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Neuntes Kapitel

Frau von Arnim machte Besuche. Es war ihr ein wenig wunderlich, daß sie so allein von Haus zu Haus schreiten sollte, denn sie war die Gesellschaft ihrer Kinder gewöhnt.

Doch diese Wege sollten sein, sie hatte sich vorgenommen, jene Menschen, mit denen sie nun ein Jahr lang täglich zusammen sein mußte, erst in ihrer Häuslichkeit kennenzulernen.

So schritt sie, in ein schönes, schwarzes Jackenkostüm gekleidet, durch die Straßen der Innenstadt. Wäre doch Wedig da, wünschte sie. Aber er konnte sich nicht so rasch, wie er geglaubt, in Darmstadt freimachen, und dann wäre es wohl auch sonderbar erschienen, wenn sie mit ihrem Vetter aufträte.

Sie begab sich zuerst zu dem Devotionalienhändler Eusebius Lämmerer, um mit dem Schwierigsten zu beginnen.

Der alternde Junggeselle mit den verwischten Zügen, der jämmerlichen Gestalt und den matten Augen schien wie betäubt von der Ehre, daß die vornehme Dame kundgab, sie möchte sein Wohnzimmer betreten und ein wenig mit ihm plaudern.

Sie wurde mit vielen Komplimenten in einen Raum geführt, der nach dem düsteren Hof hinaus lag, und auf ein Sofa genötigt. Von dort überblickte sie Vorhänge zu einem Alkoven, einen Tisch mit Kochgelegenheit, einen modernen Schreibtisch und viele hölzerne Heilige, die als Gesellschafter des Einsiedlers aufgestellt schienen.

Sie hatte sich leutselige Reden zurechtgelegt, aber sie fand plötzlich, den Mann beschäftigten andere Sorgen, als die innere Stellungnahme zu ihr.

»Können Sie denn all Ihre Sachwerte ruhig verlassen und im Erbhaus wohnen?« fragte sie teilnahmsvoll.

Herrn Lämmerers Blicke belebten sich.

»Ich habe zu Hause schon daran gedacht«, fuhr Armgard von Arnim fort, »wie schwierig es für Geschäftsinhaber ist, die Testamentsbedingungen zu erfüllen. Ich bin bereit, die Tischzeiten auf die Stunden des ortsüblichen Ladenschlusses zu legen.«

»Sehr gnädig«, sagte Herr Lämmerer, um weltmännischen Ton bemüht.

»Ich nehme an, Herr Lämmerer, Sie wollen sich in Ihren guten Jahren doch nicht zur Ruhe setzen, Sie können auch sich nicht immer vertreten lassen. Denn Ihr Beruf bedingt doch eine große Sachkenntnis und Erfahrung.«

Herr Lämmerer sagte plötzlich: »Verzeihen Sie gütigst«, lief behend hinter die Vorhänge des Alkovens, machte ein wenig Geräusch, und kam dann in einem neuen, stattlichen Rock zurück. Jetzt schien er sich freier zu fühlen. Er rückte Frau von Arnim etwas näher und flüsterte: »Die Einbrüch' – gelobt sei Jesus Christ, bei mir war noch keiner – finden immer zwischen eins und fünf Uhr nachts statt. Und da hab' ich mir dacht', hab' so bei mir sinniert, ob das wohl die gnädige Frau von Arnim begreifen kann und ein Gefiehl dafier hat?«

Die Enkelin der berühmten Weltdame Editha Gräfin Henckel-Donnersmarck wußte ihre Mimik zu beherrschen.

»Ich verstehe vollkommen, daß dies in unserer immer noch so unruhigen Zeit eine ständige Sorge ist. Also zwischen ein und fünf Uhr finden gewöhnlich die Einbrüche statt?«

Der Devotionalienhändler sah sie freudig an: »Ja, und wenn ich also in der Nachtzeit das Erbhaus verlasse und hier meinen Alkoven beziehe, so werden die gnädige Frau von Arnim nichts Unsolides von mir denken.«

Sie nickte verbindlich, musterte das kleine Männchen und dachte, wie tief ist doch jeder Mann, sähe er aus, wie er wolle, von seiner Chance für Abenteuer oder Heirat durchdrungen.

Sie lächelte. »Wir müssen dann für Sie ein Zimmer wählen, das nahe an der Haustür nach dem Garten liegt, damit Sie in aller Stille gehen können.«

Sie verließ einen Beglückten und begab sich zu Frau Kündinger. Sie blieb flüchtig am Schaufenster stehen, sah, es besaß gleich der Ladentür einen eisernen Rollverschluß. Frau Kündinger durfte also wohl ruhigen Nächten entgegensehen.

Der Laden tat sich auf, nahm für sich ein.

Wie damals Julius von Höchheim, so war auch Frau von Arnim entzückt, als sie die alten Barockschränkchen mit den vielen Schiebladen erblickte und die anregenden Worte: Spezerey, Kardomom, Zimmet, Ingwer, Gewürznelken, Sternanis las. Frau Kündinger selbst aber stand trotzig da, streitbar und mit grellen Augen.

»Es gibt bei mir alles, was meine Branche für einen feinen Haushalt bieten kann. Kaffee Hag und alkoholfreie Weine, alle Gewürze für die süßen Speisen und die Weihnachtsbäckereien, Mandeln und Zitronat – –«

Frau von Arnim war unterrichtet. Sie leistete leichtsinnige Schwüre auf Bezüge von großen Mengen, sie wehrte sich nur gegen Muskatblüte, die ihr Abneigung einflöße. Dann fragte sie, ob sie einen richtigen Besuch im Wohnzimmer machen dürfe.

Frau Kündinger bewährte ihren festen Charakter! Sie errötete zwar flüchtig ob der Ehre, die ihr widerfuhr, aber sie betonte auf dem Wege nach oben, ihre Möbel seien alt und häßlich, man habe auf ein Erbe gerechnet, auch für die Töchter, es läge nicht an ihr, daß sie es der gnädigen Frau nicht besser zu bieten habe.

Und dann saß die Gutsbesitzerin aus der Kurmark in dem, mit vergrößerten Photographien der Vorfahren Frau Kündingers erschreckend geschmückten, guten Zimmer und vernahm ihre Familiengeschichte.

Sie ging bereichert fort. Erheitert und nachdenklich zugleich. Frau Kündinger gehörte zu den Menschen, die es in allen Gesellschaftsklassen gibt, und die man die Unzufriedenen nennt, die Malkontenten oder die Indignierten.

Diese Rasse oder Klasse ist mit dem Kaiserreich ebenso unzufrieden gewesen, wie über seinen Sturz. Sie vermißt an einem vollbesetzten Tisch ein Kräutchen Petersilie und im Theater den heimischen Lehnstuhl. Sie haßt den Winter, und im Sommer ist es ihr zu heiß. Sie sagt im Herbst, wenn des Gartens Fülle kaum zu bergen ist, im Frühling wären die Radieschen holzig gewesen. Predigt der Pfarrer über die Seligkeit dereinst im Himmel, so sagt jene Rasse der Unzufriedenen: »Weiß man's denn?« Spricht der Prediger über die Tragik jedes Menschendaseins, so finden die Malkontenten, das wäre keine Erbauung.

Dieser Rasse gehörte Frau Kündinger an, urteilte ihre Besucherin. Und sie sah voraus, es würde nicht so ganz leicht mit ihr ein harmonisches Verhältnis herzustellen sein. Welchen Platz sie auch am Tisch bekam, er würde ein miserabler sein, an dem es zog, oder blendete, zu heiß oder zu kalt war. Frau von Arnim seufzte ein wenig und fragte sich, welche Charakterprobleme ihr wohl der vormalige Bäckermeister bieten würde. Leichten Schrittes und von gutem Ortssinn geführt, fand sie durch das Gassengewinkel um Neumünster den Weg zum Dom. Sie trat einen Augenblick in seine kühle Halle, ließ sich auf einer Bank nieder und dachte, ich bin irgendwie schon ein wenig zu Hause in dieser Stadt. Man kann sie wohl lieb gewinnen.

Dann besann sie sich auf ihre Vorhabungen und wanderte die breite belebte Straße gegen die alte Mainbrücke zu. Das Rauschen des Stroms erklang hinter den Geräuschen von Wagen und Menschen, und wieder dachte sie, ich würde mich danach sehnen, hörte ich es nie wieder.

Sie sah sich suchend nach dem Bäckerhaus um, fragte ein Weiblein, und bekam Bescheid: »Da, wo die Maurer sind, wo sie das G'rist abnehme.«

Das frühere Bäckerhaus war herrlich herausgebracht. Rosenrot gestrichen, mit weißen Fensterkreuzen, grünen Läden, prangte es hinter dem fallenden Gerüst. Über der Haustür war ein stuckumrahmtes Oval, blaugründig und mit einem goldenen Ährenstrauß. Hübsch, hell, froh, bürgerliches Barock das Ganze.

Armgard von Arnim lachte: waren die fünf Ähren das Wappen der Höchheims oder die Erinnerung an die Bäckerei? Wie es auch zusammenhing, ein reizendes Hauszeichen. Sie schlüpfte über Balken und Schutt, ging durch den Flur, kam in den Hof und sah, hier war umgebaut, gründlich aufgeräumt mit altem Gerümpel und Gewinkel. Sie sah einen älteren Mann behaglich herumstehen und begriff, dieser graue Bart und graue Schopf gehörten zu ihrem künftigen Hausgenossen, Herrn Thomas Frank. Sie zauderte, sollte sie lieber wieder gehen? Der alte Mann war anzusehen wie ein Maurer, bespritzt, verstaubt, nicht auf Besuch eingestellt.

Da winkte plötzlich eine Hand aus einem Fenster des Neubaus, rasche Schritte klangen, eine weiße Gestalt kam: Gudrune, im langen Malerkittel, schön, strahlend, herzlich und unbefangen.

Welch eine amour, wenn man in ein Bäckerhaus heiratet, dachte Armgard und gab sich, als sei es das Natürlichste von der Welt, Gudrune hier zu finden.

»Sie besuchen uns, liebe Frau von Arnim! Das ist ja reizend. Sie sehen, hier wird gebaut. Ein Atelier für mich.«

Armgard sprach ihre Glückwünsche zu der Vermählung aus. Gudrune strahlte. Der Schwiegervater war verschwunden.

»Ich darf Ihnen meinen Mann vorstellen, Frau von Arnim, mögen Sie eintreten? Wir haben hier ein wenig mitgearbeitet, müssen morgen nochmal zu meinem Professor, beide als Modell.«

Frau von Arnim sprach die verbindlichsten Worte, bewunderte nackte Wände, bewunderte die Aussicht in einen blühenden Garten, drückte einem wunderschönen Arbeiter kräftig die Hand: Dr. Magnus Frank, dessen Kleidung bewies, daß er in den Farbkübeln rührte, die umherstanden.

»Wir müssen nämlich heute noch den Farbton herausbringen, weil wir morgen wieder reisen«, erklärte Gudrune.

Dieses glückliche Paar, das so heimlich seine Ehe gebaut hatte, schien eine Wonne darin zu finden, nun höchst demonstrativ auch an der späteren Wohnung mitzubauen. Armgard von Arnim gedachte der Großmutter, bei der sie zum Abend erwartet wurde. Gut, daß die alte Dame diese Anblicke nicht hatte.

Magnus Frank riß zwei Kisten herbei, belegte sie mit Zeitungen, die er einem Tisch entnahm, bot Sitzgelegenheiten. Das junge Paar schien vollkommen kindisch in seinem Glück, laute Ausrufungen, wie sehr sie der Besuch gerade an diesem Platz erfreue, umklangen Frau von Arnim.

Sie gab sich heiter, blieb unbemerkt eine kühle Beobachterin, blieb zehn Minuten und sagte dann: »Ich muß noch Herrn Thomas Frank besuchen. Ich wollte jeden der künftigen Hausgenossen in seiner eigenen Häuslichkeit kennenlernen.«

Es war ungewollt eine leise Nuance von Abstand im Ton, Gudrune begriff sofort und wurde kühler.

»Sehr gütig, Frau von Arnim. Wir alle haben oft davon gesprochen, wie man Ihnen wohl diese Invasion ersparen könnte und damit die Unruhe in Ihrer Häuslichkeit. Doch man kann die wunderliche Testamentsbestimmung nicht aufheben, nur mildern. Meine Vettern überlegen –«

Frau von Arnim überhörte. »Wie reizend ist diese alte Treppe«, sagte sie in jenem etwas lässigen Ton der großen Dame, die eine Hütte betritt und gütig anerkennt.

Vater Frank hatte andere Kleider angelegt und seinen grauen Schopf gebürstet. Er nahm den gnädigen Besuch in respektvollster Haltung entgegen. Frau von Arnim bekam die Bilder der Vorfahren gezeigt, vernahm, daß der nunmehrige Rentner sich in Gemeindeangelegenheiten nützlich machen würde, und bekam gute Eindrücke. Mit diesem klugen alten Bürgersmann würde sich leben lassen.

An diesem Nachmittag war großer Kriegsrat zwischen der alten Baronin und ihrem Enkel Julius. Eines stand fest: die seltsamen Heiraten von Julie und Gudrune durften Frau von Arnim nicht als »Mesalliancen« hingestellt werden, sie durfte nicht ahnen, wie betroffen man davon war.

Alles mußte vortrefflich und ganz nach Wunsch sein, Neigungsheiraten mit vorzüglichen Männern, denen eine große Zukunft bevorstand.

Wie aber wurde es mit der Übersiedlung von Julius in die Häuslichkeit von Frau von Arnim? Die Großmutter und der Enkel sprachen sich nun, als Verbündete, ganz offen zueinander aus. Die Großmutter konnte nicht plötzlich ganz vereinsamt wohnen. Und es schien ihr in jedem Sinne besser, der junge Walter zöge in das Erbhaus, als der Prätendent auf die Hand von Frau von Arnim.

»Glaube mir, lieber Julius, ein gemeinsames Dach bringt kameradschaftliche Nähe und zerstört Illusionen! Natürlich mußt du offiziell dein Zimmer dort haben, den Mahlzeiten beiwohnen, manchen Abend dort sein. Aber es wird taktvoller und diskreter wirken, du hast dein Nachtquartier hier in der Wohnung.«

Julius überlegte. Der Vorschlag war klug und für ihn auch zumeist bequemer. Es mußte noch ein wenig Zeit vergehen, bis er die volle Unbefangenheit zu Luise Menard besaß. Frau von Arnim durfte nicht merken, daß da ein Zusammenhang, ein Flirt, eine rasche Neigung gewesen war.

»Du bringst mich in einen Vergleich mit dem Filmschauspieler«, lächelte Julius. »Dieser Herr belegt ein Zimmer mit etwas Habe und wird, wenn er gelegentlich Zeit findet, vorsprechen. Er hat, wie ich hörte, bei der Polizei gemeldet, daß er nach Würzburg in das Erbhaus übergesiedelt sei und ab und zu Reisen mache. Nun, Frau von Arnim wird das nur angenehm sein.«

Die Baronin schob mit einer Handbewegung den Filmschauspieler beiseite.

»Bedenke dies, lieber Julius, wenn du ganz und immer dort lebtest, bist du bald eine Gewohnheit. Ist aber dein Kommen und Gehen wechselnd, so hältst du sozusagen immer in Atem! Man fragt sich: ist er da, ist er nicht da? Wird er den Abend bleiben oder gehen? Man kennt deinen Tageslauf nicht wie ein langweiliges Uhrwerk. Kurzum, du wirst interessanter, wenn du dich nicht ganz an das Haus bindest.«

Er gab der klugen alten Frau recht. – – –

Der Tag des Einzugs der Erben kam. Umgeben vom Stab des von der Baronin gedingten Personals war Armgard von Arnim noch einmal durch die Gästezimmer gegangen. Sie hatte in aller Eile ein wenig bauen lassen, das heißt, für sich im ersten Stock durch Korridorabschluß und Durchbruch von Türen eine Privatwohnung gestaltet.

In diesem Geschoß, das die drei festlichen Gesellschaftsräume barg, sollte noch das Ehepaar Frank, Dr. Ferdinand von Höchheim und Frau Kündinger wohnen. Das Ehepaar Menard, Luise Menard, der Filmschauspieler wurden in den schönen Mansardräumen untergebracht. Julius und Walter von Höchheim, der Vater Frank, der Devotionalienhändler hatten die Parterrezimmer nach dem Garten, für Graf Worms war von den vorderen Wohnräumen ein Salon und ein Schlafzimmer abgetrennt. Zwölf Personen also, von denen man den Filmschauspieler zunächst streichen konnte, Julius von Höchheim nur als Gast zu den Mahlzeiten zu betrachten hatte.

Armgard von Arnim durchschritt das Haus, gewissenhaft alles noch einmal überprüfend. In jedem Zimmer stand ein Herbstblumenstrauß und eine Schale mit Obst. Die Sträuße waren einander auf Bestellung völlig gleich. Frau Kündinger bekam, was Gudrune erhielt, was Herrn Lämmerer geboten wurde. Es gab also nicht für jeden das Seine, sondern für jeden das gleiche. Die Zentralheizung funktionierte überall, es lag schon Kühle um die Septemberabende.

Endlich rollten die ersten Dienstmännerkarren mit Koffern und Gepäckstücken herbei.

Frau von Arnim stand in der Vorhalle. Machen es so Pensionsbesitzerinnen, dachte sie. Und erinnerte sich, nicht ohne ein melancholisches Lächeln, wie hübsch war es zu Hause einst und dann in Arnimswalde, wenn Gäste kamen, Vertraute, Freunde, Verwandte.

Hier würde wohl Frau Kündinger die Ouvertüre spielen. Armgard fröstelte ein wenig. Sie hatte gehofft, Wedig stünde ihr bei zu diesem ersten Empfang. Aber er war noch in Darmstadt festgehalten.

Eine schrille Stimme wurde hörbar: »Was, eine Mark fünfzig für den kurzen Weg?«

Ah – Frau Kündinger!

Nach wenigen Minuten war es wie in der Halle eines Hotels. Koffergebirge, Begrüßung; dazu eine gewisse verlegene Munterkeit.

Armgard gab jedem die Hand, sprach den Wunsch aus, man möge sich wohl hier fühlen, dirigierte die Mädchen und den alten Gärtner, und lief dann in ihre Privatzimmer zurück, sank auf eine Chaiselongue.

Sie mußte sich gestehen, sie fürchtete sich ein wenig. Sie stand eins gegen elf. Ja, und es fiel ihr ein, wenn Wedig später da war, und es kam auch der Filmschauspieler, so waren sie eine Tafelrunde von Dreizehn!

Wie alle, die sich nicht abergläubisch nennen, fürchtete und verabscheute sie diese Zahl. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht?

Da leuchtete ihr rettend ein, auch sie war ja vorhanden, als die Vierzehnte!

Und sie fand ihre gute Laune wieder.

Sie wollte sich nun hübsch machen zum Abendessen.

Die Speisenfolge war festlich, die Tischordnung ein Ergebnis langen Nachdenkens. An einem Ende der Tafel würde sie, am andern Wedig sitzen. In die Mitte und einander gegenüber hatte sie Frau Kündinger und die beiden Bürgersmänner gedacht, flankiert von den hilfreichen Menards. Ach, wenn man sich nur gute Laune gab, würde das Ganze einst eine hübsche Erinnerung sein. Die meisten amüsanten Erinnerungen, die man behaglich erzählt, waren in Wirklichkeit mit Pein gemischt und nicht so ganz leicht zu erleben.

Sie zog sich um. Kleines Abendkleid, ein wenig Schmuck, bespiegelte sich, ließ sich gleitend in einen Armstuhl fallen und fand, sie wirkte sehr jugendlich mit ihren schlanken Fesseln, schlanken Beinen.

Es klopfte, sie vermutete, die Jungfer käme, rief herein und sah Wedig Worms vor sich stehen. Ihre Freude äußerte sich wie ein Fanfarenruf. »Daß du kommst, Wedig! Ich habe mich ja so entsetzlich gefürchtet vor diesem ersten Abend als Pensionsinhaberin!«

Er blieb kühl, höflich und, wie ihr schien, ein wenig befangen. »Aber es ist doch selbstverständlich, daß ich dir in den ersten Tagen zur Hand bin, es gehört ja auch zu meinen übernommenen Pflichten«, sagte er.

»Und du mußt dann noch mal fort?«

Er erzählte ruhig und in seiner zurückhaltenden Art, daß er in Darmstadt für die großherzogliche Familie noch einige juristische Arbeiten, die er übernommen habe, beendigen müsse.

Als es zum Abendessen läutete, bot er ihr den Arm. Sie lachte. »Lieber Wedig, in Pensionen ist das nicht Sitte! Pensionen sind Demokratien. Du sitzt an einem Ende des Tisches, ich am andern. Ja, und die lieben Heiligen dieser Stadt wollen uns nun beistehen!«

Die »Pensionsinhaberin« versuchte ihr Bestes zu tun. Sie merkte auch bald, sie hatte Beistände. Der gute alte Vater Frank machte keine Schwierigkeiten. Er saß vergnüglich zwischen seinem Sohn und Luise Menard, deren linker Nachbar Ferdinand von Höchheim war. Die glücklichen jungen Ehepaare plauderten lebhaft, der Gymnasiast amüsierte sich durch Beobachten, und jedermann schenkte den beiden schwierigen Gestalten, Frau Katharina Kündinger und Herrn Eusebius Lämmerer Aufmerksamkeit.

Der Devotionalienhändler schwieg konsequent und schien das Essen als eine sakrale Handlung zu betrachten. Frau Kündinger aber betonte mit schriller und nichtendenwollender Stimme all ihre Kenntnisse, ihre Bildung, ihre Erfahrungen.

Sie rief laut und wie drohend, daß sie mit ihrem seligen Mann einst an der »Daweldoo« (Table d'hôte) in Kissingen gesessen, und erwartete Bewunderung.

Der Kapellmeister warf rasch ein, so weit habe er es noch nicht gebracht. Frau Kündinger fuhr fort: »Und da war auch eine Frau Gräfin. Eine geborene Prinzessin. Wie hat sie doch geheißen? Ja, von Kielmannsegg. Und sie hatte zwei Verehrer. Den Herrn Oberstleutnant und einen Herrn Baron. Wir haben immer gelauert, mit wem sie sich verlobt. Einmal hat sie zu mir gesagt: ›Gnädige Frau‹, hat sie gesagt, ›blühen die Maiblumen hier wirklich im Freien?‹«

Man bestaunte die originelle Frage, sprach von norddeutschen Gegenden mit armseliger Vegetation. Das wollte aber Frau Kündinger nicht hören.

»Und ich war im Gebirg'«, triumphierte sie. »In den Alpen, in Tirol. Da fuhr ich mit einer Zahnradbahn hinauf zum Achensee. Ich hielt mir immer die Augen zu, weil mich so geschaudert hat vor den Untiefen. Da sagte ein Herr zu mir: ›Gnädige Frau‹, hat er gesagt, ›mich schaudert es auch. Aber als gebildeter Mensch muß man eben reisen. Und eine Zahnradbahn ist immer noch besser als ein Luftschiff.‹«

Frau von Arnim unterbrach in künstlicher Frische: »Sie sind so weitgereist, Frau Kündinger. Und es wird hübsch sein, wenn wir alle einander unsere Reiseerinnerungen erzählen – –«

Julius von Höchheim saß in der Nähe des Grafen und seiner Schwester Julie. Er war entschlossen, morgen einen andern Platz zu finden.

Frau Kündinger wurde wieder hörbar: »Auch Beamte sind Bürger, und Professor Höchheim ist nicht adlig gewesen.«

Frau von Arnim unterdrückte einen Seufzer, sah geduldig, wie Vater Frank immer noch an einem Apfel schnitzelte, und merkte jählings, es fehle doch jemand am Tisch! In einer gewissen Unruhe hatte sie es bisher nicht gemerkt, die kluge, sympathische Luise Menard war nicht da.

Sie wandte sich nach aufgehobener Tafel an ihren Vetter. Graf Worms lächelte: »Fräulein Menard sagte mir, sie sei für den Abend eingeladen. Pro forma! Denn man dürfe doch die Angelegenheit hier nicht mit dreizehn Personen eröffnen.« Er lächelte. » Que faire? Liebste Armgard, es ist ein Himmelszeichen, du mußt die alte Baronin noch ins Haus bitten. Aber davon nachher!«

Man ging ins Musikzimmer. Eine schrille Stimme übertönte Schritte und Worte: »Hat vielleicht einer der Herren einen Kompaß an der Uhrkette? Ich muß genau wissen, ob mein Zimmer nicht nach Osten liegt. Mein seliger Mann hat immer gesagt, der Ostwind, das ist der gefährlichste Wind.«

Diesmal war es Herr Lämmerer, der Frau Kündinger beschwichtigte. Er tat es stumm. Er machte eine Handbewegung, die hieß, nur immer langsam!

Das weite Musikzimmer bot Raum, sich zwanglos zu gruppieren. Armgard kam ein leises Mitleid mit den beiden Gästen, die so aus dem Rahmen fielen. Vater Frank, der aufrechte Bürgersmann, trug alle Zeichen freundlicher Urbanität an sich. Er störte nicht. Aber Frau Kündinger und der Devotionalienhändler würden schwer anzupassen sein, der stumme Gast, die überlaute Gastin, sie würden es nicht leicht machen, eine Harmonie herzustellen. Armgard dachte, sie müsse nun wohl eine kleine Begrüßungsrede halten. Aber Wedig kam ihr zuvor. Er lehnte sich leicht an den Flügel, verständigte sich durch einen Blick mit seiner Kusine und begann dann mit seiner weichen, diskreten Stimme und in edler, reiner Klangfarbe zu sprechen:

»Sie gestatten, daß ich kurz das Wort nehme: nach dem Willen des Vorbesitzers dieses Hauses haben sich Menschen, die einander teils erst vor kurzem kennenlernten, zu einer Art Gemeinschaft zusammengefunden, um ein Erbe anzutreten. Frau von Arnim und ich wissen es zu schätzen, daß Sie alle mit diesem Kommen auch ein Opfer bringen. Jedes von Ihnen steht im Berufsleben, denn auch die Schulzeit unsers jüngsten Mitglieds darf man als einen bedeutsamen Pflichtkreis bezeichnen. Sie bringen Opfer, indem Sie Ihre Häuslichkeit verlegen und dadurch manche Einbuße an Zeit für Ihre Arbeit haben. Für diese Opfer, die der Erblasser wohl bedacht haben mag, ist hoffentlich nicht nur ein materieller Ersatz vorhanden. Jeder von uns wird empfangen und geben, verschiedene Berufe, verschiedene Lebensalter, verschiedene Individualitäten werden einander kennenlernen und voneinander lernen. Niemand ist so reich, daß er nichts mehr lernen könnte, und niemand ist so verschlossen, daß er nicht dem andern von seiner Wesensart etwas bieten möchte.

Ich habe viel nachgedacht, was wohl der höhere Wunsch und Wille unsers Erblassers bei seiner Veranstaltung sein möchte. Und ich kam zu dem Schluß: in diesem Hause soll das Beispiel gegeben werden, daß Deutsche auch einmal einig sein können: einig in dem Bestreben, ein Zusammensein so zu gestalten, daß es für alle eine reiche und friedliche Zeit und eine schöne Erinnerung wird.«

Er verbeugte sich leicht und schloß: »Es bedarf wohl keiner Worte mehr, die Art, wie Frau von Arnim für alle die Wohnungen bereitet hat, zeigt Ihnen, Sie sind willkommen!«

Armgard ward ein wenig bang während dieser Ansprache. Klang es nicht wie zu Untertanen? Aber sie fühlte, die kleine Rede hatte ihren Sinn: sie betonte Kameradschaft sowohl als Distanz.

Eine flüchtige Pause entstand. Dann sprang gewandt Magnus Frank auf, küßte Frau von Arnim die Hand, verbeugte sich vor dem Grafen und sagte mit frischer Stimme: »Ich glaube im Namen aller antworten zu dürfen: wir danken und wissen vor allem das Opfer zu schätzen, das Frau von Arnim bringt, indem sie eine stille Häuslichkeit mit einer so belebten vertauscht. Was an uns liegt, so wollen wir versuchen, ihr Würzburg zu einer lieben Heimat zu machen.«

Der offizielle Teil der Feier ist nun vorüber, dachte Armgard erleichtert. Und sie schritt zu einem leeren Stuhl neben Frau Kündinger, entschlossen, diese Gastin noch heute abend zu entwaffnen.

Der Kapellmeister fühlte Mitleid mit ihr. Er näherte sich nach einer Weile und fragte, ob er gegen den Beschluß des Abends etwas Musik machen dürfe.

Sie lächelte: »Tun Sie es gleich, lieber Kapellmeister.« – –

Julius von Höchheim hörte mißvergnügt dem Spiel des neuen Schwagers zu. Warum denn ewig Musik? Er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, Frau von Arnim an diesem bedeutungsvollen Abend etwas Unvergeßliches zu sagen. Er fühlte peinlich, daß er unter der Menge verschwand. Der Vetter aus Paris hatte ihm von modernsten Bildern erzählt und mit Neid auf seine interessanten Eindrücke erfüllt. Graf Worms war ihm auf unbestimmte Weise nicht sympathisch. Dieser Herr, der gewiß viel weniger gelernt hatte als er, wirkte so überlegen durch seine Unauffälligkeit. Julius stand unmutig in einer Fensternische und besann sich auf ein wirkungsvolles Wort, eine eindrucksvolle Handlung. Da war plötzlich Frau von Arnim neben ihm. Er lächelte erwartungsvoll. Gewiß sprach sie jetzt von dem herrlichen Reisebrief, den er ihr aus der Schweiz geschrieben. Doch nein, Frau von Arnim sagte: »Wir haben hier das Mißgeschick, dreizehn Personen zu sein! Mein Vetter reist ja morgen früh nochmal auf Wochen nach Darmstadt zurück, aber wir müssen einen Vierzehnten zu Tisch suchen. Ich bitte, Sie können gewiß einen Studenten aus guter Familie ausfindig machen, der sich einladen läßt.«

Der Graf reist wieder ab, Julius war beglückt und jählings anderer Laune!

Spät am Abend, als sie vermutete, daß alles schliefe, gab Frau von Arnim einer Gewohnheit nach: in ihrem pelzbesetzten Morgenrock aus grünem Samt, schickte sie sich an, auf leisen Schuhen durch das Haus zu gehen. Sie verließ die Flurtür ihrer abgetrennten Wohnung, schaltete das Licht ein und wollte die schöne alte Treppe hinuntersteigen.

Da fesselte sie ein sonderbarer Anblick. An der rechten Seite der Zimmerflucht des Korridors standen vor jeder Tür Stiefel oder Schuhe.

Sie sah wie gebannt auf diese sonderbare Reihe und wußte plötzlich wieder: ich bin eine Pensionsinhaberin!

Sie ging in ihr Schlafzimmer zurück, sank in einen Lehnstuhl und beschwor Erinnerungen herauf.

Und sie merkte, daß sie sehr viele Pensionsbesitzerinnen kannte: alte, ältere und jüngere Damen, Witwen, Frauen, Unvermählte, kluge und törichte, angenehme und unangenehme, wohnhaft in Weltstädten, in Badeorten, im Vaterland und im Ausland, auf alten Burgen oder in Mietswohnungen, in Landhäusern oder an Meeresküsten.

Alle Sünden der Lässigkeit oder des Hochmuts oder unbedachter Unterschätzung, die Armgard von Arnim je gegen eine solche geplagte Frau begangen, stiegen vor ihr auf. Und alle guten Eigenschaften, häuslicher oder gesellschaftlicher Art, die sie je von einer Pensionsbesitzerin erfahren, wurden zur Mahnung.

Armgard warf den Morgenrock ab, beendete ihre Nachttoilette und ging zu Bett.

Aber bis an die Ränder des Traums verfolgte sie ein Chaos von Gestalten und Gesichtern, die alle spöttisch ihr zuzurufen schienen: nun wirst du erfahren, was es heißt, ein Dutzend Menschen zu Gast zu haben.

*

Doch nach vierzehn Tagen, als die Oktobertage so bunt und fröhlich anbrachen, als solle es wieder Frühling werden, fühlte sich Frau von Arnim ihrer Aufgabe schon ganz gewachsen.

Sie hatte sich geschworen, ihr Haus müsse ein friedliches werden, sie müsse Geduld haben, bis alles sich einigermaßen zusammengefügt, und es war ihr auch gelungen. Sie wußte vielleicht noch nicht, daß aller Anfang leicht ist, aber die Vollendung schwer.

Weinlese war auf den Hügeln um Würzburg. Die Studenten zogen ein zum Wintersemester. Mützen aller Farben begannen das an sich so bunte Straßenbild dieser fröhlichen Stadt noch mehr zu beleben.

Und gottlob, nun mußte der Privatdozent von Höchheim doch auch seine Vorlesungen wieder beginnen und hatte weniger Zeit.

Seine Unermüdlichkeit, Ausflüge zur Weinlese, Schifffahrten auf dem Main, Teenachmittage bei seiner Großmutter, kunsthistorische Gänge zu den Sehenswürdigkeiten zu veranstalten, wurde beschwerlich.

Armgard ging lieber einmal zu dem alten Bäckerhaus und sah die Neugestaltung fortschreiten, oder sie kam mit in die Menardsche Wohnung zu Musik. Sie hatte sich sogar angewöhnt, Frau Kündinger zuweilen an der Stätte ihres Wirkens aufzusuchen oder bei dem Devotionalienhändler in dunklen Gewölben zu kramen. Sie führte da so manche Gespräche, die ihr neue Eindrücke gaben, und sie fühlte sich auf gutem Wege, eine herzliche Achtung vor dem Bürgerstand zu gewinnen.

Eine liebste Unterhaltung war es ihr, Luise Menard und Ferdinand von Höchheim in ihre Privaträume zum Tee zu bitten. Sie empfand, daß sich zwischen beiden eine geistige Freundschaft anbahnte, wobei ein dritter Mensch noch nicht störend war, sondern eher fördernd. Die beiden sprachen viel von moderner Literatur, lasen auch zuweilen etwas vor, und Armgard fand darin mehr Anregung, als in Julius von Höchheims heftigem Dozieren.

Plötzlich war das allgemeine Tischgespräch der »Federweiß«. Dieses Wort zauberte ein Lächeln auf alle Gesichter, rief Anspielungen hervor und wurde als kommendes, großes Stadtereignis betrachtet.

Julius von Höchheim, der sich den Tischplatz neben Frau von Arnim errungen hatte, erklärte ihr: »Es heißt eigentlich ›Federweißer‹ und bedeutet den in voller Gärung begriffenen Weinmost. Er wird jetzt ausgeschenkt, und Würzburg gerät in Taumel, liegt in den Armen des Bacchus und des Dionys. In allen Gasthäusern, in allen Weinwirtschaften wird der Federweiß ausgeschenkt. Es gibt kein altes Männlein, kein altes Weiblein, das noch laufen kann und nicht zum Federweiß geht.«

Man redete hin und her, Lust wurde rege, und endlich erklärte sich Frau von Arnim bereit, dies Nationalfest anzusehen.

»Inmitten Ihrer Garden«, rief der Kapellmeister guter Laune. »Meine Frau behauptet, sie wäre auch noch nie beim Federweiß gewesen.«

Er lachte laut: »Der Federweiß verzeiht alle Sünden. Ich hatt' einen Kameraden von fünfzehn Jahren, der verlobte sich beim Federweiß. Weinend erklärte er seiner Nachbarin seine ewige Liebe. Und, ach, leider war die Nachbarin seine sehr stattliche Tante aus der Provinz, die von da ab Würzburg als einen Ort tiefster Verderbnis betrachtete. Mein Kamerad behauptet aber heute noch, die Tante habe wie ein Engel ausgesehen und dabei einer Bacchantin geglichen. Also, gnädigste Frau, der Federweiß setzt rosige Brillen auf und vergoldet die ganze Welt. Wenn wir so um Feierabend gehen, ist der Augenblick, da der Federweiß noch allen Gestalten Anmut und Liebenswürdigkeit gibt. Eine spätere Stunde möchte ich nicht vorschlagen.«

Gewiß, ein Nationalfest wollte sich Armgard nicht entgehen lassen. Nun blieb nur die Wahl des Schauplatzes. Es schwirrte um den Tisch von Namen und Vorschlägen. Weinstuben, in denen es gebackene Fische gab, Bäckereien mit Weinausschank, und die Weinstuben ohne Beiwerk wurden eifrig genannt: Sankt Kilian, der Stachel, der Sandhof, das Krokodil, die drei Kronen, der Lochfischer, die Schiffbäuerin, der Johanniterbäck, der Brückenbäck, der Sternbäck, die Probierstuben im Juliusspital, im Bürgerspital, in der Hofkellerei.

Der Gymnasiast sehnte sich nach dem Ort, wo die meisten Studenten zu finden seien, Frau von Arnim nach dem volkstümlichen. So wählte man ein Lokal am Fluß.

Die Stadt war wirklich schon im Taumel. Singende Trupps von jungen Leuten zogen durch die Straßen, Studenten in bunten Mützen stellten ihre Korporationen heraus, Würzburgs junge Töchter eilten beschwingten Fußes, ineinander eingehakt, den Freuden zu.

In der Weinstube gelang es, noch einen Tisch zu finden. Walter von Höchheim saß neben Frau von Arnim, trank rüstig vom gärenden Most und wurde bald beredt.

»Die Verbindungen keilen schon«, berichtete er vertraulich. »Sehen Sie, gnädigste Frau, dort in der Fensternische den schönen jungen Mann? Er ist Rhenane, blau-weiß-rot, schöne Farben. Und Nassauer sind auch hier, blau-weiß-gold. Es gibt auch noch die Westfalen hier, grün-weiß-schwarz.«

»Korps natürlich?« fragte Armgard.

»Selbstverständlich Korps! Mein Bruder ist Westfale. Aber ich werde doch Mainländer werden, Mönane. Sie sind das älteste Korps hier, 1814 gegründet. Wissen Sie, gnädigste Frau, ein so altes Korps hat auch die größten Verbindungen. Und dann reizt mich der Name. Wir sind doch Mainländer! Und das Band ist wunderschön, grün-gold-rot!«

Sie lachte, stieß mit ihm an: »Die Mainländer leben!«

Ihr Blick streifte ihre Garde. Julius war aufgestanden, plauderte mit Bekannten. Die jungen Ehepaare waren noch in sich versunken, strahlten Flitterwochenglück aus.

Der Gymnasiast rief laut geheime Wünsche aus: »Wenn ich offen sein darf, gnädigste Frau, am liebsten ginge ich ja nach Heidelberg.«

»Wo Sie Ihr Herz verloren haben, Walter –«

»Pardon, das hat momentan alle Welt dort verloren! Nein, Saxoborusse möchte ich werden! Das ist Klasse. Grüne Mütze, weißer Stürmer – und Klasse, Klasse sans phrase!«

Armgard staunte. Bisher war dieser Jüngling Wandervogel gewesen, und nun ersehnte er das feudalste Korps? Sie sah in das weiche, blonde Gesicht, dachte, er ist ein lieber Bursche, der Schwester Julie etwas ähnlich. Da kam eine Erklärung: »Graf Worms ist doch Saxoborusse. Er trägt den Ring. Den hab' ich erkannt. Und er hat mir gesagt, wenn man wählen kann, muß man eine Elitetruppe wählen.« Walters Augen leuchteten. »Graf Worms war bei der baltischen Landeswehr zur Befreiung Rigas, zur Rettung des Baltikums für das Deutsche Reich, Ach, wenn ich damals im Kriege schon ein Mann gewesen wäre!«

Ist es der Wein, ist es Begeisterung? Wohl beides, dachte sie. Und vernahm: »Graf Worms ist ja kein Balte. Aber bei den Saxoborussen gab es Balten. So fühlte er sie als Brüder und zog mit zur Befreiung ihres Vaterlandes. Das ist schön! So will ich werden!«

Im Raum wurde es lärmend. Julius von Höchheim kam heran und mahnte zum Aufbruch.

Auf der Straße ergab sich, daß die echten Würzburger das Federweißglück noch nicht ausgekostet hatten.

Man trennte sich, und Julius von Höchheim bat, Frau von Arnim heimbegleiten, ihr den Abend Gesellschaft leisten zu dürfen.

Von den Türmen klangen die Glocken zum Angelus.

Wie schräg hingeweht blieben Weinselige stehen, bekreuzigten sich, murmelten Worte.

Rührende Stadt. Frohe, goldige Stadt.

Unter der Suggestion der Glocken war Armgard zu einer frommen Handlung geneigt. Sie würde gern einen Augenblick in den Dom getreten sein. Aber – nicht mit Julius von Höchheim.

Er sprudelte neue Eindrücke heraus beim Gang durch die Straßen. Der Genfer See – Chillon – Montreux – Sie hörte nur halb hin. In Julius schwang die Vorfreude auf einen Abend allein mit ihr.

Er wagte sich heraus und erzählte, viel lieber als nach Genf wäre er in die Kurmark gereist, also in die Gegend um Brandenburg. Denn er glaube, die norddeutsche Seele würde man wohl verknüpfen dürfen mit der norddeutschen Landschaft.

»Lächeln Sie nicht, gnädigste Frau, ich weiß wohl, daß Erkenntnisse auf seelischem Gebiet Dinge der Intuition sind. Doch der Wissenschaftler hält sich an nachweisliche Verbindungen.«

Sie erwiderte ein wenig unbedacht, daß norddeutsche Landschaft immer die Sehnsucht nach dem Süden erwecke. Er war geschmeichelt, gestattete sich lebhaftere Klangfarbe und Worte, redete davon, wie begeistert er sei, daß das Testament des sogenannten Onkels die gnädigste Frau in diese Stadt gebracht habe.

Laut und pathetisch begann er dann, die Kriegstaten seines Großvaters und Vaters zu rühmen. Er liebe das Wort »Schwertadel«. Er bedaure, daß die Zeit ihn selbst in andere Bahn gewiesen, so sehr er seinen Beruf liebe.

Sie fühlte, diesen Abend müßte sie sich mit der Geschichte der Höchheims befassen. Nicht zu leugnen, es war wirklich interessanter, als von Frau Kündingers ewigen Töchtern zu hören.

Im Erbhaus angelangt, eilte Julius auf sein Zimmer, den Anzug zu wechseln. Der Federweiß war ihm ein wenig zu Kopf gestiegen. Ob er heute abend einen Vorstoß wagte?

Sorgfältig frisiert, etwas parfümiert und in Erwartung, das »Spiel« würde beginnen, betrat er den kleinen Versammlungsraum vor dem Eßzimmer – und erbleichte. Denn da stand ein fremder Herr!

Ein guter Vierziger, groß und gedrungen von Gestalt, mit einem Gesicht, wie unter eine Eisenhaube passend, winzigem Schnurrbart über vollen Lippen, einer gewaltigen Hakennase, die sich auch zwischen Polsterwangen noch siegreich behauptete, und dunklen Flackeraugen unter hochgestellten Brauen. Dieser Kreuzfahrer im Ruhestand, wie Julius flüchtig dachte, trug einen gut geschneiderten Smokinganzug und schien unzweifelhaft ein Tischgast.

Er stand wie eine Bildsäule da.

»Von Höchheim«, sagte Julius unfroh.

»Von Bredow und Ladalinski«, kam es mit knapper Verbeugung zurück.

Julius dachte, gibt es denn das? Es wird einem ja ganz Fontanisch und Wilibald Alexisisch zumute.

»Gutsnachbar von Frau von Arnim«, sagte der märkische Herr erklärend und wandte sich behend, mit Gesten fröhlicher und enthusiastischer Ergebenheit ab: Frau von Arnim trat ein.

Julius sah ein wundervolles Abendkleid, grün mit Silber, sah ein halbvertrauliches Lächeln, merkte, dieser plötzlich erschienene Gast war schon begrüßt. Und der schöne, einsame Abend war zerronnen!

Man ging zu Tisch. Und Pein breitete sich über Julius von Höchheim.

Solche Erscheinungen wie Herr von Bredow und Ladalinski kannte er nur aus älteren Romanen. Begegnet war ihm diese Mischung von Landedelmann, Weltmann, Hofmann, preußischem Junker und polnischem Einschlag noch nie.

Alles an Herrn von Bredow und Ladalinski war Melodie zu alten Worten: Mein Herz der Dame, mein Schwert dem König. Er zog Julius von Höchheim ins Gespräch, gewiß. Und es geschah auf eine so vollendet liebenswürdige Weise, daß man gegen den Eindringling nicht anders als interessiert sich verhalten konnte.

Aber Herrn von Bredow und Ladalinskis polnische Feueraugen umschmeichelten unverhüllt Frau von Arnim, die er »allergnädigste Nachbarin« oder »Euer Liebden« oder »Eure Würzburger Hoheit« in quälendem Wechsel anredete.

Die seltsam Titulierte schien das angenehm zu empfinden und als wiedergekehrte, hübsche Gewohnheit.

Sie lachte, fragte nach hundert Dingen in der heimischen Landschaft, es schwirrte von Namen, an die sich kurze Mitteilungen knüpften: Alvenslebens waren verreist, Boddiens hatten einen Stammhalter, Wedels verheirateten die jüngste Tochter, Bülows bauten und so weiter.

Und Frau von Arnims Kinder –

Eifersucht befiel Julius. Der märkische Herr hatte Bildchen von ihnen aufgenommen, morgen würden sie vom Filmentwickler kommen – oder doch nächster Tage.

Wie, dieser Herr blieb auch nächste Tage?

»Ich muß diese Stadt, Ihre Heimatsstadt wohl, Herr von Höchheim, genau kennenlernen«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln. »Ich bin der Ambassadeur der gesamten Nachbarn unserer allergnädigsten Nachbarin, um zu ergründen, wie sie lebt. Über unserer Landschaft, Euer Liebden«, er wandte sich Armgard zu, als habe eine Königin ihn angeredet – »über unserer Landschaft weht eine schwarze Trauerfahne. Kein Wunder. Hier hingegen strahlt der Herbsthimmel in unermeßlicher Bläue. Aus guten Gründen. Wie einst über Reval der Danebrog vom Himmel herabfiel, so hat sich ein blaues Freudenbanner auf diese Stadt Würzburg gebreitet. Was zwingt mich, Euer Liebden, diesen glücklichen Ort zu meiden, fragte ich mich? Es könnte dies nur der Befehl der allergnädigsten Nachbarin.«

Er lächelte, seine Rede klang vertraulich, seine Gebärden waren von einer Julius bestürzenden Courtoisie und Reserve zugleich.

»Die Trauerfahne ist erschütternd, Exzellenz«, antwortete Armgard. »Aber ich hoffe, die weißen Tauben fliegen noch um den Turm von Schloß Bredow.«

Er neigte die Stirn, über der eisengrau der Schrägscheitel ansetzte. »Exzellenz? Nun, wie Euer Liebden befehlen. Ich muß weiße Tauben halten, denn das Wort, daß der Schwarze Adler bei den Bredows und Ladalinskis erblich sei, hat nicht so unrecht.«

Julius von Höchheim wurde unbehaglich. Exzellenz, Schwarzer-Adler-Orden?

Er fragte etwas ungesellschaftlich: »Wurde der Schwarze-Adler-Orden als Attribut einzelner Familien verliehen?«

In leiser Kühle die Antwort: »Meine Vorfahren waren Domherren von Brandenburg, nach Einführung der Reformation in Preußen eine Titularstellung. Die Könige von Preußen haben geruht, den jeweiligen Chef des Hauses von Bredow und Ladalinski zum Ordensritter des Schwarzen Adlers zu machen. Ich trage also ein Erbe, nicht ein Verdienst.«

Frau von Arnim warf ein: »Als Erbmarschall der Kurmark, als Johanniter und als Offizier haben Sie wohl –«

Er unterbrach sie: »Allzugütig, Gnädigste. Aber: suum cuique. Jetzt wahre ich Erinnerungen. Ein schmerzliches Gefühl. Wäre mehr von Ladalinskis als von Bredows in mir, so stünde es vielleicht anders. Aber ich bin zum politischen Abenteurer nicht geschaffen.«

»Es ist keine glückliche Zeit gewesen, als Warschau preußisch war«, antwortete Armgard und fragte nachdenklich: »Ist es uns Abkömmlingen alter Familien so sehr versagt, in neuen Verhältnissen wirksam zu sein? Muß der Adel, einst mit staatsbildenden Talenten und Kräften ausgestattet, vor einer neuen Konstellation, einer neuen Weltlage versagen? Oder ist es, daß er sich im Krieg so sehr erschöpft hat?«

Der märkische Herr bog mit einem Scherzwort aus: »Ich sehe unsere allergnädigste Nachbarin, wie sie eine neue, höchst unerwartete Konstellation, nämlich diese Mission in Würzburg, bewunderungswürdig meistert. Diese Frage wäre also beantwortet!«

Er lächelte, und Armgard wechselte das Gespräch. Sie fragte nach dem Sohn des Gastes.

»Woldemar? Er läßt sich Ihnen zu Füßen legen. Ich komme von seiner Hochzeit. Die kleine Rantzau ist's natürlich geworden. Da Woldemar erst zweiundzwanzig ist, studiert er in Berlin Landwirtschaft, und sie werden dort eine Fünfzimmerwohnung begründen. Ja, nun lebe ich ganz allein auf Bredow und soll mir eine Hausdame suchen, findet Woldemar. Das kommt mir vor, wie – pardon – als sollte ich nun in Lehnstühlen sitzen, ein Hauskäppchen tragen und im Rundfunk die Sonntagspredigten hören. Doch Sie verstehen wohl gar nicht, Allergnädigste: meine unternehmungslustige, fröhliche Mutter hat nämlich mit einer Freundin eine Weltreise angetreten.«

Julius dachte entgeistert: und er sitzt nun hier als Freier!

Der hoffnungsvolle Abend war ihm schwer gestört. Er fühlte, es war schicklich, sehr früh zu gehen. – – –

Die Großmutter war noch auf. Und zwar befanden sich die beiden jungen Ehepaare bei ihr. Julius saß als schweigender Raucher dabei und beobachtete. Wurde die Großmutter ein wenig schwach? Gudrunes Mann hatte das besondere Wohlgefallen der Großmutter errungen. Seine weiche Art, seine Schönheit schienen sie vergessen zu machen, daß er der Sohn vom alten Brückenbäck war. Die Großmutter lachte über seine Scherze, und es erregte ihr Wohlgefallen, daß dieser Mensch ohne jede Hemmung immer wieder beteuerte, welches Glück es für ihn sei, in eine so vornehme Familie gekommen zu sein. Gudrune schien rettungslos verliebt in den Bürger, Julie und der Kapellmeister waren die gehalteneren, aber auch die stille Freudigkeit an ihnen war Julius heute peinlich.

Er atmete auf, als sie fortgingen.

Die vornehme Großmutter sagte: »Bist du verstimmt, Julius? Lieber Himmel, die beiden Ehen lassen sich recht gut an. Menard bedeutet mehr als ich dachte, und Gudrune hat sich wenigstens die Fassade eines Lohengrin erwählt. Um diesen Magnus liegt wirklich etwas von der Poesie der Jugend.«

Julius war gereizt. Und sein durch das Dozieren so geübtes Aussprachebedürfnis brach durch. Er sagte zornig: »Ich habe eben einen Herrn von Bredow und Ladalinski kennengelernt. Fünfundvierzig ungefähr. Witwer mit verheiratetem Sohn. Erbmarschall der Kurmark, Ritter vom Schwarzen Adlerorden, Johanniter, Kriegsteilnehmer. Exzellenz obendrein. Dieses wohlkonservierte Juwel ist ein Gutsnachbar von Frau von Arnim und sitzt bei ihr. Hat die Allüren eines schon halberhörten Freiers!«

Die alte Baronin erblaßte, antwortete kurz: »Uradliges Taschenbuch, bitte.«

Julius ging und wählte im Bücherschrank aus der langen Reihe der vielen Jahrgänge Gothaischen Almanachs das Gewünschte, blätterte, reichte das aufgeschlagene Buch nebst der Lupe hinüber.

Die Baronin las, ward betroffen, zuckte die Schultern. Herrschaft Ladalinska in Polen durch Erbschaft, Namensführung bewilligt durch König Friedrich Wilhelm II., Bredows bester Uradel, Erbmarschälle der Kurmark, Johanniter, Oberstleutnant bei der Gardekavallerie, Schwarzer Adler, Pour le mérite, Exzellenz, alles stimmt! Aber – siebenundvierzig Jahre, mein Lieber! Du bist neunundzwanzig. Dir steht die heutige Welt offen, Herr von Bredow gehört der Vergangenheit an.«

Sie richtete plötzlich ihre Stielbrille auf Julius. »Hast du nicht mehr kühle Klugheit, bist du verliebt?«

Er antwortete nicht. –

In seinem Zimmer fand er den Brief eines Heidelberger Kollegen, der ihm vorschlug, er möchte sofort kommen und sich bei einigen Professoren vorstellen. Eine außerordentliche Professur für Geschichte sei an der Universität durch Berufung erledigt. Julius käme in Frage, er solle nicht zögern, herüberzufahren.

Sofort entschlossen, schrieb er ein Billett an Frau von Arnim, sich umständlich mit dieser Berufsreise für den nächsten Tag bei Tisch entschuldigend. Er hielt dies für wirkungsvoll. Denn es zeigte, er besaß eine Zukunft.

Die nächste Mittagstafel im Erbhaus war aufregend. Exzellenz von Bredow und Ladalinski riß Frau Kündinger zu Begeisterung hin. Sie hatte sich im Drang ihres Berufslebens ein wenig verspätet und war während der Suppe in Eile an ihren Platz geglitten. Da fiel nach einer Weile der Blick des märkischen Herren auf sie. Er wechselte einige Worte mit Frau von Arnim, stand auf, und auch sie erhob sich. Nicht ohne ein kleines Lächeln auf den Lippen. Gleich einer Prozession gingen die beiden die Tischseite entlang bis zu der erschrockenen Frau Kündinger. Und Armgard von Arnim, die unendlich Wohlerzogene, sprach: »Gestatten Sie, Frau Kündinger, daß ich Ihnen Seine Exzellenz den Herrn von Bredow und Ladalinski vorstelle.«

Aus Verlegenheit benahm sich Frau Kündinger wie eine Dame: sie blieb sitzen. Sie wandte nur das Gesicht und erblickte die herrliche Verbeugung dieser liebenswürdigen Exzellenz. Die Größe dieses Augenblicks ließ sie verstummen. – –

Aber die ganze Tafelrunde befand sich in gewissem Aufruhr. Niemand hatte noch je männliche Liebenswürdigkeit und Verbindlichkeit in solchem Höhepunkt erblickt. Mit Exzellenz von Bredow und Ladalinski war ein Strom von Welt und Formenkultur hereingeflutet. Armgard, die einesteils der Gäste wegen manches Gewohnte unterlassen hatte, glitt zurück in ihre Sphäre.

Es war wie ein Aufatmen in ihr, einmal wieder nur Dame zu sein, nicht eine ewig Besorgte um das Wohl von zwölf Zwangsgästen.

Als Julius von Höchheim am übernächsten Morgen sich dem Erbhaus näherte, begegnete er einer Reiterin, umgeben von zwei Herren im Sattel, es war Ferdinand von Höchheim, der mit Frau von Arnim und dem Exzellenzherrn ausritt.

Sie sahen ihn nicht. Sie waren alle drei froh und miteinander beschäftigt.

Woher hatte dieser vielbetitelte Fremde in aller Eile die schönen Reitpferde?

Julius versank in eine grimmige Verstimmung. – –

An diesem Nachmittag ging Ferdinand von Höchheim mit Luise Menard durch den Hofgarten. Es waren nur noch letzte Reste erstorbenen Laubes an den Bäumen. Letzter Herbstglanz. Sie schritten durch Eibengebüsch hinauf zu der Terrasse, angelegt auf einer alten Bastionsspitze, ihre Wachtürmchen noch tragend. Auch hier begrüßte Ferdinand von Höchheim Wagnersche Kinderfiguren, blieb flüchtig vor der Steinfigur mit einer Sonnenuhr stehen, ließ sich von seiner Begleiterin den Blick über die weiten in der Tiefe ruhenden Glacisanlagen erklären.

Luise Menard liebte die hohen, alten Rüstern dieses Gartenteils. Diese feierlichen und ewig bewegten, von einem Erschauern durchströmten Bäume waren ihr geheimnisvoll und anziehend.

Ferdinand von Höchheim lächelte, gedachte der Byronschen Vorliebe für diesen Baum der Seufzer, des Heimwehs und des Fernwehs.

»Man könnte in solchen melancholisch-süßen Parks wohl die Welt vergessen«, sagte er, »und nur seine Erinnerungen fühlen. Und doch suchen wir diese Gärten immer mit dem Wunsch nach dem Erlebnis auf. Sie müssen eine Szene Ihres Buches hier spielen lassen.«

Er stand an einem Baumstamm gelehnt, und Luise bemerkte zum erstenmal, daß er leidend aussah.

»Quält Sie die enge Stadt?« fragte sie impulsiv.

Er antwortete leise, daß er sehr schlechte Nachrichten von einem kranken Freund habe, der zu arm sei, nach dem Süden zu können.

Zu arm? Sie war sogleich entflammt. Und nun gingen sie, vertieft in ein Gespräch um ein Menschenschicksal, durch letzten Blätterfall über die stolze und schwermutvolle Terrasse – bis ein heiteres Wort sie aufschreckte.

Strahlend frisch, sichtlich von Erzählungen ihres Begleiters erheitert, war da Frau von Arnim mit dem märkischen Herrn.

»Ich fühle mich in Sanssouci«, rief er munter, »auf Ehre, ich begreife, daß Frau von Arnim sich in dieser Stadt gefällt. Bei uns herrscht das Vorurteil, man müsse Winter in Berlin verbringen. Und ich fühle mich jetzt schon auch als Teilnehmer an der wunderlichen Erbschaft: ich lerne die Schönheit einer alten Kulturstadt kennen, die im Herzen Deutschlands liegt. Um italienischen Barockstil kennenzulernen, glaubten wir Märker, wir müßten nach Italien fahren.«

Man tauschte Höflichkeiten. Frau von Arnim gab das Zeichen zur Trennung, indem sie sagte: »Es ist so hübsch, Sie beide gehen zu sehen. Ich sagte schon zu Exzellenz: hier wandeln die Kinder der Welt und die Erlauchten aus den ewigen Ländern der Literatur.« –

Es hatte auch Julius von Höchheim in den Park getrieben. Er wollte sich auf der Terrasse ergehen und nachdenken, mit welchen Gesprächsstoffen er heute abend einen Sieg des Geistes über die dekorative Exzellenz davontrüge. Erbleichend sah er die beiden Frauen im eifrigen Gespräch mit ihren Begleitern – und trat zurück –

Auf Frau Kündingers Seele brannte eine Erkenntnis: diesen über die Maßen vornehmen Herrn, der sie, Frau Kündinger, behandelte, wie man eine Adlige, ja und eine Jüngere nicht höflicher behandeln konnte, mußte Frau von Arnim erhören. Denn daß er ein Freier war, merkten doch wohl Blinde.

Von ihrem Laden her war Frau Kündinger das Aussprechen gewöhnt. Aber ihren Kunden lagen die Vorgänge im Erbhaus zu fern. So verkündete Frau Kündingers beredter Mund ihren Tischgenossen ihre Beobachtungen und Wünsche. Sie ward zur Trägerin des Gerüchts: wir stehen vor einer Verlobung. Denn ach, Frau Kündinger kannte doch auch Herren von Rang. Jene Persönlichkeit in der Drahtseilbahn zum Achensee war beispielsweise sicher ein Baron gewesen. Und an der »Daweldoo« in Kissingen saßen sogar Fürsten. Also: wenn ein Herr so überfloß von Liebenswürdigkeit und Wonne, so war er sicher schon ein heimlicher »Breidicham«, wie ihre Lippen das Wort formten.

Julius von Höchheim litt Pein in dieser sich ausbreitenden Atmosphäre der Erwartung. Seine Bemühungen, sich in den Vordergrund zu bringen, wurden hoffnungslos. Die Sache in Heidelberg hatte sich nicht verwirklicht, er blieb vorerst der arme Privatdozent. Die Großmutter hatte eine Einladung an Frau von Arnim erlassen und zum erstenmal eine Absage erhalten. Jeden Morgen ritten die Reiter aus, jeden Abend führte Exzellenz das Wort und bezauberte mit seinen funkelnden Polenaugen den ganzen Tisch. Es war unmöglich, sich neben ihm Geltung zu verschaffen. Da faßte Julius einen verzweifelten Entschluß.

Das Stadttheater nahm soeben seine Spielzeit wieder auf und versprach die modernsten und auch klassische Stücke. Julius verhandelte mit dem Direktor. Er wünschte eine baldigste Aufführung von »Romeo und Julia« zu erreichen. Frau von Arnim hatte gelegentlich ihre große Vorliebe dafür bekundet. Und Julius dachte: alles mag dieser herrliche Herr aus der Kurmark sein oder scheinen – ein Romeo aber sicher nicht. Mit siebenundvierzig Jahren geht das wirklich nicht mehr an.

Der Scharm der Jugend sollte Frau von Arnim nahegebracht werden. – – –

Ein Provinztheaterdirektor kann alles, wenn für die Vorstellung ein Zuschuß geleistet wird. Julius opferte Spargelder!

Und nun war er sehr beschäftigt. Die Vorstellung mußte bald sein. Er wohnte auch Proben an. Und als es so weit war, daß die Aufführung plakatiert wurde, kam er, Nervosität hinter künstlicher Frische verbergend, mit Billetts für die ganze Tafelrunde zu Tisch.

Es gab großes Erstaunen. Niemand hatte bisher Herrn von Höchheim als so freigebig gekannt.

Frau von Arnim lächelte ihm zu, sagte ein damenhaftes Wort von reizender Idee – und wurde dann wieder von ihrem Nachbar beschlagnahmt.

Zur Teestunde war Herr von Bredow und Ladalinski allein bei ihr.

Sie saßen in einem schönen Louis-seize-Salon, das Licht war abgeblendet hinter seidenen Schleiern, Bredow hatte eine ernstere Art, fragte plötzlich: »Wie lange muß denn dieses Theater sein, liebste Freundin? Bis zum Frühling? Großer Gott, ich sehe ja, Sie haben auch viel Spaß dabei, Armgard. Sie zeigen, ich kann auch das! Und warum auch nicht, Sie haben die Leute an der Kandare, und der alte Mesner oder Händler und die beredte Bürgerfrau sind fast Originale. Später wird die Sache eine Bereicherung Ihrer Memoiren. Aber –« er pausierte, ließ die dunklen Augen fest auf Armgard ruhen – »wann kommen Sie nach Bredow?«

Ihr wurde plötzlich bang. Sie hatte sich an den zehn Tagen seines Hierseins ehrlich gefreut. Er brachte die Luft der Heimat mit, die hundert Kleinigkeiten der Landschaft, der Bekannten.

Sie verstand die Frage sogleich und ganz. Und wurde ein wenig feige. Sie antwortete in gesucht leichtem Ton: »Nach Bredow kann ich erst im Frühling kommen. Da hat mein Vetter Worms die Miterben auf sein Gut zu übernehmen, wie ich schon erzählte. Ich gönne mir dann eine Pause.« Sie sprach ein wenig hastig, überstürzt, redete von ihren Kindern und ihrer Freude, wenn sie wieder über die Scholle von Arnimswalde gehen, die aufgebrochene Ackerkrume riechen würde.

Herr von Bredow und Ladalinski ließ sie sich in Worten erschöpfen. Dann fragte er ebenso bestimmt und intensiv wie vorhin: »Und wann kommen Sie nach Bredow?«

Sie lächelte ziellos, ihr schöner Teint wurde einen Schein blasser, die Farbe floß fast zusammen mit der lichten Seide ihres Kleides. »Wir haben doch ewige gute Nachbarschaft, lieber Freund. Das wissen Sie. Ich komme herüber, Sie zu besuchen, sobald ich wieder in Arnimswalde bin.«

Er war plötzlich neben ihr, hielt ihre Hände. Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht.

»Sie wissen, daß ich schon seit vielen Jahren warte, Armgard. Oh, sprechen Sie nichts, Liebste. Ich kann mich wohl noch mal zusammenreißen, wenn Sie befehlen. Sie stehen vor Aufgaben, vor Geschäften, Sie waren immer gewissenhaft, um des Erbes Ihrer Kinder willen spielen Sie hier dieses Erbschaftstheater mit. Eine bürgerliche Komödie, die Sie in eine Bildungssphäre heben.«

Er hielt ihre Hände fest, ein Sturm von Kraft überspielte sie. »Eines Tages, Liebste, Geliebteste, werfen Sie die Szene der bürgerlichen Komödie um und fliehen. Sie wissen dann, ich warte. In der Halle von Schloß Bredow hängen Eisenhauben aus der Zeit unserer Urgeschichte. In Schloß Bredow sammeln sich noch heute die Johanniter. In Schloß Bredow regiert der alte Spruch: suum cuique, und altpreußische Tradition. Sie kommen heim, liebste Armgard. Ich bin nicht mehr jung. Aber ich schwöre, daß ich es noch zwanzig Jahre lang aufnehme mit denen, die heute die Jahre der Jugend haben. Denn in mir ist auch das Blut der Ladalinski, und die Ladalinski sind alle wieder jung geworden durch ihre letzte, schönste und größte Liebe. Sie kommen im Frühling, und das ist ein liebes Wort. Sie wissen aber, daß Sie jeden Augenblick erwartet sind. La bienvenue pour toujours!«

Sie hatte ihn gekannt, als er ein junger Offizier gewesen war, sie ein Kind. Die Großmutter hatte oft dazu gelächelt, wenn Ladalinski (sie bevorzugte seinen melodiösen Namen) die Enkelin küßte.

Armgard von Arnim ließ es geschehen, daß seine Lippen ihre Stirne, ihr Haar suchten.

»Ich bin –« begann sie verwirrt.

Er unterbrach sie: »Nur ich bin an Sie gebunden, Armgard, ich weiß dies. Sagen Sie mir nichts mehr. Es ist absolut und allein meine Angelegenheit, wenn ich vergeblich warte. Aber – ich warte!«

Er küßte ihre Hände, ging, wandte sich an der Tür. »Nach dem Abendessen kommt ein Auto, ich werde all Ihren Statisten fröhlich Lebewohl sagen.«

Sie wußte, sie konnte sich auf seine Haltung verlassen. Sie blieb verwirrt zurück. Was hat mich gehindert, anders zu sein, fragte sie sich. Ist es, daß ich ihn gar zu genau kenne? Oder – – –

*

Julius von Höchheim war wie neubelebt. Während bei der übrigen Gesellschaft vermutet wurde, man habe diesen liebenswürdigen Herrn in Bälde wieder, war Julius überzeugt, daß der Träger so vieler Würden und Titel seinen Abschied bekommen hätte. Die alte Baronin strahlte! Sieg der Jugend! Wer ihren Enkelsohn kannte und seine Verehrung fühlte, handelte, wie Frau von Arnim unter Wahrung aller Form und Diskretion es getan. Sie eilte sofort in das Erbhaus, breitete alle Freundlichkeiten aus und erzählte so viele Wesenszüge von Armgards berühmter Großmutter, daß es wirkte, als sei sie eine gemeinsame Verwandte. Und dann machte sie auch eine kleine Indiskretion, die Julius, der gute Junge natürlich nicht erfahren durfte: da Frau von Arnim, die Jugendlichschöne, begreiflicherweise die ewig erschütternde Tragödie »Romeo und Julia« so liebe, habe der gute Junge die Aufführung veranlaßt. Und die Baronin ließ ihre Phantasie spielen und machte Julius von Höchheim zu einem Johann Wolfgang von Goethe, der jeden freien Augenblick daransetzte, mit den Komödianten zu proben, damit Frau von Arnim durch die Darstellung erfreut würde.

Armgard fand dies nun wirklich hübsch und apart.

Julius fühlte, sein Kurs stieg. Als Frau von Arnim ihn fragte, wie denn das auf den Proben vor sich ginge, spürte er, sie würde sich das gerne mal ansehen.

Er strahlte vor Freude. Auf dem Weg, der für die örtlichen Entfernungsmaße immerhin ansehnlich war, breitete er seine historischen Kenntnisse aus. Das Würzburger Theater wurde 1804 gegründet, und der Zuschauerraum war damals die Stiftskirche. Graf Julius von Soden, ein »Musenfreund«, hatte die Kirche dann zum »Kunsttempel« umbauen lassen.

Julius war munterster Laune, zitierte:

»Ihn trug die Kutsche, zog das Herz
Zu schönen Opern und Konzerts.«

»Und später«, fuhr er fort, »1833-34 wirkte Richard Wagner als Korrepetitor am Würzburger Theater.«

Sie streiften flüchtig das Wagner-Schicksal, erreichten das Theater verfrüht, es waren noch keine Schauspieler da. Dies machte Frau von Arnim gerade Spaß. Eine ältere Bedienstete schaltete Licht ein, Julius und Armgard gingen auf die verödete Bühne.

»Ach, hier möchte man agieren! Irgendwann hat man doch immer den Traum gehabt, eine Duse zu werden«, lachte sie. »Zum Beispiel, wenn man auf dem Lande, wo Scherze und Witze ein so langes Leben haben, Körners ›Gouvernante‹ aufführte.«

Julius ward angesteckt, deklamierte pathetisch: »Königin, das Leben ist doch schön!«

Sie lachte, eilte hinter die Kulissen, fand den Schnürboden und geriet in Begeisterung.

»Was ist das?« fragte sie den herbeieilenden Julius und zeigte auf ein Gewirr von alten Holzkoffern, Reisekörben, Sachen, Kisten, zwischen denen ein Kinderwagen und eine verpackte Nähmaschine aufragten.

»Es ist das Gepäck der Schauspieler, hier aufgestapelt, weil sie vielleicht noch nicht feste Quartiere haben.«

Sie wurde ausgelassen fröhlich. »Die Nähmaschine und der Kinderwagen –«

»Sind das Gepäck von Romeo und Julia«, vollendete Julius von Höchheim.

»Dem Himmel Dank, er schenkte uns die Illusion!«

Sie plauderten plötzlich wie alte Bekannte, Julius war beglückt und verliebt und sah freudvoll, sein Kurs nahm eine verheißungsvolle Wendung.


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