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Die erste Reise nach Sachsen

Die Osterfeiertage waren nun da. Aber der Vater hatte noch immer nicht geschrieben, ob ich kommen sollte. Am ersten Feiertag kam ein Bekannter des Vaters, der Mazak aus Senomat, zur Mutter und frug, wo der Vater wäre und ob er Arbeit habe. Er wolle am Dienstag nach den Feiertagen mit noch einem Kollegen auch nach Sachsen und dort Arbeit suchen. Die Mutter gab ihm den Brief vom Vater zu lesen, in dem stand, daß er in Freiberg an der Eisenbahn arbeitete. Diese Gelegenheit hielt ich für passend, und gab der Mutter keine Ruhe mit meinen Bitten, bis sie schließlich nach längerem Beraten einwilligte und mich mitgehen ließ. Der Mazak möge mich, wenn er am Dienstag fortgehe, mitnehmen. Meine Freude war grenzenlos. Denn ich wurde nun wieder das Betteln los und dann sollte ich ja bald fremdes Land und Volk sehen.

Die Vorbereitungen zur Reise waren nicht sehr groß. Am Dienstag morgens kam der Mazak mit seinem Kollegen Burda, einem großen und starken Mann mit finsterem Blick. Ich war schon reisefertig, als sie ankamen und hatte mit Ungeduld ihre Ankunft erwartet. Mein Reiseanzug und Gepäck war: eine Hose, zwei dünne Röcke, eine Weste und Mütze. Außerdem noch zwei Hemden. Das alles trug ich auf meinem Leibe. Nur das eine Hemd packte mir die Mutter in ein Tuch, legte ein halbes Brot dazu und machte mir mein Bündel zurecht. Ich warf das Bündel über die Schulter und war bereit. Stiefel brauchte ich keine. Denn erstens war es schon warm und zweitens waren die, welche ich befaß, das Mitnehmen gar nicht mehr wert. Geld bekam ich auch keins auf den Weg. Die Mutter hatte mit dem Mazak abgemacht, daß er das Nötige für mich auslegen solle, um sich das Geld, wenn wir in Freiberg beim Vater ankämen, von dem wiedergeben zu lassen. Nachdem ich von der Mutter und den Geschwistern Abschied genommen, trat ich meine Reise mit den beiden Männern an. Als wir das Dorf hinter uns hatten, wurde die Richtung, in der wir gehen wollten, bestimmt. Sie schlugen den Weg über Saaz und Görkan ein. Die Männer gingen nicht gar zu schnell, und ich trollte hinter ihnen drein. Ihre Bündel waren bedeutend größer als das meine. Es waren kurze Säcke, in deren Zipfeln Kartoffeln staken, und über denen der Strick, der als Tragband diente, zusammengebunden war. So ging es langsam vorwärts. Dörfer tauchten vor uns auf und verschwanden. Sie waren mir bis jetzt noch alle bekannt. Ich erinnerte mich an verschiedenes, was ich in diesem oder jenem Dorfe als Bettelmusikant erlebt hatte. Dann traten wir hinter dem Orte Kounov in den Wald, durch den man zwei Stunden lang zu gehen hat und von dem ich schon so manche schreckliche Geschichte hatte erzählen hören. Hinter dem Walde lag das Dorf Holletitz, das letzte vor Saaz. Dort erinnerte ich mich, wie ich einst, in dem Bauernhause, das gleich zuerst an der rechten Seite steht, mit der Mutter im Kuhstall übernachtet war und am andern Tage / es war gerade Sonntag / in einem andern, gegenüberliegenden Hause viele gute Klöße mit Fleisch und Krensauce bekommen hatte. Wie lobte ich nun, daß wir uns da einmal hatten sattessen können. Dann kamen wir der Stadt Saaz immer näher. Die Gegend wurde mir unbekannt, keine Erinnerungen aus meinem Bettlerleben störten mich mehr. Ich war recht neugierig auf die Stadt Saaz, von deren Hopfen- und Gurkenbau und ihrem Handel ich zu Hause soviel erzählen hörte. Endlich kamen wir gegen Mittag dort an. Unterhalb des Marktplatzes kehrten wir in ein links an der Straße stehendes Gasthaus ein. Die Männer bestellten etwas zu essen. Ein Mädchen brachte einem jeden von uns einen vollen Teller mit Fleisch. Die Männer sagten, das wären »Kuttelflecke«. Doch es mochte heißen wie es wollte; es schmeckte uns vortrefflich, denn wir hatten Hunger. Der Mazak ließ mir noch einen halben Liter Bier dazu geben. Nachdem wir gegessen hatten, ging unsere Reise weiter. Nach etwa zweistündigem Marsch begann ich aber recht müde zu werden. Meine Reiselust war verschwunden. Um so mehr schmerzten meine Füße. Aber das half nun nichts. Umkehren, das ging nicht, und so setzte ich mechanisch einen Fuß vor den andern, ohne den beiden Männern etwas von meiner Müdigkeit zu sagen. Ich sollte ja auch bald andere Leute und anderes Land sehen. Und im Geiste malte ich mir aus, wie es in Sachsen aussehen müsse, und dachte an die Erzählungen unseres ersten Lehrers. So vergaß ich immer wieder meine Müdigkeit. »Dort kommt Görkau«, meinte der eine der beiden Männer, die bis dahin schweigend nebeneinander gegangen waren. Ich erwachte aus meinen Träumereien und sah vorn einen Kirchturm ragen und Fabrikessen qualmen. In der Stadt angekommen, hieß es: »Hier können wir nicht übernachten, da ist es zu teuer.« Wir gingen also noch weiter. Die Sonne war schon untergegangen, nur das Abendrot erstrahlte noch über den Bergen des Erzgebirges, und Kirchenglocken verkündeten den Feierabend. Kühl strich die Luft um meine bloßen Füße. Mir wurde so bange, ich fühlte mich einsam und verlassen. Denn die Männer sprachen nur wenig untereinander und mit mir gar nicht. Etwa eine halbe Stunde hinter Görkau erreichten wir ein Dorf. Rechts an der Straße stand ein Gasthaus, in das wir hineingingen. Der Mazak frug gleich nach dem Eintritt, ob wir hier übernachten dürften. »Ja,« lautete die Antwort der Wirtin, einer älteren, sehr dicken Frau. Wir setzten uns an den Tisch, der rechts in der Ecke stand. Oh! war ich froh, daß ich mich endlich ausruhen konnte. Meine Beine taten mir weh und noch mehr meine Füße, die ich mir auf der harten Landstraße wund gelaufen hatte. Ich hatte nun schon das Wandern satt, sah aber ein, daß es nicht anders gehe, und ich nun weiter mit müsse. Ich bereute schon im stillen, mit nach Sachsen gegangen zu sein. Aber ich getraute mich nicht, meinen Gefährten etwas davon zu sagen. Zumal vor dem Burda hatte ich eine große Angst. Und das nicht bloß wegen seiner finsteren Blicke, sondern weil er mich schon unterwegs einmal sehr grob angefahren hatte. Die Wirtin brachte uns jedem eine Portion Blutwurst und ein Glas Bier dazu. Ich nahm mir mit dem Essen recht viel Zeit und schnitt sehr kleine Stückchen von der Wurst ab. Denn so etwas hatte ich noch sehr selten gegessen, kurz, ich aß so, als täte es mir um die Wurst recht leid. Meine Führer waren mit ihren Portionen schon lange fertig, als ich von der meinen immer noch ein schönes Stück hatte. »Na, wirst du denn gar nicht fertig?« ließ sich da der Burda hören, »da muß ich dir einmal helfen.« Damit griff er nach meiner Wurst und steckte sie in seinen Mund. Ich erlaubte mir nicht, etwas dagegen einzuwenden, nahm mir aber vor, künftig mit dem Essen nicht so lange zu machen, damit es mir nicht wieder so gehe.

Den nächsten Morgen, nachdem wir gefrühstückt hatten, ging es weiter. Aber da war mir viel schlechter zumute, als am Abend vorher. Die Beine schmerzten noch heftiger. Doch sagte ich nichts zu meinen Führern, sondern biß die Zähne zusammen und schlich den Männern schweigend nach. Der Weg führte jetzt immer durch Wald und ging bergauf. »Um zehn Uhr herum können wir in Kalk sein,« meinte der Mazak, der diese Tour schon früher einmal gemacht haben mußte, denn wir trafen gegen zehn Uhr vormittags wirklich dort ein. Der Ort liegt schon an der Grenze und die Häuser stehen zerstreut umher, was mir ganz fremd und eigenartig vorkam. Ich hatte bis dahin noch keine solchen Dörfer gesehen, weil bei uns in Böhmen nur Runddörfer sind, deren Häuser sich rund um den Dorfplatz aneinander anschließen. Und dann waren die Häuser beinahe alle um ein Stockwerk höher als bei uns daheim. Dazu die Reinlichkeit, die hier auf den Straßen und um die Häuser herum herrschte, die Höflichkeit der Leute, von denen keiner an uns vorüberging, ohne zu grüßen, das alles machte auf mich einen großen Eindruck. Ich merkte den Unterschied zwischen uns und hier, konnte mir ihn nur nicht genügend erklären. Sogar an der Landstraße merkte ich, daß ich in ein ander Land gekommen war. Denn hier gab es keine Schottersteinhaufen, die halbzerstreut und in den Boden getreten herumlagen. Auch sah ich keine von Lastwagen ausgefahrenen Geleise auf diesen Straßen. Hier schien eine ganz andere Ordnung zu herrschen. Am Nachmittag fing's an zu regnen und meine Führer lobten sich's, daß ihre Stiefel nicht kotig wurden, wie es auf den böhmischen Straßen in diesem Falle unvermeidlich geschah. Meine Stiefel wurden erst recht nicht schmutzig. Ich lief ja barfuß. Dafür aber preßte sich der Kot auch nicht zwischen den Zehen hindurch, wie bei uns, wenn es regnete.

In Kalk kehrten wir ein, um etwas zu essen; dann wollten die beiden ihr Geld wechseln. Es wurde Kaffee mit Semmeln bestellt, der uns in einer feinen Kanne aufgetragen wurde. Auch bekam jeder von uns eine Tasse vorgesetzt. Mir wurde dabei beinahe unbehaglich. Denn wir machten das zu Hause viel einfacher. Da goß die Mutter den Kaffee, wenn es welchen gab, heißt es, jedem in seinen Topf, wir brockten uns Brot hinein und löffelten ihn dann aus. Mutter machte den Kaffee auch süß, während hier der sächsische bitter war. Er schmeckte mir deshalb auch nicht. Nun war ich auch auf das fremde Geld sehr neugierig, aber meine Neugierde wurde schlecht befriedigt. Ich konnte es mir nur von weitem betrachten, als es der Wirt auf den Tisch zählte. Zu fragen, was diese oder jene Münze gelte oder gar das Geld in die Hand zu nehmen, getraute ich mich nicht. Denn ich war mir nicht sicher, wie ich da ankäme.

Auf unserem weiteren Wege fiel mir ein, daß ich hier noch keine Bettelleute gesehen, und ebenso noch keinen Leierkasten zu hören bekommen hatte; ich war von meiner Heimat aus daran so gewöhnt, daß ich es jetzt sofort vermißte. Einen jeden Menschen, ob groß oder klein, betrachtete ich mir genau, wenn er an uns vorüberging, und fand, daß auch die Tracht dieser Menschen etwas von der meiner Landsleute abweiche. Auch sah ich keinen barfuß gehen wie mich, wie es bei uns meist vorkam. Und so wanderte ich seit zehn Uhr vormittags durch Sachsen bis es Abend wurde, die Sonne unterging und wir in ein Gasthaus, das rechts an der Straße stand, einkehrten. Meine Führer frugen das Mädchen, das in der Gaststube war, ob wir übernachten könnten. Es entgegnete, es müsse erst fragen, und verschwand in der Tür neben der Bierausgabe. Sie kam aber bald wieder und sagte, wir könnten bleiben. Die Männer bestellten darauf etwas zu essen und nachdem wir damit fertig waren, gingen wir gleich schlafen. Wir schliefen im Pferdestall auf Stroh. Ich war bald eingeschlafen, denn ich war müde genug, obwohl ich mich den ganzen Weg mit niemandem unterhielt und ganz auf mich selbst angewiesen war. Am andern Tag war die Sonne schon ziemlich hoch, als wir aufstanden. Mazak bestellte wieder den bitteren Kaffee, der mir gar nicht schmecken wollte. Dann ging's wieder weiter. Der Mazak sagte, als wir auf die Straße traten, bis Mittag könnten wir in Freiberg sein. Ich freute mich sehr, aus vielerlei Gründen. Meine Glieder taten mir weher als je; dann kam ich auch von den beiden Männern fort und ich malte mir schon im Geiste aus, wie freudig der Vater wohl überrascht sein werde, wenn ich vor ihm so unverhofft auftauchen würde.

Nachdem wir ungefähr eine Viertelstunde weit von dem Gasthaus, in dem wir über Nacht geblieben, entfernt waren, fiel mir ein, daß ich meinen Rock dort im Pferdestalle liegen gelassen. Ich sagte das, wenn auch recht ungern den Männern.

»Ja, da mußt du halt umkehren und ihn holen,« sagte der Mazak und lachte. Und der grobe Burda meinte: »Bist du ein Rindvieh, Junge! Hast so wenig zu tragen und vergißt auch das noch.«

Ich lief schnell zurück, aber der Rock war nicht mehr zu finden. Es blieb mir nichts übrig, als leer abzurücken. Es war das gerade kein großer Schaden; immerhin, für mich war er groß genug. Es fing auch wieder an zu regnen und regnete, bis wir gegen Mittag uns Freiberg näherten. Als ich den hohen Kirchturm der Stadt erblickte und die Eisenbahn fahren sah, war ich voll Freude, bald meinen Vater zu sehen. Die Unannehmlichkeiten, die mir diese Reise bereitet, waren vergessen. Meine Gedanken waren nur noch, wo und wie bald ich den Vater finden würde. Sonst interessierte mich weiter nichts mehr, was immer auch um mich herum vorgehen mochte. Ich war ja damals auch erst zwölf Jahre alt. Wir näherten uns nun schnell der Stadt und erreichten einen Eisenbahndamm, auf dem mehrere Arbeiter beschäftigt waren. Da blieb der Mazak plötzlich stehen und schaute forschend nach der arbeitenden Gruppe hinüber. Ich sah gespannt nach seinem Gesicht und versuchte, aus seinen Zügen herauszulesen, ob er vielleicht meinen Vater gefunden. Denn ich selbst konnte wegen meiner Kurzsichtigkeit die Leute aus dieser Entfernung nicht voneinander unterscheiden. »Ei, dort ist ja der Seemann Wenzel, der in der grauen Mütze und blauen Schürze dort,« sagte er dann zum Burda und frug ihn, ob er ihn auch sehe. Ich war enttäuscht, verdrießlich, daß mein Vater nicht unter ihnen sei, und wandte mich ab. Der Mazak spähte dann noch eine Weile auch nach meinem Vater aus, bis er sich zu mir umdrehte und nachdenklich sagte: »Den Holek aber sehe ich nicht.« Nun beschlossen die beiden zu warten, bis es Mittag sei und die Arbeiter zum Essen gingen. Sie wollten dann den Seemann herbeirufen und ihn nach meinem Vater fragen. Es dauerte auch nicht mehr lange, und der Pfiff des Vorarbeiters entließ die Leute von ihrer Arbeit. Mazak rief den Seemann herbei, der erstaunt war, uns hier zu sehen. Als er nach meinem Vater befragt wurde, meinte er: »Wo der ist, kann ich bestimmt nicht sagen, vielleicht in Riesa oder in Mulda. Hier in Freiberg ist er nicht.« Das war für mich eine traurige Nachricht, bei der mir aller Mut sank. Dazu war ich vom Regen ganz durchnäßt, so daß mich die Kälte schüttelte. Bange sah ich von einem zum andern. Was nun?

Der Mazak und Burda schienen sich diese Frage auch zu überlegen. Sie sahen einander verlegen an und richteten dann ihre Blicke auf mich. Sie frugen dann noch den Seemann, wie es hier mit der Arbeit bestellt wäre und wie hoch der Verdienst sei. Dieser, er war der Sohn des alten Seemann, der in der Ziegelei mit uns gearbeitet und dem Meister das Schnapstrinken beigebracht hatte, meinte achselzuckend, die Löhne wären nicht sehr hoch, nur 25 bis 30 Pfennig für die Stunde, und dann ginge die Arbeit auf der Bahn auch zu Ende. Sie berieten, was nun anzufangen sei und waren alle drei der Meinung, daß es eine große Dummheit von ihnen gewesen, mich mitzunehmen. Schließlich entschloß sich der Mazak, nach Mulda zu gehen, wo er meinen Vater zu finden hoffte. Der Burda ging auch mit. Der Seemann Wenzel meinte, wir hätten bis dorthin drei Stunden zu gehen, und bezeichnete den Weg, den wir zu nehmen hatten, wir verabschiedeten uns von ihm, und als ich meine Hand reichte, sah er mich mitleidig vom Kopf bis zu meinen bloßen Füßen an. Denn er kannte mich recht gut. Ich senkte den Kopf, wollte etwas sagen, doch konnte ich es nicht, weil meine Augen voll Tränen waren, und ich sonst in Schluchzen ausgebrochen wäre. Langsam zog ich meine Hand aus der seinen zurück, drehte mich, meine Tränen abtrocknend, um und holte zum Gehen aus.

»Hier hast du einen Groschen,« rief er mir da nach und langte mir ihn, als ich mich umwandte, entgegen. Nun eilte ich aber den beiden, die unterdessen schon ein ziemliches Stück entfernt waren, nach. In der Stadt kaufte ich mir dann für den Groschen, den ich aber erst vorher von allen Seiten gründlich besah, beim Bäcker ein »Zöpfchen«, das gerade einen Groschen kostete. Nachdem wir die Stadt im Rücken hatten, verzehrte ich die Semmel langsam, beinah andächtig. So eine große Semmel hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen, geschweige gegessen.

Als wir hinaus auf die freie Straße gelangten, fingen die beiden nun an zu beraten, was sie mit mir anfangen sollten, falls mein Vater auch in Mulda nicht zu finden sei. Beide bereuten, mich mitgenommen und sich so eine Last auf den Hals gebunden zu haben. Ich zottelte hinter ihnen drein und hörte wenig erfreut, aber gespannt, ihrem Gespräch zu. Der Burda drehte sich schließlich um und rief mir zornig zu: »Na, mit dir Kerl haben wir uns ein schönes Kreuz auf den Hals gebunden,« und machte dem Mazak weiter Vorwürfe, warum er es meiner Mutter nicht ausgeredet hätte, mich mitzuschicken. So eine Frau verstände von solchen Sachen gar nichts und handele ganz ohne Überlegung. Der Mazak, der den Fehler, den er begangen hatte, sehr wohl einsah, versuchte sich zu rechtfertigen. So kamen wir bis Lichtenberg, dem letzten Ort vor Mulda. Nun begann Burda von neuem zu fragen, was dann geschehen solle, wenn mein Vater auch in Mulda nicht anzutreffen sei. Verlegen gab ihm Mazak zur Antwort: »Ich weiß es nicht.« »Weißt du was,« meinte dann Burda, »wenn wir den Holek auch hier nicht finden, so bleiben wir in Mulda über Nacht und gehen dann morgen auf die Post; dort lassen wir eine Marschroute schreiben, nach der sich dann der Knirps wieder nach Hause trollen kann.« Dabei gestikulierte er mit beiden Händen, gleichsam als wollte er seinen Worten mehr Nachdruck verleihen. Der andere nickte mit dem Kopfe und meinte, das wäre ein guter Einfall und wohl auch das beste, was sich machen ließe. Sie könnten mich ja nicht mit sich in der Welt herumschleppen und meinetwegen nach Hause umkehren schon gar nicht. Arbeit müßten sie suchen und finden; wenn hier nicht, dann wo anders. Das also, was morgen mit mir geschehen solle, war beschlossen, und ich hatte keinen Grund, anzunehmen, daß es nur ein Scherz wäre, wie mir aber dabei zumute war, als sich die beiden so über mich berieten, das läßt sich gar nicht mehr schildern. Schon den ganzen Weg von Freiberg her hatte ich geweint. Die Ungewißheit, ob ich meinen Vater in Mulda finden würde, machte mir den Kopf ganz wirr. Je mehr ich dann über das nachdachte, was mit mir dann geschehen solle, wenn mein Vater nicht dort war, desto größer wurde meine Angst und Verzweiflung. Ich stellte mir den langen Weg durch die Lichtenberger Wälder vor, den ich allein machen sollte. Ich fürchtete mich allein in diesen Wäldern, glaubte auch den rechten Weg, auf dem wir gekommen, nicht wieder zu finden und mich zu verirren, hundert solcher Gedanken peinigten mich. Mein Kopf tat mir wehe und glühte vom Weinen und vielem Nachdenken. Ich fühlte mich schwach und abgehärmt und wußte gar nicht mehr recht, wo ich ging. Und dazu noch das Schimpfen und Fluchen und die zornigen Worte, mit denen mich die beiden immer mehr anbrüllten, wie habe ich es damals bereut, mit nach Sachsen gegangen zu sein! Von all den Leiden, die ich Knirps doch schon zu ertragen gehabt, schien mir keines so groß wie das jetzige. Noch nie hatte ich mich so unglücklich und trostlos gefühlt wie damals.

So gelangten wir endlich nach Mulda. Es kann etwa um vier Uhr nachmittags gewesen sein, von weitem schon sahen wir auf dem Bahnkörper in der Nähe des Bahnhofs Arbeiter und Arbeiterinnen schaufeln und hacken. Doch die beiden, Mazak und Burda, getrauten sich nicht zu den Leuten hinzugehen und wollten so lange warten, bis jemand von diesen Leuten an uns vorübergehen werde, oder bis es Feierabend sein würde. So saßen wir ungefähr eine Stunde, während welcher beraten wurde, welcher Weg für mich nach Böhmen der beste und kürzeste wäre. Ich saß während der ganzen Zeit wie auf Kohlen, zitternd vor Aufregung, bis endlich eine Frau von der arbeitenden Schar an uns vorüberging. Sie blieb vor uns stehen, sah uns forschend an und frug in tschechischer Sprache: »Èeši?« (Tschechen?) wie aus einem Munde klang das »Ja« meiner beiden Gefährten als Antwort. Der Mazak frug gleich weiter, ob sie unter den Arbeitern einen Holek kenne. Gespannt wartete ich auf die Antwort der Frau. »Nein,« sagte sie, »den Namen habe ich noch nicht gehört. Es ist aber möglich, daß doch vielleicht einer so heißt, den ich mit dem Namen nicht kenne.« Der Mazak fing nun an, der Frau das Aussehen meines Vaters zu beschreiben. Er wäre mittlerer Statur und trüge einen schwarzen Vollbart. »So einen Mann haben wir dort unter uns,« entgegnete darauf die Frau und setzte hinzu, ich könnte ja nachher, wenn sie wieder zurückgehen werde, mit ihr gehen. Sie käme bald zurück. Meine Hoffnung erwachte aufs neue und es wurde mir wieder leichter. Bald kam auch die Frau wieder zurück und ich ging mit ihr zum Bahnhof. Mein einziger Wunsch und Gedanke war, den Vater hier zu finden. Als wir zu den Arbeitern kamen, zeigte die Frau auf einen von ihnen, der gebückt, mit der Schaufel einen Haufen Steine zwischen den Eisenbahnschienen auseinander warf und meinte: »Ist das vielleicht dein Vater?« Ich konnte ihn aber auf diese Entfernung wegen meiner Kurzsichtigkeit noch nicht erkennen und ging noch näher, bis auf etwa drei Schritte, heran. Da richtete er sich auf. Und ja! Er war es! Wie gefesselt stand ich da, keines Wortes mächtig und sah ihn starr an. Der Vater aber schaute mich an, als glaube er nicht, daß ich es war, der vor ihm stand. Er sah ja niemanden als mich allein. Wie sollte ich denn allein hierhergekommen sein. »Ach Gott! Wenzel, bist du es denn wirklich?« rief er endlich mit zitternder Stimme. »Ja, Vater«, gab ich zur Antwort, brachte aber weiter kein Wort mehr heraus und warf mich in seine Arme, umschlang mit meinen Armen seinen Hals und fing bitterlich zu weinen an. »Ja, sage mir, Junge, wie kommst du denn hierher?« frug mich der Vater nach einer Weile und sah mir forschend ins Gesicht. Dabei machte er sich sachte von mir los und gab mir damit zu verstehen, daß er jetzt nicht viel Zeit für mich übrig habe. Ich sagte ihm nun ganz kurz, daß ich mit dem Mazak aus Senomat gekommen wäre und daß er mit noch einem Mann dort vor dem Bahnhof sitze. Darauf sagte er, ich solle wieder zu ihnen hingehen und dort warten bis zum Feierabend, was ich auch tat. Als ich zu den beiden Männern zurückkam, sagte ich ihnen nur kurz, daß ich meinen Vater gefunden hätte und nichts mehr. Ich setzte mich dann etwas abseits von ihnen, denn ich wollte mit ihnen nun nichts mehr zu tun haben. Als es Feierabend war, führte uns der Vater in das Haus, in dem er logierte. Dort war aber für die beiden Männer kein Platz mehr, und sie gingen bald fort, um in einem Gasthaus zu übernachten. Ich habe sie nie wieder zu sehen bekommen, hatte auch nie Verlangen danach. Mein Vater ließ mir Kaffee und Semmeln bringen und nachdem ich gegessen hatte, führte er mich auf den Dachboden hinauf zum Schlafen. Dort stand ein altes Bett, in das ich mich hineinlegte.

Mein Vater deckte eine Ziegenhaut über mich, da keine Decke mehr zu haben war und so schlief ich ein. Den folgenden Tag ging ich mit den Kindern unserer Wirtin in den Wald, Holz zu holen. So vergingen drei Tage, bis mir der Vater auch Arbeit an der Bahn verschafft hatte. Ich klopfte nun Steine, eine Arbeit, die noch einige Jungen in meinem Alter aus Mulda verrichteten. Jeder aber klopfte für sich, da es Akkordarbeit war.

Mit diesen Jungen habe ich mich aber sehr gut vertragen. Sie waren sehr neugierig zu erfahren, wie das und jenes in Böhmen sei, und stellten viele Fragen, die ich so gut ich es eben mit meinem bißchen Deutsch vermochte, beantwortete. Aber die Jungen verstanden mich doch, und beschenkten mich sogar manchmal. Die Arbeit und die neue Bekanntschaft gefielen mir also recht gut; nur schade, daß beides nicht lange dauerte. Als ich zwei Kubikmeter Steine geklopft hatte, kamen Beamte, die unsere Steine vermaßen, dann durften wir nicht weiter arbeiten. Am andern Tage holten wir uns unseren Lohn. Die andern Jungen, die schon Bescheid wußten, holten mich ab. Es war an einem Nachmittag. Nach etwa einstündigem Wege erreichten wir den Ort, wo ausgezahlt wurde. Rechts an der Eisenbahn standen einige Reihen Bretterbuden, in deren Mitte sich die Kantine befand. Hier war ein lustiges Leben! Gesang, Musik, Tabaksqualm und Getränke gab es hier. Der Raum war mit Menschen gefüllt. Meine Landsleute, die Tschechen, erkannte ich an der Sprache und ihrem Gesang. Sie bildeten die Mehrzahl hier. Dann gab es noch Italiener, aber nur wenige Einheimische. Alle saßen an Tischen, Schnaps- oder Biergläser vor sich, oder standen in kleinen und größeren Gruppen umher, erzählten, lärmten und tranken einander zu. Einige von ihnen waren in so gehobener Stimmung, daß sie sich einander die Arme um den Hals schlangen und sich Brüder nannten, während in der andern Ecke sich zwei prügeln wollten. Es waren Landsleute von mir. Einer hatte ein Glas in der Hand und holte damit zum Schlage aus, wurde aber von den andern noch zurückgehalten. Von den beiden schimpfte und fluchte der eine immer mehr als der andere. Die Vernünftigeren versuchten zu vermitteln und redeten den Streitenden zu, es wäre doch eine Schande, wenn Landsleute einander schlügen. Der mit dem Glas in der Hand aber brüllte immerfort: »Ich bin drei Jahre beim Militär gewesen und habe mich vor dem Hauptmann nicht gefürchtet, viel weniger vor so einem Krüppel.« An einem Tisch saß einer und spielte Ziehharmonika. Neben ihm saßen noch zwei. Der eine hielt ein Bierglas in der Hand, in welchem zwei Löffel waren und stieß mit dem Ellbogen an die Bretterwand, daß die Löffel im Glase klirrten. Der andere hatte einen großen Blechtopf auf seinem Schoß, in der einen Hand eine Stürze, in der andern ein abgebrochenes Stück von einem Schaufelstiel und schlug abwechselnd einmal mit der Stürze dann wieder mit dem Schaufelstiel auf den Topf. Es war eine schneidige Musik. Vor der Kantine standen Frauen, die auf ihre Männer warteten und auch schimpften. Eine zog ihren Mann am Ärmel heraus und warf ihm dabei vor, daß er zu viel Geld versaufe. Eine andere versuchte mit Bitten und Schmeicheln, ihren Mann zum Heimgehen zu bewegen. Die Kollegen redeten wieder auf die Weiber ein, die Männer müßten sich ja die ganze Woche schinden und plagen, und wenn sie heute etwas vertäten, so sei das kein Unglück. Die aber zeigten wenig Glauben. Eine vor allem sparte ihre Worte nicht. Sie schimpfte auf ihren Mann, er habe schon die Woche hindurch genug durchgebracht; wenn er jetzt auch die letzten Pfennige hierlasse, sehe sie nicht ein, wozu sie sich in der Fremde wie ein Zigeunerweib herumschlagen solle. »Ah, du willst mir wohl vor den Leuten Schande bereiten, du verfluchte Sau!« knirschte der Mann vor Wut mit den Zähnen, und fügte hinzu: »Na, warte nur, das wollen wir wo anders miteinander ausmachen.« Das waren ebenfalls Landsleute von mir. Mir war das alles nichts Neues. Aber meine Kollegen, die die Sprache nicht verstanden und nur aus dem, was sie sahen, schließen konnten, daß hier etwas Ungebührliches vorging, gaben mir unterwegs keine Ruhe und baten, ihnen doch alles zu erklären. Ich tat es, und das war das letztemal, daß ich mich mit den braven Kerlen unterhalten habe.

Die Arbeit an der Bahn war bis auf einige Kleinigkeiten fertig und die Strecke dem Betrieb übergeben. Der Vater suchte deshalb neue Arbeit, und zwar solche, wo auch ich mit beschäftigt werden könnte. Wieviel ich aber für das Steineklopfen bekam, kann ich nicht mehr sagen, denn ich kannte ja das fremde Geld damals noch nicht. Nur so viel weiß ich noch, daß ein Taler dabei war. Der Vater hatte denn auch bald in einer Ziegelei in Radeck unweit Mulda Arbeit gefunden, und gleich zogen wir hin. Mit uns zog aber auch eine Gattung Tierchen, die sich noch den ganzen, nun folgenden Sommer von uns nährten, die wir durchaus nicht los werden konnten, und sogar mit nach Hause brachten, nach Böhmen. Nämlich Läuse. Wohl hatte ich einmal von einem echten Eisenbahner gehört, daß die Läuse ein Gottessegen wären; für mich aber waren sie eine Qual. Sie hatten in den Ziegenhäuten gesessen, mit denen ich mich die Nächte über zugedeckt hatte. Eine stattliche Zahl dieser »Gottessegen« hat damals ihr Leben unter meinen Fingernägeln lassen müssen. Aber nie wurde ich mit dem Totmachen fertig. Immer wieder fand ich welche. Meinem Vater ist es nicht besser ergangen. Und so brachten wir im Herbst der Mutter welche mit nach Hause. Die aber hatte auch keine besondere Freude an diesem sonderbaren Gottessegen und Reisegeschenk.

Die Ziegelei, in der wir nun zu arbeiten anfingen, stand am Bahndamm, am Flüßchen Mulda, und zwar links, wenn man von Mulda kommt. Das Wohnhaus war sehr alt und lag so dicht am Rande des Waldes, daß die Zweige der Bäume bis an die Fenster reichten. Der Ziegelschuppen war erst neugebaut, die Dachdecker nagelten sogar noch die Dachpappe auf. Holz- und Ziegelstückchen lagen noch überall auf der Erde herum. Die Lehmwand hing tief unterhalb der Wiese, neben dem Walde. Der Ziegelmeister war ein kleiner schwacher Mann mit einem Vollbart und sehr freundlichem Gesicht. Seine alte Mutter führte ihm die Wirtschaft, da er noch ledig war. Die anderen Arbeiter und auch ich nannten sie Großmutter, denn sie war gut und freundlich mit uns. Ich holte ihr immer abends nach der Arbeit Brot und Semmeln aus der Mühle oder andere Waren aus dem Kaufladen, wofür sie mir stets etwas Geld oder Eßbares zusteckte.

Neben der Ziegelei stand ein Bahnwärterhäuschen. Der Bahnwärter und seine Frau waren ebenfalls recht nette Leute; nur konnten sie sich nicht mit dem Ziegelmeister vertragen. Warum, weiß ich nicht. Ich sah nur, daß sie nie miteinander sprachen. Bevor wir mit dem Ziegelmachen begannen, mußten wir noch im und um den Schuppen herum aufräumen. Wir machten diese Arbeit nicht im Akkord, sondern im Stundenlohn. Wir hatten den ganzen Tag damit zu tun. Früh etwa um neun Uhr herum kam die Großmutter aus dem Hause heraus und rief: »Wenzel, kommt frühstücken!« Mein Vater hieß nämlich auch Wenzel. Als wir in die Stube kamen und uns hinter den Tisch gesetzt hatten, brachte die Großmutter eine große Schüssel voll Fleisch. Dazu noch Brot und ein Fläschchen Schnaps. »So, essen Sie erst tüchtig, dann wird das Arbeiten auch besser gehen,« meinte sie lächelnd, nachdem sie alles aus den Tisch gestellt hatte, und fügte hinzu: »Das kostet euch nichts.« Ich war erstaunt über die große Portion Fleisch. Doch schmeckte es mir sehr gut und war so weich, daß es an der Gabel zerfiel. Ich hatte in meiner Heimat gehört, daß Fleisch vom Truthahn sehr gut schmecke und auch recht weich sei, weshalb ich gegen meinen Vater meinte, das Fleisch müsse wohl von einem Truthahn sein. Er sagte aber nichts, lächelte nur und aß weiter. Als wir aber mit dem Essen fertig und aus der Haustür getreten waren, wandte sich mein Vater nach der linken Seite und griff in eine an der Mauer stehende Kiste hinein. Er brachte einen Knochen von einem Pferdefuß heraus, hielt mir denselben vor die Nase und meinte lachend: »Hier, schau, von so einem Truthahn war das Fleisch.« Ich wandte mich ganz betroffen ab. Na, schließlich war es auch einerlei, wenn ich auch Pferdefleisch gegessen hatte. Gut hatte es mir doch geschmeckt, und die Hauptsache war, daß die Portion recht groß gewesen. Als wir mittags zum Essen kamen, stand schon die Schüssel wieder voll Fleisch auf dem Tisch. Ich griff tüchtig zu und lobte es mir. Denn so viel Fleisch wie ich hier täglich zu essen bekam, hatten wir zu Hause alle zusammen nicht einmal zum Kirchweihfest zu essen. Später erfuhr ich dann gelegentlich, daß sich beim Eisenbahnbau ein Pferd ein Bein gebrochen hatte, was der Ziegelmeister für vierzehn Taler gekauft hatte. Er ließ es schlachten und verkaufte dann das Fleisch größtenteils wieder pfundweise an die Eisenbahnarbeiter; was übrig blieb, prökelte er ein.

Als nun alles in Ordnung gebracht war, begann das Ziegelmachen. Es fehlte uns aber noch ein Ziegelstreicher, und da nicht gleich einer zu kriegen war, so machte der Vater einstweilen Lehm und die Ziegel zugleich. Ich trug letztere ab. Nach etwa acht Tagen kam endlich ein Ziegelstreicher. Es war noch ein junger, aber sehr herabgekommener Mensch. Er hieß Wilhelm. Schon einige Wochen danach zog er wieder ab. Aber es war schnell Ersatz da. Das war ein Mann aus unserem Dorfe in Böhmen, der nun nachgekommen war. Er hieß Havel. Dieser machte nun den Lehm zurecht und mein Vater strich Ziegel. Unsere Schlafstelle war auf dem Dachziegelboden, wo der Vater und Havel von Brettern und Latten ein Lager zusammen genagelt hatten, in das sie Stroh legten und darüber alte Säcke breiteten, vom Ziegeleibesitzer bekamen wir dann noch ein paar alte Pferdedecken, mit denen wir uns zudeckten. Unsere Kost war früh Kaffee, Brot und Butter, mit der aber sehr gespart wurde. Zum zweiten Frühstück gab's Brot, Butter und für sechs Pfennige Schnaps. Zu Mittag Brot, Butter, Kaffee. Die Vesper bestand auch wieder aus Butterbrot und Schnaps, und wenn uns dann am Abend der Kaffee nicht mehr schmecken wollte, dann kochte uns die Großmutter einen Topf voll Wasser, in das mein Vater dann etwas Butter und Salz tat und Brot hineinbrockte, damit es wieder einmal nach etwas anderem wenigstens roch. So ging das eine Woche wie die andere, den ganzen Sommer hindurch. Ehe so viel Ziegel fertig und trocken waren, daß sie in den Brennofen eingefahren und gebrannt werden konnten, verstrichen allein mehrere Wochen. Als dann der Meister mit dieser Arbeit anfing, nahm er noch einen Arbeiter auf, damit ihm dieser die Ziegel in den Ofen fahren und brennen helfe. Es war ein schon älterer, langer, starker Mann mit einem spitzen Kinnbart. Sein Gesicht war blau und rot und aufgedunsen. Er sagte, er sei ein Ungar, sprach aber sehr gut Deutsch. Seine Kleider waren auch nicht im besten Zustande. Einige Tage arbeitete er flott, fing aber dann an, Schnaps zu trinken, und zwar einen Tag mehr als den andern, bis er mit der Schubkarre nicht mehr fahren konnte und mit ihr auf dem Wege zum Ofen umkippte und selbst mit hinfiel. Er schimpfte dann über den schlechten weg und über die Karre, die nicht recht gebaut wäre und nach einer Seite stauche, wir wußten aber besser, woran es lag. Der Meister war ärgerlich, daß die Arbeit nicht von der Stelle ging und durch das öftere Umkippen gar noch Ziegel zerbrochen wurden. Er getraute sich aber nicht, dem Ungar etwas zu sagen, weil dieser sehr unhöflich war. Schließlich wurde es ihm doch zu bunt und er entließ ihn. Der Mann packte dann sein Bündel und ging fluchend fort, kam aber abends, als wir schon schlafen gegangen waren, zurück, noch mehr betrunken als am Tage. Er machte fürchterlichen Lärm, schlug mit den Fäusten gegen die Haustüre und schrie: »Komm herunter, du sächsischer Krüppel, ich will deine Knochen sortieren. Bringe aber gleich einen Sack und ein Schaff mit, für deine Knochen und dein Blut.« Es dauerte ziemlich lange, ehe er sich so ausgetobt hatte. Am andern Morgen fanden wir ihn auf der Bank vorm Hause schlafen. Er wollte wieder weiter arbeiten, aber der Meister ließ ihn nicht wieder anfangen. Uns hatte der Ungar manchmal, wenn er nur ein wenig angeheitert war, unterhalten. Der Meister hatte eine Ziehharmonika, auf der ich gewöhnlich während der Mittagspause und am Abend nach der Arbeit spielte. Der Ungar bestellte dann ein schnelles Stück und tanzte dann den »Tschardasch«. Er machte dabei die sonderbarsten Bewegungen mit den Händen und Füßen. Das machte allen großen Spaß, und wir hielten uns vor Lachen oft die Bäuche.

Nach dem Ungarn kam bald ein anderer. Er hieß Vetter und trank jedenfalls noch lieber als der Ungar. Anfangs arbeitete er gut und fing erst nach einigen Tagen mit dem Trinken an. Er machte aber keinen Lärm, wenn er betrunken war und das Fahren nicht mehr gehen wollte, sondern legte sich dann ruhig irgendwohin und schlief seinen Rausch aus. Und dann ging's wieder weiter. Schimpfte der Meister darüber einmal, so machte er sich nicht viel daraus, senkte nur den Kopf und gab keine Antwort. Sonntags ließ er sich's aber besonders gut gehen; da trank er gewöhnlich fünf bis sechs Seidel Schnaps. Nachmittags war er dann so betrunken, daß er nicht mehr stehen konnte. Er lag dann im Brennhause auf dem Kohlenhaufen, wo er bis Montag morgens blieb und dann aussah wie ein Essenkehrer. Nachdem er etwa drei Wochen bei uns gewesen, brachte er eines Tages ein paar Bekannte mit in die Ziegelei, einen Mann und eine Frau. Sie sollten an dem Reservetisch Ziegel machen und wenn es nötig sein sollte, mit beim Brennofen helfen. Der Mann war lang und hager, mit schmalem Gesicht und unfreundlichem Blick. Die Frau mittelgroß, untersetzt, mit rundem Gesicht und stechendem Blick. Sie brachten nichts mit; nur jedes ein kleines Bündel, in dem sich wohl die nötigsten Kleidungsstücke befanden. Von der Großmutter hörte ich, daß die beiden noch ledig wären. Sie waren, ebenso wie der Vetter, beim Meister in Kost. Auch sie tranken beide gern. Doch muß der neue Mann viel mehr haben vertragen können, denn man merkte es ihm kaum je an. Sie lebten auch in der Kost viel besser als wir. Mein Vater aber sagte, daß wenn sie Sonntags mit dem Meister abrechneten, sie nur wenig oder gar kein Geld herausbekämen, und meinte, das könnte dem schon passen. Es dauerte auch nicht lange, fing der Vater und Havel zu murren an, daß der Meister ihnen gegenüber nicht mehr so freundlich sei wie früher. Während der lange Mann und die Frau Händel suchten, sprachen der Vater und Havel immer weniger. Trotzdem kam immer öfter Streit auf, oft wegen der geringsten Ursachen, die der Rede gar nicht wert waren. Sie nannten uns böhmische Hunde und anderes mehr. Der Vater und Havel hielten sich dabei immer zurück, denn sie wollten es wenigstens bis Ende August durchhalten. Denn dann konnten sie auch zu Hause wieder Arbeit finden. Jetzt aber gab's daheim noch keine. Der Meister aber hielt sich immer mehr zurück von uns.

Die andern drei schliefen auch auf dem Dachziegelboden. Der Meister hatte für sie aber Heu hinaufbringen lassen. Hier in diesem Heu entwickelte sich nach und nach noch ein anderer »Gottessegen«, nämlich Flöhe. Nun plagten mich Läuse und Flöhe um die Wette. Ich hatte bisher einen gesunden Schlaf gehabt, jetzt aber war es mir fast nicht mehr möglich, einzuschlafen.

Eines Vormittags, als der Streit gar nicht mehr auszuhalten war, rechneten Havel und der Vater doch mit dem Meister ab. Sie übergaben ihm alles Werkzeug, und nach dem Essen traten wir unseren Heimweg nach Böhmen an. Nun aber ging ich schon besser ausgerüstet zurück, als ich im Frühjahr hergekommen war. Denn der Vater hatte mir bei einem Altwarenhändler in Lichtenberg ein Paar getragene Lederpantoffeln, sowie eine neue graue Mütze, eine Hose und auch ein Jackett gekauft. Nun war ich schon zwölfundeinhalb Jahre alt geworden und marschierte nun mit ganz andrer Stimmung den Weg zurück.


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