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Zehntes Kapitel

Die Novemberstürme hatten ausgerast, früher Schneefall kam, und Julius von Höchheim bot sich neue Gelegenheit, Armgard von Arnim die architektonischen Schönheiten Würzburgs zu zeigen. Wie wunderlich wirkten doch Türme, Kuppeln, Ornamente mit den weißen Hauben.

Julius durfte sich gestehen, daß er einiges erreicht hatte: mit Luise Menard die völlige Unbefangenheit, mit Frau von Arnim eine gewisse Vertrautheit. Konnte er zunächst mehr verlangen? Durfte er sich weiter vorwärts wagen?

Er wollte es gerne, aber er hatte eine nervöse Furcht, Übereilung könne schaden. So behielt er, bei aller Andringlichkeit, sich geltend zu machen, immer eine gewisse Reserve, eine Taktik, die ihm auch die Großmutter riet. Doch er wußte es einzurichten, daß er Frau von Arnim oft auf ihren Kommissionswegen in der Stadt traf, sie dann begleitete oder auch bewog, mit hinauf in die Wohnung der Großmutter zu gehen.

In Würzburg begann man mit den Weihnachtsbäckereien. Die ungeheure Wichtigkeit dieser Sache war der Dame aus der Mark fremd. Sie erheiterte sich an den wunderlichen Namen süddeutschen Festzubehörs: die Blätzli (Plätzchen), der Eierzucker, die Pfeffernüßli, Zimtsterne, Spekulatius, Butterzeug, Quittenstückchen, Sandelzucker und das Heer der mächtigen Lebkuchen: die weißen, die Basler, die braunen, die Nürnberger, die Elisen, die gedrückten, die gestrichenen, die Honigkuchen, und das Backen der mächtigen Stollen wurden bei Tisch eifrig besprochen.

Armgard begriff, daß Frau Kündinger jetzt eine Blütezeit ihres Ladens hatte. Denn in all diese schönen und kunstreichen Bäckereien, die teils alten holzgeschnitzten »Mödeln« entstiegen, kamen die Gewürze aus dem alten Schrank, den das Wort »Spezerey« schmückte.

Gut, es sollte auch im Erbhaus richtig zu Weihnachten gebacken werden. Frau Kündinger sandte Frachten von Mandeln und Zitronat, Gewürznelken, Zimt, Kardamom und dergleichen mehr.

Die jungen Ehefrauen und Luise Menard verwandelten sich in Zuckerbäckerinnen. Es gab viel Spaß in der geräumigen Küche.

Julius ließ sich herbei, Formen auszustechen, Walter bemalte Lebkuchen und Zuckerreiter mit gefärbtem Eierschnee, eine festliche Geschäftigkeit verbreitete sich. Das ganze Haus war belebt von Düften. In Armgards Zimmern häuften sich Pakete, ein breiter Barockschrank nahm die Inhalte auf. Zwölf Gäste waren zu bedenken! Armgard machte es sich leicht: wozu gab es den köstlichen Laden des Herrn Lämmerer? Statuetten von Madonnen, alte schöne Leuchter, nachgedunkelte Heiligenbilder wanderten in den Weihnachtsschrank. Dazu Bücher und einige gerahmte Skizzen von Gudrune. Armgard lachte bei Betrachtung der Dinge. Niemand, auch Herr Julius von Höchheim nicht, würde sich bevorzugt oder benachteiligt fühlen. Jedes bekam ein klassisches Buch, einen heiligen Gegenstand aus der Devotionalienhandlung und ein Bildchen. Bezugvoll und bezuglos zugleich.

Die Tafelrunde aber befand sich in Peinen. Denn täglich klang es greller aus Frau Kündingers Mund, daß Weihnachten eine schöne Gelegenheit sei, Möbel zu verschenken. Man lenkte nach Möglichkeit ab, ohne Erfolg zu erzielen. Frau von Arnim begriff die Anspielung nicht. Sie merkte nur, in Frau Kündinger glomm wieder eine Art Feindschaft auf, trotz all des gelieferten Gewürzes. Das kommende Weihnachtsfest quälte sie. Sie brach nach einem Mittagessen aus: wer hatte Geld, seinen Töchtern die Geschenke zu machen, auf die sie längst Anrechte besäßen, rief sie Frau von Arnim zu. Eine Geschäftsfrau habe das Geld sicher nicht! In jeder Zeitung könne man lesen, wie die Kaufkraft des Publikums zurückgegangen sei. Nicht nur adlige Kinder besäßen heilige Rechte, und überhaupt, auch der Adlige sei ein Staatsbürger.

Armgard befiel eine leise Ungeduld.

»Liebe Frau Kündinger«, sagte sie kühl, »Ihre Töchter sind doch so gut verheiratet, haben Männer, die für sie sorgen.«

Doch Frau Kündinger ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. Jawohl, sie kenne die Welt. Und sei man eine geborene Prinzessin, ohne nennenswerte Mitgift, so bliebe dies ein Makel.

Armgard begriff nicht. Wollte Frau Kündinger wieder das Testament anfechten?

Sie seufzte, das Testament hatte sehr seine Kehrseiten – – –

Es war vor Beginn der Weihnachtsferien, alle hatten viel zu tun. Der Kapellmeister probte die vielen Chöre und Messen, Höchheim mußte öfter seine noch nicht sehr zahlreichen Hörer einladen, Julie Menard war in den Universitätslaboratorien beschäftigt. Ihr Mann hatte eingewilligt, daß sie doch ihr letztes Examen mache, die Approbation sich schaffe. Auch Ferdinand von Höchheim hörte noch Vorlesungen, er ging meist mit Luise Menard zu Kollegs über Psychologie und moderne Sprachen.

Sie waren alle so tätig. Magnus Frank durchforschte Archive, Gudrune arbeitete in ihrem neuen Atelier, der Vater Frank lief Wege für den Verein »Freiwillige Armenpflege«.

Ich bin eigentlich eine Drohne, dachte Armgard, als sie an einem dunklen Dezembernachmittag allein Tee trank. Sie besann sich, wen sie wohl besuchen könne. Es blieb nur die alte Baronin. Verkehr mit der Stadt wollte sie erst anknüpfen, wenn ihr Haus keine Pension mehr war. Es würde über die Kraft gehen, jetzt neue Beziehungen in ständiger Gegenwart der Miterben zu fördern.

Sie saß und – sehnte sich ein wenig. Nach Freiheit, nach bekannter Gesellschaft, vielleicht auch einen Augenblick lang nach Woldemar Wilhelm von Bredow und Ladalinski.

Da schrillte das Telephon auf ihrem Schreibtisch, meldete einen Fernruf.

Sie war belebt, voll Neugier.

»Wedig? Du? Ja, ich wollte dir schon schreiben, du vernachlässigst deine Pflichten. Wie? Deine Dinge in Darmstadt sind erledigt? Ich freue mich sehr – –«

Sie lachte plötzlich und wurde ganz glücklich.

»Du willst meine Kinder in Arnimswalde abholen? Aber das ist ja reizend. Natürlich, das Kinderfräulein fährt mit. Du hast ja keine Ahnung, wie Dith und Bert dich allein plagen würden. Ich danke dir tausendmal, du bist wirklich sehr gut.«

Sie kam beseligt vom Apparat, breitete die Arme aus, lief leichtfüßig durchs Zimmer.

Daß Wedig so reizende Einfälle hatte! Sie fühlte sich wie elektrisiert, war strahlender Laune.

Wedig schlug vor, er würde die Kinder in Arnimswalde abholen und von Berlin aus mit ihnen nach Nürnberg fahren. Die Kinder, die doch nun halbe Süddeutsche werden sollten, müßten das Weihnachtswunder Frankens sehen: den Nürnberger Christkindlesmarkt.

Natürlich, natürlich, dort waren einmal sie und Wedig als Kinder gewesen. Die Großmama kaufte in dieser Stadt ein Feuerbachsches Gemälde, und die Enkel durften durch die feststrahlende Stadt gehen. Wie reizend von Wedig, daß er sich für ihre Kinder das gleiche ausdachte!

Es war ihr, als bekäme sie tanzende Füße. Zwei, drei Tage Freiheit! Zwei, drei Tage mußte sie keine Pensionsbesitzerin sein. Sie wußte erst jetzt, daß sie hier keineswegs eine Drohne vorstellte, sondern immer Bürden trug. Und der Gedanke, mit ihren Kindern unter dem Schutz Wedigs durch eine frohe, bunte Stadt, in der es keine Pflichten gab, zu laufen, machte sie beschwingt, als sei ein Weg ins Grenzenlose aufgetan.

In dieser strahlenden Laune fand sie Julie Menard, die mit einem Anliegen kam.

Sie wurde stürmisch begrüßt und gebeten, in den Tagen von Armgards Abwesenheit mit ihrer Kusine doch das Tischpräsidium, die Repräsentationspflichten zu übernehmen.

»Ich fahre nach Nürnberg – zu Weihnachten fährt man doch nach Nürnberg, in das Spielwarenparadies!«

Ist denn dort Herr von Bredow und Ladalinski, dachte Julie flüchtig, nahm aber in ihrer Gewissenhaftigkeit sogleich Frau von Arnims gute Laune wahr.

»Halten Sie mich nicht für unbescheiden, Frau von Arnim –« begann sie.

Armgard goß Tee ein, lachte: »So originell bin ich nicht. Wer Sie für unbescheiden erklärt, muß entweder von Sinnen oder von subjektivsten Begriffen sein. Also, was ist's?«

Es kam zutage, Frau von Arnim verschwende soviel Teilnahme, Geduld und nochmals Geduld an die gute Frau Kündinger. Sie ertrüge wie ein Engel die Gespräche und die Prätensionen der Spezereihändlerin. Sie sei täglich bemüht, eine Mißvergnügte und Malkontente in Grenzen zu halten.

»Ach ja«, sagte Armgard aus der Tiefe eines weichen Schals heraus, »ich kann das nicht leugnen. Doch ich staune, daß andere es sehen!«

Sie wurde vertraulich zu der jungen Frau: »Ich habe oft den verzweifelten Wunsch, mit Ihnen oder Gudrune oder Luise mal gemütlich allein zu essen! Sie verstehen mich, liebe Julie – ich darf doch mal so sagen, nicht wahr –, ich möchte mit jemand zu Tisch sitzen, vor dem ich mich gehen lassen kann. Nein, nein, ich bin keine Zügellose. Ich bin weder boshaft noch intrigant. Aber manchmal wäre einem ein bißchen Mokieren, ein bißchen Klatsch, ein bißchen Frivolität so nötig. Begreifen Sie doch, immer, immer muß ich daran denken, vor dem Devotionalienhändler keine Spötterin, vor Frau Kündinger keine Hochmütige zu scheinen.«

Sie sprang auf, stürmte durch das Zimmer, hatte die Hände an ihrer blonden Haarflut.

»Ach, oft möchte man da, wie Ihr Bruder Walter so schön aus der Telephonsprache ableitet, Zwofel haben, ob die Verzwoflung abzuwenden sei.«

Julie dachte heiß: ach, wenn doch diese süße Frau unsern Julius möchte, wie wäre das herrlich.

Sie antwortete rasch: »Hinter Ihrem Rücken, Verehrteste, hat sich ein Gremium gebildet, das berät, wie man Sie etwas von Frau Kündinger entlastet. Mit Ausnahme des Devotionalienhändlers sind alle Ihre Gäste Mitglieder des Gremiums. Mein Bruder Walter, den Sie gütigst zitieren, hat vorgeschlagen, Sie möchten, gleich den Fuggern, Ihre Kamine mit Zimtholz, bezogen von Frau Kündinger, heizen, dann wäre sie vielleicht eine restlos Ergebene.«

Armgard zündete sich eine Zigarette an. »Sieh mal an, der künftige Korpsstudent bereitet mir einen Spaß. Ich will ja gerne – aber wissen Sie nicht noch andere Vorschläge?«

Julie wurde belebt, beredt: »Man hat mir die Ehre erwiesen, die Gedankengänge des Gremiums Ihnen nahezubringen. Ich fasse mich kurz. Frau Kündinger wird zur Heiligen, wenn sie aus diesem Erbhaus Möbel bekommt. Der Nichtbesitz von Möbeln aus dem Erbhaus zerrüttet ihre Seele, zerstört ihren Glauben an irdische und ewige Gerechtigkeit. Wenn Sie, Verehrteste, mit Menschen- und mit Engelszungen zu ihr sprechen, wenn Sie die Geduld einer Märtyrerin aufbieten, so ist das alles nur ein kleines Bächlein der Besänftigung. Aber wie ein majestätischer Strom von Edelmut und Güte würde es von Frau Kündinger empfunden, wenn Sie ihr für sie selbst oder die berühmten Töchter eine oder die andere der ›Garnituren‹ oder Kommoden und Schränke geben würden, die hier unbenützte Mansardenzimmer füllen.«

Armgard stand auf, machte vor Frau Kilian Menard eine Hofverbeugung. »Und Sie helfen mir beim Aussuchen? Morgen früh? Ich bin völlig hingerissen. Am heiligen Nachmittag soll ein Wagen voll Möbel bei Frau Kündinger vorfahren. Bekränzt, wenn das richtig ist. Mit einem blasenden, bayerischen Postillon, wenn das dem Anstand entspricht. Aber nun sagen Sie mir nur noch eines: was kann ich tun, den Devotionalienhändler mir geneigt zu machen.«

Julie lächelte: »Ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Aber er spricht von Pelzmänteln, die hier in Schränken sein müßten, und gut wären für einen Geschäftsmann, der wegen der Einbrüche im Winter nächtliche Wege zu gehen hat.« – – –

Die Reise, ach, die herrliche Reise.

Armgard hatte gehofft, sie käme ganz ungeleitet, ganz frei in ihr Wagenabteil. Doch natürlich, Julius von Höchheim stand an der Bahn, mit Blumen, Pralinen und illustrierten Zeitungen bewaffnet. Sie genierte sich plötzlich, daß sie erster Klasse fuhr. Es war gewiß eine Verschwendung, es war gewiß unzeitgemäß – aber mit Großmama war man immer Erster gereist, und es ging doch nach der Stadt, in der Großmama einst mit den Gebärden einer Mäzenin einen Feuerbach gekauft hatte, einst, vor fast achtzehn Jahren.

Julius wanderte nachdenklich vom Bahnhof zurück. Damen mit der Gewohnheit, erster Klasse zu fahren, besaßen wohl keine Begriffe von der Lebenshaltung eines deutschen Privatdozenten. Doch er beschwichtigte sich rasch: daß der Mann die Lebensstellung, die Frau das Vermögen bietet, war in Armgard von Arnims Kreisen, das heißt im alten Offiziersstand und der Diplomatie, ja meist das Übliche gewesen – –

Armgard fuhr durch das beschneite Land. Sie freute sich an den schönen Städtchen des Bistums und war erregt von der Erwartung des Wiedersehens mit ihren Kindern. Wie hatte sie nur all die Monate ohne die Kinder sein können!

Am Bahnhof von Nürnberg flog sie wie ein Wirbelwind auf ihre kleine Dith zu, hob die Vierjährige hoch, preßte das kleine, blonde, strahlende Gesicht an das ihre, hatte die freie Hand im dunklen Haar ihres Jungen.

Graf Worms lächelte und wartete geduldig, bis auch er an die Reihe kam, begrüßt zu werden.

»Mama«, sagte die kleine Dith, »jetzt weiß ich, wie man zu dir fährt, und wenn ich Sehnsucht habe, kann ich es ganz allein. Und wenn du mich brauchst, kann ich es auch ganz allein.«

Armgard war selig. Die Kinder, die Kinder! Ihre kleine Dith war das süßeste Mädelchen von der Welt, und wie reizend lieb und klug sah Adalbert aus! Für seine zehn Jahre war er so kräftig und groß, und in seinen dunklen, schönen Augen lag es wie Traum und Idealität.

»Wedig, Wedig, daß du die Kinder geholt hast! Und den Einfall von ein paar freien Tagen fandest!« – –

In den gut gewählten Hotelzimmern gab es Überraschungen für sie: Kiefernbüschel aus Arnimswalde, Blumen aus dem kleinen Gewächshaus.

Man nahm das Mittagessen in den Privatzimmern, und Armgard hörte die Reiseerlebnisse an. Sie merkte, Bert war mit seinen zehn Jahren schon ein kleiner Herr, und zwar mit strengem Urteil. Und vorerst ohne soziale Note. Er erzählte tadelnd von schlechten Manieren der Mitreisenden und in höchster Anerkennung von Onkel Wedigs Vornehmheit.

Belustigt und betroffen zugleich dachte sie: wie würde sich dieses Herrchen erstaunen, seine Mutter als Pensionsinhaberin zu erblicken.

Adalbert tischte Kenntnisse auf: »Onkel Wedig hat mir schon alles von Nürnberg erzählt, hier gibt es nicht wie bei uns den Uradel, sondern den Patriziatsadel, der aus dem Kaufherrnstand hervorging. Sie haben meist nicht Landgüter, aber herrliche und kostbare Stadthäuser, von Künstlern erbaut. Denn in Nürnberg hat es viele Künstler gegeben. Albrecht Dürer, Veit Stoß, Peter Vischer und den Dichter Hans Sachs.«

Armgard dachte, bald habe ich einen erwachsenen, gebildeten Sohn und bin eine alte Frau!

Sie liefen über den Christkindlesmarkt, das heißt durch die hölzerne Budenstadt, die in die Stadt einer kostbaren Architektur hineingestellt war. Die kleine Dith bebte vor Entzücken über die maßlos vielen Spielsachen, über die Lichter, die in den Buden aufglommen.

Armgard hörte auf das Geläut der alten Glocken, die schon Gustav Adolf begrüßt haben, und die vor fast zwanzig Jahren der Großmutter hier geklungen –

Sie fragte abends Wedig, als sie allein waren: »Dachtest du noch über die geheimnisvollen Beziehungen zwischen Großmama und unserm Erblasser nach? Du begreifst, daß ich in Würzburg dieses Thema meide, ja fliehe. Das heißt, die Miterben glauben wohl an die Wohltäterin, die dem Professor vielleicht das Geld zu Studium und Universitätskarriere gab.«

Graf Worms besah seinen Wappenring, und den Ring mit den Farben der Saxoborussen, den er an der andern Hand am kleinen Finger trug. »Ist dir diese Angelegenheit wirklich ein Problem?« fragte er zurück. »Mir scheint sie ebenso einfach und klar als selten. Das Einfache und Klare ist so recht eigentlich für unsere Zeit zum Phänomen geworden.«

Sie war überrascht. »Du hast sehr recht, Wedig. Und doch finde ich nicht heraus, was im besonderen Fall das Einfache und Klare sein könnte. Denn eine Wohltäterin war nun mal unsere stolze Großmutter nur durch Zeichnungen auf Listen, die durch ihren Gesellschaftskreis gingen, und romantische Neigungen zu einem bürgerlichen, unbemittelten Studenten lagen ihr noch ferner als ein soziales Herz.«

Graf Worms bot ihr Feuer zu einer Zigarette. Er war heiterer, als sie ihn kannte, und sie dachte, das kommt von dem Spaß, den er den Kindern machte.

»Entsinnst du dich an einen gewissen Dante, liebe Armgard?«

»Ja, lieber Wedig, es reicht noch soweit. Er sah eine ewig jung gebliebene Beatrice auf einer Brücke, und dieser Begegnung verdankt die Welt eine ewige Dichtung, von der wir leider selten Gebrauch machen. Wenigstens was mich betrifft. Doch weiß ich noch:

»O sinnlos-leer' Bemühn der Menschenkinder:
Wie sind doch voller Fehl die Weisheitsschlüsse,
Die erdwärts dich die Flügel schlagen lassen.«

Wedig Worms verbeugte sich lächelnd. »Schön zitiert, allen Respekt. Doch wenn ich nun meine Erklärung aus dem Geschick des Verfassers der Göttlichen Komödie ziehe, gehe ich ja nicht erdwärts. Mit einem Wort: ich setze als gewiß voraus, unser Erblasser hat einmal unsere stolze Großmutter gesehen, vielleicht auch irgendwie in ihrer Nähe sich aufhalten können, und sie wurde ihm das ewige Ideal. Er machte nicht eine Dichtung, sondern eine Erbschaft daraus.«

Sie lächelte gerührt. Nicht nur über den Professor Höchheim, sondern über Wedig Worms. Erklärungen, die jemand für Handlungen sucht, bekunden immer seine eigne Wesensart.

»Ich freue mich«, antwortete sie. »Du legst ein so schönes Motiv zugrunde, auf das ich nicht gekommen bin. Freilich, ich habe täglich den Dozenten von Höchheim zu Tisch. Daher verknüpfe ich mit dem Namen nicht das, was die Welt Verstiegenheit nennen würde.«

Der Graf lächelte innerlich.

 

Es gab eine große Sensation in Würzburg: der Wagen, beladen mit den Möbeln für Frau Kündinger, schwankte aus dem Hof des Erbhauses.

»Ziehen wir aus, fahren wir nach Arnimswalde?« fragte die kleine Dith. Und dann bettelte sie, mitgehen zu dürfen. Nein, Armgard wollte nicht Zeugin des Empfangs bei Frau Kündinger sein. Sie hatte die jungen Ehepaare und Vater Frank gebeten. Ihm war der Pelzmantel für den Devotionalienhändler anvertraut.

»Onkel Wedig geht mit euch durch die Stadt«, entschied sie. Es war im Hause noch viel zu tun, sie hatten sich in Nürnberg länger als geplant aufgehalten, eine Art Familienleben genossen.

Sie mußte die Gaben aufbauen, die Weihnachtsbäume besehen, sie hatte doch außer der offiziellen auch noch eine private Bescherung vorzubereiten.

Beschwingt und froh lief sie durch das Haus. Überall roch es so schön weihnachtlich. Sie dachte flüchtig, wie lange wohl war hier kein Fest mehr?

Im Saal, bei dem Bild der Großmutter, baute sie für die Kinder und Wedig auf. Für die »Pensionäre« im Musikzimmer. Vor Tisch wollte sie mit den Kindern sein, nach Tisch in der Allgemeinheit. Sie stand vor dem Bild der stolzen Großmutter, lächelte ihr zu, sagte laut, scherzend: »Heute muß ich zeigen, daß deine Erziehung nicht umsonst war und ich mich auch wie eine geschulte Diplomatin benehmen kann.«

Die Kinder kamen zurück. Dith erklärte, sie könne es nicht mehr erwarten, bis der Baum brenne. Der liebe Gott solle schnell draußen in der Welt finster machen. Sie faltete die Hände: betete flink und eilig: »Lieber Gott, mach es snell finster«, warf ihre Arme der Mutter entgegen: »Es ist jetzt finster, ich kann es nicht mehr erwarten, bis die Lichter sind.«

Ach – und nun wurde es wie zu Hause. Die Kleine erglühte vor Glück, Bert wurde zärtlich zu seiner Mutter, sie fieberten vor Freude, einander zu haben, die Kinder versanken in Seligkeit vor den Geschenken. Die kleine Dith fing an zu singen, zu tanzen:

»Die Rosen blühen und vergehen,
wir aber werden das Christkind sehen.«

»Muttchen, das hat Onkel Wedig gesagt. Wo ist Onkel Wedig?« Und sie rannte zur Tür.

Er ging auf dem Korridor auf und ab. Diskret, zurückhaltend wie immer. Und kam dann herein, betonte mit seinen Gaben den guten Onkel, reichte Armgard Blumen und eine schöne Ausgabe der »Göttlichen Komödie«. Ein wenig später erinnerte er Armgard, daß es wohl Zeit zu den Repräsentationspflichten sei.

Da sagte die kleine Dith: »Muttchen, sitzt bei Tisch wieder der Herr, der immer etwas will?«

Man fragte sie, wen sie meine. Die Schilderung mußte Julius von Höchheim betreffen. Armgard lächelte und bat die kleine Tochter, solche Aussprüche nicht mehr zu tun.

»Doch, der will etwas von dir, Muttchen. Der Herr gefällt mir nicht. Den mag ich nicht, hat er kein eignes Muttchen?« – – –

Man ging zum Abendbrot. Aller Gesichter strahlten Heiterkeit aus. Denn Frau Kündinger eilte der Spenderin der Möbel entgegen und rief laut und in Ekstase ihre »Danksagung« aus. Armgard wußte abzubrechen, indem sie sich lächelnd zu Eusebius Lämmerer wandte, der verlegen etwas von Gnade und Pelzmantel sprach.

Die Gegenwart der kleinen Dith war hilfreich.

Ein Auto brachte die alte Baronin zur Bescherung. Und Armgard befiel eine leise Rührung: ihre Hausgenossen hatten sie alle so persönlich und taktvoll beschenkt mit Dingen, die nicht zu großen Geldwert hatten und sich alle auf die Stadt bezogen, die ihr eine Heimat werden sollte.

Die Gegenwart der Baronin gab dem Abend eine gewisse Feierlichkeit. Die alte Dame war gerührt von der kleinen Dith, und sie flüsterte auf französisch, das Kind sei ungewöhnlich schön und wie eine Reinkarnation seiner teueren Urgroßmutter.

Man brachte die kleine Dith zu Bett. Und Armgard dachte erleichtert, die gute Baronin wird wohl auch einen frühen Aufbruch machen und diesen offiziellen Weihnachtsabend nicht zu sehr in die Länge ziehen.

Doch die Baronin Luckner hatte sich die Gelegenheit erwählt, so recht deutlich zu zeigen, wie sie mit den Schwiegerenkelsöhnen zufrieden war. Eine Familie, in der Streit oder Mißvergnügen, Enttäuschung und dergleichen herrscht, gefällt niemand. Frau von Arnim sollte sehen, im Hause Höchheim waltete eine vollendete Harmonie. – – –

Menard hatte Weihnachtslieder gespielt, seine Schwester gesungen. Punsch wurde gereicht.

Und der Punsch fuhr Frau Kündinger ins Geblüt. Sie hatte sich fest vorgenommen, an diesem Abend noch zu schweigen. Denn ein wirkliches Gefühl von Dankbarkeit war in ihr. Aber als sie nun das heiße Getränk aus den besten Marken ihres Ladens so süß durchflutete, ward ihre sonst so kämpferische Seele von allgemeiner Güte überflossen, von Zutraulichkeit und Weichheit. Sie näherte sich mit flackernden Augen Frau von Arnim und sprach: »Die Möbel sind wunderschön und machen mich ganz stolz. Ich habe auch die Ausgabe nicht gescheut, es gleich meinen Töchtern zu telegraphieren. Großartig haben gnädige Frau von Arnim das ausgewählt. Ich sage mit Recht, großartig, für feinste Herrschaften. Aber da ich doch eine Bürgersfrau bin, so drückt mich noch eins auf der Seele, e Kommödle wenn halt dabei wär', nichts nicht geht doch über e Kommödle und sicher ist noch eins im Hause.«

Frau Kündinger hatte erwarteten und unerwarteten Erfolg. Frau von Arnim sagte zerstreut: gewiß, gewiß – der übrigen Gesellschaft bemächtigte sich eine unstillbare Heiterkeit. Frau Kündinger bezog sie nicht auf sich.

Beim Abschied flüsterte Julius von Höchheim, begleitet von tiefen Blicken, sentimentale Worte über diesen herrlichen Weihnachtsabend. Er verwünschte im stillen den Vetter aus Paris, der für die Kinder den kleinen Tannenbaum von Dickens vorgelesen hatte, und er verwünschte den Grafen Worms, an dem die Arnimschen Kinder so zu hängen schienen.

Aber: »Nur Mut«, sagte ihm die ermüdete Großmutter im Auto. »Du hast heute abend eine ausgezeichnete Figur gemacht.« – – –

Armgard und ihr Sohn standen im Weihnachtszimmer. Wedig kehrte zurück, er hatte die Baronin mit an den Wagen gebracht. Die Hausbewohner gingen auf ihre Zimmer, sich die Überkleider zum Besuch der Christmette zu holen.

Adalbert von Arnim nötigte seine Mutter in einen Lehnstuhl. »Ruh dich aus, Muttchen. Einige von diesen Menschen sind eine Qual und nicht Klasse. Sag mal, Muttchen, können wir denn hier nicht so recht gemütlich mit Onkel Wedig allein sein?«

Sie lächelte in leichter Befangenheit. Und bekam plötzlich Lust, auch hinaus in die weiße Schneestille zu gehen, unter dem Geläut der mitternächtlichen Glocken.

»Komm, Bert«, antwortete sie. »Onkel Wedig wird uns etwas sehr Schönes von Würzburg zeigen: die nächtliche Feier im Dom.«

Bert krauste die schmale Stirn: »Wir sind doch evangelisch!«

»Wir sind Christen«, antwortete sie, »und gehen zu einer Feier, an der wir wohl Teil haben.«

Pelzumhüllt betraten sie die nächtliche Stadt.

Bert begann: »Ich habe im Planetarium in Berlin gehört, daß der Stern der Weisen, Stella magica –«

Die Mutter unterbrach sanft: »Hier ist kein Planetarium über uns, sondern der wirkliche, unermeßliche Sternenhimmel der heiligen Nacht. Such dir einen schönen Stern aus, mein Junge.«

Er antwortete: »Wenn ich erwachsen bin, wird es wieder Preußens Sterne geben, den Stern vom Schwarzen Adler, den Pour le mérite. Und ich werde Chance haben.«

Sie erschrak ein wenig, bedachte rasch, das waren nachgeredete Worte seines Onkels Arnim. Sie hoffte anderes von Preußens Sternen, als gerade die Wiederkehr von Orden. Sie erhoffte für Altpreußen eine neue Stellung im Gefüge einer erneuten Welt, deren einzelne Staaten ein heiliges Wort, ein heiliger Begriff verband: die Menschlichkeit. Vielleicht war sie eine Träumerin. Aber die Glocken der Christnacht warfen ihren erhabenen Klang der Unermeßlichkeit des Sternenhimmels zu, und sie ging hier mit ihrem kleinen Sohn und mit ihrem einzigen erwachsenen Blutsverwandten. Da darf man wohl ein wenig träumen und der Seele lautlose Schritte erlauben, lautlos, wie hier der Fuß den weißen Schnee berührte – – –

Am Nachmittag des letzten Dezembertages erwartete Luise den Besuch von Ferdinand von Höchheim in der alten Menardschen Wohnung.

Der Kapellmeister nannte es »Ferienzeit«, daß er mit Frau und Schwester in aller Offenheit für einige Tage in das eigene Zuhause übergesiedelt war. Die Proben zu der vielgestaltigen Kirchenmusik, die Aufführungen hatten ihn ermüdet. Auch fand man es taktvoll, Frau von Arnim mit ihren Kindern etwas allein zu lassen. Und Julie mußte doch auch das eigene, schöne Wohnzimmer in Benutzung nehmen, das ihr guter Kilian mit gar vieler Mühe zu Weihnachten besorgt hatte: Biedermeierstücke, denen der Großmutter ähnlich.

Luise war unruhig. Das Kommen Ferdinand von Höchheims bedeutete viel: sie hatte ihm ihre im Rohbau vollendete Arbeit anvertraut, und er würde ihr nun sein Urteil darüber sagen. Sie wußte, in literarischen Fragen war er fern von liebenswürdiger Beschönigung. Sein Geschmack, sein Wissen, seine Kenntnis von allen neuen Strömungen befähigten ihn, Wertmaße auch dann anzulegen, wenn ein literarisches Produkt mit seiner Lebensauffassung nicht zusammenklang.

Sie war in nervöser Stimmung. Bedeutete ihr doch sein Urteil eine Art Entscheidung.

Gewiß, ihrer Arbeit fehlte noch manches. Sie hatte viele Kapitel nur inhaltlich skizziert, aufgebaut, aber nicht ausgearbeitet. Denn es war ihr zunächst darum zu tun, ob das Gefüge des Ganzen als eine Leistung oder Talentprobe gelten dürfte.

Ferdinand von Höchheim ließ auf sich warten. Das war sonst nicht seine Art, und es steigerte ihre Unruhe. Sie dachte, auf und ab gehend, wenn sie einem Phantom nachgehangen hätte? Wenn ihre Leistung den Durchschnitt nicht irgendwie überragte? Was dann?

Und sie fühlte sich zu dem kleinlichen Schritt versucht, sie wolle sich dann gleich zur Schule zurückmelden. So sehr sie Frau von Arnim schätzte, es wäre besser, nicht soviel Zeit in dem Erbhaus verbringen zu müssen. Sie war fertig geworden mit jener Neigung für Julius von Höchheim. Es hatte Wochen gegeben, in denen es dazu eines großen Willens zur Resignation bedurfte. Dann – wirkte weniger die allmächtige Zeit als sein Verhalten. Wer ihn kannte, merkte allzu deutlich, wie er sich um Frau von Arnim bemühte. Nur diese selbst – die holde Unbefangene nannte Luise sie – übersah sein aufgeregtes, andringliches Gebaren. Seine Schmeicheleien bekamen die servile Note der Unsicherheit, sein tägliches Sichgeltendmachen wirkte fast peinlich. Er verstand die zu desillusionieren, der er einmal ein großer Reiz gewesen.

Sonderbar, dachte Luise, Frau von Arnim hatte nie ein Gefühl von Eifersucht in ihr erweckt. Man ließ ihr so unbestritten ihren Rang, das heißt ihre vornehme Schönheit, ihre launenlose Freundlichkeit, ihre ausgeprägte Loyalität. Diese Frau wollte gewiß nicht mit Willen andern Kummer bereiten, noch störend in ihre Beziehungen eingreifen. Indessen – den Mann, der einen einmal verwirrt hatte, täglich vor ihr als ergebenen Diener und ehrgeizigen Prätendenten zu sehen, war oft quälend.

Luise blickte nach der Uhr. Gegen drei hatte Ferdinand von Höchheim bei ihr sein wollen, nun war es fast Abend. Sie hörte, wie ihr Bruder und seine Frau aufbrachen zum Silvestergottesdienst. Sie kamen rasch zu ihr herein, verabschiedeten sich, sagten, gewiß hielte die Großmama den von Luise erwarteten Besuch fest. Bei Großmama fänden selbst gewandte Diplomaten die Tür nicht, wenn sie es nicht wolle.

Wieder tröpfelten die Minuten so langsam. Luise stand am Fenster, sah über den beschneiten, alten Garten hin. Silvester, Jahresschluß. Ach, sie wollte nicht zurückblicken. Vielleicht, in einer Ferne, würde der »sorglose Tag« mit Julius ein freundliches Erinnern. Vielleicht – mußte sie auch nicht noch ganze acht Monate hier ihn täglich sehen. Auch die andern Erben reisten ja zuweilen.

Sie wollte zufrieden und dem Schicksal dankbar sein, wenn nur ihre Arbeit nichts Halbes bedeutete.

Plötzlich war Ferdinand von Höchheim bei ihr.

Sie hatte sein Kommen, sein Eintreten überhört und erschrak vor seinem Anblick.

Er aber lächelte, beugte sich über ihre Hände und sagte: »Sie haben etwas Echtes und Schönes geschrieben.«

Luise errötete vor Freude.

»Sie werden mir keine – Freundlichkeit sagen, nicht wahr, Herr von Höchheim?«

Er war belebt, kam aus seiner Reserve. Mit seinen langen Schritten lief er durchs Zimmer, bat, ob er sich eine Zigarette nehmen dürfe, ja, und wenn sie noch Tee machen möge, er wäre sehr durchgefroren.

Sie schaltete den elektrischen Kocher an, fühlte, daß ihre Hände ein wenig zitterten, fragte, ob er noch Zeit habe, ihr mehr zu sagen.

Über sein schmales, blasses Gesicht floß Röte. Er bat hastig um Entschuldigung für sein verspätetes Kommen, er hätte nicht anders gekonnt.

Dann ging er auf das Manuskript über. »Sie haben etwas Ungewöhnliches geleistet. Sie haben Ihren eigenen Stil gefunden, und Ihre Schilderungen sind plastisch, Ihre Menschen stehen da und leben. Auch die alte Stadt lebt, und über die Rebenhügel und den Fluß fühlt man den Wind streichen – – –«

Sie war bestürzt vor Freude. Er gab noch Einzelheiten, sagte ihr, was sie vielleicht in den nur skizzierten Partien auslassen oder noch anfügen solle, alles Dinge, in mehr Ruhe morgen noch zu besprechen. Denn es wäre doch bald Tischzeit im Erbhaus.

Sie reichte ihm Tee, und merkte mit Genugtuung, der sonst so Korrekte war so angeregt, daß er nicht stille sitzen konnte.

»Ich fahre übermorgen nach Paris – ich bin in sechs Wochen wieder in Deutschland, ich habe Verabredungen in Leipzig. Können Sie Ihre Arbeit bis dahin fertig haben? In mehreren Kopien? Ich treffe in Leipzig einige Verleger. Wie glücklich wäre ich, Ihrem Werk den Weg zu bahnen.«

Sie empfand plötzlich, daß nur ein freundschaftliches Herz so starker Mitfreude fähig war. Und ihr Selbstgefühl hob sich, sie sah sehr hübsch aus, empfand auch ihre Wirkung auf den lebhaft Sprechenden.

»Ich kam nach Würzburg, um neben der Erbschaftssache etwas von Max Dauthendey zu hören. Die Erbschaft und Max Dauthendey haben mir nun zu einer so lieben und interessanten menschlichen Beziehung verholfen. Wären das hier nicht Teetassen, so würde ich das Trinkgefäß erheben und sagen: Stoßt an, Würzburg soll leben!«

Er zog mit der sonderbaren Bewegung, die wie aus Nachdenken zu kommen schien, die allzu gewaltige Unterlippe ein, und Luise dachte, wie konnte ich ihn einmal häßlich finden? Dieser Mund ist ein Abzeichen von Dekadenz. Aber die Dekadenz in ihm äußert sich nur in sehr verfeinerter Kultur, gegen körperliche Schwäche vermag er die Kraft eines großen Willens aufzubieten.

Sie verplauderten sich, mußten eilen zu der Silvesterfeier. Ferdinand von Höchheim schlüpfte in seinen Mantel, fragte: »Sind Ihre Verwandten noch hier? Nein – ich habe vorhin mich um keinen Preis mehr aufhalten lassen wollen. Ich kam nämlich so spät, weil mein Vetter Julius einen Unfall hatte. Bruch des Oberschenkels.«

»Jetzt, diesen Abend?« Sie fragte es ruhig.

»Ja, und zwar auf einem Weg mit mir. Er besorgte etwas für den Silvesterabend und war sehr eilig damit, er wollte die Kinder von Frau von Arnim überraschen, ich glaube, mit einer Schlittenfahrt. Er glitt auf einer steinernen Haustreppe aus und fiel so unglücklich. Es setzten sofort starke Schmerzen ein. In meiner Unwissenheit wollte ich ihn ins Juliusspital schaffen. Da lachte er noch und antwortete: Julius im Juliusspital klänge zwar sehr passend, aber er wäre noch kein Pfründner.«

»Und wohin brachten Sie ihn, und was sagte der Arzt?«

Luise fühlte sich nun doch sehr betroffen. Für Julius endete das Jahr mit einem schweren Unfall?

»Julius verlangte in die Privatklinik eines ihm bekannten Chirurgen, zu Professor Müller. Er wird lange liegen müssen. Glücklicherweise war das Ehepaar Frank bei der alten Baronin, als ich die Nachricht brachte.«

Luise sagte Worte des Bedauerns. Dann ging sie mit Ferdinand von Höchheim unter dem aus unermeßlicher Ferne flimmernden Himmel der Dezembernacht dem Erbhaus zu.

»Diesen Abend soll den Kranken niemand mehr besuchen«, bemerkte Höchheim. »Auch wohl die nächsten Tage nicht. Er hat sehr heftige Schmerzen, der Bruch ist kompliziert. Aber er hat es besser, als einst die Brüder im Kriege. An jene Lazarette zu denken, quält immer noch.«

Sie fragte, wo er im Feld gestanden habe.

»Wohin mich meine Weltanschauung rief, und wohin mich auch die Militärkommission ließ: bei den dienenden Brüdern des Johanniterordens.«

Sie war angerührt von der Einfachheit seiner Worte. Und dachte zugleich: armer Julius von Höchheim. Da ist nun ein Unfall mitten in Plänen, in fieberndem Willen zur Macht.

Sie gingen eine Weile schweigend. Dann, als sie den weiten, menschenleeren Residenzplatz überschritten, blieb Ferdinand von Höchheim stehen und blickte zum Himmel auf. Er sagte: »Wer vermag zu begreifen, daß wir die Unermeßlichkeit des Weltraums, die uns beim Anblick des gestirnten Himmels erschauern macht, ebenso fühlen, wenn ein Stück einfaches Wiesenland vom Gezirpe der Grillen durchtönt ist?«


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