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Sechstes Kapitel

»Laßt uns nicht so en masse durch die Straßen ziehen«, sagte Julie von Höchheim. »Ich habe den Beziehungswahn und denke, jedermann sieht uns an, daß wir von einer großen Affäre kommen. Ich gehe in meine Apotheke vor und bringe für Großmama etwas Nervenberuhigendes mit. Ich werde jetzt doch die Spezialität erfinden müssen, die mich reich macht.«

Sie lachten, trennten sich. »Wie fühlt ihr euch denn?« fragte Gudrune ihre beiden Vettern. »Ich bin offen und sage, daß ich geglaubt habe, die Angelegenheit fiele für alle Höchheims glänzender aus. Unsere siegreiche Konkurrenz schien sehr erstaunt. Ich glaube, das Geheimnis mit der großen Wohltäterin, die ihre Großmutter war, ist ihnen ebenso dunkel wie uns.«

Gudrune warf ihre Sätze spielerisch hin. Wer liebt und geliebt wird, ist dem Neid fern. Magnus hatte ihr zugeflüstert, er habe auf einen Briefbeschwerer oder ein Schreibzeug gerechnet und sei festlich überrascht. Mittels der zehntausend Mark getraue er sich wohl, den Schuldienst zu verlassen und zur Universität überzugehen.

Der Gymnasiast lachte. »Vielleicht finden wir auch eine Wohltäterin, wie der alte Professor. Sie hat ihn wohl studieren lassen? Großmama, das heißt die unsere, gab mir neulich ein altes Buch, darin war immerzu von Studenten die Rede, die Freitische hatten und aus lauter Fleiß nur von drei bis fünf Uhr nachts schliefen. Dabei lernten sie neunzehn oder siebenundzwanzig Sprachen, und ich fürchte, sie vergaßen völlig, sich auch mal zu waschen.«

Gudrune belehrte: »Sie wuschen sich die Hände, ehe sie an die Freitische der wohltätigen Gräfinnen traten.«

»Nein, sie hatten immer schwarze Nägel, Gudrune. Wir haben auch noch alte Gymnasiallehrer mit schwarzen Nägeln. Sie sind ein unverletzlicher Bestandteil des deutschen Volkes. Wie seine Armut. Oder, hör' doch mal zu, Julius, sind wir vielleicht jetzt reich, da wir jedes zehntausend Mark bekommen? Wer von uns kauft das Auto?«

Plötzlich lachte er laut auf und lief den andern voran ins Haus.

Die Baronin Luckner hatte schon lange am Fenster gestanden. Sie zitterte ein wenig. Sie empfand, wäre eine große Freude, so hätte sie schon die Nachricht. Nun sah sie Walter durch den Vorgarten laufen. Lachend, jungenhaft stürmisch. Er brauste ins Zimmer:

»Großmama, wir werden Freitische bei Frau von Arnim und Graf Worms bekommen! Wie deine Studenten in der moralischen Lebensbeschreibung. Der Erblasser führt die gute, alte Zeit wieder ein.«

Freitische bei Frau von Arnim?

Die Baronin richtete sich gerade auf: »Lieber Walter, du kannst dir denken, daß ich sehr angegriffen von dem Warten bin. Also bitte, was ist?«

Der blonde Junge wurde verlegen. Arme Omi, dachte er. Und antwortete: »Sei nur beruhigt, ganz schlecht ist es nicht ausgefallen. Aber die Fremden sind die Haupterben. Wir bekommen jedes zehntausend Mark.«

Die alte Baronin versuchte, gelassen zu scheinen. Gudrune und Julius traten ein, fühlten sich im Augenblick wie Schuldige. Denn sie brachten Enttäuschung. Julius wußte, vor Tatsachen faßt man sich rasch. Er zog die Testamentsabschrift aus seiner Mappe. »Ich lese es dir gleich dem Wortlaut nach vor, Großmama. Wir haben Legate erhalten.«

Noch einmal klang das Testament auf. Julius las langsam, in leicht spöttischem Ton. Er dachte, wenn ich fertig bin, müssen wir ein wenig über die Sache lachen. Um der Großmutter beizustehen, ihre Enttäuschung zu überwinden.

Er glaubte, die alte Frau gut zu kennen. Aber er ahnte noch nicht, welche zähe Willenskraft in ihr lebte, einen Aufstieg der Enkelkinder zu erzwingen.

Seit die Baronin wußte, die Nachkommen einer Jugendbekannten waren Miterben, schmiedete sie Pläne. Nun, als sie den Entscheid hörte, stand es fest bei ihr: nichts sollte unversucht bleiben, daß aus dieser Erbschaftsangelegenheit doch noch eine große Glückssache würde.

»Ihr werdet also nun ein Jahr lang in täglichem Kontakt mit Frau von Arnim und Graf Worms sein. Dies ist eine wahrhaft seltsame Fügung. Die Enkel der stolzen Editha Kronberg müssen, wie ihr, in einer Provinzstadt leben.«

Julius machte eine freudig überraschte Bewegung.

»Mein Gott, das bedachte ich noch nicht. Es wird ihnen lästig sein. Es könnte sie vielleicht veranlassen, auf die Sache zu verzichten?«

Baronin Luckner lächelte welterfahren: »Lieber Junge, du irrst, wenn du denkst, reiche Menschen verzichten darauf, ihren Reichtum zu vermehren. Dergleichen tun nur Ideologen. Wenn die Enkel jener Editha ihr auch nur ein wenig gleichen, so nehmen sie eine Geldangelegenheit wie ein Fatum hin. Ein Künstler würde sagen, ich hasse eine Provinzstadt. Ich muß da leben können, wo ich Stimmung finde. Der Aristokrat lebt da, wo er Besitz hat. Vielleicht sind jetzt Frau von Arnim und Graf Worms etwas erschrocken, vielleicht bedenken sie sogar stundenlang das › que faire‹. Aber, so wahr ich hier sitze, sie nehmen morgen vor Gericht die Erbschaft an.«

Gudrune fühlte, daß sich ihr Vetter gerne unter vier Augen mit der klugen Großmutter bespräche. So stand sie auf und sagte: »Wir sind wohl alle hungrig, ich sehe nach der Küche. Wir sitzen doch heute als Kapitalisten zu Tisch, immerhin, wir können uns so nennen.«

Die behenden, dunklen Augen der alten Frau folgten der Hinausgehenden.

»Julius – um Gudrune habe ich eine unbestimmte Sorge. Bekommt sie Briefe, ist da jemand in der Stadt? Sie wird nächste Woche mündig. Ich habe das Gefühl, sie hat Pläne, von denen sie abgelenkt werden müßte.«

»Heiratspläne?« fragte Julius zerstreut.

»Vielleicht. Ich fühle es nur so. Ich wünsche, du ziehst Graf Worms heran. Unser Haus ist für ihn und Frau von Arnim das Gegebene. Mit wem sollten sie sonst hier verkehren? Sie sind beide › pur sang‹. Sie haben den kühlen, selbstverständlichen Hochmut aus den Häusern Kronberg und Henckel-Donnersmarck. Sei versichert, ich sehe das genau. Mit wem in dieser Provinzstadt sollten sie sich auf gleich fühlen? Es bleibt nur unser Haus, und wir werden in den nächsten Zeiten etwas repräsentieren.«

Julius hatte sein Battisttuch zu einem kleinen Knäuel verarbeitet. Er sah es geniert, fragte, ob er rauchen dürfe, zündete sich eine Zigarette an und sagte kurz, betont: »Wegen Graf Worms? Als Chance für Gudrune? Unser Großvater Höchheim erhielt l87l den Briefadel. Dies an Henckel-Donnersmarck gemessen – – –«

Die alte Frau strich nichtvorhandene Falten auf der Tischdecke glatt.

»Gudrunes Mutter war aus reichsfreiherrlichem Hause. Die Luckner sind betitelter Uradel. Meine Schwiegermutter, also eure Urgroßmutter, war eine Komtesse Solms, aus reichsunmittelbarem Haus. Ich denke, dies genügt gegen Worms. Und was Höchheim anbelangt, euer Vater ist adlig geboren. War johanniterfähig.«

Julius von Höchheim strich die Asche seiner Zigarette ab: »Es fehlt also nun nichts mehr, als die gegenseitige Neigung, liebe Omama.«

»Nichts sonst«, antwortete sie im gleichen, leichten Ton. »Es ist mir sympathisch, daß du dieses Wort gebrauchst, Julius. Du beweist damit gesellschaftlichen Blick: Du vermutest nicht, daß der stille, abgetönte, sehr distinguiert wirkende Wedig Worms elementarische Leidenschaften hinter seiner Korrektheit verbirgt. Eine Leidenschaft zu entflammen, ist Zufall. Neigung zu erringen, ist eine Sache des Taktes und kluger Liebenswürdigkeit. Chancen sind geboten. Der Erblasser hat Bühne und Schauspieler für ein romantisch-heiteres Stück geboten. Seht zu, daß ihr darin die Hauptrollen spielt.«

Julius war betroffen. Er lachte kurz und erzwungen heiter auf und sagte: »Liebste Omama, du sprichst, als wüßtest du, daß zu der Angelegenheit sich schon ein Filmschauspieler eingefunden hat.«

Das Mädchen erschien unter der Tür und meldete, es sei angerichtet. Die Baronin erhob sich.

»Ein Filmschauspieler? In der Tat? Was man nicht alles erlebt! Ihr habt einen Filmschauspieler gesprochen?«

»Jawohl. Als Edelkomparserie.«

»Und der soll auch da wohnen?«

»Fasse dich, Omama. Verstehe die Jugend! Auch der Geist der geborenen Henckel-Donnersmarck wird sich fassen.«

In der Umständlichkeit des Alters kam die Baronin auf schon Gesagtes zurück: »Bedenke, Jul, Editha, geborene Henckel-Donnersmarck und ich haben auf Hofbällen in Stockholm, in Kopenhagen, gleichzeitig getanzt. Meine und ihre Enkel –«

Er unterbrach sie: »Sollen weiter tanzen. Aber, Großmama, wir müssen nach Tisch noch viel sprechen! Ahnst du das Geheimnis zwischen der unbeschreiblich vornehmen Gräfin und dem alten, nicht hochberühmten Professor Höchheim?« – – –

Bäckermeister Frank hatte seine feierlichen schwarzen Kleider abgelegt. Er trug wieder den Alltagsrock, aber er ließ seinen wunderlichen, kleinen Laden mit den Schiebefenstern nach der Straße in der Obhut der alten Wirtschafterin. Es war heute großer Zuspruch, denn alle Nachbarn kamen voll Neugier, um zu erfahren, wie denn die Erbschaft ausgefallen sei. Bäckermeister Frank hörte lächelnd, wie oft die Haustürglocke anschlug. Auch Stimmengemurmel drang zu ihm herauf in das Wohnzimmer des ersten Stockwerks. Da war es schön, da standen lauter gute Familienmöbel aus alter Zeit. Schränke und Lehnstühle von gutem Nußbaumholz, fein poliert und geschweift und ihre hundertfünfzig Jahre alt. Das Klavier freilich war neuer, aber der Tisch, vor dem »Onkel Tom« saß, hatte schon seinem Ur-Urgroßvater gehört. An ihn, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vom Ansbachischen her als Arzt nach Würzburg gekommen, dachte heute der Bäckermeister mit besonderem Stolz. Es gab ein Bild von ihm im Raume, einen Kupferstich, der auch beschriftet war und von den Verdiensten dieses Doktors der Medizin sprach. Auch der Großvater hatte noch studiert. Doch, da ihm Gott und seine Ehefrau zehn Kinder schenkten, konnten nicht alle Söhne eine gelehrte Laufbahn ergreifen. Und so war der Vater Onkel Toms eben ein Bäcker geworden und hatte eingeheiratet in dieses schmale, hochgegiebelte Haus nahe der alten Mainbrücke.

Onkel Tom hatte Papier vor sich und kritzelte mit schwerer Hand Zahlen um Zahlen. Sein altes Gesicht mit dem graumelierten Spitzbart war von Freude überspielt. »Der Tausend«, sagte er plötzlich zu sich selbst, »das hätt' ich ja fast vergessen«, stand auf, ging vornübergebeugt zu einer Lade und holte eine Zigarre heraus. Eine große, festliche Feiertagszigarre. Sie wurde sorgsam beschnitten, andächtig angezündet. Und sie befeuerte nun Rechnen und Nachdenken.

Zehntausend Mark war das Erbe. Zwölftausend Mark lagen gesichert auf der Bank, herrührend von Ersparnissen und aufgewerteten Hypotheken. Diese Summe war vorgesehen, daß man endlich einen neuen, zeitgemäßen Backofen bauen konnte. Sie reichte aber immer noch nicht, denn eine solche moderne Einrichtung kostete noch einige tausend Mark mehr.

Der Sechsundsechzigjährige lachte vor sich hin. Jetzt, nach der glücklichen Wendung durch die Erbschaft, brauchte er sich keinen neuen Backofen mehr zu bauen. Kein Gehilfe wollte sich mehr in den alten finden. Um das Gerede und Kritisieren solcher jungen Burschen nicht mehr anhören zu müssen, hatte der Meister schon lange ganz allein gearbeitet. Und nun wurde es anders. Nun konnte er sich den Traum vieler Jahre erfüllen, und auf seine alten Tage ein Privatier werden! Ein Privatier mit dem schuldenfreien Haus und zweiundzwanzigtausend Mark Kapital!

Der Alte lachte vor sich hin. Sonderbar wird das sein, wenn man Brot ißt, das ein anderer gebacken hat! Sonderbar wird es sein, wenn man seine Nachtruhe besitzt, wie einst in der Kindheit.

Magnus kam ins Zimmer.

»Nun, Vater, wie ist dir denn? Freut es dich, daß wir als Pensionäre in das Erbhaus ziehen sollen? Denk einmal an, täglich an einer Festtafel sitzen! Da kommst du aus dem Sonntagsrock gar nicht mehr heraus!«

Der Alte betrachtete den schönen Sohn. »Ich hab' nie was g'habt gegen vornehme Leit. Und ich kann ja auch auf meinem Zimmer essen, darüber werd' ich vorstellig werden bei die Herrschaften. Es kommt mir gut zu paß, daß wir e andere Unterkunft kriegen. Denn –« er machte eine Kunstpause und sah den Sohn triumphierend an: »Denn ich bau! Ich laß den alten Ofen rausreißen, ich laß da zementieren und aus der ganzen Backstube und dem Ofen neue Räum' machen. Da gibt es dann Platz im alten Haus, wenn mein Sohn sich eine Frau nehmen will!«

Magnus errötete flüchtig. Denn auch er hatte schon in Gedanken gebaut! Die alte Backstube und der Backofen bildeten einen Anbau des Hauses nach dem Garten zu und konnten ohne große Kosten in ein Atelier und ein Wohnzimmer umgestaltet werden. Magnus hatte gefürchtet, der Vater würde die Bäckerei neu beleben wollen.

Nun sah er, der alte Mann war noch fähig zu neuer Lebensform.

»Ein Privatier bin ich dann, kann Werktags spazierengehen, kann auch amal a Reisla machen zu meiner alten Verwandtschaft.«

Den Sohn überfiel Rührung.

»Kann am Werktag spazierengehen.«

Mein Gott, nie hatte man bedacht, daß dies ein Wunsch gewesen war, und ach, ein unerfüllbarer Wunsch.

»Kannst jeden Tag spazierengehen«, wiederholte der Sohn.

Der Alte sog an seiner Zigarre. »Und in der freiwilligen Armenpflege kann ich jetzt noch Gänge machen, kann ein umfangreiches Amt übernehmen. Ja, das kann ich.«

Eine Weile war Schweigen im Raum. Magnus hatte sich zur Gesellschaft auch eine Zigarre angezündet. Es blieb ihm Zeit, ein Tabakskollegium mit dem Vater abzuhalten. Gudrune konnte ihn erst am Abend bei Professor Holtzendorffs treffen.

Plötzlich fragte der alte Mann: »Bist du mit dem Fräulein einig? No, genier dich nicht, ich bin doch kein alter Depp, der nix g'merkt hat! Jetzt ist dein Vater ein Privatier, du hast eine Wohnung in der Stadt, also hör', Magnus, ich setz mich zur Ruh, erstens weil ich müd' bin, zweitens, weil ich es jetzt kann und drittens, weil ein offenes Geschäft, so klein wie das unsrige, vielleicht sich nicht mehr paßt für deine Lebensstellung. Ich bin über fünfzig Jahr' ein Bäck. Niemand wird mir nachreden, daß mich jetzt die Großmannssucht überfällt!«

Der Sohn hatte die Regung, etwas Ungewöhnliches zu tun. Aber ihn hielt die Scheu vor der verarbeiteten Gestalt seines Vaters zurück, eine zärtliche Geste zu wagen. So sagte er nur einfach und mit stiller Stimme: »Ich danke dir für dies – und für alles, Vater.«

Sie saßen schweigend, hingen ihren Gedanken nach. Dann fand der Alte, sie hätten ja ganz vergessen, Kaffee zu trinken. »Wir machen ihn selber auf der Maschine, was meinst, einen Mokka? Weißt du, wie man einen Mokka macht?«

Sie waren mitten in ungeschickter und eifriger Tätigkeit, als Schritte die Treppe heraufstolperten.

Die Ladenhelferin von Frau Kündinger erschien und richtete aus, die Herren möchten um halb vier Uhr zum Kaffee und zum Familientag wegen der Erbschaft bei Frau Kündinger eintreffen.

Magnus verbarg ein Lächeln. Der Vater ließ zurücksagen, es würde ihm eine Ehre sein.

Dann stand er breitspurig im Zimmer: »Hast du gehört, Magnus, Familientag! Wir werden immer feiner.« – – –

Die Kündingersche Botin kam auch zu Menards. Der Kapellmeister ließ sagen, er würde kommen. Dann fing er an zu pfeifen. Eine Fuge über das Wort »Familientag«. Luise bat ihn, sie zu entschuldigen. Der Bruder betrachtete sie flüchtig und verbarg Besorgnis hinter aufmunternden Worten: »Weißt du, das gibt einen Spaß! Hast du nicht doch Lust?«

Sie brachte ein Lächeln auf und verneinte.

Der Kapellmeister verließ das Haus. Nun lag die Wohnung ganz verlassen. Unten im Flur putzte das kleine Dienstmädchen die Türklinken und führte, mangels anderer Ansprache, eine Unterhaltung mit der Katze.

Welch ein bürgerlicher Friede, dachte Luise Menard. Und – welch ein täuschender Friede – –

Sie stand am dunklen Treppengeländer und blickte über den langen Flur hin. Nach rechts und links lagen die braunen Zimmertüren mit den Messingreibern. Es wirkte so brav und altväterisch, wie für Bruder und Schwester geschaffen. Über weißgescheuerte Dielen fiel die Nachmittagssonne durch das breite Fenster am Ende des Korridors.

Ein Seufzer kam Luise. Wie hübsch hatte sie es sonst empfunden, wenn sie einen stillen Nachmittag allein in der Wohnung war. Besitzerglück, Freiheitsgefühl erwachte dann. Man tat Dinge, zu denen sonst nicht Zeit war. Bücherschränke wurden Fundgruben. Man kuschelte sich in einen alten Stuhl und las Halbverschollenes. Den Geisterseher von Schiller oder ein paar Seiten in der Messiade oder in Goethes Farbenlehre. Oder man griff zu alten Briefen und fand sich selbst, leidlos bewegt, in einer andern Zeit und ihren verebbten Erregungen.

Heute?

Sie ging plötzlich mit raschem Schritt nach ihrem Arbeitszimmer, saß am Schreibtisch nieder und las in der Arbeit, die sie lange beschäftigte: ihre Darstellung der Tragödie Geilanas, der Frankenherzogin. Sie hatte wohl immer gewußt, es war ein Wagnis, eine Gestalt der Vergangenheit aufzugreifen, an der schon ein anderer sich versucht hat. Max Dauthendeys Drama, das unbefriedigt läßt, mochte eine Warnung gewesen sein. Gestern waren Julius von Höchheims rasch hingeworfene Worte ihr zum Problem geworden: Mörderin bleibt Mörderin. Aber sie hatte ja nicht die Mörderin des heiligen Kilian schildern wollen, sondern die Frau, deren Herz an den alten Göttern hing. Sie beugte die heiße Stirn über die Blätter, wußte jählings: wie die Zeit über Geilana hinweggeschritten war, so würde das Urteil über ihre Arbeit hinwegschreiten. Es gibt Leistungen, die man nur zur Klärung der eigenen Weltauffassung macht, nicht zum Gewinn anderer. Und sie dachte: etwas dank' ich dir nun doch, Julius von Höchheim.

Aufatmend griff sie nach einem andern grünen Aktendeckel. Hier war eine Arbeit, die sie jetzt beschäftigte. Keine Tragödie aus Heidenzeiten, sondern eine, auch auf dem Boden Würzburgs spielende Geschichte aus der Epoche, da die Menschheit wieder die Natur entdeckte, also nach der großen Revolution. Würzburg geriet in französischen Besitz. Durch die Stadt des Rokoko und des Katholizismus flutete die Botschaft der Revolution, die Verkündigung der Menschenrechte, und führte Menschen zu ihrem geistigen Herzen. Luise hatte in Chroniken und privaten Aufzeichnungen den Namen eines jungen Würzburgers gefunden, der als Heldentyp jener Zeit gelten konnte, der Träger all der Ideen der Epoche. Noch war der Hexenglaube im Land, während eine neue Welle von Mystizismus, die sich später in der Romantik auslebte, dem Gemüt eine neue Lebensquelle gab.

Luise las – und fühlte sich gefesselt. Wußte, mit diesem Stoff hatte sie einen guten Griff getan.

Sie las und las, denn sie wollte nicht denken! Ach, nicht an Julius von Höchheim denken. Sie müßte ihn sonst verurteilen. Sie müßte ihm sonst zürnen oder sich nach ihm sehnen.

Nichts von alledem sollte sein.

Sie hatte eingewilligt in die kaum zweideutige Bitte nach einem sorglosen, frohen Tag.

Der Testamentsbescheid warf Julius von Höchheim zurück in ein Leben voll Arbeit und Mühe. Er war nicht der Mann, der sich an eine Frau band mit gleichen Zukunftsaussichten. Die Sorglosigkeit konnte sie ihm nicht schenken. Und so – beendete er ein Gefühl.

Sie beugte ihre reine, klare Stirn über ihre Arbeit. Nur nicht bitter werden, nicht anklagend werden. Einst ist ja alles nur Erinnerung, dachte sie – – –

Über den Korridor kamen Schritte. Neben dem Trippeln des kleinen Dienstmädchens war ein zweites Gehen hörbar.

Rot flackerte flüchtig über Luises Wangen. Kam – Julius doch? Aber sie wußte, nein. Sein Schritt war stürmend, draußen klang ein gemessener.

Das kleine Dienstmädchen, ein ländliches Kind, meldete zutraulich: »A Herr is do«, und überreichte eine Karte.

Dr. Ferdinand von Höchheim, war zu lesen, und eine Pariser Straßenangabe.

Sie mußte sich erst besinnen. Hatte ihr Bruder vielleicht diesen Miterben zum Tee eingeladen? Sie merkte erst jetzt, daß in ihrem Zimmer der Teetisch gedeckt stand, hübsche alte Tassen und Kannen, ein wenig Kuchen, der elektrische Kocher zum Einschalten, Zigaretten. Ihre Gedanken waren so weit ab gewesen. Aber die Forderungen des Tages gehen ja immer ihren Lauf.

Als nun der schmale, große, hellblonde Herr vor ihr stand, fiel ihr jählings ein, er kam wegen Erinnerungen an Max Dauthendey.

»Sie hatten die Güte, gnädiges Fräulein, mir eine Gedenkstunde für Max Dauthendey zu versprechen«, hörte sie sich angeredet. Und der Name, der allen Deutschen teuer sein müßte, warf ein Licht über den Raum, gab Luise Haltung. Sie maß sich nicht mit einem Vollendeten. Aber war er der »kunstbedürftige« Photographensohn in dieser Stadt gewesen, so war sie die »kunstbedürftige« Lehrerin, und das schuf eine Art Schicksalsgleichheit.

»Seine Halbschwester, die selbst Schriftstellerin ist, wohnt noch in der Stadt«, begann Luise. »Und bei ihr gibt es sicher noch Bilder, die er gemalt, Photographien, die er aufgenommen hat. Als er zu seiner ›letzten Reise‹ aufbrach, war ich noch ein Kind. Dauthendey kannte meinen Bruder und ließ sich manchmal von ihm vorspielen. Und wenn mein Bruder zuweilen litt unter den Widerständen kleiner Verhältnisse, die es unsicher machten, ob er sein Studium vollenden könne, dann war immer Dauthendeys Jugendgeschichte, die er ›Der Geist meines Vaters‹ betitelt hat, das Trostbuch.«

Ferdinand von Höchheim lächelte. »Es ist ein Buch von so vollkommener Wahrheitsliebe, daß selbst das Kleinste darin Belang bekommt. Ich habe Dauthendeys Werk erst spät kennengelernt, erst durch die Gesamtausgabe. Ich las in Paris seine Verse, seine gedanklichen Aufzeichnungen, und war betroffen, daß das Wort von der »Weltfestlichkeit« in meiner Vaterstadt gefunden wurde, die ich seit Kindertagen nicht mehr betreten habe. Ich bekam Sehnsucht, Würzburg einmal wiederzusehen. Ich fühlte mich von Max Dauthendey gerufen. Aber wie es so geht, man verschiebt Dinge des geistigen Herzens. Da kam die Nachricht von der Erbschaft, und ich bin hier. Es ist vielleicht lächerlich, aber ich habe geglaubt, diese Erbschaft müsse irgendwie mit Dauthendey zusammenhängen. Seine Seele, seine Herzenswärme leuchtet durch sein Schaffen. Warum soll sie nicht noch durch diese Stadt leuchten, und zur Heimkehr rufen?«

Luise dachte, so würde Julius von Höchheim nicht sprechen. Er fände es gewiß auch lächerlich, wenn ein Mann so redete.

»Wären Sie, ohne durch Dauthendeys Werk der Heimat wieder nähergekommen zu sein, nicht hier, Herr von Höchheim?«

Wie gut er die vorstehende Unterlippe beim Sprechen regiert, dachte sie.

»Ich glaube, nein. Ich hätte mich durch einen Anwalt vertreten lassen, gnädiges Fräulein. Ich habe in Paris meine Arbeit.«

Ihr fragender Blick sagte, daß ihr die Lebensumstände ihres Besuchers völlig unbekannt seien. Er wirkte viel aristokratischer, als sein Vetter Julius. Sein kleiner, schmaler Kopf, die überschlanken Hände, die vorgeschobene Unterlippe schienen ihr Abzeichen von gewisser Dekadenz, die aus der Familie seiner Mutter stammen mochte.

»Ich betätige mich mit Büchern«, antwortete er, »mit Kauf und Verkauf von Bibliotheken, Erstdrucken, Seltenheiten. Das ist teils Liebhaberei, teils unerläßlicher Erwerb. Meine ideelle Arbeit ist, für den Geist meines Vaterlandes Verständnis zu schaffen. Nicht vorwiegend bei Franzosen. Paris ist ein Sammelplatz für Angehörige verschiedenster Nationalitäten, die Freunde der Menschheit sind, wie es«, er lächelte, »unser Max Dauthendey war.«

Luise war angeregt und antwortete liebenswürdig: »Ich werde den Teekessel einschalten. Tee spielte bei Dauthendeys von der russischen Zeit her eine große Rolle.«

Und dann, während das Wasser zu summen begann, plauderte sie weiter, erzählte kleine Erinnerungen aus ihrer frühen Jugend. Begegnungen mit dem Dichter, Urteile guter Bürger über ihn, und endlich, wie man hier im Kriege gedacht und gehofft hatte, die Feinde möchten gegen diesen Freund der Menschheit großmütig sein und ihn freilassen zu der heiß ersehnten Rückkehr aus seinem Zwangsaufenthalt in Java. Bis dann die Nachricht kam, daß er an Heimweh gestorben. Sie vergaß über ihren Worten die eigne Depression, die vielleicht klein war, gemessen am Leide eines großen Mannes, der sich nach seinem Vaterlande und nach der Liebe seiner Frau zu Tode sehnte – und die doch groß genug war, über ihr Leben einen Schatten oder eine lange Einsamkeit zu werfen. Es gibt Menschen, die das Beispiel fremden Leides erzürnt abwehren, denn sie können nur an sich selbst denken. Und es gibt andere, denen die Versenkung in Schicksale zum Trost wird, zum Gefühl des Verbundenseins mit der Menschheit. Der Kranz der Erinnerungen und der Beispiele, die unserer Gedankenwelt zugänglich sind, ist für den einen nur die melancholische Grabspende, für den andern das immergrüne, festlich schwere Erntezeichen des Lebens.

Luise Menard hatte sich im Sprechen belebt, ihre Worte verloren das Gesellschaftliche, gingen in eine eigenste, plastische Ausdrucksweise über.

»Sie sind Schriftstellerin, ich irre doch nicht?« fragte der Gast. Und er dachte dabei, diese seltsame Traurigkeit ihrer Augen kann nicht von einer Enttäuschung über die Erbschaft kommen. Vielleicht sehnt sich dieser Mensch fort, in Fernen, unter andere Himmel.

Erröten verriet sie. Was sie noch niemand gesagt hatte, erfuhr plötzlich der fremde Herr, denn sie mochte sich selbst nicht verleugnen.

Er war mehr gütig als neugierig, als er nun bat, ob er etwas lesen dürfe, oder ob sie ihm die Ehre erweisen möchte, ihm etwas vorzulesen.

Sie zögerte erst. Wie sollte sie dazu kommen, einem Fremden Einblick in ihre Arbeit zu geben? Da erwähnte er, daß er morgen wieder nach Paris führe. Gewiß, er wollte die Erbschaft nicht ausschlagen, doch müsse sich eine Form für alle finden, neben dem einjährigen Wohnaufenthalt in dieser Stadt doch seine auswärtigen Angelegenheiten weiter führen zu können.

Sie fühlte plötzlich, wie von ihm der Hauch von Weltverbindungen, von Freiheit, von selbstgeschaffenem Leben ausging. Und dachte, es soll eine Probe sein, ob, was ich hervorbringe, auf jemand wirken kann, der nichts von mir weiß.

Sie lächelte und sagte: »Ich werde Ihnen eine kleine Stelle lesen, denn was ich schreibe, spielt in der Vergangenheit dieser Stadt.« – – –

Die Baronin Luckner war ein wenig nervös und blickte fragend auf ihre Enkel.

»Wir müssen, wenn das Testament in Kraft tritt, ein Jahr lang diese Frau Kündinger sehen«, sagte Julie von Höchheim im Familienrat. »Nun, seid unbesorgt, ich gehe nicht als Gegnerin von Frau von Arnim hin, sondern als ein Beruhigungspulver!« Sie lachte, zeigte gute Laune. Sicherlich würde sie Kilian Menard dort treffen. Sein Antrag hatte ihr Herz nicht aufgewühlt. Sie war ein wenig nüchtern und sagte sich, man muß das kennenlernen, was einem angeboten wird. Studentinnen der Pharmazie werden gemeinhin nicht in goldenen Karossen von Prinzen oder Königen auf Throne abgeholt. Sie wurde bald zweiundzwanzig Jahre alt, ohne verlobt zu sein. Es wäre leichtsinnig, dachte sie, einen ernsthaften Freier sich nicht zu betrachten. Und gerade diese Zusammenkunft schien ihr wichtig. Menards Orgelspiel hatte sie feierlich bewegt, seine Neigung für sie war ihr zuerst mehr erstaunlich als rührend. Die Großmutter, dies wußte sie, würde außer sich werden, wenn ihre Ehrgeizpläne mit den Enkelinnen zu einem bürgerlichen Kapellmeister führten. Die gute Großmutter! Seit es den Grafen Worms gab und den Vetter aus Paris, wurden diese Blüten der Aristokratie unablässig mit Großmamas Enkelinnen in Verbindung gebracht!

»Also ich gehe auf den Familientag«, schloß sie die Beratungen ab.

Unterwegs sagte sie sich: wenn der Kapellmeister in Frau Kündingers guter Stube sich so recht herzinnig zu Hause fühlt, weiß ich Bescheid. Dann kommt er nicht in Betracht. Kleinbürgerliches Behagen einem Manne abzugewöhnen, wird meine Lebensaufgabe nicht sein.

Fräulein von Höchheim kam ein wenig spät zu der Einladung. Das Zimmer – wohlkonserviertes Altdeutsch von 1890, verschönt durch vergrößerte Photographien der Angehörigen an den Wänden – war von Duftschwaden durchzogen, die den trefflichen Kaffee, den teueren Zigarren aus dem Laden von Frau Kündinger entströmten.

Sie selbst zeigte die Mienen einer Besiegten.

Beim Anblick von Julie von Höchheim aber flammte ihr Temperament wieder hoch.

»Weil Sie nur kommen, gnädiges Fräulein«, rief sie mit schriller Stimme. »Jedermann will mich überreden, daß ich mich fügen muß. Sie sind eine gelehrte Dame, auf Sie setze ich mein Vertrauen. Ich prozessiere doch!«

Julie von Höchheim lächelte unmerklich. Sie war schon im Bild. Kilian Menard hatte bei ihrem Eintritt in einer Fensternische gestanden. Abseits der Versammlung, ein wenig nervös, deplaciert. Bei der Begrüßung warf er ihr keine vertraulichen Blicke zu, zeigte er keinen Enthusiasmus. Er benahm sich korrekt. Ein leiser Duft von Kölnischem Wasser ging freundlich von ihm aus.

Julie wurde an Frau Kündingers Seite genötigt und bekam Kaffee und Überangebote von Kuchen. Die Herren schienen aus ihrer Gemütlichkeit gerissen. Bäcker Frank schob Röllchen, die er abgelegt, wieder über seine Handgelenke, der Devotionalienhändler steckte ein buntes Taschentuch ein, mit dem er sich Schweiß abgetrocknet, der Filmschauspieler benutzte den Stuhl nicht mehr, auf dem vorhin seine Beine sich ausgeruht hatten, und ein fremder Jüngling blickte beiseite in seinen Taschenspiegel.

»Mein Neffe, Herr Schmittner, Corpsier«, hatte Frau Kündinger ihn vorgestellt.

»Mein Neffe, der Corpsier«, begann sie jetzt, »ist schon bei einem Anwalt gewesen, der sagt, es stünde ja im Testament, der es nix anerkennt, bekommt gar nix. Aber der alte Professor hat meine Töchter einfach vergessen, und das kann ich mir nix gefallen lassen. Recht muß Recht bleiben.«

Julie merkte, niemand wollte sich mehr äußern. Die erhitzte und ermüdete kleine Versammlung mußte schon alles aufgeboten haben, Frau Kündinger zu beruhigen. So begann denn Julie: »Ihre Töchter, liebe Frau Kündinger, sind verheiratet, nicht wahr? Und wenn ich mich so hier bei Ihnen etwas umsehe, denke ich: mit schönster Aussteuer und Mitgift in beste Verhältnisse verheiratet.«

Sie bereute ihre Rede sogleich. Denn sie eröffnete Sturzwellen, Kaskaden von Schilderungen.

Mitgift, gelobt sei Jesus Christ, ja. Weil Frau Kündinger von ihrem seligen Gatten die »Weltanschauung« sich eingeprägt, nur Grundbesitz ist ein sicherer Wert. Einen Weinberg in Rüdesheim, ein Haus in Schwetzingen hatte 1913 Frau Kündinger aus sauer Erspartem gekauft für die Sicherung einer Mitgift der Töchter. Frau Kündinger war wie trunken von den eigenen Schilderungen. Sie ersparte den Zuhörern keinen Fensterladen des Hauses, kein Treppchen des Weinberggeländes.

Also schön: Mitgift ja. Aber Aussteuer! Zuzeiten, in denen ein Stuhl siebenundzwanzigtausend Papiermark kostete, hatten die liebenswürdigen Töchter heimgekehrte Helden des Weltkrieges geheiratet. Man hat Wäsche im Kasten, wenn eine Tochter gefirmelt wird. Man hat einen »Linnenschatz« für sie gesammelt, wenn sie die Bleichsuchtszeit durchschritten. Aber wer, so frage Frau Kündinger die Mitwelt, besorge Stühle und Tische, Schränke, Kommoden und Bettladen schon vor der Verlobung für seine Töchter, die doch dem Komfort der Neuzeit huldigen und einen Geschmack besitzen?

Julie von Höchheim hatte den Redestrom über sich ergehen lassen. Nun vernahm sie wie eine Drohung die Frage: »Wer hat Stühle?« und antwortete rasch: »Nein, niemand hat doch Platz dafür.«

Frau Kündingers Augen funkelten. Sie griff wie beschwörend nach Julies Hand: »Wir verstehen uns, gnädiges Fräulein. Meine Töchter haben Möbel aus der Inflationszeit. Zu wenig, zu gering. Sie wären in der Lage gewesen, es zu verbessern. Aber ich hab' g'sagt, wo da einmal bei der Erbschaft ganze Fuhren von herrschaftlichen Garnituren, Salons und Sach' herauskommen, wird man doch warten können, hab' ich g'sagt. Wird man doch warten können.«

Julie mußte ein Lächeln verbergen. Ihr Blick irrte ab zu dem Kapellmeister. Und sie sah, er wurde blaß. Du lieber Gott, warum hatte sie ihn auch gerade bei dem Satz, man wird doch warten können, angesehen.

»Frau Bas«, ließ sich nun Bäckermeister Frank vernehmen, »schließens halt Frieden. Für zehntausend Mark kann mer neue Möbel kaufen. Wir könnten doch alle leer ausgehen. Wir dürfen alle ganz zufrieden sein.«

Der Korpsstudent und der Filmschauspieler hatten sich in ein Privatgespräch verwickelt. Der Devotionalienhändler trug nichts bei zu der Belebung des Familientages.

Julie fühlte, von ihr wurde nun ein Wort der Weisheit oder der Besänftigung erwartet. Sie war nicht phantasiereich und nicht erfinderisch. Sie hatte nur eine einfache, damenhafte Klugheit.

»Wäre es nicht viel einfacher, Frau Kündinger, Sie sprächen mit Frau von Arnim und dem Grafen Worms, als daß Sie eine feindselige Stellung gegen die Universalerben einnehmen? Es sind so viele Möbel in den beiden Häusern. Und die Erben haben doch sicher ihre eigenen Sachen, von denen sie vielleicht manches hierherbringen werden. Ich halte es immer für das beste, wenn Menschen sich verständigen.«

Frau Kündinger verlor für einen Augenblick die Sprache. War vielleicht das Fräulein von Höchheim eine Abgesandte mit Vermittlungsvorschlägen? Oder wußte sie, daß man in feinen Kreisen sich so benimmt?

»G'schenkt will ich nix«, rief sie laut, »ich bin eine Geschäftsfrau und brauch ka Wohltaten.«

»Wer spricht davon?« Julie von Höchheims Ton war ein wenig hochfahrend. Der Kapellmeister warf ein, auch er hielte eine Rücksprache mit den Universalerben für aussichtsreich. Die Herrschaften machten ihm den Eindruck, als würden sie Härten vermeiden wollen. Der Devotionalienhändler verzog spöttisch den schmalen Mund. Der Bäckermeister lächelte. Wenn die Kündingerin kam mit ihrer Suada, da ergab man sich. Lieber sechs Stühle abgeben, als sie sechs Tage anhören. Oder gar ein Jahr!

Da kam Julie ein hübscher Einfall.

»Bedenken Sie doch, Frau Kündinger, welch großer Haushalt es nun wird, wenn all die Erben auf ein Jahr Gäste bei den Universalerben sind. Stehen Sie sich gut mit Frau von Arnim, so bezieht sie alles bei Ihnen. Das gibt doch Umsatz, nicht wahr?«

Julie war jählings die Heldin des Familientags. Frau Kündinger rief: »Sie muß alles bei mir kaufen, das erfordert der Anstand. Und ich lege mir zu, was gewünscht wird. Kaffee Hag und alkoholfreie Weine und Kaviar, wenn es sein muß.«

Der Filmschauspieler sprang auf: »Sie führen also bis jetzt alkoholhaltige Weine, Verehrteste? Wir haben so große geistige Anstrengungen hinter uns, daß – –«

Frau Kündinger begriff. Julie verabschiedete sich. Der Korpsstudent bat um die Ehre, sie begleiten zu dürfen. Kilian Menard tat ihr ein wenig leid. Aber es gefiel ihr, wie gut er Haltung behielt – – –

Julius von Höchheim durchstreifte gegen Abend die Straßen. Er hätte Frau von Arnim lieber zufällig getroffen, als auf Befehl der Großmutter bei ihr im Hotel antreten zu müssen. Es schien ihm ein wenig rasch, schon wieder mit einer Einladung zu kommen. Es mochte gar zu absichtsvoll wirken. Freilich, die Großmutter nannte eine erneute Abendgesellschaft die ausgesandte Friedenstaube. Denn war es nicht wirklich überlegen, wenn die Familie von Höchheim diesen aus dem Unerwarteten aufgetauchten und so erfolgreichen Erbschaftskonkurrenten nun Freundlichkeit entgegenbrachte?

Der Privatdozent ging am Dom vorüber, suchte den Weg zum Mainkai, stand ein wenig auf der alten Brücke. Dann fiel ihm plötzlich ein, wenn er Besuch machen wollte, müßte es jetzt sein. Der graue Anzug war kein Gewand an einer abendlichen Tafel.

Im Vestibül des Hotels traf er Graf Worms, bestaubt, ein wenig erhitzt, sichtlich müde.

Julius brachte die Einladung für morgen abend vor und begründete die Bitte der Großmutter mit deren Besorgnis, Frau von Arnim würde vielleicht bald abreisen, da sie doch sicher zu Hause viel zu erledigen hätte.

Was wollen denn nur diese Höchheims ewig von uns, dachte der Graf, ging aber zum Telephon, ließ sich mit seiner Kusine verbinden. Er bekam die Antwort: »Ich flehe dich an, sage wenigstens übermorgen. Ich muß mir alles erst zurechtlegen.«

Julius von Höchheim versuchte, den Grafen noch ein wenig auszuhorchen. Also ja, Frau von Arnim würde wohl zunächst nach Hause reisen, ebenso wie Graf Worms. Julius gab sich naiv, zutraulich, temperamentvoll. »Aber Sie müssen mir versprechen, daß ich Ihnen vorher unser Würzburg zeigen darf. Sie sind Protestanten, vielleicht haben Sie ein Vorurteil gegen diese katholische Stadt. Ich muß Ihnen die Ästhetik und die frohe Heiterkeit nahebringen, die über unserer Architektur und in unserer Luft liegt. Sie finden hier, wenn ich es so ausdrücken darf, ein Stück Süden.«

Er war wieder auf der Straße. Die warme Dunkelheit des Augustabends schuf Sehnsucht. Der Main rauschte, von der Marienburg kamen in schwermütig aufreizendem Klang die Signale der Soldaten, wie man einst gesagt. Jetzt war Reichswehr auf der alten Festung. Doch es blieb der Klang aus den Zeiten, da Julius im 2. Feldartillerieregiment als Einjähriger gedient hatte und mit ihm in den Krieg gezogen war. Altes, verrauschtes Erlebnis. Man hatte in den Wäldern von Polen, in den Ebenen Flanderns gedacht, alle Wünsche seien für immer gestillt, höre man das Wehr des heimatlichen Stromes wieder und die Glocken der heimatlichen Kirchen.

Sie klangen jetzt auf zum Angelus. Von Würzburgs dreiunddreißig Kirchen setzte das Geläut ein, klang bis über die Wasser, vermischte sich mit dem Brausen des Mains. Wer soll da nicht angerührt werden!

Julius von Höchheim hemmte plötzlich den Schritt. Unbewußt hatte er den Weg zu Luisens Wohnung eingeschlagen.

Er durfte sie nicht aufsuchen. Er mußte Schluß machen. Ihret- und seinetwegen. Und so wandte er sich.

Nein, er wollte diesen Abend nicht mit der Großmutter verplaudern und nicht ihre strategischen Pläne über vorteilhafte Heiraten mit reichen Erben anhören. Er eilte in die Innenstadt in eine Weinstube. – – –

Der Oberkellner im »Weißen Schwan« sorgte dafür, daß die Herrschaften im kleinen Speisezimmer allein blieben.

Wieder saßen Armgard von Arnim und Graf Worms einander in einer Fensternische gegenüber. Wieder ließen sie die laue Abendluft hereinstreichen und hörten auf das Rauschen des Stroms.

Sie hatten die neue Lage besprochen. Frau von Arnim war in Zweifeln gewesen. Soll ein Erbe angenommen werden, das zugleich Freiheit und Unfreiheit brachte? Graf Worms war der Meinung, es wäre schöner für sie, die Winter in einer Universitätsstadt, als auf dem platten Lande zu verbringen. Ihr Sohn würde bald hier das Gymnasium, später die Universität besuchen. Die sechs Monate Zwangsaufenthalt könnten ja auch verteilt werden. Er bemerkte lächelnd, auch die Könige von Bayern waren verpflichtet gewesen, einen Teil des Jahres in ihrer Residenz zu verleben. Also, die liebe Kusine möchte nur Würzburg als ihre Residenz betrachten.

»Und du, Wedig?« fragte sie, nach einer Pause das Gespräch wieder aufnehmend.

»Ich bin entschlossen«, sagte er kurz.

Ihre Augen leuchteten auf.

»Bist du auch dazu entschlossen, daß wir eine andere Erbschaft, den mir unbekannten Streit unserer Mütter, nicht weiter pflegen?«

Graf Worms betrachtete den blauen Stein seines Siegelrings. »Ich habe es nie getan, liebe Armgard. Die Entfremdung lag nicht bei mir.«

Sie fühlte sich ein wenig verlassen, dachte, man hört sooft, daß Brüder einen sehr oberflächlichen Kontakt zu ihren Schwestern haben. Auf einen Vetter kann man wohl noch viel weniger zählen. Sie sagte mit müder Stimme: »Welchen Sinn siehst du in dieser Veranstaltung, daß sowohl du als ich für je ein halbes Jahr Pensionsinhaber spielen sollen. Müssen wir sozial denken lernen?«

Graf Worms zog die Augenbrauen hoch.

»Der Erblasser war Hochschullehrer. Also hat seine Ausdenkung vielleicht einen erzieherischen Sinn. Mein Gott, das Jahr wird vorübergehen.« Er lächelte: »Liebe Armgard, nicht jeder besitzt die Erinnerung, daß er zweimal dreihundertfünfundsechzig Mahlzeiten mit einem Devotionalienhändler eingenommen hat. Es wird dir gewiß immer so sein, als wäre der Küster der Dorfkirche zu Tisch gebeten.«

Sie lachte plötzlich hell und klirrend. »Ach, darum ist es mir nicht. Ich bin hundertmal dabei gewesen, wenn in Arnimswalde die verwundeten Soldaten zu Mittag aßen. Ich habe es lange gelernt, Menschen jedes Standes zu achten. Was mich beunruhigt, ist dies, daß wir es mit Enttäuschten zu tun haben, mit den Verwandten, die wir ohne Wollen benachteiligten. Unsere Großmutter wird in dem Testament die Wohltäterin oder gar die Lebensretterin des Erblassers genannt. War sie denn in ihrer Jugend so anders, als wir sie kannten?«

Graf Worms sah der Fragenden ruhig ins Auge.

»Du gleichst Großmama sehr. Vielleicht übtest du auch Wohltaten aus, ohne es zu wissen! Großmama war sehr schön –«

»Ach so!« Armgard von Arnim sagte es leichthin und bat um eine Zigarette. Dann fragte sie klaren, freundlichen Tons: »Ich darf aber auf deinen Beistand in den geschäftlichen Abwicklungen rechnen, lieber Wedig. Es hängt ja alles zusammen.«

Er war plötzlich heiterer Laune. »Hältst du gegen eine Wette, Armgard? Ich möchte nämlich wetten, die alte Baronin Luckner anerbietet sich, dir hierzulande das nötige Personal zu besorgen. Ich fühle irgendwie, daß sich dir von dort aus eine unabweisbare Hand entgegenstreckt.«

Sie lachte. Kindlich, ausgelassen, wie einst in frühen Mädchenzeiten.

»Gegen diese Wette kann ich nicht halten. Ich müßte damit das Opfer des Intellekts bringen. Oder gegen meine Ahnungen zeugen! Nimm andere Pfeile, mich aufzureizen.«

Sie waren für Augenblicke wie gute Kameraden.


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