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Drittes Kapitel

Durch die Straßen von Würzburg ging ein vornehmer, ortsfremder Herr von vielleicht dreißig Jahren. Das Vornehme und das Fremde fiel einigen Personen auf, die er in großer Höflichkeit, in reinstem Hochdeutsch ansprach, mit der Bitte, ihm den Weg zum Schloß zu beschreiben. Der Herr war mit einem frühen Morgenzug angekommen, hatte im Hotel zum Weißen Schwan ein Zimmer für mehrere Tage bestellt, gefrühstückt und Würzburger Lokalblätter gelesen. Jetzt trieb ihn eine, wie es schien, ziellose Unruhe, sich Bewegung zu machen. Aber die Gassen mit ihrem morgendlichen Getriebe von Marktfrauen, Markthelfern, einholenden Hausfrauen und Dienstmädchen waren ihm zu beschwerlich. So strebte er über den ungeheueren, verödeten, unbequem gepflasterten Platz nach dem Schloß.

Merkwürdig, dachte er, daß ich dieses berühmte Schloß noch nicht kenne! Da lebe ich schon zwei Jahre in Darmstadt und bin nie hierhergekommen. Die alte Geschichte vom Guten, das so nahe liegt.

Der Herr durchschritt den Ehrenhof, das Vestibül, war angenehm berührt von der stolzen Pracht der Treppe und empfand aufrichtige Genugtuung, als er dann, einzeln geführt, wahrnehmen konnte, aus diesem einst fürstbischöflichen Palast war weder ein Tiefbauamt, noch ein Rathaus, noch eine Gewerbehalle gemacht worden: Schicksale anderer Schlösser, die er liebhatte.

»Mitglieder des Königlichen Hauses haben hier selten gewohnt?« fragte er den Erklärer der Räume.

Es kam ein Bericht von kargen Aufenthalten für Stunden oder Halbtage.

»Seine Königliche Hoheit der Prinzregent waren hier geboren.«

Der Fremde lächelte leicht. »Ja, ja, der alte Herr. Würde sich freuen, daß sein Schloß so schön gepflegt ist.«

Die Bemerkung löste in dem Führer Gefühle aus. »Haben der Herr den Prinzregenten gekannt? Ja? Das freut mich. Ich hab' oft Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen, als Wachtmeister in seinem Regiment, Erstes Feldartillerie. Wenn der Prinzregent noch gelebt hätt', wär's in München anders gangen.«

Den Fremden berührte dieser Ausdruck sympathisch. Ein freundlicher Blick ermunterte zu weiteren Kundgebungen. Der frühere Wachtmeister, ein rotblonder frischer Sechziger, blieb stehen und sagte: »Man hat den alten Herrn verehren müssen. Aber mein Ideal ist unser König Ludwig II. gewesen. Is es noch heit, wenn man den g'sehen hat, dann hat mer g'wißt, was ein König ist. So groß, so schön, so majestätisch. Da hat man es begreifen g'lernt, was ein Ausnahmemensch is und daß eine solche Persönlichkeit auch ein einsamer Mensch sein muß. Da haben die Leit rösoniert, daß er sich Separatvorstellungen im Hoftheater halten hat lassen. Ich war oft dabei, so unter die Statisten, beim Lohengrin zum Beispiel. Das is für den König kein Theaterstück, das is ihm alles Wirklichkeit gewesen. Das hat er erlebt. Und dabei sollt er sich, der König, von tausend Gaffern anglotzen lassen?«

Der fremde Herr bedachte, ob er mit Zigaretten versehen sei, diesem Erzähler eine Gegengabe reichen zu können.

»Das Hoftheater war doch sein Theater, und jeder Privatmann kann sich in seinem Zimmer allein was auf dem Klavier oder der Zither vorspielen lassen und braucht niemand einzuladen, wenn er nicht sehen lassen will, daß die Musik ihn angreift. Und es hat ihn angegriffen.«

»War er wirklich so sensibel?« fragte der Fremde etwas unbeholfen.

»Wie sagens? Sensibel? Heißt man das so? Na, ich weiß, der König hat das alles erlebt, nicht wie g'spielt, wie Wirklichkeit. Da kann ich was erzählen! Damals bin ich aushilfsweise königlicher Lakai gewesen. Da war die Maria Stuart im Theater. Da hat sich mitten in der Nacht Seine Majestät die Theatinerkirche aufsperren lassen, ist zum Hochaltar gangen, hat sich hingekniet und für das Seelenheil der schönen Sünderin gebet'.«

Der fremde Herr versicherte, daß ihm diese Erzählungen lieb und interessant seien. Doch nun wurde der Führung ein Trupp neuer Ankömmlinge nachgesandt, und so mußten die vertraulichen Mitteilungen aufhören.

Der Fremde dachte, wunderlich, das erste, was ich in dieser Stadt höre, sind verschollene Geschichten von einem Märchenkönig. Werde ich vielleicht hier ein Märchen erleben?

Er war sich selbst ein völliges Rätsel in dieser Stadt: geladen zur Testamentseröffnung eines ihm völlig unbekannten Mannes.

Graf Wedig Worms brauchte nicht die verzweigten Stammbäume seiner väterlichen und mütterlichen Familie hervorzusuchen. Er kannte sie genau und wußte, niemals war eine Heirat mit jemand namens Höchheim gewesen. Die einzige Vermutung blieb ihm, daß ein in Vergessenheit geratenes Geldgeschäft, also eine Begleichung von Vater oder Großvater aus, von diesem Professor Höchheim testamentarisch zurückerstattet werden könnte.

Aber warum, wenn dergleichen vorlag, geschah es auf einem so eigentümlichen Weg?

Graf Worms sah sich im Spiegelsaal des Schlosses, bemerkte die Malergruppe. Er lächelte melancholisch, dachte daran, wieviel Förderung und Teilnahme die Maler in Darmstadt durch den Großherzog Ernst Ludwig gefunden hatten, und daß der Großherzog jetzt außerstande war, noch dergleichen zu tun.

Graf Worms hatte eine kleine Stellung in Darmstadt, sie war nicht betitelt, nicht fest umrissen, hatte die Funktionen eines Hofchefs, Privatsekretärs oder auch Gesellschafters. Aus jüngsten Jahren her trug er noch die Würde eines Kammerjunkers. Königlicher Leutnant a. D. und Kammerjunker a. D.

Ein Fossil, dachte er spöttisch. – –

Professor Holtzendorff sprach laut und deutlich etwas von Menschen, die sich für durchsichtig halten. Der Graf merkte, er hatte sich ins Gesichtsfeld des Malers verirrt. Höflich griff er an seinen Hut und verzog sich.

»Mein Gott, es war nicht unfreundlich gemeint«, klang ihm nach. »Wir haben eben Modell. Laufens ihm nach, Abbate, der ist am End' ein Prinz, und wenn nicht, wär' er ein Modell. Fragens.«

Magnus Frank eilte. Es war nicht sein Ehrgeiz, den ganzen September lang draußen in Veitshöchheim für schwermütige oder lustige Gartenkavaliere Modell zu stehen.

Er näherte sich mit flatternder Soutane dem Grafen. »Verzeihen Sie mein Herr, Professor Holtzendorff, ein berühmter Maler aus Dresden, würde Sie gerne einen Augenblick sprechen. Ich bin auch kein Berufsmodell, gestatten, Doktor Frank.«

In fremden Städten ist man bereit, Reiseerinnerungen zu sammeln. Graf Worms dachte, den Großherzog mit der Erzählung zu erfreuen, daß er sich in Würzburg Verdienst durch Modellstehen hätte verschaffen können.

Er kehrte mit in den Spiegelsaal zurück.

Holtzendorff stand auf, lächelte, nannte seinen Namen. »Entschuldigens nur, Herr, mit wem hab' ich das Vergnügen – Worms – gehorsamer Diener – also, ich bin ein Maler, wie Sie sehen –«

Er starrte den Fremden an. Der war ja das reine Ahnenbild aus der Zeit des van der Werff, des Largillière, eine Allongeperücke dazu, Kostüm, und ein köstlicher Fund für ein Bild würde sich ergeben.

Holtzendorff vollendete seine Rede: »Wissens, mein Herr, wenn man ein Profil hat wie Sie, wandelt man nicht ungestraft unter Malern. Würdens mir net eine Skizze erlauben? Eine für mich, eine für Sie selbst?«

Graf Worms verbeugte sich leicht: »Ich bin nur kurz in der Stadt –«

»Wenn sonst keine Hinderung ist – eine Stunde, zwei Stunden, nur eine Rötelskizze, vielleicht im Hotel bei mir, im Schwan. Darf ich Sie übrigens den Damen vorstellen.«

Gudrune merkte nicht, daß ihr Name Sensation machte. Sie wußte nicht, daß um des Namens willen der Fremde den Vorschlag Holtzendorffs nicht gerade ablehnte.

»Ich wohne auch im Schwan, da sieht man sich noch.«

Graf Worms enteilte dem Schloß. Er hatte sich beim Notar telegraphisch für die zwölfte Stunde angesagt. Der Notar wußte vermutlich, welche Bewandtnis es mit dieser Zitation hatte. Natürlich, wie vermutet, würde es sich um Rückgabe einer kleinen, vergessenen Schuld handeln. Und dort, im Schloß, saß wohl die Erbin. Warum diese hübsche, grazile, junge Dame so eifrig malte, wenn sie doch eine Erbin war?

Notar Wieprecht, ein eleganter Fünfziger, dessen ganze Art den einstmaligen Korpsstudenten ausdrückte, bedauerte, daß er gar keine Auskunft geben könne. Das Testament sei unter dem Rechtsbeistand seines verstorbenen Amtsvorgängers gemacht und läge, verschlossen und versiegelt und äußerst umfangreich, sozusagen ein ganzes Paket, hier im feuersicheren Schrank des Notariats. Die Eröffnung sei, wie bekannt, übermorgen.

»Wenn ich Ihre Zeit noch einige Minuten beanspruchen darf, würde ich gerne erfahren, um welche Nachlaßobjekte es sich denn handelt«, sagte Graf Worms höflich.

Der Notar bat zu einem Glase Wein in sein Wohnzimmer. Ein Erbe, der nicht ahnte, wieso oder warum er ein Erbe war? Interessanter Fall!

Der Notar breitete in angeregten Worten die Reichtümer des toten Professors aus: Vermögen, das die Steuer mehr als decke. Ein Wohnhaus mit parkartigem Garten, nun ein Haus mit etwa dreißig Zimmern, schönster Bibliothek und teils historischen Möbeln und Gemälden. Ein Gutshof, Dreiviertelstunden vor der Stadt auf einem anmutigen Hügel gelegen, schönes, geräumiges Herrenhaus, gute Gebäude, vierhundert Morgen Weinberg, Ackerland, auch Wald. Dazu vierzehn Erben.

»Also eine Zertrümmerung dieses reichen Besitzes?«

»Man weiß es nicht, vielleicht ergibt sich auch, daß die Liegenschaften an die Stadt kommen und sie den Erben Geldauszahlungen zu machen hat.«

Über das kluge, bartlose Gesicht des Notars glitt ein kleines Lächeln.

»Jedenfalls sieht man dieser Testamentseröffnung allerseits mit größter Spannung entgegen. Nach meiner persönlichen Meinung ist wohl der Privatdozent Dr. Julius von Höchheim einigermaßen im Bilde. Ich würde Ihnen raten, Herr Graf, dort Besuch zu machen. Die Erben werden wahrscheinlich sich über manches auseinanderzusetzen haben.« – – –

Die Baronin Luckner legte ihre kleinen Patiencekarten. Immer eifriger, immer heftiger. Ungeduld hatte sie erfaßt. Sie wollte wissen, wie es mit der Erbschaft ausfiele. Ob die Enkelinnen große Partien würden, ob Julius der Haupterbe war, ob der junge Walter vielleicht den Gutshof bekäme.

Die Enkelkinder ließen die Großmutter jetzt viel allein! Aber sie begriff! Sie verstand ja immer die Jugend. Keines wollte so ganz seine Spannung zeigen, jedes versuchte Haltung und Gleichmut zu bewahren. Und jedes trug seine Unruhe außer Haus, zur Arbeit, auf Spazierwege. Begreiflich, sehr begreiflich.

Das Mädchen kam und brachte eine Besuchskarte.

Der Herr habe zwar nach Herrn Dr. von Höchheim gefragt, aber gnädige Frau Baronin nähme vielleicht an.

Die Hornbrille trat in Tätigkeit.

Wedig Graf Worms.
Kgl. Preußischer Leutnant a. D.
Vormals Kammerjunker S. K. H. des Großherzogs von
Hessen und bei Rhein.

Die Hornbrille sank. Großer Gott, dies mußte ein mutiger Mann sein! Die alte Dame verstand die Jugend! Ihre Enkelin Gudrune las »Die Menschheit« und rechnete mit ewigem Frieden. Ihr Enkel Walter rechnete mit Befreiungskriegen. Julie wählte Deutschnational, und Julius sprach sich nicht deutlich aus, denn man hatte doch nun mal die Republik.

Aber ein Herr, der sich ohne Scheu in dieser Zeit Kammerjunker nannte? Das war ordentlich rührend.

»Ich lasse bitten«, rief die alte Dame erregt.

Ein paar Minuten später dachte sie: der Mann hat recht. Mit diesem Gesicht kann man sich Kammerjunker nennen. Ein Ahnenbild ist von der Wand gestiegen und hat sich verkleidet in einen Herren dieser Zeit. Gewiß, es gibt viel kühne Gesichter jetzt in der Welt. Aber so, wie dieser Graf Worms hatten die Kavaliere an Barockhöfen ausgesehen: die Züge wie gestreckt in Hochmut, die Nase mit einem kleinen, vornehmen Haken, der Mund sehr rot und etwas indolent. Dazu Hände, überschmal, langgegliedert, geschaffen für das Florett.

Graf Worms sprach, es sei zu gütig, daß ihn die gnädigste Baronin empfangen habe, er sei fremd in der Stadt und vom Notar an Dr. von Höchheim gewiesen.

»Vom Notar?« – Ja, gewiß. Wegen der unerklärlichen Aufforderung, einer Testamentseröffnung beizuwohnen.

Die Baronin war mit ihrem Gatten, dem Gesandten, an vielen deutschen und kleineren ausländischen Höfen gewesen. Sie hatte es durch ein langes Leben geübt, jeder Mitteilung, ob sie erfreute oder ärgerte, ein wesenloses Lächeln entgegenzubringen. Ein Miterbe! Eine Fatalität! Die Möglichkeit, daß Hoffnungen zerrannen, oder die Möglichkeit einer Chance!

»Ist es denkbar, wir wüßten nichts von Ihrer Verwandtschaft mit dem Erblasser? Freilich, ich habe den Professor nicht gekannt, ich wohne noch nicht lange in Würzburg bei meinen Enkeln. Worms? Worms? Eine Tochter der schönen Editha Gräfin Kronberg hat einen Grafen Worms geheiratet – er war Witwer, hatte schon einen Sohn aus erster Ehe, begütert im Hannöverschen, früher Leutnant im Ersten Garderegiment –« erinnerte sie sich.

»Mein Vater, gnädigste Baronin.«

Sie flammte auf. »Jetzt weiß ich natürlich, warum Ihr Profil mir so seltsam auffiel. Sie gleichen ein wenig Ihrer Großmutter! Mein Gott, man verlor sich aus den Augen. Sie lebte viel auf Rügen, weil sie das Klima in Schlesien nicht vertrug oder wie es sonst zusammenhing. Und wir waren auf dem Balkan, in Holland –«

Die Baronin unterbrach sich. Sie wollte wissen, wie es um den »Kammerjunker« stand. War unter dem Wappenring auch ein Ehering? Ach, die Stilbrille lag abseits.

»Ihre Eltern, das heißt, ich kenne ja nur Ihre Gräfin Mutter –«

»Meine Eltern sind lange tot. Sehr bald nach Großmama gestorben. Mein Bruder bewirtschaftet das Gut. Ich selbst, wenn ich das erwähnen darf, Baronin, habe mich etwas auf Universitäten umgesehen und bin jetzt, ehe man wieder andere Pläne ausführen kann, im persönlichen Dienst des Großherzogs von Hessen. Es ist doch, durch die veränderten Verhältnisse, da nun manches zu tun noch mit Verwaltungsdingen.«

Die Baronin tat eine kühne Frage.

»Sind Sie vielleicht durch Ihre Gattin mit dem Professor Höchheim verwandt?«

Der Graf antwortete mit seiner leisen, sehr reinen Stimme: »Ich bin Junggeselle, und nirgends in unsern Familienpapieren findet sich der Name Höchheim. Auch nicht in den alten Briefen, die von meinen Eltern her aufbewahrt sind, ist ein Absender dieses Namens.«

Die Baronin lächelte verbindlich.

»Also eine sehr spannende Angelegenheit. Aber wie reizend, daß sie mir die Freude bringt, den Großsohn meiner so lieben, nie vergessenen Jugendbekannten kennenzulernen. Meine Enkel sind heute alle außer Haus. Mögen Sie morgen den Abend bei uns verbringen, Graf Worms? Mein Enkel Julius wird morgen Ihren Besuch erwidern. Wo sind Sie abgestiegen?« –

Die Patiencekarten ruhten. Der Mittagsschlaf der alten Dame kam nicht zu seinem Recht. Sie hielt in zitternden Händen das Taschenbuch der gräflichen Häuser und las, was über Wedig Graf Worms und seine Sippe zu lesen war. Er mußte an dieses Haus gefesselt werden!

Und großmütterliche Phantasie sah in ihm ein heraufziehendes, herrliches Gestirn: Den Freund von Julius! Den Verehrer, Begehrer, den Verlobten, den Gatten von – ja, von Julie oder von Gudrune??

Von Gudrune – sicher von Gudrune.

Sie war die apartere, die aristokratischere Erscheinung! Worauf Kammerjunker Wert legen!

Die Baronin versank in diesen Gedanken, erfaßt von der Unruhe des Alters. Diese Tage vor der Testamentseröffnung mußten genützt werden. Denn sie waren voll von schwebenden Dingen, von Chance, konnten die Tore zu tausend Möglichkeiten erschließen.

Was bedeuteten jetzt die Kinder ihrer beiden Töchter? Nun – Herabkömmlinge! Geldverdienende, Arbeitende. Früher hieß adlig geboren sein: dem König dienen, standesgemäß zu heiraten, Hof- oder Stiftsdame zu werden, wenn man nicht als Erbtante eine gefeierte Stellung einnehmen konnte. Jetzt – o wie bitter verstand die Baronin die heutige Jugend – jetzt hieß es, einen Beruf ergreifen, sich mit Konkurrenz herumschlagen, bürgerliche Menschen als Vorgesetzte zu dulden. Die Baronin seufzte. In ihrer Jugend hatte man vielleicht zu spitz gelächelt über Emporkömmlinge, und es war Rache des Schicksals, daß man nun seine Enkel wirtschaftlich zu den Herabkömmlingen rechnen mußte. Es nagt am ererbten Stolz. Man zeigt es nicht. Man spricht vom »Allgemeinschicksal«, nimmt den Kampf auf und sagt: ich verstehe die Jugend – –

Wo blieb nur Julius? Es wurde schon Teezeit. Und niemand kam nach Hause. War Julius doch dabei, einen klugen Weg zu beschreiten?

 

»Ist dies der sorglose Tag?« fragte sich Julius von Höchheim. »Hätte ich es nicht geschickter, besser einrichten können?«

Er wanderte durch die mittelalterlichen Gassen, Gäßchen, Torwege, Wallgänge von Rothenburg ob der Tauber.

Mit Menards. Mit beiden Menards!

*

Das war alles recht schön, aber wie beseitigte man den Bruder? Diesen Arglosen, Rechtschaffenen, Nichtsahnenden?

Gestern abend hatte er Luise Menard nicht geküßt. Der gute Kapellmeister, ein Hüter der Ordnung, war nicht gewankt, nicht gewichen. Nur ein Erfreuliches kam von ihm: er erzählte vergnüglich den von den Geschwistern geplanten, heutigen Ausflug nach Rothenburg. Die gemeinsame Verabredung hatte sich leicht ergeben.

Nun wandelte man hier im Sonnenbrand, besah altes Gemäuer. Immer zu Dreien. Unerbittlich zu Dreien. Der Kapellmeister wischte sich oft die Stirne. Er war eine Spur asthmatisch. Vielleicht kommt das vom Orgelspiel, dachte Julius und besann sich, konnte man diesen Kilian nicht auf eine Orgel setzen? In der Jakobskirche zum Beispiel. Er versuchte erneut, ein Augeneinverständnis mit Luise zu gewinnen. Aber sie ging, das aparte Profil geradeaus gerichtet, so kühl, schlank, damenhaft anzusehen wie die interessierteste Fremde durch die Aufhäufung von Sehenswürdigkeiten, die sich doch hier in Rothenburg von selbst verstanden. Nannte sie das einen sorglosen Tag?

Der Kapellmeister blieb in einer winkeligen Gasse stehen. »Ich gehe so gern nach Rothenburg«, sagte er und lockerte dabei mit zwei Fingern seinen schon sehr weiten, weichen Hemdkragen, »weil man sich hier so reich und frei fühlt. Denn schaun's nur, Herr von Höchheim, schaun's einmal diese altberühmten Häusel an! Fünf Meter breit oder sechs, wenn es hoch kommt. Ein Erkerlein dran, ein hohes Giebeldach. Die Wände hart am Nachbar, kein Garten, kaum ein Hofraum nach hinten. Da sagt man sich: in wieviel Luft und Raum können wir heute leben. Und wie frei können wir unsere Meinung sagen. Nun, so ein mittelalterliches Städtebild freut zwar das Auge, aber man dankt doch Gott, daß man nicht in Häusern wohnen muß, wo einem die Balken dicht überm Haar stehen, und jedes Zimmer, wer weiß wie oft schon, ein Sterbezimmer war!«

Julius von Höchheim lachte aus Höflichkeit. Und zugleich kam ihm eine Idee.

»Wir wollen doch versuchen, in den berühmten von Staudtschen Garten einzudringen. Sie wissen, er liegt breit und schön am Südabhang nach dem Taubertal.«

»Ist verschlossen«, antwortete Menard. »Da müßte man Besuch machen und höflichst um Erlaubnis bitten. Nein, wenn ich offen sein darf, über Mauern steig' ich nimmer, und aus einem fremden Garten laß ich mich nicht hinausweisen. Ehrlich gestanden, mir ist es mehr nach einem Wirtshausgarten zumute. Aber dahin kann ich ja auch allein gehen.«

Guter Kilian, endlich hast du begriffen!

Rasch sagte Julius von Höchheim: »Sie sollen nicht zum Märtyrer werden! Behüte, nein, tragen Sie doch schon den Namen des großen Märtyrers unserer Stadt Würzburg, Ihr Geschick sei anders! Aber ich möchte Fräulein Luise so gern die wundervollen Obstbäume im Staudtschen Garten zeigen, wenn es auf das Abenteuer eines Schrittes über Weinbergmäuerchen nicht ankommt.«

Sie lachte. Ein vermauerter Garten, in den man eindringt? Das war eine jugendliche Unternehmung und hatte Reiz. Luise gab ihre Antwort, indem sie sagte: »Wir treffen uns zum Abendessen im alten Hotel auf der Veranda mit dem Blick ins Taubertal, nicht wahr?«

Menard sah ihnen nach, rief plötzlich: »Oder am Bahnhof. Bin ich nicht im Hotel, so habe ich noch Besuch bei meinem Bekannten, dem Stadtkantor, gemacht.«

Menard blinzelte in die Sonne. Was könnte der Höchheim von Luise wollen? Etwas Ernsthaftes? Er stieß den dicken, modischen Stock aufs Pflaster. Nun, warum sollten die beiden nicht eine Gartenpartie miteinander machen? Vielleicht kam dabei heraus, daß Luise die Höchheims einladen konnte – –

Julius und Luise schritten rasch aus, als fühlten sie noch Blicke im Rücken. Er nahm den Rhythmus ihres Gehens an, ward beschwingt, lachte: »Man tut dergleichen immer nur an einem fremden Ort. In Würzburg gäbe es genug Weinbergmauern.«

Er plauderte in seiner überstürzten Weise allerlei heraus: von Weinbergsmauern am Genfer See, am Thuner See, um Heidelberg.

Sie schwieg still dazu, empfand, er war verlegen, war vielleicht dem – Abenteuer, das er suchte, nicht gewachsen. Das gab ihr eine kleine Melancholie. Ein Hauch alter Tage wehte herüber, in denen sie sich gesehnt hatte, mit ihm zu sprechen, aber ihn für zu hochmütig, verschlossen, ganz von andern Dingen erfüllt, empfand.

Ja, Melancholie kam. Wäre sie damals nicht so schüchtern gewesen –

Sie hörte nur halb auf seine Reiseerzählungen hin. Die Erinnerung an ihre alte Schüchternheit reizte sie. Schüchternheit ist das Wissen von falscher Wirkung. Oder: Schüchternheit heißt, nicht den Mut zu der eigenen Ausdrucksfähigkeit zu haben, weil der eigene Geschmack oder das eigene Streben schon über ihr steht. Sie fühlte plötzlich, sie mußte in Höchheims Nähe noch heute gegen ein vormaliges Selbst ankämpfen. Weder sie, noch ihr Bruder waren noch die an kleinstädtischen Manieren leidenden Halbwüchsigen von einst. Sie hatten längst den Schritt in geistige und gesellschaftliche Freiheit getan und waren auch als Persönlichkeiten da, wohin sie als Intellektuelle gehörten.

Dieser Spaziergang kommt zu spät, dachte sie – und schalt sich zugleich: habe ich denn auch heute noch nicht die Fähigkeit, einen Augenblick, eine Stunde zu genießen?

»Da ist nun die Mauer des Staudtschen Gartens.«

Sie tat ihm den Gefallen, überrascht zu sein, blieb stehen, maß den langen Gürtelweg an der Freiung und fragte: »Über diese Mauer hinweg soll es gehen?«

»Wir werden schon Glück haben«, lachte Höchheim. Federte seinen Schritt. Und wirklich, es fand sich eine Tür offen. Es fand sich ein Gärtnerbursche, gefällig für ein Trinkgeld.

»Wir kommen von so weit her, bloß wegen dem berühmten Garten.«

»Die Herrschaft ist verreist.«

»Und wann schließen Sie die Tür ab?«

»Um sechs Uhr!«

Also zwei Stunden Zeit. Es ging treppabwärts. Über schöne Terrassen mit Spalierobst, über steile Grashalden, Mäuerchen kamen, aus denen Löwenmaul wucherte im Feuer blutroter Blüten.

»Hier ist der Blick so schön auf den Taubergrund. Mögen Sie hier sitzen?«

Besonnter Stein, besonnte Grasnarbe. Blauflimmernde Ferne, was wird nun sein? Luise kam ein halb spöttisches Lächeln. Er sah es, wurde heftig, starrte sie an: »Tragen Sie es mir nach, daß ich Sie erst seit ein paar Tagen kenne? Wissen Sie nicht, daß Sie sich auch verändert haben? Ich sah Sie im Hofgarten und wußte plötzlich, Sie denken an dasselbe wie ich, an den sorglosen Tag –«

Er beugte sich rasch zu ihr herüber, nahm mit heftiger Gebärde ihre Hände, zitterte bei der Berührung und ließ sein Gesicht auf ihre Hände fallen – – –

Graf Worms kam von der Besichtigung des Gutshofes, der zur Erbmasse gehörte, wieder der Stadt zu. Die Abenddämmerung begann, vom Main herauf drang leise Kühle. Graf Worms blieb auf der alten Brücke stehen, sah auf den schimmernden Fluß, dachte, es sei schön zu reisen.

Hinter ihm zogen junge Leute, Gymnasiasten wohl, vorüber, sangen in unsicherer Harmonikabegleitung:

»Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren
In einer lauen, wunderschönen Sommernacht,
Ich war verliebt bis über beide Ohren,
Und wie ein Röslein hat ihr holder Mund gelacht –«

Graf Worms lächelte, so ein Singsang frischt immer an.

Plötzlich setzte Geläut ein. Von den Türmen der Kirchen klangen die Glocken zum Angelus, überschwebten die Stadt, überschwebten den Strom, warfen Stille über die Menschen.

In den Schritt des Grafen kam Hast. Er lief dem Geläut entgegen. Er wußte instinktiv, diese dunklen, schweren Töne von unerhörter Machtfülle mußten von den Domglocken kommen.

Er erreichte das Hauptportal, sah es offen, sah vereinzelte Beter in dem dämmernden, hohen, prunkvollen Raum und schritt an Säulen vorüber, dem ewigen Licht vor dem großen Altar zu.

Eine Dame verließ eben auf gleichem Wege den Raum. Wedig Worms bemerkte sie erst, als sie schon an ihm vorüber war, hemmte jäh den Schritt, wandte sich. Täuschte ihn eine Ähnlichkeit? Mein Gott, er hatte ja Armgard seit so vielen Jahren nicht gesehen, und was sollte sie hier?

Er eilte der Dame nach. Es kamen ihr Menschen entgegen, sie trat für einen Augenblick in eine Gestühlreihe ein, fiel trotz des vagen Lichtes auf durch die Größe und Schlankheit ihrer Gestalt und durch ihr helles Haar.

Der Graf zögerte. Er konnte das Gesicht nicht sehen. Er mußte also versuchen, an ihr vorüber zu gehen und sich dann zu wenden.

Bis er dies bewerkstelligte, war die Dame in der großen Dunkelheit der Portalhalle verschwunden.

Wedig Worms stürzte auf die Straße. Sein Blick überflog Wege nach rechts und links. Er glaubte die Entschwundene zu erblicken, lief vorwärts und geriet in den Trupp junger Leute, die er schon auf der Mainbrücke gesehen. Sie jubelten erneut, daß sie ihr Herz in Heidelberg verloren.

Als Graf Worms die Sänger hinter sich hatte, war die Gestalt aus dem Dom nicht mehr zu sehen. –

Wie verbringt man einen Abend in Würzburg?

Graf Worms zog in seinem Zimmer den gedruckten Führer zu Rate. Er las, daß es im Sommer hier zeitweilig eine Lustspielbühne gäbe und wurde unterrichtet, wie viele Lichtspielhäuser vorhanden waren. Sie lockten ihn nicht. Er überflog die Namen der Weinstuben, lächelte flüchtig über ihren hübschen ortseigentümlichen Klang: sollte er zur Schiffbäuerin in der Kleinen Katzengasse oder zu Sankt Kilian in der Kapuzinergasse, zum Lochfischer, zum Brückenbäck, zum Sternbäck? Oder ins Juliusspital, ins Bürgerspital?

Der Zimmerkellner entschied, indem er die Abendkarte des Hotels brachte.

Graf Worms ging lautlos über den teppichbelegten Korridor zur Treppe. Ein gleich stiller Schritt kam vom Hauptflügel des Hauses her. Worms sah eine hohe, schlanke Gestalt, abendlich gekleidet, Pelz über den Schultern, fast silberblondes, schimmerndes Haar.

Die Dame aus dem Dom, durchzuckte es ihn, und im nächsten Augenblick wußte er: es ist Armgard!

Befangenheit überrieselte ihn. Er trat zur Seite, verbeugte sich, dachte, großer Gott, ist es ihr unangenehm, mich zu treffen, sagte halblaut: »Welche Überraschung, Armgard! Ich glaubte schon im Dom, dich gesehen zu haben.«

Eine Sekunde Zögern von der andern Seite. Dann mit heller, kühler Stimme: »Vetter Wedig? Ja, das ist wirklich eine Überraschung.«

Sie streckte ihm die schmale Hand entgegen. Er küßte sie förmlich, flüchtig, fragte gedeckten Tones, ob sie erlaube, daß er sie in den Speisesaal führe, oder ob sie Begleitung erwarte.

Armgard von Arnim lächelte. Sie wirkte außerordentlich vornehm, als der vollendete Typ der norddeutschen Aristokratin.

»Nein, lieber Wedig, ich bin allein hier. Wir haben einander sehr lange nicht mehr gesehen. Lebst du hier in Würzburg?«

Dies war eine Verlegenheitsfrage, die Graf Worms ein wenig von der eigenen Befangenheit befreite.

Sie gingen in den Speisesaal. Der Kellner führte beflissen zu einem freien Tisch in einer der Fensternischen.

»Wünschen die Herrschaften die Fenster geschlossen?«

»Nein, nein. Der Abend ist so warm, und man hört den Main rauschen. Es ist eine wunderliche Stadt. Immer rauscht der Strom, oder es tönen die Glocken.«

Die Wahl der Speisen, des Weins, die Gegenwart des Kellners beim Auf- und Abtragen machten ein oberflächliches Gespräch leicht, hinter den alltäglichen Worten beider stand Erwartung, Zögern.

Etwas ausführlich wurde besprochen, wie lange man von den beiderseitigen Wohnplätzen gebraucht, um nach Würzburg zu gelangen. Höflich fragte Graf Worms: »Wie geht es deinen Kindern?« und vernahm, Adalbert habe einen Freund in seinem gleichaltrigen Vetter und Dith sei eben vier Jahre geworden.

»Und du lebst immer auf Arnimswalde?«

Ihre schmalen Hände glitten zerstreut über das Tischtuch. »Gibst du mir eine Zigarette, Wedig? Ich ließ mein Etui oben.«

Er war eifrig, sie zu versorgen. Sie nahm ein paar Züge, schien mit einem Entschluß zu ringen, und sagte plötzlich: »Ich habe mich oft gewundert, warum du uns nie in Arnimswalde besucht hast, Wedig. Sieh mal, ich erfuhr nie, warum Mama und Tante Editha, unsere Mütter also, sich so voneinander entfernten. Verschiedene Charaktere, verschiedene Schicksale, du warst im Kriege, als Mama starb, konntest also nicht kommen. Ich lag krank, und man teilte mir den Tod deiner Mutter erst mit, als die Beisetzung schon vorüber war. So sahen wir einander nie mehr –«

Über seinem schmalen Gesicht stand Verlegenheit. Er antwortete hastig: »Ja, das waren traurige Umstände.« Sein Blick glitt unsicher über Armgards ernstgewordenes Gesicht, verlor sich ins Leere. Sollte sie wirklich nicht wissen, was seine Mutter der ihrigen nie verziehen hatte?

Frau von Arnim fuhr fort: »Der Zufall hat uns hier diesen Abend zusammengeführt. Ich halte es nicht für pietätlos, wenn wir die doch nun verschollene Veruneinigung unserer Mütter nicht als eine Erbschaft pflegen, wenigstens wurde mir das nicht auferlegt. Erzähle, wie geht es dir? Wie lebst du, Wedig?«

Er machte eine Verlegenheitsgeste, strich mit der Hand über die Schläfe, an der so schön das dunkle Haar ansetzte.

»Ich lebe gerade in unbegreiflicher Spannung«, antwortete er, um das Oberflächlichste mitzuteilen. »Ich bin hierher zu einer Testamentseröffnung bestellt –«

Ein spontaner Ausruf unterbrach ihn: »Zu der Eröffnung des Testamentes von Professor Höchheim?«

In beider Augen war plötzlich ein jugendliches Lachen.

»Du auch?«

»Ja, ich auch, Wedig.«

Die Wunderlichkeit der Situation machte beide für Augenblicke sprachlos. Sie fühlten es wie unwirklich, daß sie hier einander gegenüber saßen. Durch das offene Fenster drang das Rauschen des Mains. Die Blumen, mit denen der Tisch geschmückt war, helle Rosen, schienen stärker zu duften. Mein Gott, wie hell und licht ist Armgard, fühlte Wedig. Diese wundervolle Haut, dieses reine Profil, reine Oval des Gesichts. Ihr Kleid war aus champagnerfarbiger Seide, den Opossumpelz hatte sie abgleiten lassen.

»Bitte, Armgard, kannst du mir erklären, in welcher Beziehung wir zu dem Professor Höchheim stehen?«

»Dasselbe wollte ich dich fragen, Wedig!«

»Du hast also auch keine Ahnung?«

»Nein, wir stehen sozusagen vor Rätseln.«

Nun wurde er eifrig und erzählte von seinem Besuche bei der alten Baronin und ihren Enkeln, die von Höchheim hießen und auch Erben waren.

»Die alte Dame, ihr Mann ist Diplomat gewesen, kannte Großmama. Flüchtig nur, vielleicht nur vom Hörensagen.«

Frau von Arnim lächelte leicht. »Ja, das sind so die Allüren von Diplomatendamen. Sie haben immer jedermann in Europa gekannt und verwechseln oft Namen und Schicksale. Aber sage mir doch, Wedig, hast du von deinen Eltern – nein, da ich auch beteiligt bin, mußte es ja von deiner Mutter sein, je von einer Beziehung zu Würzburg und dem Professor gehört?«

Er verneinte. Sie ließ die Zigarette sinken, lächelte leicht: »Ich kann unmöglich einen Unbekannten, der seit einem halben Jahre tot ist, betrauern. Ich bringe kein edleres Gefühl auf als die Neugier. Ich überlegte mir auf der ganzen Fahrt eine Erklärung. Aber mein Verstand setzt völlig aus und Intuitionen sind mir nicht zugefallen. Zu Hause durchsuchte ich den Briefnachlaß meiner Eltern. Doch nicht die kleinste Karte oder Zeile aus Würzburg ist darunter.«

Graf Worms zog die Stirn in Falten und gab seine einzige Vermutung preis, es möge sich um Rückerstattung einer alten Schuld handeln. Vielleicht hatte ihr gemeinsamer Großvater dem Professor in der Jugend mit Geld ausgeholfen?

Frau von Arnim lächelte, ließ schmale, weiße Zähne blitzen. »Das ist eine Idee! Üb immer Treu und Redlichkeit und so weiter. Ach, weißt du noch, wie von der Garnisonkirche in Potsdam das so dünn und rührend klang?«

Er versuchte ein Lächeln, das etwas melancholisch ausfiel.

»Daß man Kadett in Potsdam war, kommt einem vor wie eine Sage. Gibt es dein Augustastift noch?«

»Das gibt es noch. Aber unsere Erbschaft steht wohl in keiner Verbindung mit dem Augustastift.«

Graf Worms verbeugte sich leicht: »Wie du befiehlst, › revenons à nos moutons‹, wie man früher zu sagen pflegte. Seltsam, liebe Armgard, du bist auch einen Tag früher als notwendig hierhergekommen.«

Sie lächelte: »Um zu beweisen, daß ich auch noch Zitate kenne, also, ich dachte ›in meines Nichts durchbohrendem Gefühle‹, es sei vielleicht nötig, daß ich hier vor Behörden, Gerichten oder sonstigen Standespersonen mich noch ausweise, daß ich wirklich die Vorgeladene bin!«

Sie trägt nicht mehr Halbtrauer, dachte der Graf und rechnete, wie lange war Arnim tot? Es mußte viereinhalb Jahre her sein, die kleine Tochter war nachgeboren. Wenn einem der Gatte die große Leidenschaft bedeutet hat, trägt man da nicht für immer Trauer? Arnim war einst Flieger gewesen. Wahrscheinlich trug er den Reiz der Kühnheit. Als er, Wedig, in unseliger Zeit über den Rhein zurückkam, war in aller Stille Armgards Hochzeit gewesen. Vielleicht hatte die Mutter den Gedanken, mit achtzehn Jahren fügt man sich mütterlichen Plänen noch am leichtesten.

Als fühle sie, daß ihr Gegenüber sich innerlich mit ihrem Leben beschäftige, sagte Armgard von Arnim frischen Tones: »Mein Junge löst schon Kreuzwort- und andere Rätsel. Ich bin infolgedessen mit dieser Materie sehr vertraut. Und komme auf die geistvolle Idee, könnten nicht vielleicht die Namen Worms und Arnim eine Lösung unserer Probleme enthalten?« Sie klappte ihre Ledertasche auf, entnahm Notizbuch und Stift, kritzelte.

»Worms – Arnim –« Sie schob die Unterlippe ein wenig vor, strich Buchstaben, mühte sich.

»Es gibt doch kein anderes Wort.«

Wedig bat um das Büchelchen, sah, wie sie ihre beiden Namen nebeneinander geschrieben hatte, harmlos, ach, leider so ganz harmlos!

Er mühte sich ebenfalls, denn er behielt gern ihre Schrift vor Augen. Dann lächelte er. »Doch, Armgard, aus den beiden Namen läßt sich etwas Neues formen. Ein Imperativ! Arnim – Worms ergibt: Nimm Arrows! Also, nimm deine Pfeile, heißt das. Wir sollen demnach kriegerische Vorbereitungen treffen, die Erbschaft wird einen Kampf heraufbeschwören!«

Sie lächelte. »Aber keinen neuen Verwandtenstreit, Wedig. Ich bin eine friedliebende Natur.«

Der Graf begleitete seine Kusine bis auf den Flur vor ihrem Zimmer. Sie hatten verabredet, morgen die Stadt zu besehen. – –

Wedig Worms wollte noch nicht schlafen. Erregt von dem unerwarteten Wiedersehen ging er am Main entlang, hörte auf das Brausen des Wehrs, bog dann in stille, wie verlassene Gegenden ein. Ab und an brannte noch Licht hinter Fenstern.

Aus einer Gartenwohnung klang Musik, ein sehr vollendetes Harmoniumspiel. Graf Worms blieb ein wenig stehen, hörte zu – und freute sich plötzlich heftig auf den nächsten Tag. – – –

Das Harmoniumspiel des Bruders war Luise Menard an diesem Abend eine gewisse Pein. Sie wollte gerne klar denken können, nicht von Musik sehnsüchtig gemacht werden. Sie wartete erst in blasser Geduld, ob Kilian nicht abschlösse, dann ging sie zu ihm hinüber.

»Du bist gar nicht müde von dem Ausflug?« fragte sie.

Der Kapellmeister ließ die Hände von den Tasten. »Verzeih, ich begreife, daß du es bist. Ich wollte mir noch eine kleine Disharmonie auflösen – wenn du plaudern magst, geht es gewiß am besten.«

Er sah sie blinzelnd und herzlich an, bot Zigaretten, ging rauchend auf und ab.

»Was ärgert dich denn, Kilian?«

Er raffte seine etwas schwerfällige Gestalt hoch. »Ich ärgere mich selbst, weil ich immer wieder an die Erbschaft denke. Als könnte ein wenig Geld uns freier machen. Hat in unserm Leben das Geld eine entscheidende Rolle gespielt? Nein! Wir sind einmal Naturen, die Arbeit brauchen. Ohne bestimmte Pflicht würden wir das eigene Ich schwerer tragen als so. Nun, mich hat heute auch dieser Höchheim geärgert. Der läuft in einem Taumel von Hoffnung auf Reichtum umher. Er ist ein Streber, ein Fieberhafter, und ich wollte, wir hätten den Tag in Rothenburg allein gehabt.«

Sie mühte sich um Ausdruckslosigkeit. Sie verstand ganz genau. Dies sollte eine Warnung sein.

»Du urteilst streng«, antwortete sie langsam. »Vielleicht müssen sich Höchheims sehr einrichten. Er deutete dergleichen an. Da ist die Aussicht auf Wohlstand doch eine Freude.«

Kilian Menard warf seine Zigarette aus dem Fenster. »Du hast recht. Gewiß ist es solchen Herren auch eine Freude, auf unverbindlichen Landpartien mit einer Dame zu flirten, die vielleicht übermorgen eine reiche Erbin sein könnte. Nein, antworte nichts. Ich weiß, ich werde plump. Ich weiß nur, daß Julius von Höchheim schon mehrmals in guten Familien hier als Freier erwartet werden durfte und – nicht kam. Ich lasse mich gern belehren, und du wirst wissen, was du willst. Darum kannst du noch mehr Landpartien mit ihm machen, wenn sie dir eine schöne Erinnerung verschaffen.«

Luise stand auf. »Eine verzweifelte Erinnerung gewiß nicht, Kilian. Begreife doch, man kann sich auch einmal am Augenblick freuen.« Und sie winkte kurz gute Nacht. Dachte dann: Bruder, Bruder. Weiß ein Bruder nicht, daß eine kleine Illusion mehr wert sein kann, als ein Scheffel voll Ehrbarkeit? – – –


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