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18

Alle Räder standen still.

In starrem Schweigen trauerten die Stoltenkampschen Werke um den Hingang ihres Herrn und Meisters.

Fritz Stoltenkamp lag aufgebahrt im Arbeitszimmer des kleinen Arbeiterhauses. Die letzte Nacht, die er über der Erde weilte, verbrachte der stille Schläfer inmitten der Fabrik, umringt von den Schöpfungen seines Riesengeistes. Als dunkle Massen wuchteten sie in der Nacht, und als der Morgen kam und die Frühsonne über sie hinhauchte, wuchsen Gebilde aus der Masse und gliederten sich weithin in Hallen und Häuser und einen Wald gen Himmel ragender Essen und Türme. Wie erstarrt umstand der mächtige Block dichtgedrängt das kleine Arbeiter-Haus, in dem einsam in der Hut seiner Werke der große tote Meister lag.

Nein, er lag nicht einsam. Ein Leben war bei ihm, das sich nur noch nicht zu finden vermochte. Franziska saß zu Häupten des Toten die letzte, lange Nacht. Es fror sie, und sie wußte, daß es nicht die Nähe des Toten war und die kühle Nacht, sie wußte, daß der, der dort vor ihr lag und in wenigen Stunden dem Schoß der Erde übergeben werden sollte, den Inhalt ihres Lebens mit sich nahm. Alles, was Franziska Gildemeister in ihr gewesen war und was er liebte, hatte sie ihm ganz gegeben, bis es stoltenkampisch geworden war. Mit ihrer letzten Pflege gab sie ihm ihr Letztes. Stolz und ruhig wie eine Stoltenkampfrau fühlte sie, daß sie nun nichts mehr zu vergeben hatte.

Draußen erwachte der Morgen. Arbeiter kamen leisen Schrittes und fegten noch einmal den Hof vor dem Haus, Meister trafen halblaute Anordnungen. Und nun sammelten sich die Menschen.

Franziska Stoltenkamp legte beide Hände auf den Sarg und nahm Abschied. –

Aus der Schlafkammer, in der einst Frau Margarete gewohnt hatte, trat sie still und aufrecht zu der Trauerversammlung. Der Pfarrer sprach. Er sprach großzügig und ergreifend, und doch vermochten seine Worte der Gattin Fritz Stoltenkamps nichts zu sagen, was nicht schon tiefer und klarer in ihrem Herzen stand. Die Arbeitersänger rückten zusammen. Sie hoben an. Da ging ein Schauer der Ergriffenheit durch Frau Franziskas Schultern.

»Großer Gott, wir loben dich!
Herr, wir preisen deine Stärke!
Vor dir neigt die Erde sich
Und bewundert deine Weite ...«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Halbmast grüßten die Fahnen. In schauernder Ehrfurcht grüßte das schweigende Werk. Fritz Stoltenkamp verließ seine Arbeitsstätte, den abgeschlossenen Kreis seines Lebens.

Hinter dem Totenwagen ging Franziska. Zu ihrer Linken schritt der Sohn, zu ihrer Rechten der neunzigjährige Haniel. Er schritt in festen Stiefeln, wie er es dem Fritz Stoltenkamp versprochen hatte, und blickte feierlich auf den Kranz, den er in den verarbeiteten Händen trug. Hochaufgerichtet folgte der Vertreter des Kaisers, ihm zur Seite Frau Elisabeth Stoltenkamp mit ihrer Tochter Margarete. Die Alten der Arbeiterschaft, die mit dem Toten einmal jung gewesen waren, schlossen sich an. Und in langem Zug die Werksleiter mit den Vertretern der Werksangehörigen, die Abgeordneten des Heeres und der Flotte, der rheinisch-westfälischen Industrie und der Industrien des ganzen deutschen Landes. An die zwanzigtausend Stoltenkampsche Werksangehörige aber säumten den Weg, der von der alten Fabrikpforte hinausführte zum neuen Erbbegräbnis.

Mit dem Sohne, Elisabeth und der kleinen Margarete war Frau Franziska von der Gruft noch einmal zurückgefahren in das kleine Arbeiterhaus. Zeit seines Lebens war sich Fritz Stoltenkamp wie ein Soldat erschienen. Und wie bei einem Soldaten, so hatte er es gewünscht, sollte der Schluß seiner Beisetzung sein. Wenn nicht mit Trommeln und Pfeifen, so doch mit einem neuen Morgengruß an das Leben.

Die Arbeiterscharen marschierten in den Hof. Kopf an Kopf standen sie und hielten die Blicke auf die Fahnen und Flaggen gerichtet, die trauernd noch Halbmast wehten. Ein Ruck ging durch die Massen. Hoch stiegen die Fahnen und Flaggen bis unter den Knauf der Mäste und schlugen im Wind. Und aus der Menge stieg das Lied der Arbeitersänger zu ihnen auf:

»Erhebt euch von der Erde,
Ihr Schläfer aus der Ruh,
Schon wiehern uns die Pferde
Den guten Morgen zu.
Die lieben Waffen glänzen
So hell im Morgenrot,
Man träumt von Siegeskränzen,
Man denkt auch an den Tod.«

Frau Franziska Stoltenkamp dachte seit dieser Stunde an den Tod, und der Tod dachte an sie. Und während die Ärzte noch rieten, ob die Aufregungen und Überanstrengungen der letzten Zeit, ob eine Erkältung, die sie vom Begräbnisplatz mitgebracht hatte, die Ursache ihres Erschöpfungszustandes sei, schlummerte sie in der Stille hinüber zu dem Einsamen, dem ihre Mädchenblüte und ihr Frauentum der einzige Schmuck eines harten Manneslebens gewesen war – seit dem Tode der unvergeßlichen Mutter.

Schwerer noch lagen dem Erben die Schatten auf dem Wege und machten seinen Schritt unsicher und sein Wesen beklommen. Eine Weile sah ihm Elisabeth mitleidvoll zu. Dann rötete ihr der Lebenswind wieder die Wangen und straffte ihre Sehnen.

»Es ist jetzt genug geweint, Friedrich Franz. Die Dahingegangenen haben uns nicht nur das Recht auf Tränen hinterlassen. Ich meine, kein Mensch könne ein größeres Erbteil an handfesten Pflichten erhalten, als wir es bekommen haben. Kopf hoch, Friedrich Franz. Zuletzt haben wir auf der Welt doch auch noch unser Sprüchlein herzusagen.«

»Ja, Elisabeth. Nur sind es so viele Pflichten, daß sie mich noch betäuben.«

»Faß nur irgendwo an. Und du sollst sehen, wie die Betäubung weicht.«

Da ging Friedrich Franz und faßte an. Zuerst erschrak er vor der Größe der Aufgabe, die die Kraftnatur des Vaters überwältigt hatte, und vor der Größe der Aufgaben, die auf den Sohn und Erben warteten. Aber er faßte an und sagte sich zu Beginn: »Mehr als ein pflichtgetreuer Mensch zu leisten vermag, kann kein Richter von mir verlangen.« Jetzt erst zeigte sich die Größe der Erkenntnis, die Fritz Stoltenkamp besessen hatte, als er vor der wachsenden Überlegenheit des eigenen Werkes schweigend in den Hintergrund getreten war. Die großzügig geordnete Betriebsleitung arbeitete auf jedem ihrer Einzelgebiete als Teil der Gesamtheit. Und die Gesamtleitung verkörperte den Geist ihres Schöpfers. Wie in einem festgefügten Staatengebilde verwalteten die verantwortlichen Männer ihre Ämter, und ihr Verantwortungsgefühl erschöpfte sich nicht in der Instandhaltung des Überkommenen, es lugte mit Seemannsaugen nach neuem Land, neuen Taten, neuen Besitzerrechten.

Der jugendliche Wilhelm der Zweite hatte als Preußens König den deutschen Kaiserthron bestiegen. Sein stürmisches Wollen teilte sich dem Vaterlande mit. Die ersten Niederschläge zeigten sich in der Gesetzgebung, wurden bekämpft, wurden bejubelt. Aber den starken Strom, der durch alle Schichten der Bevölkerung und der Berufe dahinzubrausen begann, vermochte keiner hinwegzuleugnen, ob der eine ein langsameres Zeitmaß, der andere ein abgetönteres Rauschen wünschte. Es wurden Kräfte geweckt und Ziele gesteckt, die der Arbeit ein weites Feld anwiesen. Die großen Gewerbe traten frisch auf den Plan. Wenn das junge Deutschland Glanz erhalten sollte vor aller Welt, hatte die Industrie ihre Ebenbürtigkeit zuerst zu beweisen. Und mit der alten Kämpferfreude ging sie voran.

Friedrich Franz Stoltenkamp saß im Kreise seiner Berater und prüfte in seiner ruhigen und freundlichen Art alle Vorschläge, die ihm unterbreitet wurden. Er beschloß, dem Geist der Zeit zu gehorchen und sein Werk an die Spitze der Aufwärtsbewegung zu stellen. Das Werk richtete sich auf den größten seiner Feldzüge ein und gewann ihn. Ob Friedrich Franz ihn auch auf den Schultern seines Vaters gewann – er gewann ihn.

Die flüssig gewordenen Mittel ließen die neu einsetzenden Vergrößerungen zu, ohne daß auch nur ein Stöhnen der Werkmaschine sich bemerkbar machte. Der Friedensbedarf wurde als Massengut hergestellt, und mit dem Stoltenkampschen Stempel bewies er seine unverminderte Güte. Fremde Stahlwerke wurden aufgekauft und ihre Tätigkeiten dem Gesamtplan eingeordnet. Die Wissenschaft hielt Einzug mit ihren verschärften Hilfsmitteln, und die Untersuchungen in der chemisch-physikalischen Station räumten mit jeder Zufälligkeit in der Stahlbereitung auf und wiesen neue Wege. Der Nickelstahl trat seinen Siegeszug an. Der Umfang der Geschützgießereien verdreifachte sich, und der Lafettenbau hielt mit ihm Schritt. Ein neues Panzerplattenwalzwerk erstand, und die Flotte griff zu, die Arbeit wurde zum brausenden Lied. Ruhig und gütig saß Friedrich Stoltenkamp im Kreise seiner Berater, prüfte alle Vorschläge, die ihm unterbreitet wurden, und traf seine Entschlüsse. War der Entschluß gefaßt, so hatte die Durchführung zu erfolgen. In diesem Punkte unterschied sich Friedrich Franz Stoltenkamp nicht um Haaresbreite von seinem Vater.

Zu Hause aber legte er den Werksherrn ab und ergab sich, aufatmend wie nach schwerer und ungewohnter Arbeit, ganz seinen stillen Lieblingsneigungen, der Pflege der schönen Künste, der Wissenschaften, und mehr noch der Pflege der stillen Freude an ihnen. Wo einst strenge und scharfäugige Fachleute gesessen hatten, saßen jetzt oft die Gelehrten und Künstler des Landes, und mancher junge Maler und Musiker ging von hier aus seinen Weg, unterstützt durch die immer offene Hand des still erfreuten Hausherrn. Der Segen der Arbeit, vom Vater herabbeschworen, floß dem Sohn in goldenen Strömen, und er zeigte sich bei allem Wohltun als der rechte Verwalter und mehrte das Gut. Nur die Lebensscheuheit seiner Jugend vermochte er auch in den Mannesjahren nicht mehr zu ändern. Und von dem Schmutz der Straße wich er beklommen zurück, statt ihn mit einem Schaufelwurf aus dem Wege räumen zu lassen.

»Es ist zu spät,« mußte sich selbst die willensstarke Hausfrau gestehen. »Die Eindrücke und Empfindsamkeiten der einsam verlebten Jugend wurzeln zu tief. Hier machen die weitestschauenden Eltern die schlimmsten Fehler.«

»Mein Vater hat, seitdem ich Kind war, nur an meine zukünftige bedeutsame Stellung gedacht und meine Erziehung danach geleitet,« entschuldigte Friedrich Franz den Vater.

»Dein Vater hätte in erster Linie daran denken sollen, daß Jungen Jungen sind und ihre beste Erziehung aus den Knüffen und Püffen der Spielkameraden beziehen, die sie mit Zinsen zurückerstatten. Auf die bedeutsame Stellung richtet sich dann der innere Uhrzeiger eines Tages schon von selber ein.«

In der Fabrik war Elisabeth bald eine bekannte Persönlichkeit. Sie erschien oft, die aufwachsende Margarete an der Hand, und stapfte unbekümmert zwischen dampfenden Kohlen und zischendem Eisen umher, sprang über die Eisenbahngleise, die das Werk wie ein Netz durchzogen, oder rief die nächststehenden Arbeiter heran, ihr ein Hindernis aus dem Wege zu schieben. Die Leute sagten nur: »da geht die Frau«, zogen vor Mutter und Tochter die Mützen und spuckten in die Hände, um sich vor ihrem Blick als rechte Enaksöhne zu erweisen. Von den Werksleitern aber hörte sie manches kluge Wort. Die Herren wußten ihren scharfen Verstand und ihre beherzte Art bald zu schätzen.

Nun gingen wieder zwei große Planungen ihrer Reife entgegen. Der Urgedanke Fritz Stoltenkamps, vom Erz in der Erde und der Kohle im Stollen bis zum gepanzerten, mit Türmen und Geschützen bewaffneten Kriegsschiff alles selbst zu bereiten, sollte seine letzte Krönung erfahren. Ein paar Jahre lang wurden die Mittel gehäuft. Dann erklärten sich die Mitglieder der Geschäftsleitung zur Verantwortung bereit. Strahlend vor Freude, einen neuen Markstein in die Geschichte des Werkes setzen und das Gelöbnis des Erben einlösen zu können, erteilte Friedrich Franz den Befehl: Vorwärts!

Da wurde es an zwei Stellen zugleich lebendig. Am Niederrhein und in der Ostseebucht. Am Niederrhein wuchs ein Musterwerk empor, das alle Erfahrungen in der Eisen- und Stahlbereitung in folgerichtiger Anordnung vereinigte. Auf dem Wasserwege kamen die Kohlen geschwommen und die Erze aus Deutschland, Schweden und Spanien, um auf maschinenmäßigem Wege den ragenden Hochöfen zugeführt zu werden, die sie nach der wirtschaftlichsten Art der Flußeisenerzeugung, dem Thomasverfahren, verhütteten und maschinenmäßig an das Thomasstahlwerk zur Stahlumwandlung weitergaben. Ein Martinstahlwerk schloß sich an. Und maschinenmäßig gelangte der erzeugte Stahl in die Walzwerke, um als unübersehbare Masse von Eisenbahnschienen aufzuerstehen und als Stahlgestänge und Formengüsse, die sich auf das Zauberwort der Arbeit zusammenfanden zu hoch- und weitgeschwungenen Brückenbauten. Eben noch stand man auf der Kaimauer des Hafens und starrte auf die Flotte der Rhein- und Seeschiffe, die wie ein Wall Bord an Bord gedrängt lagen, starrte auf Kohlen und Eisengestein, um nach wenigen Schritten die Kohlen zu Koks, das Gestein zu Flußeisen, das Eisen zu Stahl und den Stahl zu einer Brücke werden zu sehen, die Ufer verbindet, zu Kilometertausenden von Schienen, die die Völker der Erde aneinanderrücken.

Diese Schöpfung liebte Friedrich Franz über alles. Sie war aus seinem Herzenswunsch geboren, der Fabrik ein Vermächtnis seiner eigensten Prägung zu geben. Sie wurde zum lebendigen Beweis, daß der Sohn, der im Schatten seines Vaters wandeln mußte, des Vaters wert war.

Augenfälliger und weltbedeutsamer erschien das zu gleichen Zeiten einsetzende Leben in der Ostseebucht. Friedrich Franz gedachte der Worte des Vaters, die er im Kreise der hohen Gäste an ihn gerichtet hatte: »Ich hoffe, daß du einmal deine eigene Werft besitzen und helfen wirst, Deutschland auch im Schiffsbau von England unabhängig zu machen. Mir reicht der Atem so lange nicht mehr.« Nun nahm Friedrich Franz den eigenen Atem zu Hilfe, und er reichte.

Eine ältere Werft wurde erstanden, von Grund aus unter Nutzung aller technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften umgebaut und ins Große übertragen. Jetzt kamen die Kessel und Schiffsachsen, die Panzerplattenbekleidung und die stählernen Drehtürme, die Geschütze und Lafetten der Gußstahlfabrik, jede selbstgefertigte Scheibe, Schiene und Schraube in die eigene Familie. Hellinge und Spanten wurden ihre Schwestern und Brüder. Nun konnte man eine Kanone kaufen und ein bis in die Gefechtsmasten bewaffnetes und gepanzertes Linienschiff.

Dem Sohne, der im Schatten des Vaters wandeln mußte, war es vergönnt, die letzte unerfüllt gebliebene Sehnsucht des Vaters lebendig zu erfüllen. Feurig nahm Elisabeth Stoltenkamp in der Stille Anteil. Nur in der Stille. Sie sprach kein Wort hinein, aber der Gatte sah es an ihren aufblitzenden Augen, wie ihr solches Zugreifen behagte. Die Baupläne der großen Kriegsschiffe verfolgte sie, als ob sie einen spannenden Roman läse, und als eine auf der Werft gebaute Torpedobootsflottille auf der Versuchsfahrt die vertraglich ausbedungene Geschwindigkeitshöhe infolge neuer Erfindungen Stoltenkampscher Ingenieure noch um mehrere Knoten schlug, nahm sie ihr Mädel um den Leib und wirbelte es in wilder Freude herum.

»Wir sind auch jemand, Mädel, vom Aussterben ist keine Rede!«

Die kleine Margarete, die den hohen Wuchs der Stoltenkamps hatte, war zu einem sechzehnjährigen Fräulein herangewachsen, und das gesunde Blut der Mutter strömte in ihren Adern.

Wenn Friedrich Franz sie in seiner freundlichen Güte betrachtete, ein wenig nachdenklich, weil ihm kein Sohn geboren war, klopfte ihm Frau Elisabeth in ihrer frischen Art auf die Schulter.

»Nur keine tiefsinnigen und schwerblütigen Grübeleien. Die Natur weiß, was sie tut. Ein Acker, der zu viel vom selben Erzeugnis hergeben muß, will eine andere Bepflanzung. Ein Geschlecht, das hintereinander große Männer hervorbrachte, wie den Großvater Friedrich und den Vater und alle die mir unbekannten starken Bürgermeister und Schöffen, verlangt einmal eine neue Stammmutter. Ich hätte nichts gegen einen Sohn einzuwenden gehabt, aber für das Werk wird eine neue Blutmischung, die von der unverbrauchten Frau ausgeht, vorteilhafter sein. Also freu dich deines Mädels von Herzen, Friedrich Franz. Die Fabrik erlaubt's.«

Dann lachte Friedrich Franz und meinte scherzend: »Der Vater hatte recht. Du bist wie der Alte Fritz oder einer seiner frischfrommfröhlichen Reitergenerale.«

»Frischfrommfröhlich, Friedrich Franz,« sagte Frau Elisabeth und sah ihm voll in die Augen. »Das wäre neben dem Werkswort ›Vorwärts‹ das einzig wahre für den Hausgebrauch.«

Es wehte ein neuer Geist in dem weißen Haus unter den grünen Wipfeln. Junge Stimmen erfüllten Haus und Park, und helle Mädchenkleider huschten durch die Büsche. Auf der Ruhr schaukelten sich die Kähne mit dem jungen Volk, den Söhnen und Töchtern befreundeter Familien aus der Nähe und Weite, und im Wiesengrund wurden unter jauchzenden Zurufen Schläger und Ball gehandhabt oder ein Reigen zu Pferde geübt. Im Winter aber ging es in die umliegenden Städte, um den Brunnen der Kunst rauschen zu hören, in Oper und Schauspiel, in Konzertaufführungen und Vorlesungen namhafter Männer oder in die Galerien und Kunstausstellungen Düsseldorfs.

»Man muß mit dem Leben Schritt halten, den Körper erfrischen und den Geist veredeln,« sagte Frau Elisabeth Stoltenkamp und ermunterte den Gatten, an den Spielen der Jugend und ihren heiteren Festen teilzunehmen. »Gott hat uns fünf Sinne gegeben und die ganze Welt. Wer seine Sinne nur auf die Arbeit richtet, stumpft sie für den übrigen Teil des Schöpfungsplanes ab.«

»Mein Vater dachte anders darüber, Elisabeth.«

»Dein Vater war – Fritz Stoltenkamp. Eine Ausnahme in der Weltordnung kann nicht verlangen, daß sie als Regel aufgestellt wird. Wenn wir uns nicht gerade einbilden, dein Vater zu sein, haben wir Anspruch auf ein bißchen Menschenfröhlichkeit.«

»Wir nehmen nun einmal eine andere Stellung ein, Elisabeth. Die hält mich immer am Zügel zurück.«

»Höre, Friedrich Franz, das ist ein Standpunkt, der dich um das Leben betrügen wird. Es ist nicht Sache der Stellung, sondern Sache der Persönlichkeit, wie man sich zu geben hat. Das wäre doch ein Fluch der Stellung, wenn sie uns zwänge, unter einer Maske zu laufen.«

»Es ist wenigstens die Bürde der Stellung, Elisabeth.«

Elisabeth Stoltenkamp schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Da irrst du dich. Diese Bürde hängt ihr der Stellung künstlich um, um sie gewichtiger erscheinen zu lassen. Du brauchst dir nur auf dem Bahnhof eine Fahrkarte oder auf der Post eine Briefmarke zu kaufen, und der Beamte am Schalter verabfolgt sie dir mit einer unnahbaren Miene und einer gnadenausteilenden Handbewegung, als müßte der Staat in die Brüche gehen, wenn der Mann aus Versehen einmal lachte. Nein, Friedrich Franz, der Staat geht nicht in die Brüche und die Stoltenkampschen Werke noch lange nicht, wenn die Herren Vertreter zeigen, daß es ein Vergnügen ist, auf der Welt zu sein.«

Aber Friedrich Franz vermochte nicht mehr umzulernen. Je weiter und lauter sein Name erklang und die Welt Ferngläser und Lupen hervorholte, um den Träger dieses großen Namens zu betrachten, um so mehr zog er sich in sich selbst zurück und glaubte, all den spürenden, forschenden, neugierigen und neidischen Blicken entronnen zu sein. Sein Gang nahm etwas Gewaltsames, seine Kopfhaltung und der Ausdruck seines Gesichtes etwas Starres an, wenn er durch eine Straße, durch einen Festsaal schritt und die Menschen um sich und hinter sich seinen Namen wispern hörte. Er ging mit Frau und Tochter auf weite Reisen, er kreuzte mit seiner Jacht monatelang auf den Meeren, nur um allein oder unbekannt zu sein und sich nicht von dem unablässigen Geflüster und Getuschel verfolgt zu wissen.

Als die vollbeschäftigten Werke, die dank ihrer erneuten planmäßigen Einrichtung keine Abhängigkeit von den Grundstoffen und keinen Wettbewerb des Auslandes mehr zu gewärtigen brauchten, immer gewaltigere Gewinne abwarfen und der Reichtum sich mehrte, lief Wahrheit und Dichtung im Lande um, aber die Dichtung hatte schnellere Füße und erzählte viel von den unbeschreiblichen und märchenhaften Schatzkammern und nichts von den Sorgen, dem Lebensverzicht und dem Arbeitsschweiß des starken Nimmermüden, der sie gefüllt hatte, nichts von der stählernen Pflicht, die als Haupterbteil auf den Sohn gekommen war, das Werk zu erhalten, indem er es steigerte. Da kamen die Bittbriefe um Darlehen und Unterstützungen unbekannter Menschen ins Haus, denen gern entsprochen wurde, wenn der Briefschreiber sich auszuweisen vermochte, und den verschämten Bittbriefen folgte die offene Flut der Bettelbriefe von Müßiggängern und Arbeitsscheuen und all dem dunklen Gelichter, das aus der Bettelbriefkunst ein einträgliches Gewerbe zu machen weiß. Wer aber abgewiesen wurde, schwieg nicht still, sondern erging sich in namenlosen Zuschriften und Beschimpfungen über den Leuteschinder und Volksaussauger, der lieber im Golde ersticke, als daß er einen Taler für die Verhungernden wechseln ließe.

Friedrich Franz war sich bewußt, daß seine Arbeiterfürsorge vorbildlich war in aller Welt. Neue Arbeitergartenstädte hatte er erbauen lassen und einen Beamtenkörper lediglich zu Wohlfahrtszwecken gebildet. Seine Leute gingen mit hocherhobenen Köpfen, wie Menschen gehen, die festen Grund unter den Füßen und ein ausdauerndes Dach über dem Kopfe wissen. Es war längst zum Ehrennamen geworden, Stoltenkampscher Werksangehöriger zu heißen. Für die Armen im ganzen Lande aber flossen ununterbrochen reiche Beiträge in alle Kassen, und bei jedem Aufruf zur Linderung einer Not stand der Name Stoltenkamp mit Ziffern, die ein Vermögen betrugen, an der Spitze.

Alles dessen war sich Friedrich Franz bewußt, und doch litt seine Empfindsamkeit, die ihm seit den Jugendtagen mit ihrer Einsamkeit und ihren überspannten Forderungen nicht mehr verloren gegangen war, unter den offenen und versteckten Angeiferungen wie unter körperlichen Schmerzen.

»Das ist nicht zu ertragen,« stöhnte er oft, »ich gehöre mir selber nicht mehr.«

»Dir geschieht ganz recht,« erwiderte Frau Elisabeth. »Das Zeug wird dir doch nur ins Haus geschickt, damit du die Dampfkessel damit heizen lässest. Nicht, damit du höchst eigenhändig dein Gehirn damit heizest.«

»Elisabeth,« sagte Friedrich Franz und schüttelte abwehrend die Hände, »das frißt auch der Dampfkessel nicht. Das speit er in Rauch und Qualm wieder aus und überschüttet die ganze Gegend damit. Ich kann das nicht ertragen, Elisabeth.«

Sie legte den Arm um ihn und lachte ihm in die Augen.

»Großer Junge, das ist gewiß nicht belustigend, aber es ist auch nicht zum Weinen. Es ist nur der alte Beweis, daß die Gemeinheit immer noch dicker aufgeht als die dünner gesäte Anständigkeit. Eine härtere Haut, Friedrich Franz.«

»Ich habe deine gesunde Natur nicht, Elisabeth. Ich bin von Kindheit an ein kränklicher Mensch. Daran wird es liegen.«

Elisabeth Stoltenkamp machte sofort die Angelegenheit zu ihrer eigenen. Die Nerven ihres Mannes waren nicht widerstandsfähig. Sein Verantwortungsgefühl war bei den fast unübersehbaren Ausmaßen des Werkes und aller seiner Zweigniederlassungen ein überschärftes geworden. Die geräuschlose und unverrückbare Zusammenarbeit der Geschäftsleitung gab ihm nicht Gelegenheit genug, sich müde zu schaffen und auszuwirken. Da nahmen in seinem Hirn die nebensächlichen Dinge, die eine mißgestimmte Außenwelt hineintrug, die Bedeutung hoher Grade an.

Elisabeth Stoltenkamp ließ den Geheimschreiber ihres Mannes zu sich bitten, dem die Öffnung und Sichtung der außergeschäftlichen Post anvertraut war. »Herr Schmitz,« sagte sie, »Sie sind doch ein Mann, der die Fliegen husten und die Hühner lachen hört.«

»Man wird's gewöhnt, Frau Stoltenkamp, man achtet auf alles.«

»Ich glaube, Sie können einem Briefe sogar schon von außen ansehen, was drin geschrieben steht.«

»Das wohl nur in großen Zügen, Frau Stoltenkamp.«

»Aber wenn Sie den Brief vor Augen haben, Herr Schmitz, und überfliegen den Inhalt, ganz egal, ob er sich in den gewähltesten Ausdrücken bewegt und die feinste Handschrift aufweist: vermögen Sie sofort zu beurteilen, wes Geistes Kind der Schreiber ist, und ob sein Charakter einen Flicken hat oder nicht?«

Der ergraute Beamte lächelte.

»Langjährige Übung, Frau Stoltenkamp. Die richtigen Kadetten rieche ich bei der ersten Zeile. Da gibt's keinen Streit.«

»Gut, Herr Schmitz, das wollte ich wissen. Sie werden von heute an die Güte haben, diese – diese Briefe der richtigen Kadetten stillschweigend auszusondern und nur an mich abzuliefern. Sie haben ein geschultes Auge. Ich brauche Ihnen also nicht erst zu sagen, daß mein Mann bei seinem leidenden Zustand unbedingt davon verschont bleiben muß.«

Der alte Beamte kraute sich unschlüssig das Ohr.

»Es wird dem Herrn auffallen, wenn die Briefe ausbleiben. Er wird danach fragen. Er ist, wenn ich mir das in aller Ehrerbietung und aus lauter Anhänglichkeit zu sagen erlauben darf, geradezu krankhaft gereizt darauf.«

»Ich dachte es mir, Herr Schmitz. Und nun sollen ihm die Briefe überhaupt nicht mehr vor Augen. Sie geben ihm nur noch die paar unverfänglichen, und die anderen gelangen an mich.«

»Die paar unverfänglichen?« wiederholte der alte Herr. »Das sind ein halbes Dutzend, wenn's hoch kommt, und der tägliche Eingang reicht an die hundert. Täglich, Frau Stoltenkamp.«

»Mein Gott und Vater,« sagte Frau Elisabeth und schlug die Hände zusammen, »ich bin selber vom Lande, aber ich wußte nicht, daß so viele Dunggruben in der Welt möglich wären.«

»Noch viel mehr,« bestätigte der erfahrene Mann. »Wenn der Staatsanwalt nicht wäre, kämen sie alle zum Vorschein.«

»Herr Schmitz,« schloß Frau Elisabeth das Gespräch, »es bleibt dabei. Ich bin von heute an die Empfängerin. Sollten meinem Mann die Eingänge so sonderbar gering erscheinen, so sagen Sie irgend etwas: der Kurs hätte sich gedreht, die verschämten und unverschämten Briefschreiber hätten jetzt einen anderen Kniff und wendeten sich an das gerührte Herz der Frau, und wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt, sagen Sie, Sie hätten einen Befehl von mir, und ich würde alles weitere mit meinem Mann selber besprechen.«

Friedrich Franz merkte die Veränderung bald, doch als er hörte, daß seine Frau die neue Anordnung getroffen habe, scheute er sich vor dem Beamten, sie wieder umzustoßen, und nicht minder scheute er eine Unterredung mit Elisabeth und ihre großen verwunderten Augen. Aber insgeheim spannten sich seine Sinne noch schärfer und empfindsamer auf jeden Laut, der von draußen ihn erreichte. Und seine krankhafte Erregung wuchs mit dem ruhigen und stolzen Wachstum der Werke.

»Den Menschen draußen geht's zu gut,« sagte Frau Elisabeth oft zu ihrer Tochter, vor der sie die schweren Verstimmungen des Vaters und ihre Ursachen streng verschlossen hielt. »In der berüchtigten Gründerzeit der siebziger Jahre war es ähnlich. Nur daß diesmal wirklich ein Goldstrom ins Land fließt, aber einer aus ehrlicher und gesteigerter Arbeit derer, die da arbeiten wollen. Jeder, der arbeitet, hat auch die Berechtigung, eine Verbesserung seiner Lage anzustreben. Das wäre noch schöner. Aber da sind viele, und du findest sie in allen Ständen, die ihre Begabung nur dazu benutzen, sich um die Arbeit herumzudrücken, die Dummen für sich arbeiten zu lassen, und die sich auf die seltsamste Weise über Wasser halten, ohne daß man weiß: spielen sie an der Börse, borgen sie Gott und die Welt an, oder haben sie sonst einen heimlichen Geldkanal. Du findest sie in den feinsten Häusern zu Tisch, in den Uraufführungen aller Theater, auf allen Rennplätzen und überhaupt, wo es was zu genießen gibt. Sie sagen dir, wo das erste Kiebitzei aufgetaucht ist, welcher Schneider allein ein Beinkleid zu bauen versteht, welcher Meister ein Esel und welcher Schmutzian ein wahrhafter Meister ist. Sie bestehen nur aus Übertreibungen, von den Tischgenüssen bis zur Frage der Anständigkeit. Sie nennen ein rosenrotes Ferkelchen, das auf zwei Menschenbeinen auf dem Tische tanzen kann, eine Offenbarung des Himmels und jedermann, der sich eine solche Schweinerei verbittet, einen Menschen von unanständiger Gesinnung, dessen Rückständigkeit ungefähr bei der Bibel beginnt. Sie wissen, weshalb sie es tun, denn ohne ihre schlampigen Übertreibungen würden sie das angemaßte Recht auf Beachtung verlieren und am verbilligten Leben vorüberrutschen. Die anderen aber wissen es nicht und kommen sich den Herrchen und Dämchen gegenüber so dumm und albern vor, daß sie nichts Eiligeres zu tun haben, als noch stärker aufzutragen und den schrankenlosen Genuß zu predigen, selbst auf die Gefahr hin, die ärgsten Leibschmerzen zu bekommen. Wie denkst du darüber, Margarete?«

»Ich denke, daß ich eine so weise Mutter habe, daß mir zu denken fast nichts übrig bleibt.«

»Ob ich weise bin, das weiß ich nicht, aber daß ich noch imstande bin, eine Katze, wenn sie auch aus dem schönsten Sack gelassen wird, eine Katze zu nennen, diese fröhliche Gewißheit laß ich mir von der ganzen Welt nicht verkümmern. Siehst du, aus den Kreisen, die ich dir soeben beschrieb, träufeln nun die angenehmen Lehren langsam durch alle Schichten hindurch und fressen sie an und kränkeln sie an, bis sie glauben, die Welt war ein Ballhaus, und sie würden nur widerrechtlich von Galopp und Polka zurückgehalten. Die Arbeit muß Hals über Kopf erledigt werden, damit sie wenigstens noch zum Kotillion oder zum Damenwalzer zurechtkommen. Und alle diese armen Menschen begreifen nicht, daß ein froher und glückseliger Genuß nur dadurch so schön ist, weil er selten und nicht alltäglich ist und die Frucht langer Wochenarbeit, der man nun den Dank abstattet. Gibst du mir recht?«

Margarete fiel der Mutter um den Hals und küßte sie auf beide Wangen: »Man könnte geradezu eifersüchtig auf dich werden.«

»Eifersüchtig?«

»Du bist und bleibst die Jüngste von uns allen.«

»Hab keine Sorge. Freiersmänner haben, was die Jährchen bei uns angeht, einen merkwürdig scharfen Blick.«

»Freiersmänner? Ein schönes Wort, Mutter. Aber gerade dadurch so schön, weil es selten und nicht alltäglich ist.«

Da lachte Frau Elisabeth, weil die Tochter sich so frisch der Mutter eigenen Worte bediente, und ihre Augen freuten sich nicht weniger an dem hohen, schlanken Mädchenwuchs.

»Ich wußte es ja,« sagte sie, »die Mischung ist gut.«

Friedrich Franz ging in diesen Tagen schweigsam, aber mit erwartungsfrohen Blicken einher. Es trafen viele Depeschen von der Werft ein, und er trat zu mehreren geheimen Besprechungen mit der Geschäftsleitung zusammen. Frau Elisabeth fragte nicht. Das war nicht die Sitte des Kaufes. Aber sie schaute dem Gatten, der sonst mit vornübergeneigtem Kopf zu gehen pflegte, vergnügt nach, wie er so spannkräftig dahinschritt. »Es muß dem lieben Mitmenschen nur eine Arbeit im rechten Licht gezeigt werden,« sagte sie, »und er besinnt sich auf seine Kräfte, und alles wird federleicht.«

Eine Woche später sprach Friedrich Franz davon, seine Damen möchten sich zu einer kleinen Fahrt an die Ostseebucht bereithalten. Vielleicht hätten sie auch die Freude, den Kaiser wiederzusehen.

Da wußte Frau Elisabeth» daß es auf die Werft ginge und irgendeine weittragende Erfindung im Schiffsbau vorgeführt werden sollte. Den Kaiser mochte sie gern. Zweimal war er schon bei ihnen zu Tisch erschienen, und die Ungezwungenheit seines Wesens und seine lebhafte und kräftige Unterhaltung hatten es ihr angetan. Während ihr Gatte auch im eigenen Hause nicht davon loskonnte, im Kaiser die Majestät zu verehren, sah sie in ihm den hochverehrten Gast und hervorragenden Mann, der nicht nur über alle Bildungsgebiete gut zu reden verstand, sondern die noch höhere Gabe besaß, klug zuzuhören und sich zu unterrichten.

Schon hatten die Zeitungen den Reiseplan des Kaisers gebracht, in dem auch der Besuch der Stoltenkampschen Werft vorgesehen war. Und plötzlich schlug die Stimmung bei Friedrich Franz jählings um. Bleich und erregt schritt er in seinem Zimmer auf und ab und ließ sich vor keinem Menschen sehen.

Frau Elisabeth klopfte bei ihm an. Er mußte öffnen.

»Das gibt es nicht, Friedrich Franz, die eigene Ehefrau auszuschließen. Sonst sind wir Frauen nach eurer Meinung doch dazu auf der Welt, um euch die Grillen wegzufangen. Scherz beiseite. Diesmal möcht ich es wirklich.«

»Es ist keine Grille,« stieß er hervor. »Es ist eine unsagbare Gemeinheit.«

»Desto kürzer brauchen wir uns mit ihr zu befassen, Friedrich Franz.«

Er reichte ihr ein Zeitungsblatt. Mit einer Gebärde, als ekle es ihn an.

»Das ist eins von vielen, die ich heute empfing. Der Text ist der gleiche. Ich muß gestehen, es liegt Planmäßigkeit darin.«

»In der Gemeinheit liegt immer Planmäßigkeit. Setzt dich das noch in Erstaunen?«

Sie entfaltete das Zeitungsblatt und las. Es war ein Angriff niedrigster und heftigster Art. Er sprach von dem großen Sklavenhalter, der den Zehntausenden seiner ausgemergelten Leute die schweißtriefenden Arbeitergroschen abpreßte, um gekrönten Häuptern Feste damit auszurichten und ihnen kostspielige Belustigungen zu Wasser und zu Lande darzubieten. Er sprach von den Flüchen der Armen und Entrechteten, die den Segen der Väter in faule Splitter rissen, und schloß mit der Ankündigung, den Herren schärfer noch als bisher auf die Finger zu sehen.

Frau Elisabeth zog die Brauen hoch.

»Und darum deine unbeschreibliche Erregung? Um so etwas? Ich gebe zu, daß es ein widerwärtiges Machwerk ist, aber damit ist meine gesamte Anteilnahme an der schriftstellerischen Leistung auch erschöpft.«

»Dieselben Zeitungsausschnitte liegen in dieser Stunde auch dem Kaiser vor. Das ist doch schmählich!«

»Ach, lieber Friedrich Franz,« sagte Frau Elisabeth und legte dem Erregten den Arm um die Schulter, »der Kaiser ist ein kluger Mann, ein viel klügerer als du. Und wenn es noch die Prügelstrafe gäbe, würde er dem, der ihm diese Zettel vorgelegt hätte, fünfundzwanzig hinten aufzählen lassen.«

Friedrich Franz schüttelte den Kopf.

»Das ist es nicht allein, Elisabeth. Du mußt mich recht verstehen. Die Menschen glauben Nichtswürdigkeiten am liebsten. Wo ich mich sehen lasse, wird man sie hinter mir herraunen. Ich möchte mich verkriechen, wenn das so weitergeht. Ich möchte mich vor Frau und Tochter verkriechen.«

»Friedrich Franz! Friedrich Franz! Dein Feingefühl ist überspannt. Solchem Knüppel- und Revolverton kommt man nicht mit Feingefühl bei. Gib mir alle die Blätter her. Ich werde den fleißigen Aufsatz durch ein Gelächter ertöten lassen.«

Friedrich Franz streckte die Hand aus. »Was hast du jetzt nur wieder vor?«

»Ich werde je einen Ausschnitt an jedes der Fabriktore nageln lassen, die Glanzstellen vom Sklavenhalter, den ausgemergelten Leuten und den schweißtriefenden Arbeitergroschen hübsch rot unterstrichen. Denke dir unsere Muskelgarde davor. Wie sie brüllen werden vor Entzücken. Auch der hochbegabte Aufsatzverfasser würde brüllen, wenn er zufällig näher träte, um die Wirkung seiner Feder zu genießen. Aber nicht vor Entzücken! Nicht vor Entzücken würde der Schmierlapp brüllen! Gib mir die Ausschnitte. Wir nageln sie an die Fabriktore.«

Friedrich Franz sah ihr staunend in die Augen. Seine Erregung ebbte ab.

»Elisabeth,« sagte er, »es ist doch wahr, was der Vater behauptete. Zuweilen ähnelst du dem Alten Fritz.«

»Na, siehst du wohl,« meinte sie und strich ihm über die feuchte Stirn. »Eine Beleidigung kann ich nicht darin finden.« –

Atembenehmende Tage folgten in der blauen Ostseebucht. Vor einem erwählten Kreise wurde das Geheimnis zuerst gelüftet. Eine Erfindung von unübersehbarer Tragweite wurde vorgeführt. Ein kleines, merkwürdig gestaltetes Boot von kaum zwanzig Tonnen Wasserverdrängung. Und jählings tauchte es unter Wasser wie ein Hecht und schoß, unsichtbar den Augen, als Unterwasserfahrzeug dahin, tauchte irgendwo unvermutet auf, feuerte einen Torpedo auf eine schwimmende Scheibe ab, die krachend zerbarst, und war den Augen tief unter Wasser wieder entschwunden.

Atembenehmende Tage waren es und eine Erlösung im Hochgefühl des Siegers. Die Männer vom Fach standen mit bleichen Gesichtern und glühenden Augen. Sie ahnten die Bedeutung dieser Tage. Sie spürten, daß sie hier vor einem Wendepunkte in der Geschichte des Seekrieges standen.

Friedrich Franz war durch einen hohen Titel ausgezeichnet worden. Er konnte ihn nicht ablehnen, da er aus freudig erregtem Herzen dargeboten wurde. Frau Elisabeth und Margarete strahlten ihn an und drückten ihm die Hände.

»Es ist nur eine Bürde mehr,« und er lächelte verloren. »Dem Vater hätte es besser zu Gesicht gestanden. Er wäre wohl auch der Erfinder in Person gewesen.«

Allen Ingenieuren und Arbeitern aber sprach er seinen Dank und seine Bewunderung aus, ließ den am Bootsbau Beteiligten Geschenke und Geldsummen überreichen und verkündete für die Wohlfahrtseinrichtung sämtlicher Angehörigen der Werke Friedrich Stoltenkamp eine neue Stiftung von mehr als einer Million Mark. Gleichzeitig erhöhte er Löhne und Renten. Und wo er sich auf einem der Werke sehen ließ und in seiner scheuen, gütigen Art durch die Albeitergassen hindurchschritt, da folgten ihm dankbare Blicke und Herzen. Friedrich Franz war ein treuer Testamentsvollstrecker des Vaters. Und die Liebe seiner Leute hing ihm an.

Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, mit seinen Treubeweisen die geifernden Wogen besänftigen zu wollen, die ihm über die Füße spritzten. Und die Schmähpresse dachte nicht im geringsten daran, sich beruhigen zu lassen. Sie brach mit verdoppelten Wutausbrüchen los und wies auf das Sündengeld, das der nimmersatte Moloch nur ausgespien habe, um für einen Augenblick seine Gewissenslast zu erleichtern. Die Hetze nahm ein immer wüsteres Gepräge an, und den Hetzern war nicht beizukommen ohne eine aufsehenerregende Gerichtsverhandlung. Vor einer öffentlichen Schaustellung, einer öffentlichen Verteidigung seines Anstandes unter Abwehr aller gegen ihn anprallenden Schmutzgeschosse bebte die scheue Seele Friedrich Franz Stoltenkamps bis in ihre Tiefen zurück.

Wie ein gehetztes Wild irrte er umher, verbarg er sich, wenn er in seinem weißen Hause weilte, in seinem Zimmer.

Selbst Frau Elisabeth spürte, wie unter den unaufhörlichen Verfolgungen ihre gesunden Nerven das Zucken bekamen. Sie hätte längst aufgeräumt mit dem Gesindel, auch in eigener Person und in voller Öffentlichkeit, und sie hätte die vierzigtausend Mann der Stoltenkampschen Werke jubelnd hinter sich gewußt. Aber sie verstand die Wesensart ihres Mannes. Seine innerste Vornehmheit war nicht für die gierige Schaulust im Gerichtssaal geschaffen.

Immer wieder und bei jedem neuen Anwurf suchte sie ihn aufzurichten.

»Nun freu dich doch einmal, Friedrich Franz. Nur der leuchtende Mond wird von den Hunden angebläfft. Wer sichtbar auf einer Höhe steht, muß sich das Gejaule der Dorfköter gefallen lassen. Soll er darum die Aussicht weniger schön und ergreifend finden und die Höhenluft weniger göttlich? Friedrich Franz, es ist ja nur das Los aller Erfolgreichen, das du teilst. Es hat noch keinen Mann in Gewerbe, Kunst oder Staatskunst gegeben, der sein Haupt über die Gemeinde herausgestreckt hätte, ohne daß der Neid und die Mißgunst versucht haben würden, ihn an den Beinen wieder herunterzuzerren. Du bist oben, Friedrich Franz. Damit ist alles gesagt.«

Friedrich Franz Stoltenkamp blickte mit starren Augen vor sich hin. Er wußte keine Antwort. Er wußte nur, daß er unsäglich litt. Schlaflos lag er in den Nächten und grübelte und grübelte. Der Schmerz saß wie ein Feuerball in dem zergrübelten Hirn, das nicht zur Ruhe gelangen konnte. Die Schlaflosigkeit marterte ihn bis zur Unerträglichkeit. Funken sprangen in seinem Blut, tanzten vor seinen Augen. Wie ein Funkenregen jetzt! Er warf die Arme in die Luft. Er wollte einen Hilfeschrei tun, und es wurde ein Röcheln. Das Röcheln brach ab. Fritz Stoltenkamps Sohn und Erbe, Friedrich Franz Stoltenkamp, war zur Strecke gebracht.

Wieder stand ein Sarg im kleinen Arbeiterhaus, und wieder hielt eine Frau die letzte Wacht.

Wieder sammelten sich auf dem schweigenden Fabrikhof die Leidtragenden und folgten in langem Zuge dem palmengeschmückten Totenwagen. Die Alten der Fabrik fehlten. Sie schliefen seit Jahren unter dem grünen Rasen. Aber ein König schritt im Gefolge der Freunde und bewies dem Toten die Treue.

Franziska Stoltenkamp war dem Gatten nachgestorben. Elisabeth Stoltenkamp kehrte vom Begräbnisplatze heim, um für ihre Tochter das Leben in die Hand zu nehmen.

*

 


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