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Viertes Kapitel

Julius von Höchheim enteilte dem Gasthof zum Weißen Schwan. Gottlob, der Graf und Miterbe war nicht zu Hause gewesen, und Julius konnte Zeit einsparen. Es war verabredet, heute, am letzten Tag der Spannung und Ungewißheit, mit Luise sich doch in Veitshöchheim zu treffen. Die Maler, so wußte er von Gudrune, saßen fest im Schlosse, beendeten das Interieur dort. Julius war strahlender Laune. Es sollte köstlich und reizend draußen in dem närrischen Rokokogarten werden. Er glaubte, nach gestern zu wissen, daß Luise seine Seele verstand, daß sie das Unruhige, Heftige in ihm begriff. Man weiß seine letzten Möglichkeiten noch nicht, man weiß sein Ziel noch nicht, man kann ein Bedürfnis nach Wärme, Nähe, Aussprache, Verstandensein und Zärtlichkeit heftig auf eine Frau werfen, ohne dabei zu bedenken, wie man morgen oder übermorgen fühlt.

Er kannte Luise viele Jahre. Es war immer ein hübscher, ansprechender Augenblick gewesen, ihr zu begegnen oder sie zu sprechen. Daß sie ihm plötzlich zu einer einmaligen Gestalt geworden, war seltsam genug. Denn gewöhnlich wächst das Wunder nicht aus dem Wohlbekannten.

Sie selbst? War sie nur geschmeichelt, oder war sie berührt? Oder kam er grade zur richtigen Stunde, da eine Unruhe sie über ihr Maß hob? Denn Unruhe ist eine große Löserin von Hemmungen. Und Verlust der Hemmungen bedeutet nur eine Gefahr für die Geringen. Kommt er über eine große Natur, so bricht auch eine große Stunde herein.

So dachte er und strebte dem Hafenplatz zu. Es war so hübsch, sich übers Wasser treiben zu lassen, einer Erwartung zu. Leider, leider mußte er am Abend zu Hause sein, weil die Großmutter den Grafen zu Tisch eingeladen hatte.

Die alte Baronin war von dieser Aussicht so hingenommen, daß sie selbst einige Besorgungswege machte. Rüstigen Schrittes begab sie sich bis in die Innenstadt und bedachte, daß durch ihren Weg das aufzuwendende Geld viel besser ausgenützt wurde, als es die Enkeltöchter konnten, die im Einkaufen ein wenig sorglos waren.

In der Nähe der alten Universität wurde sie von einem Herrn gegrüßt, der neben einer blonden, schlanken Dame ging. Die Augen, die zum Lesen eine Brille brauchten, waren auf gewisse Entfernung noch sehr gut: die Baronin erkannte den Grafen Worms und blieb erwartend stehen.

Wedig Worms flüsterte Armgard einige Worte zu und begrüßte dann die alte Dame, machte Armgard bekannt.

Die Baronin war sofort im Bild! »Enkel und Enkelin meiner lieben Jugendbekannten! Wie freue ich mich!«

Das Gespräch auf der Straße dauerte nicht lange. Frau von Arnim wurde gebeten, den heutigen Abend ebenfalls bei der Baronin und ihren Enkeln zu verbringen, und es ließ sich nichts tun, als anzunehmen.

Sie lächelte nachher ein wenig spöttisch: »Lieber Wedig, konntest du dir nichts Amüsanteres ausdenken, als die Memoiren einer alten Diplomatendame anzuhören?«

Er stand betreten. »Ich wußte ja nicht, daß ich den Vorzug haben würde, heute in deiner Gesellschaft zu sein, und, offen gesagt, ich hoffte, bei den Höchheims Aufschlüsse zu erhalten. Nun, du bist doch so klug, Armgard, du findest gewiß einen Absagegrund für uns.«

Nachdem die Baronin mich hier mit ihrem Gast erblickt hat, dachte Armgard, nein, danach gibt es keinen Absagegrund mehr für uns beide.

Die Baronin Luckner kam freudig erregt nach Hause. Es lag auf der Hand, diese Frau von Arnim gehörte mit zu den Erben. Sie wurde sofort eingereiht. Sie hatte Chance wie Julie und Gudrune, oder sie war die Konkurrenz von Julie und Gudrune. Auf alle Fälle erfuhr man morgen, welche Belange sie besaß, welches Vermögen ihr zufiel. Und es ist dann gut, heute abend, da alles noch im Ungewissen lag, eine gesellschaftliche Anknüpfung gemacht zu haben. Es spielte nicht nur Berechnung, es spielte auch wirkliches Interesse an den beiden Enkeln der Jugendbekannten mit. Die alte Dame fühlte sich befeuert. Diese beiden Gäste waren wenigstens durch ihre Großmutter, ihre Eltern, mit der großen Welt verbunden. Lieber Gott, das tat einmal wohl, nicht immer Menschen zu Tisch zu haben, die nur von Beruf und Studium, von Universitäten und Würzburger Angelegenheiten sprachen.

Die Baronin gab das Familiensilber heraus zum Aufpolieren und wählte selbst die Tischwäsche. Es sollte festlich, schön und reich bei ihr sein, nicht das Bild eines Hauses, das zittert und bebt, wie eine Erbschaft ausfällt – –

Über dem »Großen See« im Park von Veitshöchheim glitzerte Sonne, standen glasgeflügelte Libellen. Und es war das wehmütige Schweigen des Nachmittags.

Luise Menard und Julius von Höchheim gingen an den glattgeschnittenen Heckenwänden des Ufers entlang, fühlten ihren herben Duft, warfen flüchtige Blicke auf die Statuen in den Heckennischen. Sie warteten auf das Springen der Wasserkünste.

»Wer sind wir eigentlich«, fragte Julius. »Dies ist ein Garten mit tausend Erinnerungen und keiner. Es mag auch Menschenleben geben, die tausend Erinnerungen haben, doch keine, die den großen Rang hat. Hier –« er kam ins gewohnte Dozieren – »haben so viele Künstler, also unsere wohlvertrauten Balthasar Neumann, Ferdinand Dretz, Peter Wagner, Wolfgang van der Auwera und Matthias Bossi, ihren Launen freien Lauf gelassen. Sie haben Drolliges, Hübsches, Groteskes und Mißlungenes, Überbarockes angelegt, aufgestellt. Die Fürstbischöfe, hauptsächlich die Schönborns, lustwandelten hier, zeigten ihren Gästen die neuen Schöpfungen. Dies alles war einmal, und die Steinbilder stehen still und sehen uns noch an. Aber nirgends ist die eine, einmalige, unvergeßliche, ganz große Erinnerung.«

Er lächelte, sah seiner Begleiterin mit unruhigem, flirrendem Blick ins Auge: »Es gab hier nie die Frau. Unser köstliches Schloß in der Stadt, unser barocker, toller Garten von Veitshöchheim, sie kannten nie die eine, einzige große Begebenheit: die Frau!«

Sie standen vor einer steinernen Gruppe von Kindern mit drollig dicken, wulstigen Handgelenken. Luise Menard strich über ein pausbäckiges Gesicht. Sie antwortete als gute Kennerin der heimatlichen Geschichte: »Ist Geilana keine Erinnerung? Es käme vielleicht nur darauf an, dem Namen dieser Frankenherzogin den Balladenklang zu geben. Zugestanden: sie ließ den heiligen Kilian und seine Genossen Kolonat und Totnan den Märtyrertod erleiden. Ihr Name verscholl – und der heilige Kilian segnet für ewig die Stadt, die Provinz. Aber vielleicht war die Herzogin Geilana eine Anbeterin der Sonne, eine heimliche Priesterin der alten Götter – vielleicht war sie nur so grausam, weil sie an Balder, den Lichtbringer über dem Maintal, glaubte – mit der Leidenschaft einer kompromißlosen Natur.«

Höchheim war feinfühlig genug, zu merken, daß diese Idee für Luise nicht nur ein Wortgeplänkel war. Vielleicht, dachte er jäh, ruht ihre Naturseele im Heidentum, das eine jugendliche Ästhetik mit Griechenland, oder schönen, germanischen Barbaren verbindet.

Er sagte, den Blick über die lichtflimmernden Wasserbecken gerichtet, kurz, hastig, klug: »Dieses Gespräch müßten Sie mit Heinrich von Kleist führen – und es ist schade, daß er nicht zurückkehren kann. Hätte hier ihm jemand von Geilana erzählt, so würde sie ihn vielleicht gereizt haben wie Penthesilea. Die von Goethe bekanntlich verabscheut wurde, von jenem Goethe, der es mit Heidinnen wie Iphigenie hielt. Doch, ohne Umschweife gesprochen, Mörderin bleibt Mörderin, und von der Frau haben alle Jahrhunderte, alle Jahrtausende gefordert, daß sie den Mythos von der Heiligkeit des Lebens verkörpere. Nicht das Ideal von der Heiligkeit der Idee.«

Luise wandte sich mit einer herb-anmutigen Bewegung zum Gehen. »Die arme Geilana ist also nicht zu retten. Ich dachte, hier in diesem barocken Park dürfte sie doch ein Denkmal haben.«

Er lachte: »Gewiß, gewiß. Aber sie kann doch nicht die Erinnerung sein.« Er nahm Luisens Hand, streifte sie mit den Lippen: »Wenigstens nicht meine Erinnerung.«

Die Wasser begannen zu springen. Aus der vermoosten Steinbildgruppe in der Mitte des Sees, die der Parnaß heißt und Pegasus, Apollo mit den Musen darstellt, und aus den umgebenden Gestalten der Seetiere hoben sich die glitzernden Strahlen und Bogen, fielen, zu weißem Geriesel zerstäubend, nieder.

Die Wasser springen! Alte Bezauberung!

Der Grandseigneur Julius von Höchheim, der dies angeordnet, dachte flüchtig, es kostet mich fünfzehn Mark, und war für Sekunden ärgerlich, daß ihm kein unbewußtes, kein sorgloses Tun gelang. Und: warum küßte er Luise nicht? Warum dachte er bei allem Drängen in ihm nach einem Augenblicksglück immer an morgen, an Verantwortung, an Konsequenz?

Er fühlte Luisens Nähe aufregend, geheimnisvoll, lockend. Und während die Wasser noch rauschten, schob er seinen Arm in den ihren, flüsterte: »Wir wollen zu den Pavillons gehen – –«

Es war menschenleer. Ihre Schritte eilten. Sie kamen durch ungewisse, von Hecken umsäumte, von Taxus überwucherte Wege zu jener sonderbaren Treppe, deren Senkung zwei steinerne Sphinxe flankieren. »Diese Treppen, das Märchen verhallter Schritte, reizen mich immer. Wollen wir sie hinaufsteigen zur Auffahrt? Ist es nicht ein Symbol: hinaufsteigen?«

Er hatte plötzlich sein Gesicht auf Luisens Schulter. »Du weißt doch, warum du hier bist! Liebst du mich heute ein wenig?«

Sie verstand wohl den Unterton. Und wollte ihn nicht verstehen. Kann man nicht das Heute nehmen, ohne das Morgen zu wollen?

Und gibt das Heute nicht ein Pfand für alle kommenden Tage?


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