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13

Straff an Leib und Seele war Fritz Stoltenkamp von seiner Ausfahrt zurückgekehrt. Frau Margarete hob die Augenbrauen, wie er ihr länger und ausführlicher, als es sonst seiner Gewohnheit entsprach, Bericht erstattete und sich zuletzt in einer farbigen Schilderung von Eberhards Schaffenskraft und Eheglück verlor. Sie hob die Augenbrauen und blickte dem Sohn merkwürdig gespannt auf den Mund. Bis der Sohn es bemerkte.

»Du musterst mich so nachdenklich, Mutter. Gefall ich dir nicht?«

»Du gefällst mir sogar sehr gut,« sagte Frau Margarete, »besser als je, und ich dachte gerade darüber nach.«

»Über was dachtest du nach? Mach keine Kunstpausen, Mutter, ich muß ins Werk.«

»So. Das ist ja sehr schön. Von mir verlangst du, daß ich eine Stunde lang zuhöre, wie hübsch die Mathilde geblieben ist, und wie geschwisterlich sich euer Verhältnis gestaltet hat, und wie tüchtig der Eberhard an seinen Dampfkesseln schafft, und wie auch das nur wieder seiner Frau zu danken ist, und wenn ich dann nur für fünf Minuten das Wort erbitte –«

»Ach, Mutter,« lachte Fritz Stoltenkamp, »du hast das Wort, das erste und das letzte, und das behältst du mein ganzes Leben lang.«

»Darf ich nun weiter sprechen? Denn du fragtest mich doch, worüber ich nachgedacht hätte.«

»Worüber hast du nachgedacht, Mutter ...?«

»Also ich dachte gerade darüber nach, wie du mir so gut gefielst und besser als sonst: wenn der Fritz schon Farbe ins Gesicht bekommt, allein schon bei der Schilderung eines fremden Eheglücks, wie müßte er dann erst richtig flammen, wenn er mir von seinem eigenen Eheglück erzählen könnte. Das ist alles, und mehr habe ich gar nicht gedacht.«

»Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp, und sein Blick suchte den der Mutter, »besser, als ich es bei dir habe, kann ich es nie bekommen.«

»Ich werde nicht ewig bei dir bleiben, Fritz. Erschrick nicht, aber in wenigen Monaten werde ich sechzig Jahre. Ich kann dir meinen Geburtsschein zeigen, ungläubiger Thomas. Und der deine wird dich belehren, daß du Zweiundvierzig geworden bist. Das sind Zahlen, die sich sehen lassen können.«

»Sechzig Jahre, Mutter. Was will das besagen? Ich seh nicht deinen Taufschein, ich sehe dich an. Werde mal erst achtzig, dann wollen wir weiter sprechen.«

»Mit solch einem alten Krautjunker, wie du alsdann bist, spricht dann eine junggebliebene Frau nicht mehr. Nein, ohne Scherz, Fritz, ich möchte dich in guten und gütigen Frauenhänden wissen. Gerade du mußt jemand haben, der dich in den paar Stunden, die du dir abstiehlst, so recht warm und weich zu betten weiß und dir alle schweren Gedanken ganz leise von der Stirne streicht. Das nur gibt neue Kraft. Stille Frauenhände wirken Wunder.«

Fritz Stoltenkamp zog seinen Stuhl näher heran und griff nach ihren Händen.

»Hier hab ich sie, Mutter. Solange du lebst, gibt es keine, die mir die hier ersetzen können.«

»Solange ich lebe – – Weißt du denn, wie lange ich lebe? Wir sind alle sterblich, Fritz, und der Tod ist doch eigentlich nur die Erfüllung unseres Lebens und hat wirklich nichts Schreckhafteres, als der Schlaf nach einem Tagewerk hat. Wenn wir uns des Abends gute Nacht wünschen, tun wir es doch ganz fröhlich und fürchten uns nicht einen Augenblick, in die Traumgefilde hinüberzuschlummern, von denen doch auch keiner was weiß. Und oft denkst du beim Einschlummern: Ach, könnte ich doch jetzt mal so recht, recht lange schlafen. Den Wunsch erfüllt uns der Tod, und es ist beinahe undankbar, daß wir uns immer entsetzen, wenn schon allein sein Name genannt wird.«

»Ich entsetze mich gar nicht, Mutter. Aber mir ist nicht klar, weshalb du gerade heute darüber sprichst?«

»Fritz,« sagte Frau Margarete, und ihre Finger glitten beruhigend über des Sohnes Hand, »es ist besser, man spricht einen Tag zu früh als zu spät davon. Man hat sich doch noch so mancherlei mitzuteilen. Und ich bin wirklich nicht mehr die Jüngste und nicht mehr die Kräftigste.«

Fritz Stoltenkamp hielt die streichelnde Hand fest. »Du fühlst dich nicht wohl, Mutter?«

»Ich fühle mich sehr wohl, Fritz. Das bißchen Herzklopfen zählt nicht mit. Aber es ist doch eine Mahnung.«

»Ich werde sofort den Arzt rufen lassen, Mutter. Er muh dich untersuchen und uns auch die kleinste Sorge nehmen.«

»Das kann ein ehrlicher Arzt nicht, Fritz. Meinen alten Doktor hatte ich gestern hier, und er hat mich auch behorcht und beklopft.«

»Und was sagte er?« fragte Fritz Stoltenkamp, und alle seine Sinne spannten sich.

»Wir werden nicht jünger, liebe Freundin, sagte er, wir werden alle nicht jünger. Und dann schob er seine Instrumente zusammen und bat sich ein Glas Sherry aus.«

»Der Doktor ist ein Rhinozeros!« brauste Fritz Stoltenkamp auf. »Der Kerl soll seine tatterigen Gedanken anderswohin spazieren führen. Dem werde ich heimleuchten.«

»Aber so reg dich doch nicht gleich auf, Junge,« wehrte Frau Margarete und machte dazu ihre fröhlichsten Augen. »Der Mann hat doch recht! Gerade weil er schon so hoch bei Jahren ist, muh er es doch als Arzt und als alter Herr doppelt gut wissen. Möchtest du lieber, daß er die Masern bei mir festgestellt hätte oder den Ziegenpeter? Ja, nun kannst du lachen. Und nun sei so freundlich und begib dich endlich an deine Arbeit. Die Köln-Mindener Bahn hat dich nicht zum Vergnügen kommen lassen, und zum Schummerstündchen ist es mir noch zu zeitig.«

Da ging er und glaubte alle seine Sorgengedanken mal wieder bei ihr gelassen zu haben. – – – –

Im Stahlwerk brauchte man den Herrn. Es wurde mit Tag- und Nachtschicht gearbeitet, und eine zweite und stärkere Dampfmaschine legte sich neben die erste. Es war, als ob die ganze Welt plötzlich nach Stahl verlangte. In der Krim tobte der Krieg. Franzosen und Engländer hatten sich ihrer Liebe zur Türkei besonnen und rangen um die feuerspeienden Werke von Sebastopol zu Ehren des türkischen Halbmonds gegen die Russen. Auch die kleine ägyptische Armee mußte für die Oberhoheit der Pforte marschieren. »Es ist wegen Konstantinopel und der schönen Meerengen, daß der dritte Napoleon mit den geschäftsschlauen Engländern gemeinsame Sache macht,« schrieb der Oberst Moldenhauer an Fritz Stoltenkamp. »Sein großer Oheim dachte ein wenig anders über die Engländer, als er seine kühne Fahrt nach Ägypten antrat. Der Neffe kommt mir zu schlau vor. Er vergrößert das Durcheinander, um heimlich im trüben zu fischen. Einstweilen raufen sie brüderlich vereint und schielen dabei jeder nach dem schönen Knochen, den der brave türkische Bundesgenosse noch im Maule hat. Einerlei: Dein Gußstahl wird nichts dawider haben. Er kommt zu Ehren, Stoltenkamp, und ich freue mich als Sohn der Kohlen- und Eisenerde gewaltig mit Dir. (Die Franzosen schlagen sich übrigens ausgezeichnet und holen den Engländern die heißesten Kastanien aus dem Feuer.)«

Und Tag- und Nachtschichten wechselten sich ab, griffen ineinander, wurden ein einziges Zusammenklingen.

Mitten in der Arbeit horchte Fritz Stoltenkamp zuweilen auf. Es war ihm, als hätte die Mutter ihn gerufen. Und wenn er eilig hinüberschritt und die Mutter ihn mit verwunderten Augen ansah, wußte er nichts, als ihr im Vorüberschreiten eine hastige Zärtlichkeit zuzurufen und grübelnd Zu seiner Arbeit zurückzukehren.

Und dann gewahrte er eines Tages, daß ihr Gesichtchen kleiner und feiner geworden war und die Augen stiller blickten und mit einem dankbaren Aufleuchten für jeden kleinen Liebesdienst.

Er kam aus dem Werk, bestaubt und den Schweiß auf der Stirn, steckte zuerst den Kopf durch den Türspalt, winkte der Mutter zu, die im Sessel saß und ins Abendrot schaute, und ging dann erst auf sein Zimmer, um sich zu waschen und umzukleiden. Als er eine halbe Stunde später eintrat, saß die Mutter wartend am gedeckten Abendtisch, begrüßte ihn mit einem frohen Scherzwort und schenkte den Tee ein.

»Weißt du, was ich wohl möchte, Mutter?«

»Sag es.«

»Mal wieder mit dir hinaus wie damals, als wir in dem verträumten Winkel bei Wittlaer den Sonnenaufgang erlebten und die alte wacklige Frau nicht schnell genug in die Kirche konnte.«

»Gott, war das schön damals, Fritz.«

»Ja, Mutter, das möcht ich wieder mal mit dir unternehmen, so ganz mit dir allein. Aber wir müßten uns ein wenig mehr Zeit dazu nehmen und auch etwas gemächlicher reisen. Mit einer Extrapost, die nur für uns ist, Mutter, und uns dorthin führt, wohin wir wollen, und nicht, wohin die Eisenbahn will. Ich meine, das müßte doch heute beim Gußstahl herausspringen, Mutter,« und er lachte wie ein Mann, der nach dem Gelde nicht mehr zu fragen hat.

»Hast du denn Zeit, Fritz? Jetzt geht's doch gerade mit Hochdruck auf dem Werk.«

»Bei Hochdruck läuft es allein,« erklärte der Sohn. »In Zeiten der Flaue, ja, da ist das Auge des Herrn vonnöten. Weißt du, Mutter, und nun rufe nur nicht gleich nach deinem alten Doktor: ich spüre zum erstenmal, daß ich des Guten ein bißchen zuviel getan habe. Ich bin weiß Gott ein wenig überarbeitet.«

Frau Margarete sah ihn belustigt an, ohne daß er es bemerkte. Und dann sagte sie ernsten Tones: »Ja, Fritz, wenn es so ist, dann mußt du freilich an eine Ausspannung denken, und je eher wir uns hinausmachen, desto besser für dich.«

Jetzt schaute er auf. Als ob ihm der Ton nicht ganz echt geklungen hätte. Aber die Augen der Mutter ruhten voll teilnehmender Besorgnis auf ihm.

»Wahrhaftig, Mutter: je eher, desto besser. Was meinst du, wenn du morgen deine Vorbereitungen träfst? Sagen wir mal für acht Tage. Dann könnten wir doch übermorgen schon ins Freie.«

»Das könnten wir, Fritz. Hast du auch schon über das Reiseziel nachgedacht?«

»Ohne Reiseziel, Mutter. Wir fahren los, und wo es schön ist und die Sonne scheint, da lassen wir halten.«

»Ich möchte gern einmal wieder den Niederrhein hinabfahren,« sagte Frau Margarete sinnend. »Ich war als Kind einmal da, und meine Jungmädchenzeit hat ja nicht lange gedauert. Da kam Herr Friedrich Stoltenkamp und kürzte sie ab. Ja, das möchte ich wohl. Als alte Frau dorthin, wo mir als Kind die Welt wie ein Wunder erschien, nach dem alten Städtchen Xanten, wo Siegfried der Held geboren wurde, der wie du und der Vater das Schmiedehandwerk erlernte, und nach Calcar, wo Seydlitz auf die Welt kam, der auch das blanke Eisen so sehr liebte, und wie die alten, von verklungenen Jugendtagen träumenden Städtchen alle heißen ...«

»Mutter,« sagte der Sohn, »wie schön du zu sprechen weißt ...«

Am Sonntag in der Frühe hielt ein bequemer Reisewagen vor dem Fabriktor. Fritz Stoltenkamp hatte ihn selber ausgewählt. Die Koffer waren verstaut, und Frau Margarete saß ganz still und erwartungsvoll neben dem Sohn in den Polstern. Und je weiter sie fuhren, desto mehr ging Frau Margarete aus ihrer seligen Zurückhaltung heraus, und die Erinnerungen kehrten wieder und wurden lebendig und legten ihr Erzählungen auf die Lippen, die sie vor langen, langen Jahren von den Eltern gehört hatte, als sie mit ihnen denselben Weg gefahren war in staunender Kinderfreude.

Schloß Broich tauchte auf nahe der Stadt Mülheim an der Ruhr, und sie zeigte es dem Sohn schon aus der Ferne.

»Das war meine erste Schwärmerei, Fritz. Nicht des Bauwerkes wegen. Das verstand ich damals noch nicht. Aber das Schloß gehörte dem Hessen-Darmstädter Landgrafen, und die Königin Luise von Preußen wuchs als junges Mädchen unter der Obhut ihrer Großmutter, der alten Landgräfin, hier auf. Das war noch gar nicht so lange her, zehn oder fünfzehn Jahre, aber ich glaubte immer noch ihr weißes Kleid in den Büschen zu sehen.«

In Duisburg schlenderten die Schiffer durch die Straßen in ihren krauslockigen, hellblonden Bärten, und im Hafen zu Ruhrort lagen die Holländerboote, die Kohlen luden und heute Sonntag machten, dicht beieinander, und jedes trug einen anderen Anstrich am Rumpf, das eine rosa, das andere blau, das dritte grün und das vierte gelb, und von weitem glaubte man ein riesiges holländisches Tulpen- oder Hyazinthenfeld zu sehen, so leuchteten die Farben in der Sonne.

Und Frau Margarete wurde nicht müde, sich umzuschauen, zu erkennen und zu erzählen. Wie ein junges Mädchen war sie, und Fritz Stoltenkamp kam aus dem Verwundern nicht heraus und hörte ihr zu, ohne zu erwidern. Nie hatte er so die Landschaft, die Menschen, die Denkmale gesehen. Die Mutter mußte ihn erst das Sehen lehren. Einmal flog auch ihm eine Erinnerung durch den Kopf. Da hatte ihn vor Jahren ein feines und, wie ihm damals geschienen hatte, überfeines Mädchen gefragt, was er bei der alten Feste Hohenlimburg und der einstigen Wittekindresidenz Hohensyburg denn noch anderes gesehen hätte als Eisengruben und Hammerwerke? ... Und dann horchte er wieder auf die Stimme der Mutter und sah mit ihren Augen. Das halbe Europa kannte er, und alles, alles vor ihm war ihm neu und eine Offenbarung.

Über die Emscher fuhren sie, und bei Sterkrade kam das alte Eisenwerk, die Gutehoffnungshütte, in Sicht. Da wußte er wieder Bescheid. Und über die Lippe fuhren sie, und aus der Stadt Wesel winkte die köstliche gotische Willibrordikirche. Da wußte Frau Margarete wieder besser Bescheid. Und von den elf Schillschen Offizieren erzählte sie, die zu Stralsund gefangen waren und hier auf den Wiesen zu Wesel am 16. September 1809 auf Napoleons Befehl erschossen wurden. »Später ist ein Denkmal errichtet worden.« Und sie fuhren hin und besichtigten es.

In der Stadt stiegen sie ab. Es war genug für den ersten Tag. Und als sie gespeist und sich ein Stündchen erholt hatten, wanderten sie Arm in Arm in kleinen, gemächlichen Schritten durch die engen Festungsgassen und staunten das Rathaus an, das sich noch aus dem vierzehnten Jahrhundert herübergerettet hatte, und wanderten um die Willibrordikirche herum und betraten andachtsvoll das weite, fünfschiffige Innere.

Am anderen Tage setzten sie bei Wesel über den Rhein. Langsam glitten die Schiffe vor ihnen dahin, auf den saftigen Wiesen äste das Vieh, und das buntfleckige Jungvieh machte ungelenk und übermütig Kreuz- und Quersprünge über die silbernen Wiesengräben. Kirchturm an Kirchturm, Mühle an Mühle erschien am Horizont, und der Horizont selbst schien kein Ende nehmen zu wollen. Als könnte man ins Unermeßliche fahren und ins sagenhaft Grenzenlose, durch die Silbertöne des Lichtes und die zarten feuchten Schleier der Luft. Endlose Pappelzeilen liefen in die Ferne hinein und liefen vom preußischen hinüber auf holländisches Gebiet, und die Luft hatte auch in der Windstille einen stärkeren Odem und war geschwängert mit dem Salzgehalt der Nordsee.

»Das ist der Niederrhein,« sagte Frau Margarete andächtig. »Hier ist er wirklich. Die große, feierliche Stille, eingebettet zwischen das ruhelose Gebiet des Eisens und der Kohle und den Lärm der Hafenstädte. Fritz, das ist das Land für Leute, wie wir sie geworden sind.«

»Schilt nicht, Mutter, wir lernen um.«

Da sah Frau Margarete den Sohn von der Seite an, mit einem heimlichen Blick, der von einer dunklen Traurigkeit war und immer heller und gütiger wurde.

»Wir wollen nicht umlernen, Fritz. Aber freuen wollen wir uns. Wo es nur geht.«

»Darauf kannst du dich von heute an verlassen.«

Die Tage der Stille wurden ihnen zu sonnigen Märchentagen. Und sie wanderten hindurch mit ihrem unverwöhnten Geist, der nur von den immer höher steigenden Forderungen der Arbeit gewußt hatte.

In der Siegfriedstadt Xanten, von deren verträumter Altertümlichkeit der starke Arbeitsrhein um eine Strecke abgerückt war, führte sie ein kleiner, buckliger Küster in weißem Haar durch den gotischen Dom, dessen Größe und erlesene Schönheit seltsam aus der Kleinheit des Städtchens ragte.

»Warum seltsam?« fragte der kleine, bucklige Greis. »Eine große Freude kann auch aus dem Kleinsten entstehen, und man soll sie dankbar nehmen und nicht lange fragen: weshalb kam sie mir und warum? Freude ist ein Gottesgeschenk, und ich freue mich trotz meines Buckels und meiner weißen Haare tagtäglich so sehr an diesem herrlichen Dom, als ob der Herrgott gerade mir altem, überflüssigem Buckligen damit ein Geschenk hätte machen wollen.« Und mit rührender Liebe erklärte er den Aufhorchenden Entstehung und Schönheit der Steinbilder und Holzschnitzereien, des Chorgestühls, des kupfernen Leuchterbogens, der Gemälde und aller Schätze an Kelchen, Reliquiengefäßen und Meßgewändern.

»Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp, als sie wieder durch die Sonne gingen, »ich gönne ja dem gerührten alten Herrn seine Freude von Herzen. Aber eine Batterie Gußstahlgeschütze auf Feldlafetten freut mich doch noch bedeutend mehr.«

Frau Margarete ging an seinem Arm und lachte still in sich hinein.

»Ob der Küster sich das klarmachen könnte, Mutter? Der kennt die Kirchengeschichte und ich kenne die Kriegsgeschichte und weiß zum Beispiel, daß Xanten das stärkste Kastrum der Römer und ihr Ein- und Ausfalltor am Niederrhein war.« Und nun merkte er der Mutter Lachen und lachte mit ihr.

Im Dom zu Calcar aber packte ihn doch die meisterliche und verschwenderische Pracht, mit der die höchste Holzschnitzerkunst der alten Jahrhunderte den Hochaltar und die Fülle der Altäre geschmückt hatte im Wetteifer mit den Meistern der Malerei.

»Das ist schöner und reicher als selbst im Dome zu Köln, Mutter.«

Auf dem Markte aber fügte er lachend hinzu: »Wenn ich nun Haniel wäre, der altgediente Kürassier, würde mich doch an Calcar am meisten freuen, daß es den Seydlitz zur Welt gebracht hat, den Sieger von Roßbach.«

»Ach, Fritz, darin bist du ja Haniel. Mach keine Mördergrube aus deinem Herzen.«

Am nächsten Tage sahen sie ein Schlößchen durch die Bäume schimmern, und Frau Margarete erkannte es.

»Das ist Schloß Moyland,« berichtete sie, »und wir haben es als Kinder mit heiliger Scheu angestaunt, weil hier Friedrich der Große als junger König zum erstenmal mit dem Heiden Voltaire zusammengetroffen ist.«

»Deshalb hat er aber doch den Siebenjährigen Krieg gewonnen, Mutter. Er hatte nämlich die besten Kanonen.«

»Mit dir ist nicht mehr zu reden, Fritz, du mußt nach Hause.«

»Merkwürdig, Mutter, wie mir die Zeit hier draußen in ganz anderem Ausmaße erscheint. Mir ist, als sei ich schon so viel Wochen vom Stahlwerk fort, wie es Tage sind.«

Da merkte Frau Margarete» daß es an der Zeit sei, langsam die Heimfahrt anzutreten.

Vor ihnen erhob sich die Schwanenburg von Kleve. Ragend blickte sie weit, weit hinein in die niederrheinische Tiefebene und grüßte die Wälder um Nymwegen, den verschwiegenen Vorhang, hinter dem der mannesstarke Rhein jäh ins Greisenalter sinkt.

»Nun sind wir im Sagenlande Lohengrins,« sagte Frau Margarete. »Wie reich ist doch dies Land» und wer denkt daran, wenn er vom liederreichen und weinduftüberströmten Rheine spricht. Siehst du das Denkmal dort bei dem Dörfchen? Das ist dem Heldenmädchen Johanna Sebus errichtet, die sich beim Dammbruch des Dörfchens Brienen für die Rettung der Frauen und Kinder opferte. Der große Dichter Goethe hat sie in einem Lied unsterblich gemacht. Kennst du es noch? ›Der Damm zerreißt, das Feld erbraust‹ ... Ein Dichterwort vermag mehr als alle Denkmäler.«

Und weiter fuhren sie, vorüber an dem alten freundlichen Goch, das auch noch vom Handel des Mittelalters träumte, und vorüber an den massigen Wasserburgen der Ritter- und Grafengeschlechter, und kamen nach Kevelaer, dem berühmten Wallfahrtsort, und sahen die Prozessionen in großen und kleinen Scharen mit fliegenden Bannern auf den Landstraßen heranziehen, singend, betend und Gelöbnisse murmelnd.

»Das hat der Düsseldorfer Heinrich Heine einmal geschildert,« sagte Frau Margarete. »Das Gedicht machte viel Aufsehen am Rhein, weil es so inbrünstig den katholischen Wunderglauben spiegelte und der Heinrich Heine doch von Geburt ein Jude war.«

Ein fettes Wiesen- und Weideland tat sich vor ihnen auf, still und gebärungsfroh lag die Sommersonne über dem alten Herzogtum Geldern, und sie saßen dicht beieinander in dem tiefen und alles erfüllenden Gefühl des Beisammenseins, des Zusammengehörens, und sprachen nicht.

Dann aber reckte Fritz Stoltenkamp wie witternd den Kopf. Er witterte Zechenluft. Sie waren in der Grafschaft Mörs und im Vorland des Bergbaus. Er blickte nicht mehr nach dem Schloß des ersten Preußenkönigs Friedrich und seiner Mutter Luise Henriette, des Großen Kurfürsten Frau und Helferin, das aus der Stadt Mörs herüberlugte, er suchte und musterte die Zechen und Fabriken, und um seine Ruhe und Gelassenheit war es geschehen.

»Es ist Sonnabend, Mutter. Nun werden daheim die Arbeitslöhne ausbezahlt. Herrgott, was wird alles auf mich warten. Ob wir heute wohl noch Ruhrort erreichen können?«

Er sah die Mutter an und sah, daß ihr Gesicht von einer Müdigkeit überzogen war. »Wenn ich nur nicht so durcheinandergeschüttelt von dem langen Fahren wäre. Was meinst du, Mutter, wollen wir nicht lieber in Mörs übernachten? Wir kommen doch noch am Sonntag frühzeitig genug in unsere Festung.«

Frau Margarete nickte ihm zu. Die Müdigkeit war wirklich groß in ihr.

In der Sonntagsfrühe setzten sie über den Rhein zurück. Noch einmal leuchteten die Farbenfelder der Holländerboote, die dichtgedrängt Sonntag machten, vor ihnen auf und blieben hinter ihnen zurück. Grau und schwarz wurde der Boden. Das Heimatland des Eisens und der Kohle nahm sie auf. – –

Es war am Spätnachmittag, als Frau Margarete, auf den Sohn gestützt, vor dem Fabriktor den Wagen verließ und über den arbeitsstillen Hof dem Wohnhaus zuging. Sie ging langsam und zögernd, und auf der steinernen Haustreppe blieb sie stehen, wandte sich um und warf einen langen Blick auf den Weg zurück, den sie gekommen war.

»Wie einen Abschiedsblick ...« fuhr es Fritz Stoltenkamp heftig durch den Sinn.

Nun standen sie in der Stube, und das Hausmädchen hatte ihnen die Überkleider abgenommen und hinausgetragen.

Da legte Frau Margarete dem Sohne die Arme um den Hals, bog den weißen Kopf zurück und suchte seine Augen.

»Was willst du, Mutter – –?«

»Dir danken, Fritz.« – –

Das Gebrause der Arbeitswoche faßte Fritz Stoltenkamp und riß ihn hinein. Der Zeichentisch rief, und der Betrieb rief nicht minder. Der ganze Geschäftsgang war während seiner Abwesenheit in den geregelten Bahnen vorwärts geschritten, und doch war dem Heimgekehrten, als hätte er einzuholen und nachzuholen, und überall, wo ein Hammer klang oder ein Tiegel, da klang auch seine Stimme. Eine wilde Unruhe hatte ihn erfaßt, und ob er sich auch einreden wollte, sie gelte der sich häufenden Arbeit, so wußte er doch insgeheim, daß sie der Mutter galt.

»Mutter, Mutter, nur nicht sterben, nur das nicht,« murmelte er oft mitten aus einer Arbeit heraus, und dann fühlte er, wie ihm der kalte Schweiß die Stirn näßte.

Frau Margarete saß tagein, tagaus in ihrem Sessel am Fenster, schaute ins Land hinaus und ließ die warme Sonne auf ihr weißes Haar scheinen. Sie wußte, ihr Herz war verbraucht. Es hätte der Ärzte nicht erst noch bedurft, um ihr Klarheit zu geben. Verbraucht in Kampf und Not und wieder in Glück, wie es begonnen hatte. Das dünkte sie der schönste Kreislauf des Lebens.

Kam der Sohn zu ihr herein, so wurde sie lebhaft und konnte des Plauderns kein Ende finden. Dann sah Fritz Stoltenkamp sie oft ein wenig mißtrauisch an, als fühlte er, daß sie sich seinetwegen so guter Dinge zeige. Mehr und mehr glitten ihre Gedanken zu dem verstorbenen Gatten hinüber, und wenn sie ihn rühmte und das selige, fröhliche Kinderglück ihrer Ehe schilderte, vergaß sie oft ganz, daß sie zu dem Sohne sprach. Der aber saß wortlos und ergriffen und tat einen Blick in eine ihm unbekannte Wunderwelt.

Und aus den Jugendtagen ihres Ältesten erzählte sie, von dem frühgereiften Wesen Amaliens und den tausend lustigen Gaunerstreichen Eberhards. »Kommen die Kinder nicht bald einmal?«

Und Amalie kam mit ihrem Mann und brachte Eingemachtes mit und merkwürdige Rezepte von berühmten Doktoren, die in allen den Fällen geholfen hätten, in denen sich andere Arzte nicht mehr zu helfen wußten. Und Frau Margarete nahm beides mit gleicher Freundlichkeit entgegen, das Eingemachte und die Kuranweisungen.

Aber aus den Kuranweisungen machte sie nach der Tochter Fortgang kleine Schmetterlinge und ließ sie in der Sonnenluft fliegen.

Auch Eberhard kam mit Frau Mathilde von Düsseldorf herüber. Doch es war nicht gut. Der leidenschaftliche Mann konnte beim Anblick der so schmal und durchsichtig gewordenen Mutter kaum einen Schrei unterdrücken und mußte von dem älteren Bruder aus dem Zimmer geführt werden. »Ich werde hier bleiben,« sagte Frau Mathilde. Da aber traf sie ein so fremder und abweisender Blick Fritz Stoltenkamps, daß sie hinzufügte: »Wenn du mich brauchen kannst.«

»Die Mutter ist nur an mich gewöhnt, Mathilde. Es ist besser für sie, es bleibt beim alten.«

»Du solltest auch nur wissen, daß ich immer für dich zu haben bin.«

»Für mich? Es handelt sich ganz allein um die Mutter, Mathilde.«

Und wieder waren Mutter und Sohn allein, wie sie die Hälfte des Lebens allein gewesen waren. Das Befinden der Kranken wechselte, wie die Tage wechselten. Es gab Stunden, in denen sie teilnahmlos dahinzudämmern schien, und Tage, an denen sie durch das ganze Haus ging, leichten Fußes und mit lachenden Augen.

»Da ist nun auch der Vetter Grote gestorben,« sagte sie an einem Morgen, als ihr die Post gebracht worden war. »Amalie schreibt es soeben, Fritz. Er hat ein langes, kluges und doch urwüchsiges Leben gelebt.«

»Der Ohm Grote?« fragte Fritz Stoltenkamp und nahm ihr das Blatt aus der Kand. »Am Schlagfluß also – wie er es vorausgesagt hat. Nur daß seine Körperkraft seiner Voraussage immer wieder ein Schnippchen schlug. Bei einer guten Flasche Burgunder, schreibt Amalie. Die hat er sich doch noch geleistet. Nun, er ist fünfundsiebzig alt geworden.«

Er setzte sich neben Frau Margarete und plauderte über die Dinge hinweg und sprach von Amalie, ihrem Mann und ihren Kindern. Und dann schloß er: »Ja, da muß ich dich morgen wohl einen halben Tag allein lassen und zur Beerdigung fahren.«

Frau Margarete träumte vor sich hin. Sie gedachte wohl der vergangenen Zeiten und Kämpfe mit dem Vetter. Ein Lächeln huschte plötzlich um ihren Mund, und als der Sohn schwieg, sagte sie immer noch lächelnd: »Ja, das mußt du wohl, Fritz, und gerade du.«

»Gerade ich, Mutter? Wie kommst du darauf?«

»Weil du ihm einmal die Knabenfaust zwischen die Augen gesetzt hast, als er den Vater anschrie. Das hat mir der Vater am nächsten Tage gebeichtet. Und ich fand es so unverwandtschaftlich und rücksichtslos von dir –«

»Unverwandtschaftlich? Rücksichtslos?«

»– daß ich in der Nacht noch auf deine Kammer kommen und dich im Schlaf gründlich abküssen mußte.«

»Das hast du getan, Mutter? Gründlich abgeküßt hast du mich? Daß ich da gerade schlafen mußte.« –

Fritz Stoltenkamp fuhr zur Beerdigung. Wie genau er jeden Stein und jeden Strauch auf diesem Wege kannte. Gerade so oft, wie ich diesen Weg auf und nieder gefahren bin, dachte er, ist es auch mit der Firma Friedrich Stoltenkamp auf und nieder gegangen. Und dann ist es aufwärts gegangen.

Er traf Schwester und Schwager in einem Kreis von Leidtragenden. Die Grotes waren eine alte westfälische Bauernfamilie aus dem Grenzstrich, der sich im Eisen- und Kohlengebiet verlief, und manche der stiernackigen Anwesenden, die mit der schweren goldenen Uhrkette auf der gewölbten Weste spielten, hatten in ihrer Jugend selber noch den Pflugsterz über den Acker geführt, bevor sie ihre Höfe den vorwärts drängenden Zechen verkauft hatten und im Hauptberuf steuerzahlende Bürger geworden waren.

Das Leichenbegängnis war vorüber. Für die Hausfrau bedeutete es nicht die schwerste Sorge des Tages. Die Grotes waren meilenweit des Wegs gefahren gekommen, und das Leid um den toten Vetter hatte ihren lebendigen Hunger und Durst nicht zu überwinden vermocht. In der Küche brodelten die Schinken im Kessel, wellten sich die zarten Bohnen, platzten die Kartoffeln. Der Burgunder mußte leichte Stubenwärme haben und der Kornbranntwein auf Eis liegen. Amalie Grote fand vor der Beerdigungsfeierlichkeit kaum mehr Zeit, als hastig nach dem Befinden der Mutter zu fragen, und nach der Beisetzung strömten die Gäste ins Haus und setzten sich gewichtig an den gedeckten Tisch.

Fritz Stoltenkamp hatte auf den zweiten Teil der Totenfeier Verzicht geleistet. Er hatte den Schwager gebeten, ihn der Mutter wegen bei Amalie zu entschuldigen, und war heimgefahren.

Da lag nun der geschäftskundige und trinkfeste Ohm Grote unter der Erde, und das Leben ging weiter. Seine Nachfolger heimsten die Ernte seiner Geschäfte ein und tranken seinen Wein. Und eines Tages wurde auch das Geschäft verkauft, wenn sich die günstigste Gelegenheit und das höchste Angebot einfand, und der Ohm Grote war, als war er nie gewesen.

Fritz Stoltenkamp biß die Zähne zusammen. War das möglich? War das auch mit seinem Lebenswerk möglich? Nein und dreimal nein, das durfte nicht sein. So groß und stark wollte er es machen. Und unverkäuflich dazu. Unverkäuflich? Hatte er einen Erben, dem er es ins Blut hineintragen konnte wie die zehn Gebote der Bibel? »Du sollst das Erbe deines Vaters heilig halten. Du sollst es mehren. Und deine Kinder sollen es zu immer neuen Ehren bringen. Denn Schweiß und Blut von Männern und Frauen der Arbeit steckt darin, die auf viel Sonne verzichten mußten, damit sie euch und den Nachgeborenen leuchte.«

Er hatte die Mittagshöhe des Lebens und keinen Erben. Heute fiel es ihm schwer auf die Seele. Nie hatte er es empfunden, solange die Mutter Schulter an Schulter mit ihm gestanden hatte. Wie lange, und die Mutter – die Mutter war nicht mehr? Und er allein? »Mutter!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. Seine Gedanken liefen. Er mußte einen Erben haben.

Zu Hause empfing ihn eine große Aufregung. Es war ein Eilbote aus Koblenz eingetroffen. Der Prinz von Preußen, Gouverneur und Feldmarschall, Bruder des Königs und Thronfolger in Preußen, hatte auf einer Reise eine Stoltenkampsche Gußstahlkanone gesehen und ließ aus seiner Residenz Koblenz anfragen, ob er nach dreien Tagen die Fabrik besichtigen könne.

Der Prinz von Preußen. Der zukünftige König. Fritz Stoltenkamp stand und holte tief den Atem herauf. Preußen meldete sich. Endlich kam auch Preußen.

Er setzte sich nieder, schrieb einen freudigen Dank und fertigte den Eilboten ab. Dann eilte er zur Mutter.

Sie kam ihm schon auf der Diele entgegen, frisch und erregt wie ein junges Mädchen.

»Der Prinz von Preußen, Fritz. Der Sohn meiner Königin Luise, die als Prinzessin hier in Schloß Broich aufwuchs. Fritz, der im Jahre 48 nach England flüchten mußte und im Jahre 49 wiederkam und die Aufstände in der Pfalz und in Baden niederschlug.«

»Mutter,« rief Fritz Stoltenkamp, »du bist ja das reine Geschichtsbuch geworden!«

»Ich freu mich so, Fritz, ich freu mich so, daß ich das noch erlebe.« – –

Fritz Stoltenkamp ließ, da es gerade Feierabend pfiff, die Arbeiter auf dem Hof zusammentreten. Er kündete ihnen den hohen Besuch an. »Ein paar Fahnenmaste kommen links und rechts vom Tor. Eine Fahne, schwarz-weiß, auf jedes Gebäude. Sonst bleibt alles, wie es ist. Daß ihr nur nicht glaubt, hier werden lebende Bilder gestellt, wenn der Prinz erscheint, in weiß gewaschenen Hälsen und Sonntagsbuxen. Hier ist kein Theater, sondern ein Stahlwerk, und nichts anderes wünscht der Prinz zu sehen. Also stolz und sicher bei Hammer und Tiegel, wie immer. Wer mir aber Papier und Lumpen auf dem Hof herumfahren läßt oder einen Schraubenschlüssel, den soll der Deubel holen. In der Sauberkeit soll sich ein Stahlwerk auch mit einem Tanzsaal messen können. Feierabend, Leute.«

Sie reckten den Rücken und gingen. »Keine lebenden Bilder.« Das hatte den Gußstahlleuten Spaß gemacht.

Der Prinz kam mit kleinem Gefolge. Die Preußenfahnen knatterten im Wind, die Maschinen schnaubten, die Hämmer ratterten und sangen. Fritz Stoltenkamp zog den Hut und führte den hohen und geschulten Gast, der sofort die Fabrik zu sehen wünschte, über den Hof in den Betrieb ein. Von der Stahlbereitung bis zum fertigen Stück führte er den Prinzen, der nicht müde wurde, zu fragen und sich Erläuterungen geben zu lassen, und zum Schluß in eine Halle, in der noch einmal alles übersichtlich und in der Reihenfolge aufgebaut war: Stahlwalzen, Werkzeuge, Maschinenkolben und Schiffswellen, Radreifen und Wagenachsen, und die fertiggestellten Geschütze aus der ägyptischen Bestellung.

Der Prinz besichtigte die Geschütze in allen Teilen.

»Das ist deutsche Arbeit,« lobte er, »das ist hervorragende Arbeit. Wofür sind die Batterien bestimmt?«

»Für Ägypten, Königliche Hoheit. Es sind auch einige an Frankreich geliefert.«

»Nun, der Kaiser Napoleon hat doch größeren Bedarf. Weshalb sind keine Nachbestellungen erfolgt?«

»Sie sind erfolgt, Königliche Hoheit. Aber da die Mündungen eines Tages gegen Preußen gerichtet werden könnten, so habe ich abgelehnt und lieber auf Preußen gewartet.«

»Und Sie warten immer noch? Verlieren Sie die Geduld nicht, mein lieber Herr Stoltenkamp. Ein Staat hat nun einmal ein anderes Zeitmaß als ein aufstrebendes Stahlwerk. Da will es mit jedem seine Weile haben, bis es durch alle Mühlen hindurchgelaufen ist. Verlieren Sie die Geduld nicht, und ich werde Ihrer gedenken.«

Fritz Stoltenkamp verneigte sich vor dem Prinzen und Thronfolger.

»Würden Euer Königliche Hoheit meiner Mutter und mir die Ehre antun, ein Glas Wein entgegenzunehmen?«

»Ein Glas Wein – gern. Dann aber muß ich weiter.«

Fritz Stoltenkamp geleitete den hohen Gast und seine Begleiter ins Wohnhaus. Im vorderen Zimmer stand die Mutter und knickste einen mädchenhaften Knicks. »Meine Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp, »und meine treueste Mitarbeiterin.«

Der Prinz hatte Frau Margarete die Hand gereicht. Dann nahm er dankend das Glas Wein von ihr.

»Liebe Frau Stoltenkamp,« und er neigte das Glas gegen sie, »ich beglückwünsche Sie. Sie haben einen Sohn, auf den Sie stolz sein können.« Und er trank in langen Zügen das Glas zur Neige.

»Gestatten Euer Königliche Hoheit ein Wort,« bat Fritz Stoltenkamp ernst. »Ich bin nur der Sohn. Aber wenn ich etwas Ordentliches geworden sein sollte, so bin ich es aus Stolz auf diese meine Mutter geworden.«

»Er war mir mehr als ein Sohn,« sagte Frau Margarete leise.

Der Prinz von Preußen sah die feine, weiße Frau mit stillen Augen an. Dann beugte er sich tief und ritterlich über ihre Hand und küßte sie. – –

Frau Margarete saß in ihrem Sessel und blickte ins Abendrot. Ein paar Wochen waren verflogen, und sie nahm längst alle Kraft zusammen, um den Sohn ihre übergroße Schwäche nicht merken zu lassen. Er hatte genug im Leben zu tragen gehabt. Heute fühlte sie, daß es jäh bergab zu gehen begann. Das Mädchen hatte den Herrn gerufen.

In kaum einer Minute war Fritz Stoltenkamp bei ihr. Wie er über den Hof gekommen war, wußte er nachher nicht mehr. Und nun saß er Seite an Seite mit ihr und streichelte immerfort ihre Hände.

»Du, Fritz – es war doch ein reiches und großes Leben. Denkst du noch an die Alchimistenkammer der Herren Majore auf der alten Mühle? Und den Vetter Grote, der dem Vater keinen Groschen mehr für die Phantastereien geben wollte?« Sie lachte ein leises und fröhliches Lachen. »Und nun hat mir der künftige König von Preußen die Hand geküßt. Diese Hand, die noch vor sechs Jahren mit euch das Familiensilber eingeschmolzen hat. Nicht wahr, Fritz? Den Kopf, den haben wir niemals hängen lassen, solang die Hand noch mittat.«

»Ich habe heute den tausendsten Arbeiter eingestellt, Mutter. Das wird dich freuen.«

»Ach du – Fritz – wie schön – ist das, der – tausendste – Arbeiter –«

Ihr Kopf sank ein wenig herab, und sie schlummerte ein.

Fritz Stoltenkamp hielt im Streicheln ihrer Hände inne. Er saß ganz still und steif und wartete, bis sie die Augen wieder öffnete. »Friedrich?« fragte sie und beugte sich lauschend vor. »Hat da nicht – der Vater – gerufen?«

»Mutter, ich bin bei dir. Dein Sohn Fritz.«

»Es war ein reiches – und großes – Leben ... So schön – –«

Und plötzlich preßte sie die Sessellehnen, versuchte sich zu erheben und sank zurück. Und noch ein Ruf: »Fritz – –! – –«

Fritz Stoltenkamp hielt sie in seinen Armen. Er berührte ihren Mund. Er tastete nach ihrem Herzen. Das schlug nicht mehr.

Frau Margarete Stoltenkamp war so zart und leise, wie sie es vermochte, von ihrem Sohne gegangen, um ihm nicht noch mehr zu tragen zu geben.

»Mutter – meine Mutter,« stöhnte Fritz Stoltenkamp auf. Und dann barg er das Gesicht in den Schoß der Toten. –

Als er sich erhob, hatte er sich in einem dumpfen Schmerz gesammelt. Vorsichtig und ehrfurchtsvoll nahm er die leichte Gestalt auf seine Arme und schritt mit ihr durch die Zimmer und legte sie auf der Mutter Bett.

»Schlaf wohl, Mutter.« –

Und es kam der Arzt, und es kam das traurige Handwerksgefolge. Und die Grotes kamen und Eberhard Stoltenkamp und seine Frau. Fritz Stoltenkamp blieb am Totenbett oder ging umher und sprach, ohne es recht zu wissen.

Am dritten Tage standen auf einen Schlag die Maschinen still. Das Stahlwerk grüßte die tote Herrin auf ihrer letzten Fahrt.

In einen Metallsarg hatte der Sohn die Mutter gebettet. Nichts an ihr sollte zerstört werden. Nun war der Sarg in den Wagen gehoben worden. Die Pforte stand weit geöffnet. Und Fritz Stoltenkamp gab ruhig das Zeichen und schritt hoch aufgerichtet hinter dem Wagen her, neben ihm die Geschwister, der Schwager und die Schwägerin. Und ein Gefolge von tausend trauernden Arbeitern.

Und in schweigender Ehrfurcht nahm die Stadt den Leichenzug auf. – –

Die Geschwister standen im Wohnzimmer der Heimgegangenen. Fritz Stoltenkamp starrte zum Fenster hinaus. Dann wandte er sich um und sah sie der Reihe nach an.

»Das Testament ist euch ja allen bekannt. Ich brauch also nicht darüber zu sprechen. Binnen heut und einem Jahr wird es erfüllt. Ich danke euch, daß ihr gekommen seid.«

Amalie Grote reichte ihm die Hand. »Es ist alles in guten Händen, Fritz.« Und der Schwager Grote preßte ihm die Hand, und sie gingen hinaus und bestiegen ihren Wagen.

Eberhard Stoltenkamp klopfte dem Bruder auf die Schulter. »Alter Junge,« sagte er, und dann nahm er seinen Hut und verließ hastig das Zimmer.

Da trat Mathilde auf den Schwager zu.

Er schüttelte den Kopf. »Nichts, nichts. Keine Tröstungen. Gute Heimfahrt. Mathilde.«

Fritz Stoltenkamp war allein. Das Rollen der Räder verlor sich in der Ferne. Er setzte sich in den Sessel der Mutter und horchte zum Fenster hinaus. Alles totenstill. Das Stahlwerk lag wie ein lebloser Gebäudehaufe.

Und diese Stille überkam den kampfgewöhnten Mann so gewaltig, daß er das Gesicht in den Händen verbarg und tonlos in sich hineinschluchzte.

Nun war er wirklich allein.

*

 


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