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Fünftes Kapitel

Baronin Luckner war in strahlender Laune. Wie festlich, wie reizvoll wirkte diese kleine Tafelrunde um den ovalen Auszugstisch. Gudrune hatte Weinranken um den Reif der elektrischen Krone geschlungen, Blätter von dunklen Trauben, die rötlich schimmerten. Und Graf Worms bemerkte gleich »die künstlerische Hand«, sprach von der Begegnung im Schloß, interessierte sich lebhaft für Malerei.

Frau von Arnim – nicht ganz so schön wie einst ihre berühmte Großmutter, aber eine außerordentlich vornehme Erscheinung – ließ sich interessiert von Julius unterhalten.

Der achtzehnjährige Walter, eckig, übereifrig, im Glanze seines Tanzstundenanzugs, war sichtlich bestrebt, heute nicht als Wanderbursche, sondern als junger Herr zu gelten.

Julie fehlte. Sie hatte wieder Nachtdienst in der Apotheke. Die Großmutter bedauerte das kaum. Julies Erscheinung konnte mit Frau von Arnim nicht konkurrieren und war auch nicht ein absoluter Gegensatz, wie die brünette Gudrune. Julie wirkte leicht etwas bürgerlich oder zu einfach. Sie sah in Tageskleidern besser aus als in Abendtoilette.

Die Baronin entsann sich, daß sie an ihre Existenz noch einmal erinnern müßte, um ihr gerecht zu werden.

»Meine Enkelin Julie bedauert so sehr, Sie heute noch nicht kennenzulernen, liebe Frau von Arnim. Aber die Pflicht, nicht wahr, die Pflicht! Unsere heutige Jugend ist so überaus tätig, wie es eben die Zeit erfordert. Indem ich die Jugend verstehe, habe ich ein wenig gelernt, die Zeit zu verstehen.«

Wie vollendet höflich war doch die schöne blonde Frau. Sie lächelte und sagte: »Ich finde Apothekerin einen reizenden, wirklich frauenhaften Beruf. Erstens liegt der schöne Sinn darin, Heiltränke zu bereiten, zweitens ist die Beschäftigung mit den kleinen Gewichten, kleinen Maßen so zierlich. Und dann haben Apotheken doch so etwas Zauberhaftes durch die vielen altmodischen Gerüche von Kräutern und Blüten. So wie einst die Lavendeltöpfe oder Rosenblätterbehälter es hatten.«

Julius lächelte, warf rasch ein: »Gnädigste Frau wissen von Lavendeltöpfen? Das klingt ganz märchenhaft.« Und sein Blick drückte aus: Sie sind strahlende Gegenwart und haben nichts von alter Lavendelwehmut.

Julius rühmte und pries die Schönheiten von Würzburg. Er reihte in beredtem Vortrag berühmte Namen auf: Tilman Riemenschneider, Walter von der Vogelweide, und kam zuletzt auf den liebenswürdigen Dichter Max Dauthendey.

Die Großmutter staunte und bewunderte. Wie hübsch Julius aussah! Wie angeregt er war. Sonst dozierte er oft ein wenig, aber heute berührte seine Rede auf vollkommen gesellschaftliche Weise alle Dinge nur elegant und rasch. Sicher, er war beeindruckt von der schönen, blonden Frau von Arnim. Seine Augen blitzten, die Lebhaftigkeit seiner Gebärden hatte etwas Festliches, und er verbreitete seine Stimmung auch über die andern.

Die Baronin hob die Tafel auf. Man ging in ihr schönes, großes Wohnzimmer hinüber, wo überall die Blumen dieser blauen Augusttage standen: Phlox und weiße Klematis, Rosen, Reseden.

Ein Lächeln kam der alten Dame. Der achtzehnjährige Enkel kehrte den jungen Herren heraus, bot Frau von Arnim Zigaretten an und erzählte ihr von seinen letzten Theaterbesuchen. Graf Worms ließ sich von Gudrune die Familienbilder an den Wänden erklären.

Julius trat für einen Augenblick zu der Großmutter. »Ich fand in meinem Zimmer die Besuchskarte von Vetter Ferdinand. Du nahmst ihn nicht an, Großmama?«

»Doch, Julius. Ich sprach diesen Herrn aus Paris fünf Minuten.« Sie senkte die Stimme: »Du begleitest heute abend Frau von Arnim zum Hotel. Nicht Vetter Ferdinand.« Sie wußte geschickt zu lenken, die alte Diplomatendame.

»Lieber Walter«, sagte sie wie nebensächlich und doch so akzentuiert, daß alle es hören mußten, »du bringst deiner Schwester eine Thermosflasche mit Tee in die Apotheke. Ein kleiner Trost im Nachtdienst.«

Dann fügte sie mit ihrem Gesellschaftslächeln hinzu: »Vielleicht machen unsere lieben Gäste auch den Weg durch die Stadt im Mondlicht. Und du zeigst ihnen, wie Würzburger Studenten nachts die Menschen herausklingeln.«

Frau von Arnim, die Wohlerzogene, von ihrer alten Kultur auch Gebrauchmachende, stimmte lebhaft bei. Es freue sie sehr, daß es auf diese Weise noch möglich sei, die leider fehlende, andere Enkeltochter der Baronin heute noch kennenzulernen.

Ein abendlicher Spaziergang also noch! Die Großmama verstand ja die Jugend, lächelte Gudrune im stillen. Und es ergaben sich drei Paare für den Weg: Julius mit Frau von Arnim, Gudrune mit Graf Worms, Walter mit der Thermosflasche!

O großmütterliche Regie! Sicher wußte Julie davon, sicher trug sie ihr vorteilhaftestes Arbeitskleid unter dem flotten, frischen Leinenkittel!

Die drei Paare betraten die Straße. Mondlicht war. Julius von Höchheim fühlte sich beschwingt, jung, angeregt, einen wiedergefundenen Leichtsinn im Herzen. Der sorglose Tag, so empfand er, nahm reizvollsten Abschluß. Er hatte heute in Veitshöchheim alles im Schwebenden gehalten, war im angenehmen Gefühl, Luise ging es ebenso. Und das ist ein köstliches, frohes Erlebnis zu erfahren, an einen glücklichen Tag muß sich nicht Schwere und Verantwortung knüpfen.

Jetzt ging er neben einer vornehm geborenen, sehr eleganten, schönen Frau, die erlesen gekleidet war, um die der Hauch der großen Welt lag, durch die Mondscheingassen der alten Stadt. Sie blieben im Hof des alten Universitätsbaues stehen, der reiche Barockturm schimmerte im Licht, die alten Kolleghäuser mit den Laubengängen und den Giebeln erinnerten Frau von Arnim flüchtig an Heidelberg.

Walter hörte ihre Bemerkung und begann prompt zu singen:

»Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren.«

Sein Bruder erklärte: »Dies ist der Juliusbau der alten Universität, gnädigste Frau! Unerbittlicher Ernst der Mauern und die freundliche Stille alter Bäume. Oder die ewige Jugend alter Bäume. Sie müssen unsere Stadt kennenlernen, gnädigste Frau, es lohnt sich wirklich.«

»Sie haben immer hier gelebt, Herr von Höchheim?«

Er lachte ein warmes, sinnliches Lachen. »Immer, gnädigste Frau? Welcher Heroismus wäre das, welche Geschlossenheit. Es gibt meines Wissens nur einen Menschen, der immer in einer Stadt gelebt hat, das war Kant in Königsberg.«

Seine Art, die Worte rasch und akzentuiert herauszustoßen, daß sie wirkten, wie der heiße Atem großen Temperamentes, war Frau von Arnim neu. Ihr flüchtiger, scherzhafter Blick streifte ihn.

»Und mit Kant wollen Sie nicht verglichen werden, Herr Privatdozent? Doch, ich verstehe. Ich meinte natürlich, Würzburg ist Ihr Zentrum, Ihre Residenz.«

»Tausend Dank«, antwortete er angeregt. »Und wenn Sie gestatten, gnädigste Frau, darf ich Ihnen diese Residenz auch am Tage vorstellen. Hier ist ein ewiger, schöner, wunderbarer Wind. Unsere Heiligen, die so freigebig die Stadt bevölkern, haben gebauschte Gewänder, und man glaubt den wunderbaren Wind in ihnen zu hören. Unsere Kuppeln und Giebel tragen die Gebärde des Elans, als wollten sie aufrauschen in blaue Himmel. Ich will gar nicht von Wein und Weinbergen sprechen. Aber selbst unsere Wiesen haben etwas Erregtes, nirgends auf Erden blüht der blaue Stolze-Heinrich so affektvoll wie hier, nirgends auf der Welt gibt es so elegante Margaretenblumen und so überschwänglichen Salbei als auf den Wiesen um Würzburg.«

Frau von Arnim lachte. Sie waren vor der Apotheke angelangt. Nachtstill lag das alte Haus.

»Beim heiligen Kilian«, rief der Träger der Thermosflasche, »eines muß aber doch krank sein und ein Rezept haben.«

Graf Worms verbeugte sich vor seiner Kusine: »Nimm Arrows«, sagte er lächelnd. »Ist Arrow-root nicht ein Pulver, eine Wurzel? Wir wollen den Befehl ausführen und danach fragen.«

Der Gymnasiast drückte auf die Nachtklingel und fing an zu miauen: »Mein Käterlein ist so krank, so krank.«

*

Ein goldenblauer Augusthimmel stand über Würzburg. Die Erben bereiteten sich vor zum Wege in das Erbhaus, zur Testamentseröffnung.

Frau Kündinger hatte ihren Laden mit Spezereien der Obhut einer treuen Hausbewohnerin anvertraut und sich selbst in ein schwarzes Gewand geworfen, dessen Düsternis sie durch das Anstecken einer zwar altmodischen, aber kostbaren, aus Elfenbein geschnitzten Rose und durch einen schwarzweiß bebänderten Hut milderte.

Der Besitzer der Devotionalienhandlung, Herr Eusebius Lämmerer, war und blieb eine dürftige Gestalt trotz hohen Stehkragens und sehr großer, schwarzer Stiefel, auf die sich der Fall seines Beinkleides in barocker Drehung herabschlängelte.

In »Onkel Toms Hütte« war man auch mit dem Ankleiden zu dem festlichen Akt beschäftigt. Magnus Frank entschied sich für einen grauen Straßenanzug und verwarf den ernsthaften Cut. Denn wenn man feierlich kam und dann hörte, man erbe ein Andenken, ein Schreibzeug oder einen Briefbeschwerer, wurde es zu lächerlich, dachte er. Sein Vater freilich nahm die Sache höchst wichtig. Er kam im langen, schwarzen Gehrock herein, den Zylinder in der Hand, die schwarzen Glanzhandschuhe übergestreift. Ein Wortwechsel entspann sich. »Das kommt mir net drauf an, was die andern von mir denken«, sprach der Bäckermeister. »Mit meinem schwarzen Rock erweis' ich dem Erblasser die Ehr', und ich hab' keine abgestuften schwarzen Röck', sondern bloß den einen. Sei so gut, Magnus, und geh du net neben mir her, wie einer, der bloß einen Spaziergang macht.«

Magnus seufzte! Also doch der Cut! –

Baronin Luckner betrachtete die Fortgehenden. Nicht so sehr ihre Kleidung! Da wußten sie selbstredend das Schickliche. Die alte Dame las noch in den Mienen. Wohin würde Enttäuschung fallen? Wer von den Enkeln kam wieder und war reich geworden?

Luise Menard und ihr Bruder, die einzigen, denen der Erblasser näher bekannt gewesen, hatten sich ein wenig verfrüht schon in das Haus begeben. Sie verbargen voreinander ihre Unruhe, die dem Wiedersehen mit Julius und Julie von Höchheim galt, und sahen sich die alten Gemächer und Gelasse noch einmal an. Als sie nach dieser Wanderung in den großen Empfangsraum des Erdgeschosses zurückkamen, fanden sie schon eine stattliche Versammlung: Franks, Frau Kündinger, Herrn Lämmerer, von Höchheims und einen großen, hellblonden Fremden.

Luise befiel eine leichte Unsicherheit. Wie würde Julius sie begrüßen? Er eilte herbei, sah ihr sekundenlang lieb ins Auge und nahm dann den frischen Ton der Herzlichkeit an, der leichte Brücken schuf.

»Ich darf Ihnen unsern Vetter, Dr. Ferdinand von Höchheim, vorstellen«, sagte er, nachdem Luise die Damen begrüßt hatte. »Mein Vetter lebt in Paris.«

Noch ein Erbe? Luise Menard mußte fast lächeln und betrachtete sich den Fremden. Er war breit in den Schultern, schmalhüftig, sehr schlank, sehr groß, hatte die hellen Haare zurückgebürstet und einen frauenhaft zarten Teint. Seine Unterlippe war so sehr vorgeschoben, daß er sich gerne für einen Habsburger hätte ausgeben können. Aber er regierte beim Sprechen diese auffällige Lippe sehr gut. Luise kam, ohne es zu wollen, in eine Unterhaltung mit ihm. Er fragte, ob sie vielleicht in der Kindheit Max Dauthendey noch gekannt habe, den wahrhaft liebenswerten Sohn dieser Stadt. Da ergab sich, daß Luise etwas erzählen konnte.

»Aber nicht hier«, antwortete rasch der hellblonde Herr. »Hier ist es wie im Eisenbahnabteil. Man fühlt sich dezentralisiert. Man denkt im Unterbewußtsein immer an das Ziel. Alle Bücher, die man in der Bahn liest, werden irgendwie gering, von unbewußtem Unbehagen durchtränkt. Daher ist es eine hübsche Einrichtung, daß auf Bahnhofsbuchhandlungen das Geringe oder die Tagessensation so gepflegt wird.«

Sie antwortete einfach, es sei ihr eine Freude, anderswo von Max Dauthendey zu sprechen. Einem Abgeschiedenen gehöre die stille Stunde.

Plötzlich war ein aufgeregter Herr im Raum. Er wirkte als die Verlebendigung eines Modebildes, er war sandfarben gekleidet, trug ausgeschnittene helle Schuhe, wiegte sich in den Hüften, war sehr pomadisiert, strömte Wohlgerüche aus und war außerdem auf unbestimmbare weise vom Duft fremder Welten umwittert.

Dieser aufgeregte Jüngling verbeugte sich und schnarrte seinen Namen: »Donald.«

Er überflog mit seinen dunklen Beerenaugen die Versammlung, schien erstaunt, daß er nicht Aufsehen erregte, und rief noch einmal, lauter: »Donald.«

Die Damen nickten, die Herren nannten ihre Namen. Herr Donald blieb in der Mitte des Raumes stehen, wiegte sich in den Hüften, bewegte nervös seine Arme und stieß plötzlich hervor:

»Herrschaften, Sie müssen doch aufgeregter sein! Sie müssen Affekte zeigen! Sie sind doch zum mindesten alle Edelkomparserie.«

Julius von Höchheim fühlte sich als Hausherr, trat auf den Eindringling zu. »Was wünschen Sie hier? Haben Sie hier etwas zu tun?«

Er sagte es in freundlicher Weise. Der Beerenäugige warf den dunklen Kopf zurück.

»Nun, Sie sind doch die Versammlung der Erben, soviel ich hörte. Mein Name ist Donald, verstanden Sie nicht? Sie müssen doch wissen, ich bin hier ein Verwandter, wahrscheinlich der nächste Verwandte. Ist dieser Ort von jeder Kultur verlassen? Kennt mich denn niemand von den Herrschaften?«

Es lag ein so ehrliches Erstaunen in den dunklen Beerenaugen, daß man begriff, hier stand eine unerkannte Berühmtheit, hier stand ein Mann, der nicht Edelkomparserie war, sondern etwas Einmaliges. Sein Bild hatte gewiß schon alle Filmzeitschriften durcheilt und war unzählige Male auf Leinwanden geworfen.

Ein Filmkönig im Exil!

Julius von Höchheim lächelte leicht und überlegen. »Sie sind in einer Provinzstadt, Herr Donald.«

»Und all die Damen und Herren hier sind Miterben? Welche Zersplitterung der Kräfte.« Er blickte um sich, machte plötzlich eine Gebärde des Staunens und stieß ein leises »Donnerwetter« aus.

Durch die offenen Flügeltüren der vorgelagerten Räume kamen zwei Gestalten: beide hochgewachsen, beide fremdartig wirkend, beide von vollkommener Eleganz und Vornehmheit, ein wahrhaft stolzes Paar: Frau von Arnim und Graf Worms.

Julius war einen Augenblick verwirrt. Gudrune und Julie kamen ihm zuvor, Frau von Arnim zu begrüßen.

Frau Kündingers Gesicht verlängerte sich. Nahmen die Miterben kein Ende? Und, großer Gott, war diese Dame etwa eine Fürstin?

Frau von Arnim besaß keine Prätensionen. Sie tat nur, was ihr Gewohnheit war. Sie blieb erwartend stehen, daß man ihr die Anwesenden vorstelle oder sie mit ihnen bekanntmache.

Als Luise Menard in das schöne, kühle Gesicht Armgard von Arnims blickte, wußte sie instinktiv, sie stand einer zum Herrschen geborenen Frau gegenüber. Einer – Feindin vielleicht. Jedenfalls einer Natur, der alles zu Willen ward, was sie wollte. Luise fühlte ein aufziehendes Erschrecken und zugleich eine starke, ästhetische Anziehung.

Eine schmale Hand in weißem dänischen Leder gab fast kameradschaftlichen Druck. Frau von Arnim dachte, dies ist das bedeutsamste weibliche Gesicht hier.

Frau von Arnim reichte auch Frau Kündinger die Hand und entwaffnete für Augenblicke eine der Vielzahl in diesem Raume bitter Zürnende.

»Die Erben sind wohl nun versammelt«, sagte Julius, tauschte einen raschen Blick mit Luise, in dem ein Schein des Gestern lag.

Man gruppierte sich, plauderte, gab sich möglichst unbefangen. Julie von Höchheim und Luise Menard wurden von Frau von Arnim beansprucht, der Kapellmeister stand bei ihnen. Frau Kündingers scharfem Blick entging es nicht, daß das vornehme Fräulein von Höchheim den schönen Magnus recht gut zu kennen schien. Die beiden Bürgersmänner Frank und Lämmerer tauschten Schweigen in einer Fensternische. Der Filmschauspieler unterhielt Walter von Höchheim über seine Weltkarriere. Graf Worms, Ferdinand und Julius von Höchheim führten ein Gespräch über van Gogh, Manet, Gauguin. Ab und an sah einer der Herren nach der Armbanduhr. Es war doch die bestimmte Stunde da.

Sie hielten sich alle in Form. Jedes der Anwesenden betonte auf seine Art, daß es den kommenden Enthüllungen gewachsen sei. Unter der Wucht dieser Majorität zügelte auch Frau Kündinger ihr Temperament. Nur die das Einfüllen, Abwiegen, Tütenschließen gewohnten Hände waren hilflos und führten ein unruhiges Eigenleben an den Kleiddekorationen und Frau Kündingers Brosche, die eine Rose und aus Elfenbein geschnitzt war.

Ein Bote kam durch die Zimmerflucht.

Mit hochroten Wangen, bebenden Gliedern, sensationsglücklichen Augen stand ein junger Mensch da und richtete aus: »Eine Empfehlung von Herrn Notar Wieprecht, und die Herrschaften möchten so gut sein und es nicht übelnehmen, daß er sich ein wenig verspäten muß. Grad' wie er fortgewollt hat, is der Kronprinz vom Spessart her im Auto vorgefahren und muß ihn was fragen. Sobald der Herr Notar kann, kommt er.«

Lähmung befiel die Versammelten. Nur der Filmschauspieler kam in Schwung. »Ein Kronprinz? Rupprecht? Ah, das muß ich sehen.« Und er wirbelte dem Boten nach. Die Zurückbleibenden versuchten erneut Gespräche. Über Seine Königliche Hoheit den Kronprinzen Rupprecht.

Der gute Bäcker Frank sagte laut: »Wir müssen hoffentlich nicht so lang auf den Notar warten, wie der Kronprinz auf seinen Thron.« Takt warf rasche Worte über diese Fatalität. Gewandtheit formte noch Gespräche. Doch das Warten war plötzlich entnervend geworden.

Frau Kündinger konnte sich nicht mehr mäßigen. Ihr schwarzes Kleid wehte in die Fensternische zu den schwarzberockten Bürgersmännern, und man hörte erregte Laute. »Mein Neffe, der Korpsstudent, sagt – aber ich prozessiere, wenn meine Töchter enterbt werden –«

Magnus Frank fiel das Wort »enterbt« aufs Gemüt. Er mußte doch die Dozentenlaufbahn erringen, Gudrune von Höchheim konnte nicht einen Mittelschullehrer heiraten. Heilige Maria und Joseph, ein bißchen Geld wird doch herauskommen! Heilige Maria und Joseph, die Gudrune wird doch nicht so reich werden, daß ich mich zurückziehen muß?

Frau von Arnim machte noch immer eine liebenswürdige Konversation mit den jungen Damen. Sie war die Ruhigste. Sie hatte eine gesicherte Lebenslage. Flüchtig dachte sie, Vetter Wedigs Verhältnissen würde ein Erbanfall gut tun. Zugleich erriet ihre Feinnervigkeit, daß für die andern der Versammlung vielleicht Schicksalswendung von dem Entscheid des Testamentes abhing. Sie spürte ein Fluidum von Erregung, auch von Liebesdingen zwischen den Menschen. Sie merkte, vielleicht zögen sie vor, unter sich zu sein.

»Sie alle kennen das Haus, nur meinem Vetter und mir ist es ganz fremd. Kann man vielleicht, statt hier zu warten, über die Treppen und Korridore gehen?«

Aber gewiß, gewiß. Der Kapellmeister erbot sich, zu führen. Julie von Höchheim schloß sich an.

Es war ein Kontrast in der Art, wie die beiden Herren die Treppe hinaufstiegen. Graf Worms hatte den eleganten, selbstbewußten und zugleich diskreten Schritt eines Menschen, der es gewohnt ist, daß ihm viele Augen folgen, der Kapellmeister wuchtete über die Stufen und nahm sie wie einen Berg.

Aber Julie von Höchheim lächelte nicht darüber, sondern dachte, das kommt gewiß, weil man beim Orgelspiel so viele Pedale zu regieren hat, und, ach, wie wunderschön ist seine Musik!

Kilian Menard öffnete die Tür des festlichen Saales im ersten Stockwerk. »Hier hängt ein schönes Bildnis von Lenbach«, verhieß er und blinzelte Julie zu.

»Welch ein reizvoller Raum«, rief Frau von Arnim – und es war schön zu sehen, wie gut ihre vornehme Schlankheit hier zur Geltung kam.

Der Kapellmeister führte sie vor das Bild. Er machte eine kurze, komische Handbewegung, als wolle er die Dame dem Bild oder das Bild der Dame vorstellen, und dann weiteten sich seine Augen in Erstaunen.

Frau von Arnim wandte sich zurück: »Komm doch mal, Wedig, eine wunderliche Ähnlichkeit.«

Graf Worms griff in seine Westentasche, holte das Einglas heraus, klemmte es ein. Dann lächelte er.

»Keine Ähnlichkeit, Armgard. Es ist Großmama.«

Der Kapellmeister sah, hörte, verstand – wußte jählings, dieser Augenblick war ein sehr bedeutungsvoller. War – eine Sensation!

Entschlußkraft kam ihm. Er machte seinen Schritt leise, winkte Julie von Höchheim zu, bat mit den Augen, »kommen Sie mir doch nach«. Die Türen zu einem kleinen Nebenraum standen offen. Julie trat mit ihm über die Schwelle.

Der Kapellmeister verfügte nicht über eine beredte Kunst des Schweigens, nicht über sprechende Gebärden. Er sagte kurz, heftig leise: »Fräulein von Höchheim, liebes Fräulein Julie, da klärt sich ein Geheimnis auf. Und niemand von uns andern wird in einer Stunde reich sein. Bin ich plump, sage ich Ihnen etwas Schmerzliches? Fräulein Julie, ich warte nicht auf eine Erbschaft. Ich bin kein so überragendes Talent, daß ich nicht neben meinem Komponieren noch Unterricht geben und Organist sein dürfte. Ich habe mein Auskommen. Meine Frau braucht keine Erbin zu sein.«

Er fing an zu stottern, und sein lederfarbiges Gesicht überfloß Röte. »Liebes Fräulein Julie, ich bin nicht Richard Wagner, aber wissen Sie, so wie er die Mathilde Wesendonck verehrt hat, verehr' ich Sie!«

Er blinzelte und hatte Tränen in den Augen. Julie von Höchheim erschrak. »Aber lieber Herr Menard«, sie streckte instinktiv ihre Hand aus und berührte die Schulter des Kapellmeisters, »ich bin ganz gewiß keine Mathilde Wesendonck. Wir leben in einer andern Zeit. Auch – müssen wir wohl wieder zu den andern gehen.«

Kilian Menard trat einen Schritt gegen die geöffnete Tür. Nein, diese Gelegenheit sollte ihm nicht zerrinnen. Die aufgeregte Stunde hatte allen Mut in ihm entfacht. Er sagte leise, betont: »Ich will keine Frau, wenn Sie nicht meine Frau werden mögen. Bedenken Sie es doch gütig, ob es Ihnen lohnt, mich und meine Lebenslage genauer kennenzulernen. Es braucht Ihnen das nicht eilig zu sein, wenn es auch mir sehr eilig ist.« – – –

Im Nebenraum war plötzlich eine Versammlung. Die Pein des Wartens hatte auch die übrigen Erben in Bewegung gesetzt.

Wer hatte es zuerst gehört, wer zuerst nachgesprochen? Man wußte es nicht mehr. Aber man wußte jählings: in diesem Hause hing das Bild der Großmutter dieser fremden Herrschaften.

Und die schöne, gemalte, längst zu den Schatten gegangene Frau warf eine Lähmung in hoffnungsvolle Herzen.

Julius von Höchheim wußte sein Erschrecken zu verbergen. Er sah Frau von Arnims große Ähnlichkeit mit dem Porträt, hörte flüstern, verstand sofort und vollkommen: es galt in der nächsten Stunde eine Enttäuschung kaltblütig hinzunehmen. Es galt, Hoffnungen fahren zu lassen und sich wieder auf die eigenen Kräfte und Möglichkeiten einzustellen. Nicht ohne innere Bewegung, aber völlig entschlossen, und im Gefühl, anständig zu handeln, trat er beim Hinabschreiten der Treppe neben Luise.

Sie gingen als die Letzten. Er schob seinen Arm für Augenblicke unter den ihren, sagte ein zärtliches Wort, und dann fest, betont: »Tausend Dank für den sorglosen Tag. Er wird mir unvergeßlich sein. Und nun kommt wieder das sorgenvolle Leben.«

Auch sie begriff. Begriff ganz und vollkommen.

Und blickte in eine Leere – – –

Der Notar nahm unter vielen Entschuldigungen wegen seiner Verspätung Kenntnis von der Vollzähligkeit der Geladenen. Am früheren Eßtisch des Hauses ließ man sich nieder, nach Verwandtengruppen zusammengeschlossen. Frau von Arnim und Graf Worms saßen an der Schmalseite der langen Tafel dem Notar gegenüber. Sein Schreiber legte ein umfangreiches Paket auf, verschwand.

Die Anwesenden wurden gebeten, sich von der Unverletztheit der Amtssiegel zu überzeugen. Dann wurden sie erbrochen.

»Der Erblasser hat auch die nötigen Abschriften seines letzten Willens gleich anfertigen lassen. Ich darf nun mit der Verlesung beginnen.«

Blicke senkten sich auf Hände, Schweigen entstand.

Der Notar las einleitende Formeln, die vollkommene Geisteskräfte und die wohlwollende und gerechte Gesinnung des Erblassers gegen die eigene und die Verwandtschaft seiner Frau betonten. Auch Lebens- und Weltanschauungsdinge kamen zur Sprache. Dann wurde gesagt, daß der Erblasser im gemeinen Sinne niemand etwas schuldig sei und berechtigt wäre, aus seiner Hinterlassenschaft eine Stiftung für das Allgemeinwohl zu machen.

Der Notar hastete über diesen Satz fort bis zu einem erleichternden »jedoch«!

»Jedoch verfüge ich nach andern Gesichtspunkten. Ich setze zur Erbin meines Stadthauses und alles Inventars, sowie des zur Erhaltung notwendigen Kapitals ein:

Frau Armgard von Arnim, geborene von Bülow, Enkelin der Gräfin Editha von Kronberg, geborenen Gräfin Henckel-Donnersmarck.«

Der Notar blickte über die Hornbrille, verbeugte sich gegen Frau von Arnim. Sie erblaßte, hob das Kinn mit der schönen Halslinie, sah unbeweglich geradeaus. Der Notar las weiter:

»Ich setze zum Erben meines Gutshofes mit allem Inventar und allen Ländereien, sowie dem zur Bewirtschaftung normierten Kapital ein: den Grafen Wedig Worms, Enkel der Gräfin Editha von Kronberg, geborenen Gräfin Henckel-Donnersmarck.«

Der Notar machte eine Pause. Der Graf sagte laut und deutlich: »Ich verstehe dies nicht.«

Niemand begriff. Über der Versammlung lag es, als hörten sie eine fremdeste Sprache.

»Denn«, fuhr der Notar fort, »die Großmutter der beiden genannten Herrschaften hat mir in meiner Jugend eine unersetzliche, unvergeßliche, auf mein ganzes Leben entscheidend einwirkende Wohltat erwiesen.«

Frau von Arnim errötete. Der Graf erblaßte. Sie hatten bisher nicht gewußt, daß ihre stolze Großmutter eine Wohltäterin gewesen war.

Der Notar gönnte sich einige Augenblicke, die Wirkung seiner Verlesung zu beobachten. Dann faßte ihn Mitleid. Er sah Gesichter, die mühsam um Gleichmut rangen, er sah nervöse Hände – und er sah Frau Kündingers funkelnde Augen. So las er weiter:

»Jedem der andern zu meiner Testamentseröffnung geladenen Erben vermache ich je ein Kapital von zehntausend Mark unter der Bedingung, daß sie, wie folgt mit Namen genannt

1. Julius von Höchheim, z. Zt. Universitätsstudent,
2. Julie von Höchheim,
3. Gudrune von Höchheim,
4. Walter von Höchheim,
5. Ferdinand von Höchheim, z. Zt. Universitätsstudent,
6. Kilian Menard,
7. Luise Menard,
8. Franz Joseph Donald,
9. Thomas Frank, Bäckermeister,
10. Magnus Frank, z. Zt. Gymnasiast,
11. Appollonia Kündinger, Witwe,
12. Eusebius Lämmerer, Devotionalienhändler

einwilligen, sofort nach Beginn der Inkrafttretung meines Testamentes zwölf Monate als Freipensionäre im Stadthaus und auf dem Gutshofe zu wohnen. Meine Universalerben, Frau von Arnim und Graf Worms, verpflichten sich, diese Freipensionäre, für deren Jahresverbrauch ich dreitausend Mark pro Person aussetze, je ein halbes Jahr freundlich bei sich aufzunehmen. Der Sinn dieser Bestimmung ist, daß mir werte Menschen verschiedenen Standes Einblicke in andere Lebensverhältnisse und Charaktere bekommen. Der Gewinn, den sie für ihr Leben daraus ziehen, wird ihnen vielleicht nicht sofort, sicher aber später deutlich werden.«

Blicke lösten sich von Händen und der Tischplatte. Auf einigen Gesichtern erschien ein leichtes Lächeln.

Der Notar fuhr fort:

»Niemand muß Erbschaftssteuer bezahlen. Das Finanzamt hat sofort nach meinem Tode eine Bürgsumme ausgehändigt erhalten.

Graf Worms und Frau von Arnim verpflichten sich bei Antritt der Erbschaft, meine Besitzungen für ewige Zeiten unveräußerlich in ihrer Familie zu erhalten und ihren Wohnsitz wenigstens die Hälfte jedes Jahres nach Würzburg zu verlegen. Im Fall der Ablehnung gehen meine Liegenschaften an die Stadt Würzburg.

Ich wünsche meinen Erben ein friedliches Jahr des Zusammenseins und bin überzeugt, wenn sie es recht anstellen, werden sie in meinem Hause auch noch einen Fund machen, den man vielleicht den Stein der Weisen nennen könnte.«

Der Notar verlas die Schlußformeln, stand auf, verbeugte sich gegen die Runde und sagte: »Gestatten die Herrschaften meine herzlichen Glückwünsche. Jedem von Ihnen darf ich nun eine Abschrift des Testamentes aushändigen. Ihre Unterschrift zur Einwilligung haben Sie auf dem Amtsgericht zu leisten, woselbst Ihnen die Zweitschrift dieses Testamentes noch einmal verlesen werden wird.«

Man erhob sich in Verwirrung, Betretenheit, Staunen.

Der Filmschauspieler fand zuerst die Sprache. »Was denkt sich denn der alte Herr, für zehntausend Mark kann man doch nicht seine Weltkarriere aufgeben und ein Jahr nach Würzburg ziehen! Oder« – schon leuchteten die Beerenaugen verständnisvoll – »man muß ein Zimmer mit Requisiten belegen.«

Frau Kündinger rief: »Und meine Töchter? Wo bleibt ihr Recht?« Und sie enteilte, den erschrockenen Eusebius Lämmerer mit sich ziehend.

Blicke, die sich erst beruhigen wollten, sahen dem Paare nach: ein wehendes Trauergewand, Beinkleider, die in barocken Windungen auf übergroße Stiefel herabdrängten, entschwanden.

Frau von Arnim fühlte, es war an ihr, etwas zu sagen. Sie wandte sich an die jungen Damen: »Wir müssen wohl alle die Abschriften des Testamentes erst noch einmal lesen, um die Lage zu verstehen. Ich begreife im Augenblick, daß wir Hausgenossen werden sollen und bin sehr erfreut. Ich darf Sie wohl bald bei mir im Hotel zum Tee bitten.«

Graf Worms trat heran. Frau von Arnim verabschiedete sich.


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