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Die ersten Erinnerungen

Wenn ich vierzig Jahre zurückblicke und über das nachdenke, was mir aus meinen ersten Lebensjahren noch im Gedächtnis geblieben, kommt mir das wenige wie ein Traum vor, ohne jeden Zusammenhang.

Meine Eltern wohnten in einem nordböhmischen Dorfe, das, wie ich später erfuhr, Schönhof hieß. Dort bin ich am 20. Januar 1864 geboren. Der Vater arbeitete in einer Zuckerfabrik, wenn ihm die Mutter das Mittagessen zutrug, nahm sie mich sehr oft mit und führte mich bei der Hand, damit ich nicht in den Bach neben der Straße hineinfalle. Auf diesen Gang freute ich mich jedesmal sehr, da mir mein Vater immer ein hübsches Stückchen Zucker gab. Große Angst jagten mir aber die mächtigen Dampfmaschinen ein, an denen wir vorbeigehen mußten, vielleicht sind sie schon lange unter das alte Eisen marschiert. Dann interessierten mich die großen Flaschen oder Ballons, die der Reihe nach in Körben eingesteckt auf dem Fabrikshofe standen.

In diesem Orte sprachen die Leute Deutsch. Mutter und Vater sprachen zu Hause Tschechisch. Und da konnte ich von jeder Sprache ein bißchen. Das Tschechische lernte ich von der Mutter und das Deutsche unter den Kindern, meinen Spielgenossen.

Wir wohnten in einem niedrigen Eckhause, vor dem sich zwei Straßen kreuzten, wohin sie führten, kann ich nicht mehr sagen, da ich in diesem Orte um nicht viel älter geworden bin.

Hinter dem Hause befand sich ein schöner, aber nicht gar großer Garten, mit hübschen Blumen.

Als ich eines Tages früh erwachte, sah ich mich in einer ganz anderen Wohnung. Das Zimmer war gewölbt und hoch. Unsere Möbel lagen da kreuz und quer durcheinander. Vater war nicht da, Mutter saß beim Ofen und weinte. Sie ging dann fort, ich lief neben ihr her. Als wir zu dem Hause kamen, in dem wir erst gewohnt, sah ich, daß das Dach heruntergerissen war, das Holz angebrannt auf dem Hofe herumlag. Die Mutter fing wieder an zu weinen und wischte sich die Tränen mit ihrer Schürze ab. Im Garten stand ein Mann mit einer Schaufel in der Hand. Die Mutter nannte ihn Anton. Sie zankte sehr auf ihn. Ich betrachtete mir das alles gleichgültig und horchte dem Zank und Streit stumm zu und verstand die Bedeutung dessen allen nicht.

Erst später, wie ich schon älter war, erzählte die Mutter öfters uns Kindern von der Brandgeschichte und von dem Schaden, den sie dabei erlitten haben. Den Anton bezeichnete sie jedesmal als Urheber des Brandes. Das Haus sollte ihm gehört haben, und er hätte es hoch versichern lassen, dann selbst angezündet, um mehr Geld herauszuschlagen, als es ihn kostete. Inwieweit ihre Verdächtigungen gegen den Mann wahr waren, konnte ich nicht erfahren. Denn dieses Unglück wurde ja später immer mehr vergessen und immer weniger davon gesprochen.

Von dem Brand kann ich selbst nichts weiter als das schon Gesagte erzählen. Er soll ja in der Vormitternacht ausgebrochen sein, und da mag ich wohl längst süß und sanft geschlafen haben, so daß ich gar nichts gewahr wurde, wie sie mich in ein Zimmer des unweiten Gasthauses transportierten.

Das Haus, wo wir dann wohnten, war groß und hoch, stand auf einer Anhöhe rechts an der Straße. Dabei befand sich ein großer Garten, mit einer Steinmauer umgeben, in dem auch eine Schaukel war, auf der ich mich mit den andern Kindern mehreremal schaukelte.

Zu der Zeit ging mir's noch sehr gut. Von Hunger oder sonstigen Qualen hatte ich noch keine Ahnung.

An Spielsachen fehlte es mir auch nicht. Zwei bewegliche Reiter und ein großer Pudelhund waren mir die liebsten, an die ich mich noch heute erinnern kann. Mit dem schönen weißen Pudelhund hatte ich aber Pech / er ist mir verunglückt.

Die Mutter lud mir ihn einmal nach vielem Betteln in den Kinderwagen und ich fuhr ihn vor dem Gasthause hin und her, dabei mochte ich es versehen haben, ließ den Wagen aus den Händen fahren, er fuhr über die Böschung nach der Straße zu, kippte um, und der Hund war kaputt.

Wie lange ich und meine Eltern hier noch wohnten, kann ich auch nicht bestimmt sagen. Lange wohl nicht. Denn, wie ich mir es heute vorstellen kann, gehen die Zuckerfabriken nur im Winter und die Arbeit dauert auch nur solange wie die Kampagne. Wie ich mich aber schon wieder in einem andern Kreis von Leuten und Kindern, in anderer Gegend und Wohnung sah, war's schöner, warmer Sommer. In der Wohnung, wo ich, mein kleinerer Bruder Albert und meine Eltern sich nun aufhielten, waren noch ein alter Mann und Frau, die mir als Großvater und Großmutter bezeichnet wurden, und die ich so nannte, solange sie noch lebten.

Ferner befanden sich da noch zwei Männer und ein größeres Mädchen. Ich nannte sie so wie mir's die Mutter sagte. Den großen Onkel Joseph, den kleineren Matthias, das Mädchen Tante Marie. Unser Beisammensein und meine Freude an den Geschenken, die mir die Onkels gewöhnlich aus der Stadt mitbrachten, dauerte nicht lange. Bald sah ich weiter niemanden wie die Großeltern: Sie gaben uns zu essen und sorgten mit allem für uns. Der Großvater mußte sich immer, wenn er gehen wollte, auf einen Stock stützen. Er saß sehr oft an der Wiege meines Bruders und sang ihm Lieder vor. Der arme Mann war schon, wie ich nachher erfuhr, achtzehn Jahre krank gewesen. Seine Gichtkrankheit holte er sich bei der Beschäftigung als Flößer.

Meine Eltern und die Verwandten kamen nur hin und wieder mal nach Hause. Das, wenn sie zu Hause waren, mag wohl immer an einem Sonntag gewesen sein, weil sie jedesmal in die Kirche gingen und auch mich mitnahmen.

Wenn ich den Großvater fragte, wo Vater und Mutter wären, gab er mir immer zur Antwort:

»Nu, auf der Arbeit, im großen Walde Holz fällen!« Ich hatte natürlich von dem allen keinen Begriff.

Die Verwandten, die ich da zum ersten Male kennen lernte, waren die Eltern, Brüder und Schwester meiner Mutter. Und dieser Ort, in dem sie geboren und groß gewachsen, hieß Kralowitz. Die Umgangssprache war Tschechisch. Nur selten hörte man jemanden Deutsch reden. Kralowitz war eine Bezirksstadt. Die meisten Häuser waren klein und niedrig gebaut. Höhere einstöckige Häuser standen nur um den Marktplatz herum. Das größte von ihnen war das Gerichtsgebäude. Ich hatte zwar damals noch keinen Begriff von einem Gericht. Wenn ich aber manchmal in der Stadt hin und her spazierte, um mir die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, bekam ich vor den Herren mit den Augengläsern und Papieren unterm Arm, die da aus und ein gingen, großen Respekt. Ich vermutete in ihnen doch etwas Höheres, als in denen, unter welchen ich lebte. Von allen den Häusern, die ich da zu sehen bekam, schien mir das, in dem wir wohnten, das ärmste zu sein. Die äußeren Mauern waren roh, ohne Kalkputz. Der Dachboden stand offen, ohne Giebel. Die zwei Stuben, aus denen es bestand, hatten nicht einmal Fußböden von Brettern.

Von Handwerkern gab es in dem Orte am meisten Töpfer, Weber und Schuhmacher.

Von Fabriken war nichts zu sehen. Weitere Sehenswürdigkeiten waren die große Kirche, die in einem entlegenen Viertel auf einer Anhöhe stand, und die Burgruine Tynitz aus des Ziska Zeiten. Auf dem Altar in der Kirche stand eine Mutter Gottes, von der mir die Großmutter Wunder erzählte. Sie soll nämlich früher in der Tynitzer Kapelle auf dem Altar gestanden haben. Als man die neue Kirche in der Stadt gebaut hatte, wurde die Mutter Gottes dorthin versetzt. Sie blieb aber nicht. Zweimal hat man sie transportiert, aber jedesmal war sie davongelaufen. Früh stand sie immer wieder auf ihrem früheren Platz. Zum dritten Male ließen alle Bürger der Stadt die Arbeit ruhen, bildeten eine Prozession, mit der Geistlichkeit voran, holten die Mutter Gottes, und trugen sie unter Gesang und Musik auf ihren neuen Posten. Und siehe, da lief sie nicht mehr davon. Von der Zeit an, ward /ich weiß nicht ob heute noch/dieser Tag gefeiert. Was an dieser Geschichte Wahres ist, will ich hier nicht kritisieren Wenn mich manchmal später die Neugierde trieb und ich die Mutter über diese Muttergottesgeschichte frug, so erzählte sie mir mit Vorliebe dasselbe wie die Großmutter. Mein richtiges Urteil bildete ich mir darüber erst dann, als mein Verstand reifer und selbständiger wurde.

An die Namen einiger meiner Spielgenossen aus diesem Ort kann ich mich auch heute noch erinnern. Bei Feits hatten sie drei Jungen. Der älteste hieß Ferdinand und konnte schöne Soldaten malen, an denen ich meinen Gefallen hatte. Rechts wohnten Matejtscheks mit zwei Jungen, sie hatten ein großes Schaukelpferd und mehrere andere Spielsachen. Dorten brachte ich die meisten Stunden zu. Ihr Vater war ein Weber, dem ich immer mit Vergnügen zusah, wenn er webte. Der Großvater machte mir von Zuckerpapier eine Kirchenfahne, klebte heilige Bilder darauf, und wir spielten Prozession, Begräbnis usw. Einmal marschierten durch die Stadt viele, eine sehr lange Reihe Soldaten, in weißem Rock und blauer Hose gekleidet. Die Musik spielte. Ein Hund zog die große Trommel. Bum, bum ertönte es jedesmal, wenn der hinter ihr gehende Soldat draufschlug.

Dieses alles, und wie eine Frau in unserm Hause im Bett röchelnd lag, der Geistliche dabei und viele Frauen hinter ihm knieten und beteten; wie die Onkels dann zu Hause waren, abends beim Herdlichte Geschichten von starken Männern, verwünschten Schlössern und Geistern erzählten; und wie sie mir dann auch noch einen Christbaum aufputzten, während ich auf dem Backofen lag, wie ich sie dabei durch mein Erwachen überraschte, alle diese Bilder scheinen mir heute, als wären sie vom Nebel umhüllt, als hätte mir das nur geträumt. Und doch ist es Wirklichkeit, nur ein kleiner Bruchteil von dem, was ich vor vierzig Jahren gesehen oder gehört habe.

Ohne von meinen Spielgenossen, Großeltern Jansky und übrigen Verwandten Abschied zu nehmen, reiste ich aus diesem Orte, wohl gegen Frühjahr, wieder ab. Die Reise muß aber in der Nacht vor sich gegangen sein, denn, wenn ich auf ihr nicht geschlafen hätte, wäre mir gewiß etwas davon im Gedächtnis geblieben. So weiß ich aber gar nichts, daß ich auf dem Wege etwas gesehen oder gehört hätte. Auch wäre ich nicht so erstaunt gewesen, als ich erwachte, daß ich mich wieder in einer andern Wohnung, an anderm Orte und bei andern Menschen sah. Nur kurze Zeit verging, und ich sah meine Eltern wieder nicht. Mich übernahm eine alte, mir fremde Frau. Sie schlief mit in unsrer Wohnung und verwaltete sie. Wenn sie in den Wald Holz lesen ging, nahm sie mich jedesmal mit. Einmal ging ich ihr im Walde verloren, lief hin und her und weinte bitterlich. Nach längerem Hin- und Herirren traf ich einen Hirten, der mich mit nach Hause nahm. Ach, war das eine böse Frau! Von der erhielt ich viel Prügel. Sogar mit einem starken Strick auf den nackten Leib hat sie mich gehauen, weil ich in das Bett genäßt hatte. Meine Eltern kamen nur hin und wieder nach Hause. wo sie waren, wußte ich nicht.

Das Dorf, wo nun meine Eltern ihren Wohnsitz genommen hatten, hieß Prilep, dessen Einwohner Tschechisch sprachen.

Außer drei Steinbrüchen, Dampfmühle und zwei kleineren Ziegeleien gab es da keine Industrie weiter. Die reichsten Leute zählte man unter den Bauern, die man als solche nach der Größe ihrer Scheune schätzte und deren Zahl ungefähr zwanzig betrug. Auch hatte jeder größere Bauer ein paar Pferde. Die sogenannten Häusler besaßen mehr oder weniger Feld und bearbeiteten ihre Felder mit Kühen. Die meisten Häuschen, die man da noch sah, waren klein, ohne Scheune, in denen die Mehrzahl der Einwohner dieses Ortes wohnten, entweder als Eigentümer oder Mieter. Das äußere Aussehen dieser Wohnhäuschen verriet durch den Rohbau, durch kleine Fenster und schlechte Türen die Armut ihrer Insassen. Sie sahen geradeso arm aus wie das Haus meiner Großeltern, und die meisten, in denen ich meine neuerworbenen Spielgenossen besuchte, waren ohne Holzfußboden.

Die Väter meiner Spiel- und späteren Schulgenossen waren meistens Steinarbeiter. Sehr viele gab's unter ihnen die sehr, ja ganz arm waren. Man hörte häufig über sie als über ein »Bettelvolk« spotten.

Nach meinem spätern Begriff waren das die Ärmsten unter den Armen, die entweder schon zu alt zur Arbeit, unfähig, lahm, blind usw. waren und sich auf diese Weise ihr Brot verdienen mußten. Ja es gab hier Zeiten, wo gesunde Kinder, Frauen und Männer sich durch Betteln ernähren mußten, wenn Arbeitslosigkeit eintrat. Was ja sehr oft vorkam, besonders im Winter. Auch ich, wie ich später erzählen werde, kaum zehn Jahre alt, füllte die Reihen dieser Unglücklichen. Als wir in dieses Dorf einzogen, hatte ich natürlich keine Ahnung davon, welche Not, Elend und Qual ich hier würde ausstehen müssen. Die Bettler betrieben ihr Handwerk mit verschiedenen Musikinstrumenten. Es ging von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, mit Leierkasten oder Ziehharmonika. Und wer kein Instrument spielen konnte, der mußte sich auf das Beten verlassen, das aber gewöhnlich nicht soviel wie das Instrument einbrachte. Aus diesem Grund trachteten die meisten, etwas Spielen zu lernen. Sogar das älteste und leicht lernbare Instrument, der »Dudelsack«, wurde dem Beten vorgezogen und brachte mehr ein wie dieses. Oft erzählten meine Spielgenossen von ihren Vätern, die in die Fremde nach Arbeit suchen gegangen waren, wie viel sie dort verdienten und was sie von dort nach Hause geschrieben. Dabei machten wir uns verschiedene Vorstellungen über die Verhältnisse in der Welt.

Die Bauernhäuser standen rundum den Dorfplatz, auf dessen Mitte die Schule, kleine Kapelle und das Hirtenhaus stand. Anfangs meines Dortseins interessierte mich besonders, wenn das Vieh, Kühe, Schafe, Schweine und Gänse, aus den Bauernhöfen früh auf den Dorfplatz hinausgetrieben wurde und sich jedes der Herde anschloß, und dann von den Hirten und seinen Gehilfen auf die Weide getrieben wurde. Wie sie es zu Mittag und abends wieder auf den Dorfplatz zurückgetrieben brachten und jedes, ohne geholt zu werden, sein Haus fand. Bald sah ich auch zum erstenmal und zu meiner Freude die schön geordneten Hopfengärten, wie sich die blätterreichen Pflanzen an den Holzstangen hinauf wanden und sich die gelben Knospen bildeten.

Die Eltern kamen wieder nach Hause. Meine Erzieherin, die alte Frau, verschwand, ohne von mir Abschied zu nehmen. Ich kann mich wenigstens nicht erinnern, daß sie das getan hätte. Nun ging es mir wieder besser bei meiner Mutter. Dafür aber stellten sich für mich andere Pflichten ein. Der Vater kündigte mir an, daß nun die Zeit heranrücke, wo auch ich, so wie die andern Kinder, in die Schule gehen müßte. Eines Tages, wohl eines Sonntags, gingen wir miteinander in die Stadt Rakonitz. Dort bekam ich einen neuen Anzug, Mütze mit einer Rosette und ein Lesebuch für die Schule.

Dann begann das Lernen. Jeden Abend, wenn der Vater aus der Arbeit kam, lehrte er mich lesen. Sein Wunsch war, wie er mir immer sagte, daß, bevor ich in die Schule eintrete, ich gut lesen können sollte. Er hat sich auch nicht in seiner Hoffnung getäuscht. Sein Wunsch ging in Erfüllung. Bevor ich in die Schule eintrat, konnte ich nicht nur das Abc, sondern auch die Erzählungen in dem Buche lesen. Er konnte zwar selbst nicht gut lesen, was er viele Male vor mir bedauerte. Ja, wie oft hörte ich ihn klagen, daß er bessere Stellen hätte bekleiden können, wenn er nur im Lesen und Schreiben besser beschlagen gewesen wäre. Noch schlechter als im Lesen stand es bei ihm mit Schreiben. Da brachte er mit Mühe kaum die Unterschrift seines Namens zusammen.

Dieser Mangel, den er an sich erfahren, trieb ihn gewiß dazu, mich vorzubereiten, damit ich dann in der Schule leichter vorschreite.

O, hätte sich doch sein Bestreben bewahrheitet! Nichts, nichts ist geworden aus dem allen! Der gute Wille, Hoffnung, Bestreben, alles zerfloß wie Wasser. Ich brachte es nicht viel weiter wie der arme Vater.

Bei dieser Gelegenheit, dem Lernen, hörte ich zum erstenmal aus seinem Munde, wie das kam, was daran schuld war, daß er so wenig lernen konnte. Was er mir darüber erzählte, tat er gewiß mit der Absicht, mir so mit einem Beispiel zu dienen, um mich zu warnen, die Gelegenheit und Möglichkeit nicht zu versäumen, und soviel wie möglich zu lernen. Seine Worte wirkten. Mein Eifer stieg immer mehr. Sein Zurückbleiben ist ja kein Wunder gewesen. Erst acht Jahr alt war er, als der Tod seine Eltern hinraffte. Er und seine um zwei Jahre ältere Schwester standen da, verlassen, auf fremde Menschen angewiesen. Die Eltern waren arm, hinterließen kein Vermögen.

Ein Bauer in seinem Dorfe nahm sich seiner an, der für ihn sorgen, ihn erziehen und in die Schule schicken wollte. Sein Erzieher nahm es aber mit der geistigen Erziehung nicht gar strenge, schickte ihn sehr selten in die Schule, und hielt ihn desto mehr an die Arbeit im Hause. Seine jungen Jahre brachte er beim Kühehüten, Kinderwarten und sonstigen häuslichen Arbeiten zu. Später mußte er aufs Feld. So wuchs er heran, ohne in der Schule etwas gelernt zu haben. Das bißchen Lesen lernte er erst in seinen späteren Jahren.

Obwohl ich die Tragweite von dem allen nicht begreifen konnte, hielt ich es doch mit meinem kindlichen Verstand für bedauernswert.

Das Dorf, wo mein Vater geboren und auch dorthin heimatszuständig war, heißt Ratkowitz und liegt im Bezirk Nepomuk, von wo auch der heilige Johann von Nepomuk stammte. Er soll, wie ich aus den geschichtlichen Erzählungen erfuhr, ein Beichtvater der Frau des Königs Wenzel gewesen sein. Und als solcher ließ er sich hinreißen, die Königin zum Gattenmord zu verführen. Dafür ließ ihn der König zur Strafe wie einen Hund in der Moldau in Prag ersäufen. Die Pfaffen aber erklärten den gesalbten Sünder zum Heiligen.

Ob auch das wahr ist, daß die Nepomuker die Statue des heiligen Johann aus Silber besitzen, weiß ich nicht, denn ich bin in meinem Leben nicht dort gewesen, daß ich mich hätte überzeugen können. Auch nach Ratkowitz, wohin ich heute noch heimatszuständig bin, kam ich nie.

Die Bürger meines Heimatsortes und ich, wir kennen uns gegenseitig nicht. Ja, sie kennen nicht einmal meinen Vater. Einmal werden sie vielleicht recht erstaunt sein, wenn ich per Schub angerückt kommen werde. Das wird wohl erst dann geschehen, wenn die Knochen werden verkrüppelt und ganz ausgesaugt sein. Dann, nachdem mich die, denen ich meine Gesundheit, mein Leben geopfert, los werden, müssen mich diejenigen unterstützen, die mich gar nicht kennen.

Noch bedauernswerter als der Vater war meine Mutter. Denn er konnte wenig, sie aber gar nichts; weder Lesen, noch Schreiben. Und das war für uns Kinder der größte Schaden. Sie war, wie ich schon erzählte, in einer Stadt geboren, wo wohl auch schon zu ihrer Schulzeit die Schulerziehung besser gewesen ist als auf dem Lande. Der Schulbesuch war damals schon ein sechsjähriger, vom sechsten bis zwölften Jahre. Doch hat sie nichts gelernt. Der Vater machte ihr oft deretwegen Vorwürfe. Auch mir dummen Jungen fiel das sehr auf, als ich sah, daß ich in einigen Wochen so schön Lesen gelernt hatte.

Da erlaubte ich mir manchmal, die Mutter zu fragen, wieso es komme, daß sie nichts in der Schule gelernt hätte. Niemals aber erhielt ich die richtige Auskunft. Die eine und dieselbe Antwort, die sie mir jedesmal gab, lautete: »Weil ich nicht so ein Advokat sein wollte wie ihr! So viel, was ich für mich brauche, kann ich.« Damit war die Sache immer abgetan.

Gewissermaßen hatte sie auch recht, wenn sie so sprach. Denn in mancher Hinsicht zeigte sie mehr Scharfsinn wie andere Leute, so daß ich mich manchmal darüber wunderte und dabei dachte, daß sie nicht ganz unfähig mag gewesen sein, als sie einst in die Schule ging.

Es gelang mir auch später nicht, von ihr zu erfahren, ob und wie lange sie die Schule besuchte. Am liebsten erzählte sie, was sie als Dienstmädchen erlebte. Von ihrem zwölften bis zu ihrem sechsundzwanzigsten Jahre hat sie gedient, dann geheiratet. Während ihrer Dienstzeit lernte sie so geläufig Deutsch, wie ich es selten von einem Tschechen hörte. In meiner ersten Lehrzeit durfte ich mich also auf meine Mutter nicht verlassen und von ihr Unterstützung erwarten. Ja, es kam eher vor, daß ich von ihr im Lernen gehindert wurde. Daß sich der Vater soviel Mühe gab, mich zu lehren, war für mich sehr vorteilhaft, weil ich, als ich dann in die Schule ging, durch Verhältnisse immer wieder von dem Schulbesuch abgehalten worden bin.


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