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Elftes Kapitel

Die Arnimschen Kinder waren wieder abgereist. Armgard hielt es nicht für richtig, daß ihre kleine Tochter von all den Erwachsenen wie ein Wunderkind verwöhnt würde, und daß ihr schon sehr kritischer Sohn seine Witze an dem Teil der Hausgenossen übte, die manche Angriffsfläche boten.

Der Januar brachte klingenden Frost, sonnige Mittagsstunden. Die Hausbewohner waren nun alle in ihre Arbeit vergraben, hatten sich, jeder auf seine Weise, in die augenblickliche Lebensform gefunden. Graf Worms hörte Vorlesungen über Bodenkultur und dergleichen, bereitete sich auf die Gutsübernahme vor. Dr. Frank arbeitete an seiner Habilitationsschrift, Gudrune führte in dem neuen Atelier die Skizzen aus Sommertagen aus, Julie wollte zu Ostern ihr Examen machen. Menard hatte seinen Unterricht am Konservatorium, seine Schwester arbeitete viele Stunden des Tages am Schreibtisch. Der Gymnasiast mußte in Aussicht auf seine Schlußprüfung hinter den Büchern sitzen. Es war, so gestand sich Armgard von Arnim, jetzt eine sehr werktätige Gesellschaft, unter der sie sich befand. Die Abwesenheit von Julius von Höchheim machte das Haus viel stiller. Armgard gab zu, sie vermißte ihn manchmal. Gewiß, sie sah ihn zuweilen. Es wäre unmöglich gewesen, sich den Aufforderungen der alten Baronin, sie in die Privatklinik zu begleiten, entziehen zu können. Dort wurde Julius von seinen Besuchern gefeiert, wie einst die Soldaten in den Lazaretten. Blumen, Schokolade, Zigaretten, die unvergeßliche Form der Liebesgaben, überströmte den Kranken. Die Großmutter sprach sogar von schweigendem Heldentum und teilte am Krankenbett freigebig Eisernes Kreuz und Pour le mérite aus, in Lobeserhebungen über Julius' Vortrefflichkeit umgesetzt. Armgard kannte alle Schwestern und Ärzte der Klinik, sie kannte auch die Krankheitsgeschichten der andern Patienten, sie wurde von der alten Baronin gezwungen, dort wie ein Familienzubehör aufzutreten.

Ende Februar ließ sich Julius in die großmütterliche Wohnung transportieren. Er war noch sehr unbehilflich, mußte viel liegen, konnte vorerst nur mit zwei Stöcken Gehversuche im Zimmer machen. Eine Niederbronner Schwester besorgte die Pflege.

Zu diesem Fest der Heimkehr veranstaltete die alte Baronin einen Tee. Armgard und Graf Worms wurden geladen, und Armgard sagte voraus, sie sollten mit allen seinen Anverwandten um das Lager des Verehrten sitzen.

»Du kommst doch mit, Wedig?« fragte sie.

Er verneinte. »Wenn du beliebst, begleite ich dich bis zu der Tür. Aber ich gestehe dir, dieser Beinbruch wird mir jetzt zu ehrenvoll. Es wird eine Ausschweifung in Ruhm und in Feste. Ich schätze die alte Dame Luckner gewiß in aller Form, aber ich kann die Adoration, die sie dem Enkelsohn weiht, nicht mehr hören und sehen.«

Armgard empfand es, als läge ein leiser Tadel in den Worten, der ihr galt.

»Aber alle Großmütter sind doch auf ihre Enkelsöhne stolz, lieber Wedig. Und du mußt doch zugeben, es ist peinvoll für einen so tätigen, lebensfrohen Menschen, dies lange Herumliegen durchzuhalten.«

Wedig Worms strich die Asche von seiner Zigarette – es war nach Tisch, die beiden saßen allein noch beim Kaffee – und antwortete langsam: »Ich interessiere mich wenig für diesen trefflichen Mann. Er hat etwas so Betriebsames, das mir nicht liegt. Du findest mich vielleicht kühl, aber ich habe ihm meine Teilnahme hinreichend gezeigt. Mehr kann er nicht verlangen. Beinbrüche sind nicht Anlässe, jemand für edler zu halten als er ist.«

Sie unterdrückte ein Lächeln, sagte betont: »Nun, wenn ich hingehe, der alten Baronin zu Gefallen, wärst du ja nicht mit dem ›trefflichen Mann‹ allein. Und wir könnten das Gespräch leiten.«

Aber Wedig Worms blieb bei seiner Weigerung, und Armgard dankte für seine Begleitung bis zur Höchheimschen Haustür. Sie wurde nachdenklich. Ging sie wirklich zu oft hin? Nun, dann war es bisher unwissentlich geschehen. Sie hatte es für eine Pflicht gehalten. Nun besann sie sich, war nicht auch ein kleiner Reiz dabei? Sie ärgerte sich, daß Wedig in gewisser Geringschätzung von Julius von Höchheim sprach. Er müßte dies nicht über jemand tun, den sie irgendwie doch sehr gern hatte.

Sie fand die alte Baronin in freudiger Aufregung, fand Julius von Höchheim auf einer Chaiselongue und erblickte einen Teetisch für drei Personen. Und ahnte sogleich: die vortreffliche Großmutter würde bald dem Enkelsohn ein Alleinsein mit dem Besuch verschaffen.

Es kam aber anders. Nachdem man Tee getrunken und ein wenig geplaudert, trat eine noch jugendliche Klosterfrau ein, wurde vorgestellt als die liebe Schwester Cölestine vom Orden der Niederbronnerinnen. Die Schwester war schlank und groß, schwarz und weiß, und aus all den Gewändern und steifgestärkten Stirn- und Kinnbinden sah ein liebes, gütiges Gesicht.

Die Klosterfrau sprach leise, Frau Baronin würde im Salon von einer Dame erwartet, ganz wie Armgard vorausgesehen. Doch nun trat etwas Neues ein: die Klosterfrau nahm bescheiden am Fenster Platz, ergriff eine Stickerei und erfüllte wohl eine Pflicht ihres Berufes, indem sie blieb.

»Schwester Cölestine«, begann Julius, der sehr vorteilhaft aussah, sozusagen veredelt durch das Krankenlager, »ist uns eine große Wohltat. Sie sorgt auch für Großmama. Sie weiß ihre Freudigkeit an Besorgungsgängen etwas einzudämmen, wir bekommen diese Nacht noch Tauwind, da ist es für ältere Menschen besser, zu Hause zu bleiben.«

Armgard wandte sich der frommen Schwester zu. Sie hörte von einer sanften, guten Stimme, daß der Orden der Niederbronnerinnen im Elsaß gegründet sei, und ursprünglich nur für Werke der Barmherzigkeit an den Ärmsten. Doch die veränderte Zeit brächte es mit sich, daß sie auch Privatpflegen machten für eine freiwillige Gabe an ihre Kongregation.

Durch Fragen veranlaßt, sprach die Schwester noch weiter, und Armgard ward angerührt im Herzen. Sie hatte von dem stillen und unermüdlichen Wirken der Klosterfrauen noch nicht viel gesehen.

»Schwester Cölestine weiß von so vielen Heiligen«, bemerkte Höchheim lächelnd. »Sie unterrichtet mich über manches, was ich noch nicht wußte.« Die Klosterfrau wehrte sanft ab.

»Diese letzte Zeit nach einem schweren Unfall ist oft die schlimmste«, sagte sie. »Denn letzte Geduldsprobe hält der Mensch am schwersten aus.«

Eine Atmosphäre von Kirchlichkeit schwebte im Raume, der an sich etwas Ernstes, Gehaltenes besaß. Es war Julius von Höchheims Studierzimmer. Ein gotischer Stollenschrank zeichnete es aus, gotische Stühle wirkten streng, viele Bücherreihen schienen fast erschreckend in dem Gedanken, der junge Mann, der hier lag, solle das alles gelesen haben.

Über Armgard von Arnim kam ein sonderbares Gefühl von Reiz für diese Umwelt. Es war ihr, als täte sie ungeahnte Einblicke in ein Leben voll sehr viel geistiger Arbeit, sehr viel Selbsterziehung. Da lag nun Julius von Höchheim, hatte die Gesellschaft einer Großmutter und einer Klosterfrau. Sonderbar genug. Sie begriff plötzlich, ihr Besuch war wie ein Fest für ihn. Und sie empfand es in leiser Erregung, den Scharm der Situation. Denn: Julius von Höchheim wußte bewunderungswürdig zu sprechen. Alles, was er sagte, konnte auch die Klosterfrau gut unterhalten, und alles hatte Bezug und Unterton für den Besuch. Er redete von der Schönheit der Marienfeste, und meinte den Tag der Kräuterweihe in Armgards Gesellschaft. Er sprach von dem ewigen Begriff Charitas, dem das Leben so viele Ausdrucksformen gäbe, die Klöster vor allem, aber auch die Kunst oder nur das Lächeln zwischen Menschen oder die bloße Gegenwart von Menschen.

Warm, affektvoll sagte er, dieses Zimmer würde es nie vergessen, daß eine Klosterfrau hiergewesen sei.

Seine Augen aber redeten deutlich: in diesem Zimmer ist die Frau, die ich zu mir wünsche.

Armgard wurde es, als wäre etwas von der aufreizenden Süße des Weihrauchs im Raume. Kam das aus den Gewändern der Klosterfrau? Oder war es eine sonderbare Einbildung, ein Vergeistigtes, Atmosphärisches?

Sie hörte Worte und Worte, empfand eine kleine Bangigkeit, wollte gehen und blieb doch.

Sie fragte plötzlich: »Woher wissen Sie, daß wir diese Nacht Tauwind haben werden?«

»Man fühlt es doch auch, wenn Gewitter sein wird. Es ist vielleicht eine Ahnung. Es ist aber auch ein Bangen, das alle alten Dinge ausströmen, ehe der Tauwind kommt. Und durch dieses Bangen, das in alten Häusern, Herzen und Gassen schleicht, wird in jungen Menschen und Herzen ein Triumphgefühl aufgeschlossen: der Tauwind wird hereinbrechen. Der Föhn wird Wolkenfetzen über den Himmel jagen –«

Julius von Höchheim richtete sich plötzlich auf: »Ich muß dabei sein, wenn der Tauwind über die Hügel braust, und wenn der Main wieder jung wird.«

Er sah schön aus, sein Gesicht zeigte ein wenig Fieberröte.

Die Klosterfrau glitt leise heran.

Armgard von Arnim erhob sich, sagte freundlich auf Wiedersehen, begegnete einem unmißverständlichen, unverhüllten Blick, glitt mit einem konventionellen Lächeln ab. – – –

Sie ging in Unruhe heimwärts. Sie war heute zum erstenmal von Julius von Höchheims Wesen angerührt worden. Seine starke Lebenskraft, sein zielsicheres Wollen, und ach – seine deutlichen Wünsche zu ihr verwirrten sie ein wenig. Wenn er, was sie schon lange kommen sah, sie fragte? Sie jenes Bestimmte fragte?

Sie wanderte durch die Straßen der nun schon vertrauten Stadt. Sie dachte an Woldemar Wilhelm von Bredow und Ladalinski, wie man an eine Vergangenheit denkt oder an einen Ort, der immer bereit ist, uns aufzunehmen. Sie dachte an Wedig – und errötete. Warum blieb er so sehr zurückhaltend? Die wenigen Tage in Nürnberg war er ein ganz anderer gewesen. Hatte er nicht gesehen, wie ihr Herz sich ihm aufschloß?

Eile kam in ihren Schritt. Sie mußte ihn sehen, sprechen. Sie mußte ihn einmal dazu bringen, ihr zu sagen, ob er ihr denn etwas Unbestimmtes aus der frühen Jugend nachtrug. Liebe ich ihn denn, dachte sie. Oder ist es nur eine frauenhafte Eitelkeit in mir, daß ich wünsche, er möchte aus seiner Reserve herausgehen – er möchte um mich ein wenig leiden?

Sie kam beschwingt in ihre Zimmer. Sie wollte sich schön anziehen zum Abend, sie wollte durch ein wenig Koketterie ihn erschließen.

Wenn eine Frau gerade gesehen hat, daß Wünsche zu ihr gehen, ist immer ihre vorteilhafteste Stunde, dachte sie lächelnd.

Die Jungfer übergab ihr einen Brief. »Der Herr Graf bekam ein Telegramm und mußte rasch abreisen«, erklärte sie.

Armgard las, er müsse für kurz nach Darmstadt und bäte sie, ihn für die nächste Zeit zu entschuldigen. Anrede, Unterschrift drückten ohne besondere Note lediglich ihre verwandtschaftlichen Beziehungen aus. Sie erblaßte. Ärger stieg in ihr hoch. Sie warf sich erzürnt auf eine Chaiselongue und sagte der Jungfer, sie solle bei Tisch ausrichten, sie habe Kopfschmerzen und ließe sich entschuldigen. »Auch Fräulein Menard hat sich entschuldigen lassen«, berichtete die Jungfer.

Luise Menard saß in ihrem alten Wohnzimmer in dem schneeumwehten Haus der Hofgärtnerei. Julie und Kilian waren drüben bei sich, und Julie richtete ein Abendbrot. Das alles war erfolgt auf ein Telegramm hin, in dem Ferdinand von Höchheim meldete, er wolle diesen Abend Luise eine gute Nachricht in ihr altes Arbeitszimmer bringen. Eine gute Nachricht! Ihre Augen lasen immer wieder das Wort. Es konnte sich nur um ihre literarische Arbeit handeln. Dies bewies auch schon der Wunsch, daß Ferdinand von Höchheim sie in ihrem alten Arbeitszimmer treffen wollte.

Sie schreckte auf, als die Haustür ging, ein rascher Schritt die Treppe herauf kam. Gespräch war auf dem Flur. Kilians weittragende Stimme klang auf: »Sie geben meiner Frau und mir Gelegenheit, daß wir einmal wieder am eigenen Tisch sitzen dürfen. Die Apothekerin will uns zeigen, daß sie nicht nur die lateinische Küche versteht.«

Ein leises Lachen Höchheims antwortete.

Dann stand er auf der Schwelle: schmal, vornübergebeugt, eigentlich wie eine Leidensgestalt.

Er kam rasch zu Luise, küßte ihr die Hand, strömte frische Luft aus, überstürzte sich in Worten: »Ich bringe Ihnen ein gutes, überaus annehmbares Verlagsangebot aus Leipzig. Meinen Glückwunsch!« – –

Sie war so benommen, daß sie vergaß, ihm einen Stuhl anzubieten. Sie hörte Einzelheiten, hörte Lob und Anerkennung, hörte Ferdinand von Höchheim sagen: »Jawohl, der Morgen naht, an dem Sie aufwachen und berühmt sind.«

Ein erstes Buch bedeutet dem Autor immer das Manifest an die Welt. Ein glänzender Traum steigt auf, der vorgaukelt, als würde dieses Buch zu tausend schönen Herzen sprechen können.

So fühlte Luise minutenlang, und ihr war, als versänke das alte Zimmer um sie, und sie wäre draußen, in einem frühlingschönen Land der Verheißung.

Sie hörte plötzlich Herrn von Höchheim sagen: »Wollen Sie nun stehenden Fußes nach Paris reisen? Am Ende doch nicht auf der Stelle! Oder ja?«

»Verzeihen Sie«, antwortete sie lächelnd, »und hier ist ja auch der Teetisch.«

Sie saßen nieder. Das Licht der Freude war zwischen ihnen.

»Um ganz geschäftlich zu sein«, begann Höchheim, »ich habe, und das ist ein kleines Verdienst meiner Standhaftigkeit, einen Vertrag erreicht, der für ein Erstlingsbuch sofort eine Honorarzahlung gibt. Also, einige Telegrammwechsel, und Reisegelder sind da! Unterkunft bei mir befreundeten, älteren schwedischen Damen in Paris ist bereit. Ich bespreche es, wenn Sie erlauben, diesen Abend noch mit Ihren Verwandten. Es wird nach der Arbeit, die Sie geleistet haben, eine Reise so gut für Sie sein. Und« – er lächelte – »ich möchte Sie nun Menschen nahebringen, in denen der versöhnliche Geist einer Weltverbrüderung lebt – nicht als politische Agitation, sondern als ein menschliches Band, als ein elektrisches Band, das die durchrinnt, die noch daran glauben, daß letztlich Güte die Welt überwindet.«

Er reichte ihr spontan die Hand: »Wir sind doch Freunde? Sie haben doch Vertrauen zu mir?«

Sie fühlte stark, hier wurde ihr wirklich eine schöne und edle menschliche Beziehung geboten. Nicht – ein sorglos-verliebter Tag – –

Wie wunderlich führte die Zeit! Hier war ein Mensch, der sie geleiten wollte in eine größere Freiheit des Geistes, der sie aus der Enge einer lieben, alten Stadt führen würde an einen Strom geistigen Lebens.

»Sie müssen einmal den Frühling eines andern Landes sehen, Sie müssen die Bewohner anderer Reiche kennenlernen. Stoßen Sie sich nicht daran, daß diese Stadt, in die ich Sie wünsche, Paris ist. Ich führe Sie zu dem Platz, an dem gerade ich wirke, wo viele meiner nächsten Gesinnungsgenossen sind. Denken wir nicht an das politische Paris von heute, sondern an den Ort, von dem aus einst die Menschenrechte verkündet wurden.«

*

In der Nacht brach der Tauwind herein. Er riß an den Fensterläden, trommelte gegen die Scheiben, ließ die Wetterfahnen knarren, die Bäume ächzen. Es ist unmöglich zu schlafen, fühlte Armgard, und sehnte sich plötzlich nach Gesellschaft. Aber wen sollte sie bitten? Gewiß nicht die glücklichen Ehepaare! Sie sann ein wenig nach: diese beiden, damals so überraschenden Heiraten ließen sich aufs schönste an. Die jungen Frauen von heute sind klug, dachte sie. Durch ihre Berufstätigkeit behalten sie eine gewisse Unabhängigkeit, die ihre Sicherheit verstärkt. Die kleine Apothekerin hatte mit stiller Hand ihrem Kapellmeister einige allzu bürgerliche Gewohnheiten veredelt, die temperamentvolle Gudrune war mit am Werk, ihrem schönen Mann Erfolg zu schaffen.

Das alte Bäckerhaus stand nun reizend umgestaltet, aber es bedeutete wohl für Gudrune nur eine Art Spielerei, ein künftiger Ferienaufenthalt. Sie spann, auch mittels ihres Malprofessors, Pläne nach München hin, sie wünschte ihren Mann als Dozenten in eine Stadt, wo ihn nicht jedermann als den früheren Bäckerssohn kannte, wie hier in Würzburg.

Nein, diese manchmal ein wenig aufreizend glücklichen Frauen würde sie sich nicht rufen lassen.

Die Uhr zeigte halb zwölf, vielleicht war Luise Menard, die immer so lange abends las, noch wach. Armgard sandte ihre Jungfer aus, zu sehen, ob bei Fräulein Menard noch Licht sei. In diesem Falle bäte sie noch um eine Plauderstunde.

Die Jungfer traf im Korridor auf Heimkehrende, war entzückt, Herrn von Höchheim wiederzusehen, als zur Zeit den einzigen, jüngeren, unvermählten Gast des Hauses.

Sie berichtete der Herrin, die Herrschaften seien gewiß beim Tanz gewesen, so vergnügt kämen sie zurück.

Armgard bereute ihre nächtliche Einladung. Aber schon kam Luise Menard.

»Ich fühle mich als Barbarin – nein, nein, ich muß Sie zu Bett schicken, Fräulein Luise. Ich fürchte mich nur vor dem Tauwind.«

Luise lachte. »Er tobt auch wirklich fürchterlich. Aber das ist doch schön! Ich habe den Tauwind schon lange erwartet, denn es ist doch schon die letzte Februarnacht. In den Februarnächten muß das große Ringen der Erde gegen den armen Winterriesen sein. In Februarnächten wird der Frühling geboren. Der März bringt ja schon die sanften Veilchen.«

Der März? Armgard hatte es vergessen, morgen war ja schon der l. März. Lebhaftigkeit überkam sie. Sie machte wirtliche Gebärden, goß schönen, goldklaren Wein ein, reichte Zigaretten, kuschelte sich in einen tiefen Stuhl.

»Ich bin wie aus den Wolken gefallen! Am l5. März wird ja schon die Übersiedlung nach dem Gutshof sein!«

Sie lachte, begriff nun Wedigs Brief. Er war sicherlich nicht nach Darmstadt gefahren, sondern er bereitete auf dem Gutshof den Empfang der Gäste vor. Sie geriet in heitere Laune. Daß sie daran nicht gedacht! Sie selbst mußte ja auch da draußen wohnen, und Wedig würde sich bemühen, ihr schöne Zimmer auszugestalten.

Und plötzlich war ihr das Toben der Winde ums Haus wie ein wildes Frühlingslied.

Veränderung, Wechsel, ein Neues kam. Die Tage waren so hingeglitten, sie begriff nicht, daß sie vergessen hatte, der März brachte ihr ja die Befreiung von ihren Pflichten.

»Julius von Höchheim sprach heute auch so angeregt vom Tauwind«, sagte sie munter und spielte mit ihren schönen Ringen. Sie trug deren viele, die Witwenringe, den Wappenring und eine Menge kostbarer Andenken, Saphire, Smaragde aus dem Besitz der berühmten Großmutter.

»Finden Sie nicht auch, das Kranksein ist ihm eigentlich gut bekommen. Er ist nicht mehr so hastig und geschäftig.«

Da eine Antwort erwartet wurde, sagte Luise ruhig: »Ich weiß es nicht, Frau von Arnim.«

Armgard erstaunte: »Nun, wir alle haben ihn doch immer besucht. Es war ja die reine Völkerwanderung, ein Kommen und Gehen wie in Lazaretten. Waren Sie denn an diesem Zug der heiligen Elisabethen nicht beteiligt?«

Sie ärgerte sich, daß sie so spöttisch sprach, verbesserte sich rasch. »Ich habe wirklich Julius von Höchheim erst richtig kennengelernt während seines Krankseins.«

Luise lächelte konventionell. »Das ist schön für ihn. Ich kenne ihn ja schon lange.«

Ein Unwägbares schwang im Klang der Worte.

»Sie mögen ihn nicht sehr? Sie haben ihn wirklich nicht besucht? Oh, verzeihen Sie, es ist nicht Neugier.«

Armgard sah plötzlich ein kleines, verwundetes Lächeln um Luisens Mund. Und – begriff mit Fraueninstinkt.

»Ich dachte«, fuhr sie eilig fort, »die Baronin-Großmutter hätte all diese festlichen Besuche befohlen.«

Nun fand auch Luise eine heitere Antwort: »Die Baronin-Großmutter ist doch mehr für adlige Gäste, nicht wahr?«

Über Armgard floß eine Welle von Wärme hin.

»Ich habe hier viel gelernt«, sagte sie freimütig. »Ich kannte wenig andere Menschen, als die gegebenen meines Kreises. Wenn wir reisten, wenn wir zum Beispiel in Rom waren, stiegen wir in Häusern ab, wo nur wieder die gleiche Schicht wohnte, in der wir uns auch sonst bewegten. Auf diese Art wird man vielleicht immer endlich zu einer Baronin Luckner –«

Luise lächelte: »Respekt vor der alten Dame. Sie hat mit Anmut und Würde die Bürgersöhne in ihren Familienkreis aufgenommen.«

Armgard griff nach einer neuen Zigarette.

»Ich ließ Sie zu mir bitten, Liebe«, sagte sie, zärtlich angerührt, »weil ich heute abend noch etwas Schönes hören wollte. Von Ihnen kam mir immer Schönes –«

Luise antwortete spontan: »Wenn ich Ihnen manchmal eine kleine Freude machen konnte, so empfinde ich es dankbar. An Ihnen aber habe ich gesehen, was Haltung heißt. Und damit gaben Sie mir sehr viel. Der Umgang mit Ihnen hat mich so sehr bereichert.«

Armgard errötete, wehrte ab.

»Wir haben alle einander gegeben – aber von Ihnen möchte ich heute abend noch eine liebe, schöne Geschichte.«

Sie beugte sich ein wenig zu Luise hinüber, tastete nach ihrer Hand, strich leise darüber hin.

»Ich bin keine Hellseherin, aber ich bestätige Ihnen, ich besitze manchmal Haltung und Zurückhaltung. Der Tauwind löst mir nun die Zunge: nicht wahr, Sie haben in diesem Hause etwas geschrieben – –«

Luises Freude flammte auf: »Ja, wenn ich Ihnen erzählen darf –«

Und sie teilte sich mit.

»Was für eine seltsame nächtliche Wunderstunde«, rief Armgard in strahlender Mitfreude auf die erste Kundgebung hin. Und dann fragte sie weiter, lachte, umarmte die Hausgenossin.

»Ich beurlaube Sie, Liebste! Sie müssen die Chance ergreifen, Sie müssen reisen. Wie? Ihre Geschwister wollen sich ein paar Tage frei machen und bis Köln mit Ihnen fahren? An den Rhein! Sie werden zusammen die Glocken vom Dom hören, und dann reisen Sie zu Freunden der Menschheit, zu europäischen Gestalten, denen das Wort Menschlichkeit das teuerste ist?« –

Sie breitete die Arme aus: »Ach, wie seid ihr alle jung und gut!« –

*

Die Abreise war erfolgt. In letzter Stunde hatten sich auch Gudrune und ihr Gatte entschlossen, an den Rhein mitzufahren.

Armgard fühlte sich wie in einem leeren Haus. Ganz trostlos kam ihr die Mittagstafel vor, obwohl doch Vater Frank so vergnügt war und Geschichten von seiner Wanderschaft erzählte, die ihn bis Basel und Straßburg geführt hatte. Der Devotionalienhändler machte dem frühern Bäckermeister manchmal Zeichen, die wohl bedeuten sollten, daß man in diesem vornehmen Haus nicht so viel von der Landstraße reden dürfe. Frau Kündinger riß das Wort an sich und redete von Drahtseilbahnen und »Daweldoos«, die niemand mehr neu waren. Sie brachte das Gespräch auch auf den Filmschauspieler, eine fast in Vergessenheit geratene Gestalt. Sie betonte dessen Leichtsinn, daß er sich hier den schönen Aufenthalt entgehen ließe, und, wenn er so weiter mache, auch das schöne Geld. Denn wer von den Erben würde es dulden, daß es ihm ausbezahlt würde, wenn er die Bedingungen nicht erfüllt habe, die daran geknüpft seien, fragte sie kriegerisch.

Die alten Männer beschwichtigten: er sei ja doch dreimal ein paar Tage hier gewesen und habe dargelegt, daß er eben auf Reisen sein müsse.

Frau Kündinger aber glitt von dieser unsoliden Gestalt auf ihre untadligen Töchter über. Sollten die beiden vielleicht ein »Kommödle« leihweise besitzen? Sollte, so sprach sie fast poetisch, dieses »Kommödle« wohnen wie die Schwalben, des Winters im Süden, des Sommers im Norden. Auf vorliegenden Fall angewendet zu Schwetzingen und zu Rüdesheim?

Frau Kündinger machte schmeichelnde Bewegungen. Nein, sie spioniere nichts aus. Gewiß nicht. Aber neulich, als der arge Wind war, habe ein Laden eines Bodenfensters so gerattert und gelärmt, und da sei sie nach oben gestiegen, zu allgemeiner Ruhe beizutragen. Und auf dem Boden, da sei wahrhaftig noch ein zweites solches Kommödle, ein Zwilling sozusagen, ein Pendant.

Frau von Arnim begriff sogleich und ganz, dachte, und was wird es noch geben für die ewigen Töchter von Frau Appollonia Kündinger?

Die Tischgäste empfahlen sich.

Armgard wollte eben anordnen, daß man ihr den Kaffee nach oben brächte, da erschien der Gymnasiast Walter von Höchheim. Sie hatte den frischen, blonden Jungen gern, sie gedachte seiner Aussprache beim Federweiß, und es fiel ihr ein, sie könne ihm eine große Freude machen. Walter verbeugte sich viele Male und sagte: »Ich soll gnädige Frau vielmals grüßen von Großmutter und meinem Bruder. Sie werden gnädiger Frau noch schreiben, es ist nämlich ein Auto gekommen, das beide nach Wiesbaden abholt.«

»Ist denn Ihr Herr Bruder kränker geworden?« fragte sie fast erschrocken.

»Nein, nein«, lächelte der Abgesandte. »Aber eine Verwandte von Großmutter ist in Wiesbaden und schrieb, die Bäder würden Julius in kürzester Zeit den letzten Rest von Hemmungen im Gehen nehmen. Und da hat sie nun einen Tag früher als wir glaubten, das Auto gesandt, und es ist große Eile des Aufbruches.«

Alles reist? dachte Armgard verwundert. Mit dem Tauwind werden die Menschen hier zu Wandervögeln!

»Sie müssen gewiß rasch fort, lieber Walter, oder trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir? Schön, also bleiben Sie eine Zigarette lang.«

Walter erzählte, er würde eine kleine Strecke mitfahren, heimwärts die Bahn benutzen. Ein Auto sei doch etwas zu Schönes.

»Noch schöner, als der Saxoborussenstürmer?« fragte sie. Sie fühlte, vielleicht war dieser Bote gesandt, damit sie noch käme, den Reisenden Lebewohl zu sagen. Sie wollte das nicht. Aber es war ein starker Wunsch in ihr, sie solle Höchheims irgendeine Freude machen, und zwar rasch, ehe Zeit verstrich.

So sagte sie lachend: »Lieber Walter, können Sie ein Geheimnis bewahren? Ja? Nun, wenn Sie Ihr Matur schaffen, dann gibt Ihnen das Erbhaus durch mich die finanzielle Möglichkeit, bei den Saxoborussen einzutreten. Aber Sie müssen schweigen können, bis Sie Mulus sind.«

Ein Beseligter enteilte. – – –

Sie ging in ihre Privatzimmer und empfand sich plötzlich wie eine ganz Verlassene.

Niemand war da, den sie später zum Tee bitten konnte, zum Abend stand ihr wieder die Gesellschaft von Frau Kündinger und den beiden alten Männern bevor. Sie seufzte – –

Die alte Baronin Luckner überlas ihren kleinen Brief an Frau von Arnim und fand ihn klug und richtig.

Julius von Höchheim überlas den schon seit Tagen bereitliegenden Brief an Frau von Arnim und fügte ihm einige Sätze über die überraschende Reise bei. Er atmete auf. Es war gut so, daß man wegfahren konnte und die Möglichkeit hatte, rasch gesund zu werden. Er war durch das Kranksein doch sehr nervös geworden. Der Mut zu direktem, entscheidendem Handeln fehlte ihm. Ein Brief – erleichtert viel. Und es war besser, Armgard von Arnim sah ihn im Augenblick nicht unter banalen Verhältnissen wieder. Der ersichtliche Eindruck, den neulich der Nachmittag in Gegenwart der Klosterfrau auf sie gemacht hatte, sollte wirken – –

Und so bestieg die Großmutter mit ihren beiden Enkelsöhnen den schönen Tourenwagen, der sie heute abend noch nach Wiesbaden bringen sollte. Alle drei waren entzückt von der eleganten Reise – –

Über den Hügeln von Würzburg lag die Märzensonne. Armgard war über die alte Mainbrücke gegangen, dann, immer den Blick auf die Marienburg vor sich, durchschritt sie vorstädtische Gassen, bis sie die Landstraße erreichte, die höhenwärts zum Erbgutshof führte.

Sie kam sich wie eine Abenteuerin vor. Oder wie jemand, der errötend ein Rendezvous sucht. Es hatte sich in ihr festgesetzt, Wedig sei nicht verreist oder doch wieder zurückgekehrt, um auf dem Gutshof die Vorbereitungen für die Gäste zu machen.

Sie hätte hinaustelephonieren können. Aber der Reiz, ins Ungewisse zu gehen, war stärker. Alle reisen, dachte sie, also nun mache ich eine Fußreise. Die Märzensonne lag warm über dem Kalkgestein, die Luft täuschte schon Frühling vor. Aus kahlem Gebüsch stieg Frische auf. Armgard beschleunigte ihre Schritte.

Der Gutshof lag in grellweißem Licht. Armgard ging an den Ställen vorbei, bekam einen Augenblick lang Lust, einzutreten, roch die warme, behagliche Atmosphäre von Heu und Tieren, dachte an zu Hause, dachte, bald wird Bertie ein Pony haben wollen.

Dann schritt sie, äußerlich ruhig, über den Hof zur Rückfront des einfachen Herrenhauses. Und plötzlich lachte sie. Denn sie erblickte Handwerker, Maurer, Tischler und wußte: natürlich ist Wedig da.

Sie kam über einen mit Möbelstücken behäuften Korridor, fand endlich eine alte Magd und sagte, sie wolle den Herrn Grafen besuchen.

Die Magd war ohne jedes Formgefühl, sie riß einfach eine Tür auf und sagte: »Da drin wird er wohl sein.«

Armgard betrat einen kahlen Raum, in dem eine Menge von Kisten, teils verschlossenen, teils mit aufgeschlagenen Deckeln standen.

Graf Worms war über eine der Kisten gebeugt und hob eben eine grüne Brokatdecke heraus.

»Guten Tag, lieber Wedig. Also hier ist dein Darmstadt?«

Sie sah, daß er erblaßte beim Klang ihrer Stimme. Doch er war sofort in Beherrschung, begrüßte sie höflich und bemerkte: »Ja, hier sind meine Sachen aus Darmstadt.«

Sie fühlte eine leise Enttäuschung. Sie hatte gedacht, ihr Kommen würde Sensation erregen. Und nun blieb Wedig so kühl und gelassen.

»Ich will dich gar nicht stören«, sagte sie, »ich setze mich nur einen Augenblick hier auf eine Kiste. Nämlich, ich hatte es total vergessen, daß ja in vierzehn Tagen meine Pension aufgelöst wird und ich nun hier Pensionärin sein werde. Armer Wedig, du weißt wohl noch nicht, welchen Dingen du entgegengehst, wenn du all die Gäste bekommst.«

Und plötzlich fiel ihr ein: eine Familienpension, deren Haushaltungsvorstand ein Junggeselle war, hatte vielleicht der Erblasser nicht vorgesehen!

»Bittest du die Baronin Luckner heraus?« fragte sie.

»Wenn dir das eine besondere Freude ist, kann ich ja die Baronin Luckner herausbitten. Aber sie hat doch selbst ein Haus, worin sie so gern Feste veranstaltet, die du so gern besuchst.«

Sie fühlte einen Klang der Eifersucht hinter den Worten, freute sich daran und sagte obenhin: »Du hast mich doch mit der Baronin bekannt gemacht, du pflegtest zu Anfang aufs rührendste den Verkehr mit der einstigen Bekannten unserer Großmutter.«

Er sah zur Seite und antwortete: »Ich schätze diesen Verkehr auch hoch. In dieser Familie bricht man sich sogar das Bein, um noch interessanter zu werden. Wird Herr Julius von Höchheim hierher auch seine Klosterfrau zur Pflege mitbringen? Es ist zu ergreifend!«

»So böser Laune, Wedig? Wenn man in einer katholischen Stadt krank wird, hat man immer eine Klosterfrau zur Pflege.«

»Ich habe leider keine zur Gesellschaft hier. Magst du mir dennoch die Ehre erweisen, mit mir Tee zu trinken?«

Beim Durchschreiten des Hauses sah Armgard, hier war wirklich noch viel zu tun, es ganz wohnlich zu machen. In einer Art Büro brannte Feuer, es schien Wedigs augenblicklicher Wohnraum zu sein. Die alte Magd trat ein, brachte Tee in der Aufmachung einer ländlichen Wirtschaft.

Mitleid überkam die elegante Frau.

»Du rechnest wohl, daß ein Teil meines Personals mit zu dir kommt?« fragte sie, und sie vertieften sich in derartige Fragen.

Wedig schien ihr blaß und nervös. Es kam ihr vor, als sei sie freudiger an die Erfüllung ihrer Gastpflichten gegangen, als er es tat.

Sie ließ die Zigarette sinken und dachte ein wenig nach.

»Im Testament steht doch, wir würden in dem Zusammenleben, das der Erblasser gewünscht hat, den Stein der Weisen finden oder so ähnlich. Was hat der alte Herr damit gemeint?«

Graf Worms betrachtete seinen Wappenring.

»Du bist geneigt, zu philosophieren, Armgard. Nun, wenn der Stein der Weisen etwa die Kunst sein soll, gute Miene zu allen Dingen des Tages zu machen, so bin ich noch ein Suchender nach diesem Fund.«

Armgard fühlte Enttäuschung. Sie hatte sich die Stunde auf dem Gutshof hübscher gedacht. Aber ihre natürliche Freundlichkeit überbrückte das eigene Unbehagen. Mit weichen Bewegungen, mit einem leisen Wellenspiel ihrer schönen Hände ordnete sie die kargen Dinge auf dem Teetisch in anmutigere Lage.

»Du bist hier nicht gut versorgt, Wedig. Und Handwerker im Hause zu haben, macht immer nervös, weil sie so endlos viel fragen. Würden wir darin einen Rest Kindlichkeit sehen, wären wir toleranter dazu. Doch, um auf unser Thema zurückzukommen: ich habe in dem halben Jahr viel gelernt. Ohne unbescheiden zu sein: ich lernte Standesvorurteile zu überwinden, ich lernte das Streben und die werktätige Arbeit vieler Menschen kennen, schätzen, ja auch bewundern. Ich lernte, mit einer vielgestaltigen Umgebung aus verschiedenen Schichten in Frieden zu leben – und vielleicht könnte man dies heute den Stein der Weisen nennen.«

Graf Worms betrachtete immer noch seinen Wappenring.

»Du willst sagen, du hast zu einem sozialen Herzen gefunden, liebe Armgard. Das ist schön. Unsere Großmutter würde ein wenig lächeln. Aber es ist doch sozusagen unter ihrem Schutz geschehen.«

Eine Pause entstand. Auf den Treppen klangen die Schritte der abziehenden Handwerker, vor den Fenstern ermattete das Sonnenlicht. »Unsere Großmutter war Herrscherin in andern Bereichen. Unsere Mütter fanden nicht zu einem Frieden miteinander.«

Sie erhob plötzlich den Blick auf ihren Verwandten.

»Wedig, trägst du mir eigentlich noch immer etwas nach aus der frühen Jugend? Unsere Mütter entfremdeten sich, brachen die Beziehungen ab. Ist dir dabei etwas besonders Unvergeßliches widerfahren?«

Wedig wurde noch blasser.

»Solltest du dies nicht wissen, Armgard?«

Vor der Tür klangen Schritte. Die Arbeiter, dachte sie flüchtig.

»Nein, Wedig, ich kann mir nicht denken, daß du nach so langer Zeit etwas noch nicht verzeihen kannst, was doch nur eine Kinderei gewesen sein kann! Gewesen sein wird, lieber Wedig?«

Die Tür wurde aufgerissen. Die alte Magd rief: »Da sin's drin, gehn's nur 'nein.«

Auf der Schwelle erschien Frau Kündinger.

Sie trug schon einen Frühlingshut aus grünem Stroh, sie verbeugte sich und bat um Verzeihung, daß sie störe. Expreß sei sie heraufgelaufen, als sie im Erbhaus hörte, daß die gnädige Frau den Weg zum Gut gemacht, um sie sicher heimzugeleiten. Denn niemand wußte ja, daß Herr Graf zugegen sei.

Das Gespräch konnte nicht fortgesetzt werden. Es gab keine vierte Person, Frau Kündinger zu unterhalten. Und Klugheit gebot, Frau Kündingers rührendes Tun auch als solches anzunehmen und zu ehren.

Graf Worms geleitete die so ungleichen Damen ein kleines Stück Wegs, da sie nicht warten wollten, bis angespannt würde.

Frau Kündingers Beredsamkeit war eine unerbittliche. Sie fragte in leidenschaftlichen Tönen, ob Seine Exzellenz der Herr Johanniterritter von Bredow und Ladalinski nicht bald wiederkäme, zu Ostern vielleicht, das fiele ja dieses Jahr noch in den März. Und überhaupt, einen so vornehmen und liebenswürdigen älteren Kavalier fände man wohl so bald nicht mehr auf Erden. Erst als die Mainbrücke überschritten wurde, erinnerte sich Frau Kündinger, daß sie sich eine Gelegenheit hatte entgehen lassen. Erschreckt sprach sie unter dem Tosen des Wehrs überlaut: »Der Herr Graf wird doch mein Kunde werden? Haben gnädige Frau ihm vielleicht gütigst schon eine Andeutung gemacht?«

Armgard nickte gedankenlos.

Sie hörte auf das Brausen des Stroms und dachte, es wird Frühling.

Und ich – muß mein soziales Herz bewähren! – – –

Sie kam erregt und nervös nach Hause. Sie absolvierte das Abendessen mit Frau Kündinger und den beiden Bürgersmännern. Ach, ihre Gedanken waren nicht an diesem Tisch, sie schweiften hinaus nach dem Gutshof und beschäftigten sich mit dem abgebrochenen Gespräch.

Dann gab sie vor, der Spaziergang habe sie sehr ermüdet, und zog sich früh zurück.

In ihrem Wohnzimmer lagen zwei Briefe. Das Mädchen der Frau Baronin habe sie gebracht, erklärte die Jungfer. Der Brief von Julius von Höchheim – der lange drohende Brief, wußte sie deutlich.

Sie öffnete den Umschlag, sah mehrere mit großer, unregelmäßiger Schrift bedeckte Bogen, und befand sich in keinem Zweifel mehr über den Inhalt.

Sie überflog das Ungefähre: Vom ersten Augenblick an habe sie den großen Eindruck auf ihn gemacht – die Verschiedenheit der äußeren Verhältnisse legte ihm Zurückhaltung auf, jetzt, da ihm eine außerordentliche Professur angeboten sei und seine Karriere außer Zweifel stünde, wage er –

Sie ließ den Brief sinken.

Er glaubt, das Angebot einer außerordentlichen Professur erhöht seinen Wert, dachte sie, und ein Lächeln kam ihr. Und dann ein Mitleid. Julius von Höchheim hatte sich wohl seine Jugend lang außerordentlich anstrengen müssen, ein für ihn standesgemäßes Lebensziel zu erreichen. Die Familie besaß wenig Mittel und hielt so sehr viel auf den Schein.

Sie nahm den Brief wieder auf – und las nun auch andere Worte. Beteuerungen seiner Verehrung und seiner Gefühle, Erinnerungen an besondere Augenblicke, die ihn hoffen ließen, daß er ihr nicht ganz gleichgültig sei. Jenes Nachmittags mit der Klosterfrau war gedacht, da sie, die unendlich Verehrte, als Botin der frohen Welt in sein düsteres Krankenzimmer getreten. – –

Er war klug! Er hatte es gefühlt, daß diese Stunde auch für sie Reiz besaß.

Sie las den Brief nun genau von Anfang bis zu Ende. Und mußte sich gestehen, es war eine sehr durchdachte Kundgebung. Die Fragestellung, um die es ging, besaß noch ein wenig Verschleierung. Julius von Höchheim bat nicht um ein Ja oder Nein, sondern um eine Hoffnung. Er wollte sich ausdrücken und wollte doch nicht die Eventualität einer Abweisung herbeiführen, hinter all den vielen Worten sprach Unsicherheit. Sie dachte plötzlich an Luise Menard, und ein kleines bitteres Lächeln kam ihr: vielleicht vermutete der Freier, seine Annäherung an Luise, die wohl in den letzten Sommer fallen mochte, sei nicht unbeobachtet geblieben und irgendwie zu vager Kenntnis der jetzt Angebeteten gedrungen.

Hellsichtig geworden, erinnerte sich Armgard, daß zwischen Julius von Höchheim und Luise Menard in der ersten Zeit eine gewisse Befangenheit zu bemerken gewesen, die sich wohl ausdeuten ließ, daß er nach der Testamentseröffnung seinen Rückzug angetreten habe. Eine Welle von Wärme kam in Armgards Herz. Nicht für Julius von Höchheim, sondern für Luise Menard.

Armgard trat ans Fenster, öffnete es, ließ kühlen Abendwind hereinströmen.

Sie fühlte sich allein, sehnte sich nach ihren Kindern, wünschte, Höchheim hätte nicht geschrieben – – –

Plötzlich stand sie an ihrem Schreibtisch, nahm das Telephon auf, verlangte Verbindung nach dem Gutshof. Dann, als das Amt angerufen war, erschrak sie. Sie war ja ihrer Stimme nicht sicher! Und es wirkte doch lächerlich und neugierig, wenn sie Wedig nun bat, das abgebrochene Gespräch telephonisch fortzusetzen.

»Der Teilnehmer antwortet nicht«, sprach nach einer Weile das Fräulein.

Sie legte den Hörer zurück. War er abgereist? Aber das konnte er kaum, er mußte doch da sein und die Vorbereitungen für die Invasion der Pensionäre leiten. Oder war er in die Stadt hereingegangen? In irgendeine Weinstube? Ins Theater?

Voll Unruhe sah sie nach der Uhr. Es war fast zehn. Nein, da konnte sie nicht mehr ins Theater. Und sie war doch so bedrängt von der eignen Einsamkeit, von der lautlosen Stille im Hause – –

Wenn doch wenigstens wieder Stürme wären, dachte sie, lief ziellos durch die Räume, war den Tränen nahe und beschloß, morgen fahre ich heim nach Arnimswalde – – –

»Armgard?«

Sie schreckte aus einem Sessel hoch, wußte im Augenblick nicht, wo sie war, sah, Wedig stand vor ihr. Sie hatte um Fassung zu ringen.

»Du verzeihst wohl die abendliche Stunde, liebe Armgard, ich wollte dir eigentlich schreiben, aber dann dachte ich, es sei besser, ich komme selbst. Mir schien, ich wäre heute nachmittag sehr unliebenswürdig gewesen –«

Graf Worms stockte, betrachtete seine Hände und fuhr leise fort: »Ich wollte dich um Entschuldigung bitten.«

Sie erhob sich rasch, behend, in der schönen Modulation ihrer Bewegungen.

»Aber, lieber Wedig. Was für Worte! Es ist schön, daß du da bist. Hast du Abendbrot gegessen? Oder magst du Tee trinken?«

Er wehrte ab. Über seinem stillen Gesicht lag ein eigensinniger Zug.

»Ein Glas Wein? Doch, Wedig, ja.«

Sie ging zu einer Kredenz, nahm eine Kristallflasche und zwei Gläser, trug sie zu einem Sofa mit kleinem Tisch und Lehnstühlen davor.

Einen Augenblick fiel ihr ein, sie müsse die ausgebreiteten Briefblätter Julius von Höchheims ordnen und beiseite legen. Aber sie ließ es. Wedig blickte gewiß nicht darauf.

Er blieb hinter einem Stuhl stehen.

»Armgard, du sagtest mir, du wüßtest es wirklich nicht, weshalb unsere Mütter sich distanzierten? Es ist gewiß sehr zartfühlend von dir, wenn du so sprichst. Aber bedenke, daß bei mir dieses Vergangene eben nicht vergangen ist und dieser Winter deshalb für mich oft außerordentlich schwierig war.«

Sie erhob das schöne, weiche Gesicht zu ihm, lächelte damenhaft und sagte: »Du mußt wohl doch die Güte haben, mir diese Angelegenheit, die nun so lange zurückliegt, zu erzählen. Wir waren damals zusammen bei Großmama. Du bist auf Urlaub gewesen, kamest aus Lazaretten, hattest eine graue Ulanenuniform an und warst schmal, blaß und sehr jung. Wir sind einander sehr gut gewesen, und als du gingst, versprachst du, mir zu schreiben – – – Du hast es nie getan!«

Sie sagte es still. Aber in ihrem Herzen war ein großer Aufruhr. Ehe Wedig noch antwortete, wußte sie durch sein Mienenspiel: er hatte ihr geschrieben, und dieser Brief war das Opfer mütterlicher Vorsicht geworden.

Graf Worms sah in die Luft und antwortete: »Ich bekam meinen Brief an dich eröffnet von deiner Mutter zurück. Du ließest mich grüßen und sandtest als Zeichen der Loyalität mir mein kindliches Schreiben wieder, als ungeschehen, schrieb sie. Deine Mutter aber ersuchte mich, zu bedenken, daß ich achtzehn Jahre alt sei, und eine ebenfalls Achtzehnjährige nicht um ein Warten auf meine Zukunft bitten könne. Es sei meine Pflicht, gegen dich zu schweigen und nicht mit weiteren Bitten und Beteuerungen dich zu beunruhigen. Deine Mutter wünsche die Heirat mit Herrn von Arnim, dem Gutsnachbarn, der dir, wenn auch noch etwas Respektsperson, so doch sehr sympathisch sei.«

Schweigen war im Raume.

Lange Jahre versanken.

Das Einst wurde wieder zur Gegenwart.

Armgard lächelte. Und dieses weiche Frauenlächeln überbrückte Zeit und Fernen.

Es tat einem Toten nicht mehr unrecht. Es klagte eine Mutter nicht mehr an.

»Lieber Wedig, ich habe niemals mehr einen Brief von dir bekommen – und ich hatte so sehr gewartet.«

Er erblaßte. Sie stand vor ihm, in ihren Augen war ein blaues Leuchten, war das Urlicht der Erde.

Und plötzlich sanken sie einander in die Arme – – –

»Wir wollen noch heute, noch ehe die Mitternacht ist, zu dem Bild von Großmama gehen und es ihr erzählen«, sagte Armgard und strich Wedig über das schöne, wellige Haar. Er lief eifervoll durch ihre Zimmer, fand einen Pelz, legte ihn zärtlich um ihre Schultern, lachte: »Jetzt ist Großmama wirklich eine große Wohltäterin geworden. Ohne ihre Herrschaft über unsern Erblasser hätten wir nie wieder voneinander gehört!«

Sie schwieg in Frauenklugheit. Ein andermal vielleicht durfte Wedig erfahren, wie oft sie erwogen, ob sie ihn nicht wiedersehen könne. Und sie lächelte und wußte im voraus, auch er hatte dies gedacht.

Sie schritten hinüber in den Saal zu dem schönen Bild der stolzen Frau, deren Sein dem Erblasser dieses Hauses ewig unerreichbar und ein ewiges Ideal gewesen war. Sie gingen zu ihr, der sie die wunderliche Erbschaft verdankten – – –

Auf Armgard von Arnims Tisch aber lag noch uneröffnet der Brief einer andern Großmutter.

Wenn Armgard von Arnims Blick auf das hauspolitische Erzeugnis der alten Dame fiel, die so gut die Jugend verstand, war da zu lesen: »Meine Kusine Gräfin Rödern ist zur Kur in Wiesbaden und hat ihre liebe junge Enkelin bei sich, die eben in die Welt eingeführt werden soll. So sehen sich nicht nur alte Verwandte wieder, sondern auch junge lernen einander kennen und schätzen. Es wäre sehr reizend, liebste Frau Armgard, Sie führen einmal zu uns herüber.«

Dieser Brief, der ein wenig beunruhigen sollte, weil er kundgab, eine neue Chance war gesichtet für die Karriere des immer klug strebenden und immer neu entflammten Julius von Höchheim, würde das Gegenteil seiner Absicht erreichen. Die Leserin wußte dann, am Glücke des Hauses Höchheim brauchte man nicht zu verzweifeln.


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