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Zweites Kapitel

Der Augusttag war wieder in strahlender Bläue heraufgezogen. Die ganze Stadt schien wie getragen von Lebensgefühl, Lebenslust.

Julius von Höchheim kam quer über den ungeheueren, rauh gepflasterten Schloßplatz, begegnete einem jungen Menschen mit leuchtendem Blondhaar, wurde gegrüßt.

Ach so, der Bäckersohn, Dr. phil. und Miterbe!

Julius blieb lachend stehen: »Erben, die sich froh begegnen!«

»Guten Morgen, Herr von Höchheim. Jawohl, die ganze Stadt ist voll Erben. Und allen hängt der Himmel noch voller Geigen, nicht wahr?«

Höchheim dachte: wirklich ein fabelhaft gut aussehender Bäckerssohn. Ein germanischer Krieger aus einem Bäckerladen. Toll einfach. Er antwortete kordial: »Ich bilde mich heute, ich besuche die Miterben. Frau Kündinger, Herrn Lämmerer. Ich finde es richtig, wenn man doch irgendeinen Begriff voneinander hat.«

Der schöne, blonde Magnus Frank verbeugte sich und sagte trocken: »Viel Spaß.«

Er sah dem Davoneilenden noch einen Augenblick lang nach. Der Vetter also, dachte er. Wohnt bei der Großmutter. So pflegen sich junge Herren sonst nicht einzurichten. Diese Großmutter muß eine große Gewalt in Händen haben. Und er seufzte ein wenig.

Dann kam Schwung in seinen Schritt. Der weite Platz entwich unter seinen Füßen. Sie glitten flüchtig und befeuert über die unwahrscheinliche Breite der inneren Schloßtreppe. Man könnte ein äußerst stattliches Landhaus über dieser Treppe anlegen, dachte der Eilende, hatte schon das Obergeschoß erreicht, plauderte munter mit dem Türsteher und hörte geduldig ein paar Tageswitze an.

Magnus Frank besaß Eintrittserlaubnis zu Studienzwecken. Er schrieb Aufsätze über Heimatkunde, hatte trotz seiner Jugend sich schon Ansehen auf dem Gebiet verschafft.

Die Blicke der Lakaien konnten ihm fast durch die ganze Gemächerflucht des Südflügels folgen. So blieb der junge Mann ab und zu stehen, betrachtete zerstreut die Erlesenheit pompejanischer Räume, wundervolle Tische, von Fackeln getragen, schöne Friese. Sein Blick glitt über Rundgemächer im Imperialstil, jawohl, der große Napoleon hatte den Würzburger Fürstbischof um diesen Palast beneidet, Kaiser Franz Joseph II. ihn den »größten Pfarrhof Deutschlands« genannt. Wer doch Napoleons Rücksichtslosigkeit besäße! Allerdings, der junge General Bonaparte sollte sehr verlegen und ängstlich gewesen sein, ob die hochgeborene Josephine Vicomtesse de Beauharnais, née Tascher de la Pagerie, ihn nicht für eine zu unbedeutende Partie hielt.

Frank bog um die Ecke nach der Gartenfront des Schlosses. Kühl, von grünem Licht erfüllt, lagen die kostbaren Räume. Besucher waren noch nicht da. Die Führungen fanden meist erst um die Mittagsstunde statt, wenn die Züge Fremde gebracht hatten. Und es leuchtete früher Morgen. Der Schritt glitt gewandt übers Parkett, durcheilte zauberhafte Räume, zögerte jetzt vor einer Durchgangstür.

Im Nebengelaß ertönte ein kurzes Auflachen.

»Die Überraschung kommt, Gudrune, tu dir keinen Zwang an.«

Ein leichter Schritt – und vor Magnus Frank stand im weißen Malerkittel, strahlend frisch und reizend Gudrune von Höchheim.

»Lieber Junge, du kommst ja täglich früher.«

Er küßte ihre Hand, zog sie in eine der breiten Fensternischen. »Gudrune, von abends elf Uhr bis morgens um neun ist eine furchtbar lange Zeit. Sechshundert Minuten, sechsunddreißigtausend Sekunden. Und wenn man es allenfalls mit tausendstel Sekunden ausmißt, wird es eine astronomische Zeitzahl! Hast du jetzt wenigstens einen Augenblick für mich?«

Sie streichelte seine Hand. »Sag erst guten Morgen.« Ihre Stimme klang warm, mütterlich fast.

Er wandte sich mit ihr.

Sie traten ins Spiegelzimmer, einem der berühmtesten Räume des Schlosses. Ein malachitgrüner Ton umfing die Kommenden, man blickte wie in eine Urwalddämmerung. Das Auge brauchte ein paar Sekunden, bis dieses Grün der Wände sich gliederte in barocke Zierleisten (barock dem Gefühl nach, im Stil rokokoecht), zwischen denen Glastafeln sind, auf der Rückseite mit tausend Motiven bemalt. Einst von Wolfgang von Auwera, einem Künstler des Details, in unerschöpflicher Geduld hergestellt.

In diesem auch zur Morgenstunde gedämpften Raum standen ein paar Staffeleien. Ein breitschultriger Herr mit kurzgeschorenem, blondmeliertem Haar zeigte seinen massigen Rücken, eine anmutige, junge Dame saß entfernt an einem »Etablissement« von Möbeln.

Magnus Frank eilte auf sie zu, tauschte zwei Worte, trat dann zu dem Maler. Der blinzelte über die Brillengläser hinweg. »Immer pünktlich, mein Lieber. Sie dürfen zehn Minuten verplaudern. Dann ziehen Sie die Soutane über und spenden meiner Frau den geistlichen Trost. Wir frühstücken derweil.«

Der Österreicher lachte gutmütig. »Geht nur beiseite. Aber ich bitt' schön, nicht länger als zehn Minuten. Meine Schülerin muß vorwärtskommen.«

Magnus Frank und Gudrune von Höchheim eilten ein paar Zimmer weiter und sanken einander in die Arme. Sie mußten sich keinen Zwang auferlegen. Ihre Liebe besaß zwei Vertraute, zwei wohlwollende Beschützer: den Professor Holtzendorff und seine Frau.

»Höre nur, Magnus, heute nachmittag wird es goldig. Der Professor will sich Motive in Veitshöchheim ansehen. Er denkt daran, hinauszuziehen, wenn das Bild hier fertig ist. So den September über, hast du dann noch Ferien? Wir wären dann so geborgen, wie im Park von Dornburg.«

Der junge Mann hatte den Mund an ihrem Schläfenhaar. Er war so verliebt, daß er kaum reden konnte. Gudrune schob ihn ein wenig von sich. »Armer«, sagte sie, »nun mußt du wieder den Kaplan stehen. Großmama meinte sowieso, du bist ein geistlicher Herr, das heißt, sie dachte, der Miterbe Frank müsse ein Benefiziat sein.«

»Der Bäckerssohn«, ergänzte er tapfer. Sie strich ihm durch das wellige Haar. »Lieber Junge, die Großmutter stammt nun mal aus andern Zeiten und Anschauungen. Einen Bürgerlichen heiraten, hieß in ihrer Jugend etwas« – sie lächelte – »nun etwas Fürchterliches.«

»So wie Thronverzicht oder Revolution, nicht wahr.«

»Ja, ich fürchte, Magnus. Wir werden uns ersparen, das alles anhören zu müssen. Denk doch nur, unsere wunderschöne Liebe! Ich bin ja bald mündig. Dann können wir gleich mit Tatsachen kommen, und du besiegst alle Vorurteile.«

Sie sprach obenhin und war doch nicht ohne Besorgnis. Magnus wollte, er verriet darin den soliden Bürgersohn, sich schwarz antun, vor die Großmutter hintreten und um die Hand ihrer Enkelin bitten.

Die Großmutter hieß Baronin von Luckner geborene Gräfin Lynor, war die Witwe eines kaiserlichen Gesandten. Sie verstand zwar unablässig die Jugend, aber daß ein Fräulein von Höchheim, Generalstochter, einen Bäckerssohn liebte – nun, alles hat seine Grenzen, und zuviel darf man nicht verlangen. Gudrune von Höchheim war nicht für Kräfteverschwendung und Familienunfrieden. Sie träumte, einmal mit dem lieben, schönen Jungen vor der Großmutter zu erscheinen und ganz schlicht zu sagen: »Sei ihm gut, wir haben einander geheiratet.«

»Ich freue mich blöde auf überübermorgen, Liebste. Wenn wir bei der Testamentseröffnung uns sozusagen vorgestellt werden –«

Sie lachte. Sie sah so lieb und reizend aus. Ihr dunkles Haar mit dem schönen Ansatz fiel in weichen Wellen aus der schmalen, feinen Stirn, weite Bogen überspannten braune Augen, Mund und Nase waren still und sanft geformt wie bei den Marien des Murillo. Aber im Blick verriet sich die zielbewußte Seele eines aktiven Zeitalters.

Sie dachte, während sie zur Staffelei zurückkehrte, es kann mir zufallen, daß ich wohlhabend werde, es kann mir glücken, daß ich als Künstlerin auffalle. Also werde ich den heiraten, den ich liebe.

Magnus Frank hatte den Rock abgenommen und ein Klerikergewand übergestreift. Frau Holtzendorff puderte seine Hände. Er mußte sie in katholischer Betstellung halten, dabei einen Schritt zurückweichend vor der Dame, die ein fürstliches Kleid aus dem Jahrhundert des Raumes umfloß. Und die eine mondäne Verführerin anzudeuten hatte. Professor Holtzendorff malte gerne solche kleinen prickelnden Szenen in seine berühmten Schloßinterieurs. Nicht als Anekdoten. Nur als Dekor. Verwischt, fast schattenhaft befanden sich die Gestalten in der Tiefe des imponierenden Raumes. Wie halbvergessene Blumen oder Lieder, von denen nur ein Duft, ein Klang noch herüberweht.

»No«, sagte er gemütlich zu seiner Schülerin, »widerstehns nur der Versuchung, daß der schöne Abbate der Hauptinhalt wird. Sehns nur zu, wie Sie seine Kontraste schwarzweiß koloristisch in den Raum bringen.«

Der Abbate war nicht nervös. Er stand geduldig. Die Gebetstellung der Hände rief ihm ferne Zeiten zurück. Einst, das heißt bis zur Firmung, war er Ministrant im Dom gewesen. So andächtig, so von ganzem Herzen. Es gibt auch fromme Büblein unter dem losen Volk der rotberockten kleinen Kerle. Mancher träumt, daß er einmal die Messe lesen darf. Mancher träumt, ein heiliger Aloysius oder Franziskus zu werden. Bis dann die Jahre des Aufruhrs einsetzen. Ach, die Jahre, da die Welt ein ungeheueres Rätsel ist und zugleich eine ungeheuere Eroberung.

Und nun ist man ein Studienassessor?

Seine Hände zitterten einen Augenblick lang. Denn er wußte plötzlich, welche Dominante seine Habilitationsschrift haben mußte: Abriß erstchristlicher Geschichte, kühler Frühzeit, verstanden aus der Seele einer umstürzlerischen Epoche heraus, die wieder nach Urbegriffen sucht.

Der Professor rief ein Scherzwort herüber. Magnus gab rasche, nette Antwort. Frau Holtzendorff sagte: »Ich glaube, Doktor, Sie müßten mit uns nach Dresden gehen. Sie sind ein zu schönes Modell. Wissen Sie noch, wie mein Mann im Park von Dornburg rief: ›Sie Lichtgestalt Sie, haben Sie nicht eine Viertelstunde Zeit?‹«

Frank lachte. »Sie rechnen es mir ewig nach, gnädige Frau, daß ich mich von dem Wort ›Lichtgestalt‹ gleich getroffen fühlte. Und ich sah mich doch nur um, wo denn eine Lichtgestalt sei. Und sah sie auch.«

»Immer höflich, Doktor, Sie meinen, Sie sahen zwei Lichtgestalten. Jede Dame, mein Lieber, ist eine Lichtgestalt.«

»Im Augenblick bin ich doch ein Soutanenträger, Herr Professor.«

Gudrune malte eifrig. Das Bild sollte in einigen Tagen fertig werden, mit andern Interieurs nach Koburg gehen. Zar Ferdinand, der Freund solcher Bilder, kam als Käufer in Betracht. Und Gudrune war ehrgeizig und zielbewußt. Sie hatte schon ausgestellt, ihren Namen schon in Kunstberichten gelesen. Sie blieb – o Trost für die Großmutter – Gudrune von Höchheim. Und sie wurde – o Glück – auch Frau Frank.

Es war ein Frühlingstraum von unermeßlichem Reiz gewesen, als in den Osterzeiten dieses Jahres der schöne Mensch in dem kühlen Rokokoschloß, mitten in einem kleinen, seltsamen, von blauer Luft erfüllten Garten auftauchte, wo sie mit Holtzendorff malte. Es ging alles so rasch, von der ersten Begegnung ab begann Spannung, Ungeduld. Der schöne Mensch, den Professor Holtzendorff zwanglos angerufen, hatte vorgehabt, den Abend noch nach Jena abzuwandern. Nun blieb er. Hieß Dr. Frank aus Würzburg. Er wirkte, weil an ihm alles in Harmonie beruhte, so sicher, so frei, wie ein Sohn aus bestem Hause. Als er beiläufig, unbefangen, unschuldig erwähnte, daß sein Vater eine kleine Bäckerei habe, war es schon zu spät, davon entzaubert zu werden. Da klang es schon rührend: sein Vater bereitet das tägliche Brot. Gudrune errötete, während sie dies dachte: erst hatte sie den leisen Chok der Aristokratin gehabt, und dann ganz biblisch, ganz andächtig gedacht: der alte Vater bereitet so vielen das tägliche Brot, und einer einzigen, mir, hat er dem Geliebten das Leben gegeben.

Ja, nicht zu leugnen, es war eine geradezu fromme Angelegenheit, ein unheilbarer Fall. Es half nichts, sich zu sagen, »du hast dich in jemand verliebt, der eine Semmel oder eine Bretzel im Wappen führt«. Es half solch billige Ironie nicht das geringste.

Gudrune wußte, das schöne Gesicht, die weiche Stimme, das knabenhaft Verträumte von ihm, der Magnus hieß (gottlob doch Magnus und nicht Hans oder Christof), würde sie niemals mehr vergessen können.

Nach acht Tagen bedrückte Magnus die Bäckerei, und er eröffnete sich dem Professor. Der berühmte Maler antwortete schlicht, sein Vater wäre ein wohlhabender Gastwirt zu Millstatt gewesen. Gastwirt oder Bäcker, Ehrenmänner seien wohl alle beiden Erzeuger. Und was fehle dann, wenn man selbst vorwärts käme?

Gudrune lachte plötzlich sorglos auf.

»No, was ist?« fragte der Professor.

»Ich freue mich auf den Nachmittag in Veitshöchheim!« – – –

Unterdes machte Julius von Höchheim seine Wege.

Er stand in dem kleinen, dumpfen, von hundert Gerüchen erfüllten Spezereiladen der Witwe Kündinger. Er kaufte Zigaretten, überzeugt, sie würden all die Düfte an sich gezogen haben, er kaufte Schokolade, wählte umständlich und begriff, vor der energischen Miene von Frau Kündinger war es gar nicht so leicht, heiter und fröhlich zu sagen: ich bin ein Miterbe.

Er wußte nicht, daß Frau Appollonia Kündinger ihn längst vom Sehen kannte und in ihrem Kreise gern betonte, sie sei mit von Höchheims verwandt, mache aber keinen Gebrauch davon. Ihre geschäftstüchtigen Augen verfolgten das etwas befangene Tun des jungen Herrn. Mochte er nur tüchtig einkaufen, ehe er die Absichten kundgab, die ihn herführten.

»Ich kann da wunderbare Salon- und Klavierkerzen empfehlen«, sprach sie. »Und habe eine besondere Gelegenheit in Makkaroninudeln. Prima Ware, direkt aus Italien. Meine eine Schwester ist nämlich in Pisa mit dem schiefen Turm verheiratet.«

Julius von Höchheim lachte unwillkürlich. Dies pflanzte sich fort. Frau Kündinger wurde gesellschaftlich. »Was red' ich. Mit einem Fabrikanten ist sie verheiratet, net mit einem schiefen Turm, Herr Professor. Ich hab' doch die Ehre vom Herrn Professor von Höchheim?«

Julius verbeugte sich, nahm die ausgestreckte Hand von Frau Kündinger.

»Die Erbschaft«, sprach sie bedeutungsvoll. »Das gibt Krach, sage ich. Und was mein Vetter Lämmerer ist, der sagt auch, das gibt Krach. Kündingerin, hat er gesagt, das wird ein gefundenes Fressen für die Advokaten. Meine Töchter, man sollte straucheln, so was zu glauben, meine Töchter sind nicht geladen, wo doch dem Onkel Tom, wissen S', dem Bäcker sein Sohn, vorgeladen ist. Und wo wir ganz gleich verwandt sind, von der Frau selig her. Ich kann Ihnen die Eröffnungen machen, Herr Professor – entschuldigen Sie einen Augenblick –«

Eine Kundin war eingetreten. Konsumentin in Malzkaffee.

»No«, sprach die Kundin, ein altes Weiblein, »am End' bedient mich heit Frau Kündinger auf die Letzt? Die ganze Stadt ist voll davon, Frau Kündinger wird eine Millionärin.«

Reis rieselte, ein Griff ins Bonbonglas ließ es klirren, Frau Kündinger philosophierte: »Gottes Segen ist bei der Arbeit. Jeßmaria und Joseph, arbeiten und nicht verzweifeln. Aber das Recht meiner Töchter, das ist mir heilig, Frau Bas. Für seine Kinder kämpft mer wie eine Leewinn.«

Julius besah das Lädchen. Seine Einrichtung stammte interessanterweise noch aus dem Barock. Er sah auf kleine geschweifte Schiebladen aus goldbraunem Eichenholz, las in verzogener Schrift: Muskat, Kardamom, Zimmet, Gewürznelken, Sternanis, und war begeistert, als er auf einem geschweiften Schildchen noch das Wort »Spezereyen« entdeckte. Das Ypsilon gab ordentlich der Sache Kraft und Geheimnis.

Wie wunderlich so ein Laden war! Die Produkte ferner Weltteile hatten weite Reisen über die Meere gemacht, bis sie Frau Kündinger als Beherrscherin erhielten.

»Was ist denn Kardamom? Kann ich davon haben?«

Frau Kündinger wog schon ab. »Feinstes Gewürz«, sagte sie. »Aus Ceylon. Ja, man hat seine Verbindungen. Aber mit der Erbschaft wird es eine Sache, die kann bis ans Reichsgericht gehen. Recht muß Recht bleiben, so denkt doch auch der Herr Professor?«

Er nickte, betrachtete Frau Kündinger wie eine höchst originelle Erscheinung. Sie war blond mit weiß gemischt von Haaren, hatte knochige Hände und einen vom vielen Reden wie verschlissenen, großen Mund.

Ob so die selige Professorin aussah, dachte der Privatdozent.

Die Spezereienhändlerin beschäftigte ihn noch auf dem Weg zu Herrn Lämmerer. Er merkte, wie sehr ihm Fühlung mit dem Bürgertum fehlte. Er konnte nicht einmal wissen, war Frau Kündinger ein Typus oder eine Besonderheit.

In Herrn Lämmerers Magazin für Heilig- und Altertümer herrschte andere Luft. Zwar, die Dumpfheit schien noch verstärkt. Doch alles durchzog ein süßlicher Geruch erkalteten Weihrauchs, verbunden mit dem beklemmenden Mißgeschmack von altem Messing, schmutzig gewordenen Goldborten, feuchtem Holz.

Höchheim wehrte einen jungen Verkäufer ab, der eine Abteilung des Ladens bediente, wo es Porzellanheilige, Wachslichte, Kruzifixe und sehr viele Madonnenbilder, neu aus Fabriken, gab. Im Nebenraum, der sich weit in dämmernde Hintergründe verlor, lohnte viel das Ansehen: Holzbildnisse bis zu Lebensgröße, heilige Männer, heilige Frauen, Sankt Kilian in vielen Darstellungen, wurmzerfressene Engel und tubablasende Cherubime, infolge ihres Verfalls aus Kirchen verstoßen in die Devotionalienhandlung des Eusebius Lämmerer.

Diese Persönlichkeit trat hinter einer gewandreichen heiligen Anna hervor, war klein, dürftig und mit einer Schürze angetan.

»Entschuldigen Sie, ich leim' grad eine Kreizigungsgruppe«, sprach er, die Beschaffenheit seiner Hände entschuldigend. »Was wünschen der Herr?«

Julius warf ziellose Blicke um sich und entdeckte einen gotischen Tisch, auf dem Kleinigkeiten lagen, silberne Büchschen, Sterbekreuze, Rosenkränze, alte Gebetbücher. Ein Rosenkranz aus grünen Malachitperlen fiel durch seine Schönheit auf. Julius stellte sich unschlüssig, wählte lange. Eusebius Lämmerer sah gleichmütig zu. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, hatte graues, gescheiteltes Haar und über dem fahlen Gesicht einen demütigen Ausdruck, wie ihn wohl der ständige Umgang mit Heiligenbildern schafft.

Julius besann sich, wie er den Mann zum Reden bringen könnte.

Da trat der Bäcker Frank in den Laden.

»Grieß Gott, Eisebius, hab' die Ehr', Herr Doktor.«

Der Bäcker war in seltsamer Toilette. Zu filzenen Morgenschuhen und einer Arbeitshose hatte er einen guten Rock übergeworfen. »Ich komme mit einer schönen Neuigkeit! Auf dem Stadtrat erwarten sie, daß das Haus des Professors der Stadt zufällt! No, was machen wir denn da, da missen wir prozessieren!«

Julius erschrak einen Augenblick lang. Dann machte er eine freie, schöne Handbewegung.

»Es werden viele Gerüchte und Vermutungen durch die Stadt laufen, aber ich freue mich, daß ich jetzt die Verwandten des Erblassers kenne.« Er lachte, kaufte den Rosenkranz, schüttelte den beiden Bürgern die Hände und entfloh.

Es war lehrreich, zu sehen, welche Verwandtschaft man sich anheiraten kann. Ein seltsames Dreigestirn, der Bäck, der Händler mit Heiligtümern, die Frau mit den Spezereien. Welchen Anhang mochten die Menards haben? Und er grübelte: die Großmutter hatte doch nicht so unrecht mit ihrem Hochmut, ihrem Rassestolz. Wer ein hübsches Mädchen aus bürgerlichem Kreise heiratet, kann es erleben, daß in den Kindern Gestalten auferstehen wie jener Eusebius, wie der Bäcker, wie die Spezereihändlerin.

Also, verlieben und verloben, das ist zweierlei.

Julius von Höchheim sah plötzlich sein Gesicht im Spiegel eines Ladenfensters. Und der nachdenkliche Pedant, der daraus geblickt, verwandelte sich jäh in einen Lachenden!

Er wollte doch heute in Veitshöchheim nicht Verlobung feiern!

Er wollte einen freien, sorglosen Tag.

Im Laden war ein gefälliges Frollein. Überdies, wo gibt es ein Ladenfrollein, das nicht gefällig ist, wenn ein jüngerer Herr eintritt? Die Gute entkorkte eine Flasche Kölnisches Wasser und war bereit, den Rosenkranz aus dem Althändlergeschäft damit abzureiben. Er hinterließ viel Dunkelheit auf dem weichen Staubtuch, und das Frollein empfahl dem Herren ein flaches, kleines Glas, das sich der Tasche anschmiege, wenn er seinen Rest mitnehmen wolle. Besser aber noch, der Herr kaufe sich Parfüm, das gleich in einem flachen Flakon sei.

Er wurde munterer Laune, bekam ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer, merkte, lange Zeit hatte er eingesponnen in Arbeit und konventionelle Geselligkeit gelebt.

Überm Main lag die Sonne. Er nahm ein Boot und ließ sich von einem jungen Fährmann durch die Strömung leiten.

Wasser, Luft, Himmel, alles erstrahlte in unendlicher Bläue. Sind es schon die halkyonischen Tage, da alles in Harmonie sich löst, da man bereit wäre, sich der Erde, der Luft, den Winden entgegenzuwerfen, wunschlos glücklich, weil alles aufgelöst scheint in ewige Klänge, in unsägliches Gestilltsein?

Julius lächelte, atmete leicht, befreit.

Der sorglose Tag! Wie wundervoll war sein Licht! – wie einst in Knabenzeiten, da das Gefühl des Lebens allein genügte, glücklich zu machen – – –

Doch plötzlich wußte er wieder, wie die Wellen den Kahn trieben, so trieb Unruhe ihn der Begegnung zu, die er erwarten durfte – – –

Julie von Höchheim kam aus der Apotheke, in der sie aushilfsweise Dienst machte. Sie seufzte ein wenig. Während der Universitätszeit, sie ging ins letzte Semester, hätte sie gerne auf Vertretungen verzichtet. Doch das Geld war knapp im Hause Höchheim, und jede Einnahme bedeutete doch auch ein wenig Freiheit. Sie hatte den Apothekerberuf eigentlich wie eine Spielerei ergriffen. Das Matur war gemacht, nicht aus Leidenschaft für einen gelehrten Beruf, sondern weil das Gymnasium der Großmutter die billigste Erziehungsanstalt schien. Man konnte in der veränderten Zeit die jungen Damen nicht wie früher in ausländische Pensionate tun, auch Erzieherinnen zu halten, verbot die geldliche Lage.

Julie war kein zielbewußter Charakter. Sie hätte am liebsten sorglos in den Tag hineingelebt, wie es frühere Generationen taten, auf das Schicksal wartend. Sie machte gerne das Haus gemütlich, hatte eine Freude am Kochen, und diese einfache Lebensäußerung war von der Großmutter sozusagen aufgebauscht und dienstbar gemacht worden.

Julie vernahm, sie sei für die lateinische Küche geboren, und diese altmodische Redensart bekam Gewalt über ihr Leben. Denn die Großmutter verstand doch die Jugend. Die Großmutter heischte Berufstätigkeit. Ehe Julie noch an ernsthaften Widerstand gedacht, war eine Apotheke gefunden, die ihre praktische Vorbildung übernahm. Es hatte sich dann alles recht hübsch angelassen, und aus der Berufsscheuen war fast eine Berufsfreudige geworden. Freilich, wo sollte es hinaus? Eine Apothekerin, die sich keine Apotheke kaufen kann, hat es nicht allzu glänzend. Doch die Großmama wußte auch da schon Rat. Im damen- und laienhaften Optimismus war sie überzeugt, daß Julie dereinst, nein, am liebsten recht bald, ein Präparat erfinden würde, das namenlos viel Geld einbrachte. Corellas Brustpulver, Perthusin oder Kneipp-Pillen mochten ihr vorschweben.

Julie lächelte. Im Augenblick war es ja die Erbschaft, von der die Großmama sich goldene Berge versprach.

Die Erbschaft! Sie machte freilich unruhig. Aber man durfte es nicht zeigen, nicht auf ewig lächerlich werden. Vorerst machte die Erbschaftsaussicht die Erben voreinander unsichtbar. Die Brüder strebten aus dem Haus, die Base Gudrune desgleichen. Jedes fühlte wohl, es war nicht ganz in Fassung.

Auch Julie drängte es nicht heim. Ihr Schritt war lässig, sie blieb flüchtig an Schaufenstern stehen und dachte, wir kaufen alle schon ein! Jeder weiß eine Unmenge Dinge, die man möchte. Ob wohl Julius das Haus erbt? Sicher glaubte er es und heuchelte nur den Gleichmut. Das schöne, sonderbare, alte Haus.

Julie hatte es, da der alte Professor nach dem Süden gegangen, zuweilen betreten. Es war das aufregend und geheimnisvoll gewesen; die vielen, vielen Zimmer, die wie im Schlafe lagen, weil der alte Herr sie nur teilweise benutzte. Wenn die alte Wirtschafterin guter Laune war oder beim Stöbern, ließ sie einen wohl Blicke hineintun. Nie aber war ein so gründliches Besichtigen möglich gewesen, daß man sich richtig orientierte. Und das reizte die Phantasie, regte auf. Man hatte sich auch immer ein wenig gefürchtet auf den hallenden Korridoren des zweiten, ganz menschenleeren Geschosses und immer Sehnsucht behalten, die Bodenräume kennenzulernen. So stark hatte das Haus in Kinderzeiten auf die Phantasie gewirkt, daß Julie zuweilen noch davon träumte. Es war immer ein glücklicher, verheißungsvoller, sonderbar erregender Traum: das Wandern durch Korridore, durch Zimmer und Säle – verbunden mit dem Suchen nach dem einen, verstecktesten, geheimnisvollen und endlich einmal sich erschließenden Zimmer.

Ein Gedanke durchzuckte sie: Wenn sie hinginge? Als von der Behörde geladene Miterbin konnte sie Zutritt erbitten.

Die Aussicht war ihr plötzlich eine Bezauberung. Ein Blick aufs Handgelenk sagte ihr, es sei noch passende Zeit. Sie ließ Gassen und Gäßchen hinter sich, überquerte den Sanderring und die Hindenburgstraße, und kam an das alte Gartentor in der Alleestraße. Die Tür ließ sich aufklinken, die Wege zwischen verschnittenen Hecken waren gepflegt wie früher, das alte, stolze Rokokohaus lag in seiner wunderlichen Verschlafenheit wie einst.

Sie ging langsam, fast genießerisch, die feingegliederte Front entlang bis zum Portal, das der Balkon eines festlichen Raumes überdeckte. Der wilde Wein daran rötete sich schon. Über die Auffahrt, die sogenannte Rampe, war wohl lange kein Wagen mehr gekommen. Julie dachte flüchtig an den Rollstuhl des alten Professors, wurde seinen grauen Diener und Gärtner gewahr und fragte, ob sie Zutritt haben könne.

Er war ein wenig taub, und sie mußte sehr laut reden. Das Obergeschoß und die Mansardenzimmer seien verschlossen, weil schon neu gefegt und gescheuert. Doch wenn Fräulein von Höchheim hinaufsteigen wolle mit ihren weißen Schuhen, gewiß, gerne. Im Erdgeschoß (der Mann sagte »Barderr«) wäre heute schon der Herr Notar gewesen. Die vorderen Zimmer stünden gerne zur Besichtigung. Julie fragte nach der Wirtschafterin. Sie sei fortgegangen für den Abend.

»No, da schauens Ihnen nur um«, schloß der Alte, »ich mach' Feierabend und rauch' ma Pfeifla da vor der Tür.«

Sie ließ ein Markstück von einer Hand in die andere gleiten, übersprang die Schwelle, durcheilte den Vorflur. Schon hier war es aufregend. Man hatte nie Einblicke in die Zimmerreihe, die nach hinten lag, bekommen. Die geschweiften Türen mit ovalen Messingreibern waren immer verschlossen gewesen. Hatten sie auch immer Nummern besessen? Sie erinnerte sich nicht, war einen Augenblick erstaunt, daß sich Zahlen da befanden, wie in Staatsgebäuden. Aber schon eilte sie die eine Seite der gegabelten, auf einem Podest sich einenden und zugleich wieder trennenden alten, blankgebohnerte Eichentreppe hinauf.

Oben war die gleiche Raumeinteilung. Lange, kühle Korridore nach rechts und links. Frontzimmer und Gartenzimmer. An den Korridorwänden eine Fülle alter, lebensgroßer Porträts. Julie lief auf und ab, begrüßte die Gesichter verschollener Damen und Herren, die ihr alte Bekannte waren. Höchheims? Wohl kaum. Es fanden sich viele Kleriker darunter und allerlei bleiche Damen des Barock und des Rokoko. Gute und schlechte Malerei durcheinander. Der alte Professor hatte sie vielleicht im Laufe der Zeiten zusammengekauft. Oder schon ein Vorfahr der Professorin, von deren Eltern doch das Haus stammte.

Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als die Stadt der Haupthandelsplatz am Main war, entstanden dem Großbürgertum solche weitläufigen Wohnstätten. Der gute Professor Ferdinand Höchheim hatte sich durch Heirat in alten Wohlstand gesetzt.

Wer das Haus wohl nun erbte? Julie war bis ins Mansardgeschoß gelangt. Auch hier fiel ihr auf, daß die Zimmer nummeriert waren, als sei hier ein Hotel.

Julie glitt ab, blickte durch eine Glastür in den dunklen, weiten Bodenraum. Was da alles an Gerümpel oder vielleicht an Werten stecken mochte? Und wo lag wohl das geheimnisvolle Zimmer der Träume?

Sie kam ins Erdgeschoß zurück. Hier befand sich eine landläufige Möblierung, ein Herrenzimmer mit Klubsesseln, ein großes Eßzimmer mit Lederstühlen, ein nichtssagender Salon, dahinter das Musikzimmer, als letzter Raum der Flucht. Es war eigentlich ein Sammelraum für Instrumente. Ein Flügel, ein Spinett, ein Harfenklavier standen da, Kästen bargen einige alte Violinen, an den Wänden hingen Lauten, Gitarren, Mandolinen und Waldhörner.

Sie gab einem kleinen Wunsch nach, und öffnete das Spinett und schlug Akkorde an. Es klang verzitternd, wehmütig. Ein altes Liedchen fiel ihr ein:

»Klingt nicht, dunkles Instrument
Staub aus deinen alten Saiten?
Staub der Liebe, Staub der Zeiten,
Da die Seele heimlich brennt – –«

Sie versuchte die Melodie zu finden und fing an, mit halblauter Stimme zu singen.

Der Dilettant bewundert sich stets und erschrickt doch vor Zuhörern. So ging es Julie von Höchheim, als sie plötzlich einen Schritt im Nebenraum hörte. Hastig verschloß sie das Spinett, tat unbefangen und nahm ihre kleine Handtasche auf, um zu gehen.

Da stand Kilian Menard vor ihr.

Er sah nicht schön aus. Erhitzt, schweratmend, in saloppen Kleidern, die Nüstern aufgebläht, blinzelte er aus kleinen, kurzsichtigen Augen. Ein Ruck ging durch seine Gestalt, Gebärden der Freude blühten auf, als er Julie von Höchheim erkannte.

»Nein, so etwas, nein, so etwas«, stammelte er unbeholfen und verlegen, streckte dann seine Rechte wie eine rettende Hand aus, drückte Julies schmale Finger fest zusammen und rief erneut sein: »Nein, so etwas, so etwas.«

Wenn die Verschwiegenen, Scheuen, Diskreten ihre Haltung verlieren, wird es meist gründlich und sie geraten sehr unter ihre Linie.

»Ich bin, weiß Gott, sonst kein Glückspilz, aber daß ich grad heut abend da herein komme, das ist einmal ein Treffer, ein Meisterschuß.«

Er schien selbst zu finden, seine Worte klängen nach Kegelbahn, und so errötete er, das heißt sein lederfarbenes Gesicht wurde dunkler. »Aber ich störe doch nicht, das könnte ich mir nie verzeihen, gnädiges Fräulein.«

Julie verneinte lächelnd. Sie sei ja im Gehen. Er wurde bestürzt. Nein, was für ein feines Liedchen sie gesungen habe. Von Hannes Ruch, nicht wahr, so habe es ihm geklungen. Ja, die kleinen Liedchen, die hatten es oft so in sich. »Staub der Zeiten«, wiederholte er. »Das paßt für dieses Haus. Und vielleicht hat es auch einmal hier Amouren gegeben.« Er blinzelte wieder und es war, als blicke er nach innen.

»Wissen Sie Geschichten von diesem Haus?« fragte Julie.

Sie war plötzlich gefesselt. »Eine Rokokoanekdote, Herr Kapellmeister? Nein, es gibt keine? Aber Sie könnten doch eine erfinden. Das Haus hat mir immer so etwas Geheimnisvolles gehabt.«

Sie richtete sich ein wenig zum Bleiben ein, ließ sich auf der Seitenlehne eines Stuhls flüchtig nieder. Menard stand vor ihr, wieder mit dem Blick nach innen. Es kam ihr plötzlich vor, als sei sein volles Gesicht nicht uninteressant.

»Eine Rokokoanekdote weiß ich nicht. Aber haben Sie mal das Bild im Blauen Salon oben gesehen? Die Dame, vom jungen Lenbach gemalt?«

Julie besann sich auf das Bild einer mondänen Blondine, norddeutschen Typs. »Ich war, glaub' ich, an meiner Konfirmation etwa zuletzt oben in den Gesellschaftsräumen. Also lange her. Das Bildnis beherrscht den Raum, nicht wahr? Wer ist es?«

In Menards Stirn gruben sich Falten. »Das weiß man nicht. Aber die Dame soll mal hier gewesen sein. Der Professor hatte damals schon eine Frau. Die Dame Mann und Kinder. Ich glaube, der Professor hat sie sehr verehrt, nun ja, wie man Unerreichbare verehrt. Vielleicht sind noch Angehörige, an die der Lenbach zurückgeht.« Menard lächelte. »Meine Geschichte ist ein wenig dürftig. Das Vertrauen des alten Herrn besaß ich natürlich nicht. Aber er hat mich manchmal kommen lassen zum Vorspielen. Und weil nun doch bald hier alles zerstört wird, oder wie denn das Testament bestimmt, kurz also, weil dies Haus doch nun aufhört, sein Haus zu sein, wollt ich ihm heute abend noch ein Requiem spielen. Das wäre schön und unerwartet glücklich, wenn Sie teilnehmend zuhören möchten.«

Julie von Höchheim fühlte den Reiz dieser Vorhabung. Und das Wunderliche geschah, sie wurde sich bewußt, daß der etwas plump wirkende Kilian Menard eine Seele besaß. Eine nachdenkliche, eine phantasiereiche Seele.

Sie schämte sich ein wenig. Sie alle zu Hause dachten nur, wie sich die Erbschaft verteile. Dieser Mann dachte an eine Handlung der Pietät gegen den Toten.

Menards breite Hände schlugen den Deckel des Flügels zurück. Julie glitt von der Stuhllehne in den tiefen Sessel. Sie saß so, daß sie den Spielenden ansehen mußte. Und wieder war sie erstaunt. Von dem Augenblick ab, da er vor dem Instrument saß, war er eine andere Erscheinung. Das Unbehilfliche fiel von ihm. Das Gesicht verlor Verlegenheitszüge, die Haltung wurde edler.

Töne klangen auf. Und Julie von Höchheim erzitterte das Herz. Denn es waren die erschütternden Klänge von Chopins Trauermarsch. Die Zuhörerin mußte um Fassung ringen. Sie hatte noch nie eine so tiefe Wiedergabe dieser Musik gehört, noch nie in so verklärter Schönheit, wie hingehaucht, wie in Sphären greifend den lyrischen Teil dieser Klage vernommen.

Es war natürlich, daß sie die Faszination des Spiels nicht hinriß zu einer Trauer um einen im Grunde gleichgültigen alten Mann. Die Wirkung kam dem Spieler zugute. Wie könnt ich lächeln über seine Unbeholfenheit und seine alltäglichen Worte, dachte sie, mit Tränen kämpfend. Wer so Musik wiedergeben kann, wer so feinfühlig, so übersensitiv ist, braucht vielleicht Derbheit und gewisse Vernachlässigung äußerlicher Dinge wie eine Verkleidung, einen Schutz.

Die letzten Trommelwirbel des Marsches verhallten, vertönten wie in weiter Ferne.

Julie stand leise auf. »Dies war gut von Ihnen«, sagte sie schlicht. »Und nun weiß ich viel mehr von dem alten Haus.«

Der Kapellmeister nahm ungelenk und verlegen ihre Hand an seinen Mund. Sie errötete leicht, denn ihr war es plötzlich angenehm, ihm nahe zu sein.

Die gewisse Rührung verflog in den abendlich lebhaften Straßen der Stadt. »Wenn ich jetzt dürfte, lüde ich Sie ein, irgendwo eine Flasche Bocksbeutel mit mir zu trinken, gnädiges Fräulein. Aber ich bin keine dekorative Gesellschaft.«

Sie lachte. Werd' ich wohl mein Lebtag sagen müssen, Großmama wartet zu Haus auf mich? dachte sie. Und plötzlich hörte sie sich aussprechen: »Ich möchte Sie öfter spielen hören, Herr Kapellmeister. Ich werde Ihre Schwester fragen, ob sie mich zum Kaffee einlädt, wenn das nicht sehr unbescheiden ist –«

Sie trennten sich lachend vor Julies Wohnung.

»Wo bleibt Julius?« fragte die alte Baronin.

»Er wollte spät heimkommen«, antwortete die Enkelin.

So, so. Schmale Hände legten wieder und wieder die kleinen Patiencekarten. Wenn Julius heute klug war, wenn er seine Chance nützte – –

O Garten von Veitshöchheim!

Romantischer, grotesker, närrischer, süßer alter Park! Ihr verwünschten Sphinxe! Ihr Wasserkünste und Seeungetüme! O Pegasus und Apoll! Ihr Fabeltiere, ihr Kindergestalten! Ihr verschnittenen Hecken, ihr Weiherspiegel! Warum, so fragt Zorn und Unmut, weiß noch ein anderer Mensch von euch als ich?

Man bittet eine Dame zur Aussprache.

Man geht ein wenig schwermütig, wie in Gedanken verloren, durch das alte Gewirr der Rokokoanlage.

Und dann – steht man plötzlich vor seiner Kusine und Hausgenossin, vor Ehrenpersonen, die sie begleiten, und vor einem schönen, jungen Mann, der ein Bäckerssohn ist und von dem Malprofessor als Modell aufgetan! Man kann nicht sagen, man habe Eile! Wer hat Eile, der in einen Rokokolustgarten flüchtet? Man kann nicht kundgeben, ich erwarte jemand. Denn man erwartet nicht diese und jene, sondern eine respektabele junge Dame, die nicht plötzlich als vertraute Wandergenossin dargestellt werden kann.

Julius von Höchheim war über das Zusammentreffen mit der Malergruppe so verstört, daß er nicht merkte, wie sehr er seine Base Gudrune störte. Er hatte wirklich Mißgeschick. Die Maler setzten sich nicht nieder, um zu malen, sondern sie begannen eine rastlose Wanderung durch die verschiedenen Parkteile, um die Motive zu suchen und abzuwägen. Der Park wurde zum Labyrinth. Man wich sich aus, um sich schnellstens wieder zu begegnen. Denn, o Verzweiflung, die vier Personen hatten sich zerstreut. Jeder suchte Motive. Wohin man sich auch wandte, wieder kam eine bekannte Gestalt entgegen.

Was half es, daß der Augusttag wundervoll blau war, daß über dem Wasserbecken die Libellen standen wie verzaubert? War es Wohltun, daß das Gezirpe der Grillen gleich einem ewigen Lichtton die Luft durchzitterte, wenn man plötzlich darum beben mußte, daß die zu einer Aussprache gebetene Dame nicht kommen möchte?

Dieser vernarrte Park!

Immer wieder tauchte zwischen den umbuschten Wegen, hinter einer Statue, an einem Boskett, am Weiher ein helles Kleid auf. Und Julius wurde dann neu erregt, lief, suchte – um auf seine Kusine, die Professorin oder eine Fremde zu stoßen.

War Luise überhaupt nicht gekommen?

Oder hatte sie ihn im Kreise der andern gesehen und war wieder fortgegangen?

Ernüchtert, erregt verließ Julius gegen Abend den närrischen Park, fuhr mit der Bahn den kurzen Weg in die Stadt. Er rannte zur Wohnung von Menards. Wenn Luise nicht zu Hause war, konnte er, es ging noch ein Zug, wieder hinaus nach Veitshöchheim fahren.

Er war noch nie bei Menards gewesen. Das alte Haus im Bezirk der Hofgärtnerei erschien ihm reizend und wie gemacht für ein heimliches Liebesspiel.

Ein kleines Dienstmädchen öffnete und sagte erfreut: »Grad ist der Herr Kapellmeister heimkommen.«

Verwünscht! Nun war da wieder der Bruder! Im nächsten Augenblick wußte Julius, das machte sich ja gut. Er konnte mit dem Kapellmeister über die Erbschaft sprechen. Alle waren nervös durch die Sache und taten Wunderliches.

Er stürmte eine Treppe hinauf, sah sich in einem hellen Flur mit Riedingerstichen an den Wänden, sah grünes Licht, das von Zimmerlinden ausging, sah Luise Menard beschäftigt mit dem Gießen der Pflanzen.

Er war schon an ihrer Seite.

Mit einer leisen, spöttischen Stimme sagte Luise Menard: »Ich bin wirklich auf dem Weg nach Veitshöchheim gewesen. Aber ich begegnete Ihrer Kusine und dem Gefolge. Auf eine so zahlreiche Landpartie war ich nicht eingestellt.«

Er brauste auf. Er schilderte die Not dieses Nachmittags. So knabenhaft zornig, so komisch, daß sie amüsiert wurde. Er holte den Rosenkranz aus Malachitsteinen hervor.

»Wenn Sie schon nicht mit mir gehen mögen, so beten Sie wenigstens für mich. Dieser Rosenkranz ist von großer Bedeutung. Er stammt aus dem Geschäft unseres Miterben Eusebius. Sie können nun doch nicht verweigern, ihn anzunehmen?«

Er ließ seine Blicke spielen, halb arrogant, halb demütig, halb aufreizend, halb werbend. Und er sagte:

»Ist es denn eine fluchwürdige Angelegenheit, wenn man Verwandtenkult treibt und eine schöne Base ein wenig näher kennenlernen möchte?«

Sie nahm zögernd das Geschenk, lächelte in leiser Nervosität. Sie fühlte sich schwach werden. Und plötzlich dachte sie etwas Gesellschaftliches. Der Enkel der Baronin Luckner sah, daß man hier, in diesem Bürgerhaus, nicht die Fassung verlor, wenn um Abendessenszeit ein Besuch kam. Im Wohnraum stand, rein und elegant gedeckt wie immer, der fertige Tisch.

»Mögen Sie mit uns essen?« fragte sie konventionell und trat unter die Tür des Zimmers.

Großer Gott, dachte er. Dieses Spiel ist kein leichtes.

Er verbeugte sich höflich und antwortete burschikos: »Es ist mir ein Fest.«

»Dann sagen Sie wohl meinem Bruder rasch guten Tag, er pflegt um diese Stunde sich ›verhungert‹ zu nennen.«

»Spielt er nachher etwas vor?«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch da kommt er selbst.«

Diesen Abend sollst du mich küssen, dachte Julius von Höchheim.


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