeichnet, daß ich selbst bei inständigstem Bitten in keiner Fabrik mehr Arbeit erhielt. Da kamen die Schönpriesener Freunde mit unerwarteten Vorschlägen. Der Gastwirt Rolsch dort hätte seinen Laden frei; ich könnte ihn mieten und ein Viktualiengeschäft anfangen, und sie täten mich unterstützen, bei mir einkaufen. Liner von ihnen bot mir sogar hundert Gulden als Anleihe an. Das war ein Gedanke, der mir noch nie eingefallen war. Er schien mir nicht schlecht zu sein. Nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, ihm zu folgen. Meine Frau, die mit dem Unternehmen einverstanden war, holte bei ihrer Schwester ihr ganzes Erbteil, die 137 Gulden. Ich mietete den Laden von Rolsch, kaufte beim Kaufmann Müller in Aussig Ware ein und war nun selbst mit einem Schlage ein Kaufmann! Allerdings gab ich mich dabei nicht etwa der Hoffnung hin, dadurch vielleicht ein reicher Mann zu werden; aber ich hoffte doch, unsere nun fünfgliederige Familie leichter und sorgenloser durchbringen zu können. Luftschlösser zu bauen, hatte ich mir nun doch schon allmählich ein wenig abgewöhnt.

Nach einigen Wochen war das Geschäft im Schwunge. Die Genossen hatten ihr Versprechen eingehalten und unterstützten mich so, daß ich bald über dreihundert Gulden wöchentlich löste. Jeder, der bei mir einkaufte, bekam ein Buch; Samstags bezahlte er dann, was er über die Woche geholt hatte. So ging das fort. So war es überhaupt allgemein damals die Sitte in der Gegend.

Geschäftsreisende hörten dann von dem guten Gange meines Geschäftes und bestürmten mich nun förmlich. Sie gaben sich alle Mühe, mich für den Verkauf gerade ihrer Waren zu gewinnen. Einer war immer dienstfertiger, einschmeichelnder und redeflüssiger wie der andere. Keiner ging eher fort, bis er mich in seinem Netze hatte, wie die Spinne die Fliege. Alle Bestellungen wurden auf Ziel geliefert; erst nach drei Monaten oder noch später, brauchte ich zu zahlen. Niemand frug mich auch, ob ich Geld dazu hätte oder nicht. Und so sind mir Sachen aufgehängt worden, die man erst nach Jahren loswerden konnte. Mancher von den Herren meinte es mit mir sogar so gut, daß er mich in die letzten Geschäftsgeheimnisse einweihte, mir Rat erteilte, wie man schlechtere Ware mit guter mischen könne, um mehr Geld zu verdienen. Ich kannte in kurzer Zeit alle kaufmännischen Kniffe, obwohl sie sich mit meinen Grundsätzen nicht vereinbarten, und mein Kundenkreis aus Leuten bestand, bei dem ich so etwas am allerwenigsten anbringen wollte. Es waren ja größtenteils Arbeits- und Kampfgenossen. Meine Kunden hielten im Zahlen auch Ordnung, bis auf wenige Ausnahmen, und so konnte auch ich überall alles ohne Schwierigkeiten decken. Dies alles machte mich zufrieden, und ich blickte hoffnungsvoll der Zukunft entgegen.

In unserm Bildungsverein Svornost, dessen Obmann ich noch immer war, fuhr ich natürlich auch noch mit Vorlesungen und Erläuterungen der Versicherungsgesetze fort, und dazu war, wie ich schon sagte, immer der Samstagabend bestimmt. Eines Samstags war mir sehr unwohl. Ich ging aber doch abends nach acht Uhr ins Vereinslokal, übergab jedoch nur meinem Stellvertreter die Schlüssel zum Schrank, entschuldigte mich bei den übrigen versammelten Mitgliedern, daß ich den Abend nicht vorlesen könne, und ging dann wieder nach Hause.

Als ich bis an das Haus kam, in dem sich unser Laden befand, war dieser schon geschlossen. Ich ging also hinauf in unsere Wohnung / der Laden war unten und die Wohnung zwei Treppen hoch / aber meine Frau war auch hier nicht. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett, und weil mich die Kälte schüttelte, wickelte ich mich bis über die Ohren in die Zudecke ein. Nach etwa einer halben Stunde Härte ich Leute die Treppen heraufkommen. Die Türe öffnete sich, meine Frau trat herein und hinter ihr kam noch jemand, ein Mann. Ich glaubte zunächst, einer von meinen Kollegen besuche mich noch. Aber beide setzten sich an den Tisch und fingen an, von einem Roman zu reden. Der Mann saß mit dem Rücken gegen mich gewandt; so konnte ich ihn nicht erkennen. Dann aber hörte ich seine Stimme, und die erkannte ich. Es war der Krunzel! In meinen Adern fing das Blut an zu jagen; mich schüttelte jetzt nicht mehr die Kälte, sondern eine fürchterliche Wut. Ich konnte es nicht mehr länger in dem Bette aushalten, wie wild stürzte ich heraus und warf mich auf den Gehaßten. Ein Schlag fiel nach dem andern, wohin ich traf, war mir egal.

»Aber, Herr Holek! Ich bitte Sie, was machen Sie?« Aber ich war nicht mehr zu bitten und zu sprechen, ich ließ ihn meine Faust weiter fühlen, bis ich ihn zur Türe hinauswarf. Sein Glück war es, daß ich nichts anderes zum Zuschlägen hatte als meine Hand. Deshalb lief auch die Sache ohne jeden Lärm ab, so daß wohl nicht einmal Hausleute etwas gemerkt haben. Dann wandte ich mich zu meiner Frau: »Willst du jetzt noch leugnen? Was bedeutet das? Stelldichein hinter meinem Rücken, wenn ihr wißt, daß ich fort bin, nicht wahr? Höre! Ich habe gar nichts dagegen, wenn dir dieser Mensch lieber ist wie ich und du mit ihm leben willst. Meinetwegen geh! Aber hinter meinem Rücken dulde ich keine Liebesgeheimnisse.« »Das, was du denkst ist nicht wahr, so weit habe ich mich noch nie vergessen!« entgegnete sie mir kaltblütig.

Ich aber kleidete mich wieder an und ging niedergeschlagen, in hunderterlei stürmende Gedanken vertieft, ohne Richtung fort; wohin ich ging, war mir ganz gleich. Zweifel und Unzweifel kämpften in meinem Gehirn. Ist mein Verdacht ein berechtigter, oder hat vielleicht doch sie recht und ist unschuldig? Das, was ich eben erlebte, bewies doch eigentlich noch nicht ihre Schuld. Dann fiel mir auch ihr Charakter und ihre Heldenmütigkeit in ihrer Jugend ein. Aber meine Eifersucht besiegte immer wieder jeden Zweifel. Schließlich erreichte ich die Stadt Aussig. In der Töpfergasse, im Restaurant zum Löwen kehrte ich ein, setzte mich einsam in eine Ecke des Gastzimmers und trank ein Glas Bier nach dem andern, bis mein klares Überlegungsvermögen verschwand, und mein Inneres nur noch von einer fürchterlichen Wut erfüllt war. Nach der Sperrstunde taumelte ich hinaus ins Freie und irrte hinter Schönpriesen in den Feldern umher. Dort wurde ich wieder nüchterner und die Selbstmordgedanken verließen mich. Aber als dann der Schnapsjude Rollinger seinen Laden aufmachte, ging ich dort hinein und trank wieder. Von da ging's dann, als die andern Gasthäuser auch auf waren, aus einem ins andere, bis wieder in die späte Nacht. Was mit mir danach geschah, weiß ich nicht mehr. Als ich aufwachte, lag ich in meinem Bett, und meine Frau trat an mich heran und bemühte sich, mir die Sache im Guten aus dem Sinn zu reden, und versicherte mir bei Gott, daß sie unschuldig sei. Doch ihre Worte konnten bei mir keinen Glauben mehr finden.

»Und wenn ich schließlich nachgebe, so nur der Kinder halber, aber unter uns beiden ist kein ruhiges Leben mehr möglich!« sagte ich gleichgültig und halb entschlossen, Frieden zu schließen.

Noch vor Weihnachten wurde der Bau der Nestomitzer Zuckerfabrik eingestellt und die meisten Arbeiter entlassen. Das schlimmste sollte aber noch kommen. Gegen Ende Januar wurde nun auch noch der Betrieb der Schönpriesener Zuckerfabrik auf unbestimmte Zeit geschlossen. Meine Kunden, nur Arbeiter der beiden Fabriken, wurden also unverhofft gänzlich arbeitslos. In der Schönpriesener Fabrik versprach man ihnen zwar baldiges Wiederanfangen; dieses Versprechen zog sich aber von einer Woche zur andern. »Nächste Woche soll es losgehen!« Und wenn die kam, hieß es wieder so. Die Herren trösteten ihre Arbeiter, und die trösteten wieder mich, wenn sie Samstags restierten. Und so vergingen viele Wochen.

Den Leuten nichts zu borgen, das ging nicht. Denn wo sollten sie nun hingehen, wo sie wenig oder gar kein Geld hatten? Auch war es da überall Sitte, daß Kaufleute ihren Kunden, die bei ihnen regelmäßig einkauften, auch während der Zeit, wo die Fabriken stillstanden, borgten, und sich nur auf ihr Gewissen verließen. Ich borgte also auch, natürlich nur so lange, wie auch ich geborgt bekam. Ware ging hinaus, aber Geld kam wenig herein, und ich blieb bei meinen Lieferanten immer mehr in Rest, bis sie die Lust verloren, auf Kredit zu liefern. Nur für bares Geld konnte ich nun noch Ware bekommen. Das aber hatte ich nicht, und so kam das oder jenes im Laden zum Fehlen, so daß sich meine Kunden es anderswo holen mußten. Und natürlich stellte sich dies Fehlen nun immer mehr ein. Und darüber wurden wieder meine Kunden immer verdrießlicher und verließen mich einer nach dem anderen. Manchem mag es ja auch recht gewesen sein, daß es so kam, weil er hoffte, daß er mir so aus den Augen geriet und seine Schuld überhaupt nicht mehr zu bezahlen brauchte.

Ehe die Ostern 1893 kamen, war ich dann so weit, daß ich bereits keine Ware und auch kein Geld hatte. Da erst wurde ich gewahr, daß es mit mir zu Ende ging. Denn aus Geschäftsbüchern konnte ich mich über die Lage meines Geschäftes nicht überzeugen, weil ich keine angelegt hatte. Das einzige Buch war die Strazze, wo die Schulden der Kunden eingetragen waren, was ich schuldig war, könnte ich nur nach den Rechnungen zusammenrechnen, von kaufmännischer Buchführung hatte ich ja auch keinen Dunst. Die einfache Buchführung lernte ich erst in späteren Jahren. Und diese neue traurige Erkenntnis nahm mir noch mehr meinen Lebensmut. Das war wieder ein Schicksalsschlag, wie ich ihn noch vor vier Monaten nicht erwartet hatte. Ich hätte mich lieber wer weiß wo gesehen, nur nicht in Schönpriesen.

Als ich mir dann eines Nachmittags beim Rechtsanwalt Dr. Gläsner Rat geholt, wie man Konkurs anzumelden hätte, setzte ich mich traurig hin, um eine Bilanz zusammenzustellen. Zuerst nahm ich die Strazze her. Sie wies über achthundert Gulden Forderungen auf. Vorhandene Ware schätzte ich ungefähr noch hundert Gulden. Das, was ich schuldig war, betrug auch beinahe achthundert Gulden. In später Abendstunde war ich mit dieser Arbeit fertig. Dann wurde mir's in der Stube zu heiß. Leid und Schmerz trieben mich hinaus ins Freie, in die dunkle Nacht; dort schüttete ich mein Herz aus und beweinte mein ganzes Unglück. Den nächsten Tag meldete ich Konkurs an. Kurz nach Ostern traf dann eine Vorladung von Dr. Schür ein, der als Konkursverwalter bestimmt war. »Sagen Sie mir nur, wie Sie den Leuten so viel borgen konnten?« richtete er an mich die Frage, als ich bei ihm erschien. Ich wußte wirklich nicht, was ich dem Herrn Doktor da antworten sollte, was verstand der davon, was arbeitslos, ohne Verdienst, ohne Geld zu leben heißt? Ich zuckte mit den Achseln und stieß heraus: »Das ist eine schwere Sache, Herr Doktor!« Auf dem Heimwege traf ich den Kaufmann Schwarz, der mich erst ein bißchen bedauerte, dann aber meinte: »Sie haben uns heuer gerettet!« Aber auch ihn erreichte bald danach das gleiche Schicksal.

Viele Schönpriesener, die sich als Mitschuldige meines Unglücks fühlten, drangen nun in die Aussiger Genossen ein, wenigstens eine Filiale des Aussiger Konsumvereins in Schönpriesen zu gründen. Schon dieser Aussiger Konsumverein war eine übereilte Sache gewesen. Nun wurde trotzdem auch hier eine Filiale gegründet. Es wurde wieder derselbe Laden von Rolsch gepachtet. Die Mehrzahl meiner früheren Kunden trat als Mitglieder der neuen Konsumvereinsfiliale bei und ich wurde als Verkäufer angestellt. Als solcher bekam ich acht Gulden Wochenlohn und die Wohnung frei. Jedes Mitglied, deren sofort über fünfzig waren, zahlte als erste Anteilrate fünf und einen halben Gulden ein, und das Geschäft richtete sich gut ein. Nach mehreren Wochen wurde mir sogar zu meinem Lohne noch ein Gulden zugelegt, so daß ich neun Gulden Wochenlohn hatte. Dafür mußte aber auch meine Frau, wenn es nötig war, expedieren helfen und den Laden reinigen.

Wieder kam der erste Mai. Wir konnten aber dies Jahr an eine ansehnliche Maifeier nicht mehr denken und mußten uns mit der Veranstaltung eines Vergnügens am Abend des ersten Mai zufriedengeben. Denn die frühere Begeisterung für unsern Verein hatte sehr nachgelassen, die Mitgliederzahl war bereits bis auf etwa sechzig gesunken.

Diese unreifen, armen Menschen hatten eben vom Verein etwas zu Großes, für sie zu Vorteilhaftes erhofft; nun sahen sie sich getäuscht. Bloß etwas zu lernen, sich zu bilden, das war ihnen zu langweilig und zu wenig, das brauchten sie nicht! Nur, wenn wir dann hin und wieder einmal eine Volksversammlung einberiefen, und dazu einen fremden Redner bestellten, um die Gemüter wieder ein bißchen zu beleben, da kamen auch sie wieder einmal zusammen, die das Endziel nicht abwarten konnten; aber nur, um ihre Neugier zu stillen, und um aus dem Munde des fremden Propheten zu hören, wie lange es doch noch dauern werde, bis sich ihre Lage wirklich verbessere.

Das Geschäftsgebaren des ganzen Konsumvereines fing auch bald an, bedenklich zu werden. Die fälligen Rechnungen konnten schon nicht immer zur rechten Zeit gedeckt werden. Die Schulden der Mitglieder stiegen immer höher. Bei uns in Schönpriesen wuchsen die Schulden mehrerer Mitglieder besonders schnell, trotzdem in der Zeit, wo die Filiale bestand, die Zuckerfabriken im ganzen nur ungefähr vierzehn Tage stillstanden. Nun sah ich erst, daß es manche gab, die direkt ihre Lebensweise danach einrichten, je nachdem sie geborgt erhielten. Nur aus diesem Grunde bekannten sich auch so manche zu uns als Genossen. Auf Grund dieser Erfahrungen drang ich nun in die Funktionäre, durch einen Beschluß das Kaufen auf Borg einzuschränken, was dann auch geschah. Es wurde bestimmt, daß jeder nur bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit, und zwar höchstens vier Gulden in der Woche geborgt kriegte. Aber dadurch machten wir uns natürlich besonders jene Egoisten zu Gegnern. Auch wurde der ganze Schritt zu spät getan. Gerade durch meine Anstellung in diesem Konsumgeschäft kam ich zu der Überzeugung, daß noch viele Arbeiter, trotz ihres Glaubens an den Sozialismus, die alte niedrige Gesinnung von früher hatten und noch ganz dasselbe tun würden, was die bürgerliche Klasse tut, wenn sie nur die Macht besäßen. Und daß sie als Arbeitgeber in Gemeinheit, Brutalität und Rücksichtslosigkeit vielen kapitalistischen Arbeitgebern gleichen würden. Bei ihrem geistigen und wirtschaftlichen Elend war's ja auch nur zu erklärlich. »Ihr lebt nur von uns!« »Wir müssen uns nur für euch plagen!« das wurde einem nicht selten noch ins Gesicht geschleudert. Und die Gegner schürten noch solche Gesinnung. Hätte man jedesmal auf solches Geschwätz hören wollen, und es noch breiter geschmiert, so hätte alles noch mehr gestunken, und unserer Sache, die wir vertraten, erst recht geschadet. Darum dachte ich immer: »Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«

Als ich einmal von Warnsdorf, wo ich einen Vortrag über »Bildung und Arbeiter« gehalten hatte, nach Hause zurückkehrte, fand ich den Laden leer. In Aussig, wohin ich mich sofort begab, hörte ich die traurige Nachricht, daß Konkurs angemeldet worden war. Wie man mir sagte, waren wir zwar noch nicht passiv, denn die Aktiven sollten noch mit achthundert Gulden über den Passiven stehen. Natürlich aber waren unter den Aktiven die Schulden der Mitglieder inbegriffen, auf die kein Jude mehr uns etwas borgte. Sie betrugen im ganzen über viertausend Gulden. In Schönpriesen allein wurden in dem einen Jahre, wo die Filiale bestand, über zwölfhundert Gulden unter die Mitglieder verpumpt. Ihre Anteile aber machten zusammen nicht ganz zweihundertsechzig Gulden aus. Wir Verkäufer aber und Vorstandsmitglieder waren nun in den Augen der Mitglieder und derer, denen die ganze Sache gar nichts anging, die Schuldigen, und zum Schluß auch noch Diebe! Uns wurde alles mögliche nachgesagt. Wir hätten schlecht gewirtschaftet, den Verein betrogen und bestohlen. Einmal machte mir ein Genosse sogar im Gasthause vor allen Gästen Vorwürfe wegen des Bankrotts. Ich hörte ihm ruhig zu und wollte mich mit ihm nicht auflegen. Als er aber dann sagte: »Du bist geradeso wie die andern, hast auch mit gestohlen!« da verbat ich mir doch solche Redensarten. Und als er gar nicht aufhörte damit und immer weiterschimpfte, hieb ich ihm / ich konnte mich nicht mehr zurückhalten / ein paar Ohrfeigen herunter.

Mit der Auflösung des Konsumvereins ging auch alles andre, was wir an Organisationen in Aussig und Umgegend so mühselig aufgebaut hatten, rapid zurück. Es zeigte sich, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse die armen, in der Jugend betörten Massen immer wieder auseinanderrissen und herunterzerrten. Auch war wohl das, was wir errichtet hatten, zu schnell in die Höhe geschossen. Gründliche Durchbildung fehlte, persönliche Reibereien, die ohnehin noch nie ausgestorben waren, nahmen überhand. Und der Zusammenbruch des Konsums zog auch mich dahinein. Auch ich galt als einer der Sündenböcke. Es bildeten sich Parteiungen, denen ich entgegentrat. Aber ich stieß nur auf immer heftigere Opposition. Und wenige nahmen für mich Partei. Schließlich kam es so weit, daß mich die Mehrheit deshalb / ausschloß! Mich, der ich alles für die Sache geopfert, der sie so begeistert mit aufgebaut hatte!

Kein Schlag, mit dem das Schicksal mich schon getroffen, rührte mich so wie dieser Ausschluß. Nun stand ich noch mehr allein. Ich weinte wie ein Kind, als ich aus jener Versammlung nach Hause ging.

Schon während dieser Vorgänge hatte ich's noch mit einem Milchhandel versucht. Auch den mußte ich schon nach mehreren Wochen wieder aufgeben. Ich verdiente lange nicht so viel, als ich mit meiner Familie zum Leben brauchte.

Und nun kehrte ich wieder zu meinem Ausgangspunkte zurück. Wieder ging ich aus, um Arbeit zu fragen und zu betteln.

An der Elbe, auf dem Umschlagplatze der Staatsbahn, fing ich schließlich zu arbeiten an. Dort wurden Zucker und Gerste in Kähne verladen und Salpeter, Knochenmehl und sonstige Produkte ausgeladen. Hier konnte ich als Aushilfsmann arbeiten, wenn viel zu tun war, und die feste Partie mit der Arbeit nicht fertig werden konnte. Weil aber gerade in diesem Herbst viel Gerste zu verladen war, so hatte ich gleich anfangs mehrere Lohnzahlungen voll, die alle vierzehn Tage stattfanden. Und wenn man so einen halben Monat voll gearbeitet hatte, kam man auf vierzig Gulden und auch höher. Dies ermöglichte mir, zu Hause ein bißchen Wintervorrat zu schaffen, wir kauften uns einen Sack Mehl, mehrere Sack Kartoffeln, Kaffee und fünfzehn Kilogramm Fett. Zucker brauchte ich keinen zu kaufen, weil ich mir den, wie die anderen Umschlagarbeiter, vom Platze mit nach Hause brachte. Die Arbeit war nicht leicht, denn man hatte immer mit Hundertkilosäcken zu tun. Der Salpeter wog sogar hundertdreißig Kilo und mußte aus den Kähnen hinausgebuckelt werden.

Diese Arbeit dauerte bis Frost kam und die Schiffer nicht mehr auf der Elbe fahren konnten. Anfang Dezember hatten wir Aushilfsmänner mir noch hin und wieder mal etwas zu tun. Und jedesmal, wenn für uns nichts zu arbeiten war, gingen wir dann nach der Zuckerfabrik in Nestomitz und stellten uns auch dort stundenlang, auf Arbeit wartend, auf. Daß freilich gerade ich in dieser Fabrik Arbeit bekäme, darauf machte ich mir eigentlich keine Hoffnung, weil ich voraussetzte, daß mein Name dort den Herren zu gut bekannt sei; aber ich versuchte es doch, was blieb mir auch noch andres übrig? Acht Tage schon, früh und abends, standen ich und viele andere vor dem Fabriktore und paßten auf, ob nicht doch ein Beamter herauskommen und jemanden von uns hereinrufen würde. Und eines Morgens lächelte wirklich das Glück; der Magaziner kam heraus, er brauchte zwei kräftige Männer, Sackträger, und seine Augen fielen auf mich und auf meinen Kollegen Kurka, wir wurden beide der Partie Trägner zugeteilt, die soeben erst als neue, fünfte Sackträgerpartie zusammengestellt worden war. Je eine Partie bestand aus zwölf Mann.

Am ersten Tag hatten wir dreißig Waggons von je hundert Sack Zucker abladen, ihn ins Magazin ungefähr vier Meter hoch tragen und schichten müssen. Als ich mich über diese Leistung wunderte, meinte der Partieführer Trägner: »Ach, mein Lieber, das wird noch viel schlimmer kommen!« Als ich abends nach Hause ging, glaubte ich nicht, daß ich diese Arbeit aushalten würde, denn ich fühlte mich wie zerbrochen. Mein Hals hinten hatte sich durch das Scheuern der Säcke ganz aufgerieben. Auf dem Umschlagplatze war die Schinderei lange nicht so groß gewesen, weil das Tragen nur dann und wann vorkam; der meiste Zucker wurde gleich aus den Waggons auf einer Rutsche in den Kahn geschoben.

Als ich gar am nächsten Morgen aufstand, war mir noch viel schlechter zumute; ich spürte Schmerzen in allen Gliedern. Auf dem Wege in die Fabrik traf ich den Kollegen Wrabec aus unserer Partie, dem ich meine Müdigkeit klagte. »Ja,« sagte er, »hier bei der Arbeit muß man, ob man will oder nicht, einen trinken, das Bewußtsein, daß man ein Mensch ist, unterdrücken, sonst kann man das überhaupt nicht machen!«

Ich wußte tatsächlich nicht, wie ich den ersten Sack heben und aufhocken sollte, so heftig taten meine Glieder weh. Und doch sollte dieses Heben, Tragen und Laufen den ganzen Tag wieder wie um die Wette gehen! Es war ja Akkord! Aber / was nutzte alles, draußen war der Winter vor der Tür und Not um Arbeit. Vielleicht richtet sich der Körper doch ein, tröstete ich mich, und schleppte schon wieder einen Sack nach dem andern fort. Ich wiederhole: wie nach solcher Arbeit der Körper zerrüttelt ist, und was für Schmerzen in den Gliedern stecken, läßt sich für den, der es nicht durchgemacht hat, gar nicht genug schildern.

Endlich war's halb neun Uhr und Frühstück; mir war zumute, daß ich hätte lieber nach Hause gehen mögen, wir gingen aber ins Gasthaus, dort trank ich für zehn Kreuzer Schnaps und zwei Glas Bier und verzehrte mein Brot und meine Wurst. Ich fühlte mich nicht kräftiger, aber mir schien es, als hätte ich mehr Mut. Zu Mittag und Vesper wurde wieder getrunken. Und abends nach der Arbeit kehrten wir wieder ein und tranken Bier aus Durst und Müdigkeit. So machten wir es auch den nächsten Tag und dann weiter, wenn wir abends recht abgerackert zum Sitzen kamen, da hatten wir dann gewöhnlich keine Lust mehr zum Aufstehen, und da wurde lieber eins mehr wie weniger getrunken. Das Schönste war aber, daß keiner seine Müdigkeit verraten wollte, und einer mehr wie der andere mit seinen Kräften prahlte, wir waren wohl alles Männer in den besten Jahren; aber unter den sechzig Sackträgern befanden sich nur wenige, die der Arbeit ganz gewachsen waren und die sie mehrere Jahre hintereinander hätten verrichten können. Die meisten, von Not getrieben, zwangen sich zu dieser Arbeit so lange, wie es eben ging, genau so wie ich.

Der Wochenverdienst war aber mindestens fünf Gulden wöchentlich mehr, wie bei anderer, leichterer Arbeit. Die Arbeitszeit dauerte von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, oft noch länger; und niemals gab es einen Sonntag! Die fünfte Woche hatten wir immer auch eine Nachtschichtwoche. Da mußten wir den fertigen Kristallzucker, 1600 bis 1800 Sack, ins Magazin schaffen, wo er fünfundzwanzig Sack hoch geschichtet werden mußte, wenn uns die Tour traf, daß wir die oberste Schicht, das heißt, die fünfte Schicht zu tragen hatten, da ging einem bereits der Atem aus, ehe man die Stelle erreichte, wo der Sack hinkommen sollte. Wir zwölf Mann waren sehr selten alle beisammen, gewöhnlich waren zwei und noch mehr von uns krank.

Die Woche vor Weihnachten waren wir auch nur zehn Mann, und dazu war gerade recht viel zu tun. Am Christabend um acht Uhr luden wir immer noch den mit der Bahn angekommenen Rohzucker. Es sind an diesem »heiligen Abend« über vierzig Waggons angekommen und mußten unvermeidlich ausgeladen werden. Und doch habe ich bei dieser Arbeit die lange Zeit von Mitte Dezember 1894 bis Anfang Mai 1895 ausgehalten! Während dieser ganzen langen Zeit kam ich in dieser großen Fabrik nicht weiter herum wie eben in die Zuckermagazine, wo wir arbeiteten. Und von Vorgesetzten kannte ich nur die zwei Magaziniers und den Fabrikpolizisten Hase, der ein früherer Gendarmeriewachtmeister gewesen sein soll. Auf uns alle, wenn auch nicht auf alle gleich, wirkte diese langandauernde und schwere Arbeit durchaus verrohend. Es ist auch klar: Menschen, die über ihre Kräfte hinaus tagaus, tagein schaffen müssen, verlieren schließlich die Achtung vor sich selbst, wir waren wie Sklaven, wenn einem nur das bißchen Zeit zum Schlafen gewährt wird, dann muß einem schließlich auch der Sinn für alles Geistige, alles Schöne, den Menschen veredelnde entgehn.

Karfreitag nachmittag des Jahres 1895 wurde ich plötzlich aus dem Magazin vor zum Portier gerufen. Ich sollte sofort nach Hause kommen, meine Frau wäre krank. Ich ging sofort.

»Schwere Entbindung! Zwillinge! Ich habe schon den Arzt von Aussig holen lassen,« sagte die Hebamme. Der Arzt kam, und nach einigen Minuten war sie entbunden. Es trat starke Blutung ein, die dann wieder, nach den kalten Umschlägen, die die Hebamme machte, nachließ. »Nun ist keine Gefahr mehr vorhanden, ich werde einen Sprung nach Hause laufen,« sagte Frau Schebel und ging. Ich blieb am Bett allein sitzen. Nach längerer Weile hob die Luis ihre Hände und blickte mich starr an. »Wenzel, meine Liebe zu dir …!« stieß sie heraus. Da blieb ihr Mund offen und die Augen fielen zu.

Ich neigte mich zu ihr, horchte, sie atmete nicht mehr. Ich rief sie. Keine Antwort, sie war tot. Eine lange Weile noch blickte ich ihr ins Gesicht: ich wollte das Geschehene nicht glauben. Ihre Worte gingen mir bitter nahe, sie rührten mich höchst.

O hätte sie mir doch noch einmal antworten können! »Hat sie noch in dieser letzten Stunde gelogen oder die Wahrheit gesagt?« Diese Frage konnte nur sie mir beantworten. Aber sie war tot!

Es fiel mir die Heldin ein, wie sie einst ihre jungfräuliche Ehre geschützt, und dann erinnerte ich mich wieder an das, was mir einst meine Schwester sagte, und auch an den Krunzel. Und nun diese ihre letzten Worte, was sollte ich glauben?

Welche rosige Hoffnungen erfüllten noch vor elf Jahren unsere Herzen! Und welche schönen Pläne von unserem zukünftigen Leben hatten wir uns damals gemacht, als wir die ländliche Einsamkeit verließen! Alles war zerflossen wie Nebel. Nicht ein einziger unserer Wünsche hatte sich erfüllt. Sie mußte mehr Schlechtes wie Gutes mit mir durchmachen. Und auch das Heiligste, unsere Ehe, war in den letzten Jahren zerstört.

Wir hatten uns zwar die letzte Zeit nicht mehr gerauft und auch sehr selten gezankt; aber unser Eheleben war wie ein gezwungenes. Nun waren wir geschieden. Sie war erlöst von dem, was sie noch erwartet hätte, wenn sie noch weiter gelebt. Ich aber? Ich stand da mit vier Kindern, das älteste neuneinhalb, das jüngste anderthalb Jahre alt.

So resümierte ich, während ich immer noch an dem Bette stand und ihr ins Antlitz blickte. Und dann, dann brach ich erst in bitterliches Weinen aus.

Am Ostermontag Fand das Begräbnis statt. Die Kollegen in der Nestomitzer Zuckerfabrik veranstalteten für mich eine Geldsammlung unter den Arbeitern. Sie brachten mir dreiundfünfzig Gulden, so daß ich alle Kosten begleichen konnte.

Hunderte von Menschen beteiligten sich an diesem Begräbnisse. Ich weiß nicht, ob aus Liebe zur Verstorbenen oder ob sie nur die Neugier trieb, zu sehen, wie die Frau des bekannten Atheisten und Sozialisten begraben ward. Aber sie täuschten sich. Das Begräbnis war ganz einfach.

Mein Bruder Albert, der jetzt in Prödlitz bei Aussig ein Viktualiengeschäft hatte, nahm das achtjährige Mädchen zu sich. Die Genossin Nekovarsch nahm das anderthalbjährige Mädchen. Meine Eltern, die auf der Türmitzer Straße nun ebenfalls ein Viktualiengeschäft betrieben, nahmen den ältesten Jungen. Ich selbst ging mit dem letzten, dem dreijährigen Knaben, zum Genossen Kolarsch in Schönpriesen auf Logis. So waren wir alle einstweilen verteilt und wenigstens zunächst untergebracht.

Zwei Tage nach dem Begräbnis fiel mir in der Fabrik ein Sack Zucker auf das rechte Bein, und ich mußte zu Hause bleiben. Als ich nach sechs Tagen wieder in die Arbeit kam, hieß es, daß der Betrieb nun stehen bleibe, was auch wirklich geschah. Die Mehrzahl von uns Sackträgern wurde entlassen. Ich hätte, auch wenn wir nicht entlassen worden wären, selbst bald diese Arbeit aufgeben müssen, da ich schon furchtbar abgezehrt war und mich immer schwächer an Kräften fühlte.

Ich ließ auf das Grab vom Tischler einen Kasten machen und setzte ihn ein. Wie ich dann wieder ohne Arbeit war, entschloß ich mich, das Grab ein bißchen zu zieren. Ich hob mir auf einer Wiese ein paar Streifen Rasen aus und ging auf den Friedhof. In allerhand Gedanken vertieft, schnitt ich hier den Rasen in schmalen Streifen zu und setzte aus ihnen im Grabfelde ein Herz zusammen. Aber als ich es schon ganz fertig hatte, rief jemand hinter mir: »Das Herz ist verkehrt gemacht!« Ich fuhr zusammen, guckte auf: der Totengräber! verdrossen blickte ich auf mein Werk und sann nach, was ich damit tun sollte. Schließlich griff ich nach meinem Handkorb, ließ das Herz so wie es war, und eilte aus dem Friedhofe, als verfolge mich ein böser Geist.


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