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16

Über den Rhein zogen die deutschen Truppen. Über den Rhein und nach Frankreich hinein.

Kein Krieg gegen Preußen war es mehr, wie ihn sich der Rechenmeister in Paris gedacht hatte. Süddeutschland erkannte die Gefahr wie Norddeutschland. Der heiße Julimonat des Jahres 1870 sah wieder ein deutsches Heer, sah es unter dem Oberbefehl des alten Preußenkönigs Wilhelm, den die drei starken Männer Bismarck, Moltke und Roon wie Erzengel umgaben.

Über den Rhein zogen die deutschen Truppen. Über den Rhein und nach Frankreich hinein. Weißenburg, Wörth und Spichern waren kleine Namen und wurden im Feuer umgeschmolzen zu großen Taten. Aus den Worten Vionville, Mars-la-Tour, Saint-Privat und Gravelotte wurden Kettenglieder geschmiedet und um den Leib der jungfräulichen Feste Metz gelegt. Und in dem stählernen Netz, das über Sedan geworfen wurde, fing sich der Kaiser der Franzosen. Die dritte Republik rief Paris auf die Wälle. Und der deutsche Stahlring wurde um die Lichtstadt gepreßt, bis die Irrlichter erloschen und mit der Hauptstadt ganz Frankreich die zerbrochenen Waffen streckte.

Wo immer die Kanonen aufgebrüllt hatten zum Todesgruß, da hatten die Stoltenkampschen Rohre den Feind das Sterben gelehrt. – Scharfäugig hatten Fritz Stoltenkamp und seine Leute den Zweikampf der Artillerie verfolgt. Sie wußten wohl, daß ihnen in Napoleon einer der besten artilleristischen Kenner der Welt gegenüberstand. Keinen Zwischenfall verloren sie aus den Augen, und mochte er als ein Zufall erscheinen. Auch die Zufälle gaben gute Lehren. Und während die Heere auf französischem Boden miteinander rangen, bereitete Fritz Stoltenkamp auf deutschem Boden die Weiterentwicklung der siegreichen Waffe vor, ohne sich blenden, ohne sich ablenken zu lassen. Unbeirrt durch den Erfolg der Stunde, bildete er mit seinen Leuten das Heer hinter der Front, das Heimatheer.

Und wieder zogen die deutschen Truppen über den vaterländischen Strom, heimwärts als Sieger, und vor den deutschen Heerscharen aller Stämme ritt Wilhelm der Erste, Deutscher Kaiser.

Als von Versailles her die Verkündung der Wiedergeburt des Deutschen Reiches die Welt durcheilte, legte Fritz Stoltenkamp zum erstenmal die Arbeit beiseite. In Gedanken versunken schritt er über den Fabrikhof bis zu seinem Wohnhause.

»Willst du einen Gang mit mir machen, Franziska? Hast du Zeit für mich?«

»Das ist, als ob ich fragte: Hast du Zeit für die Fabrik, Fritz?«

Sie hing sich in seinen Arm und wanderte mit ihm, und wo einst die mageren Acker der Frau Jodokus Stoltenkamp brach gelegen hatten, hoben sich Werkstätten an Werkstätten, Kamine an Kaminen, Schießplatz und Lagerplätze weit über die einstmalige Zeche ›Wilhelm Grote‹ hinaus, und eine kleine Stadt von Arbeiterwohnungen schloß sich an und von Gartenland umgeben die helle, freundliche Siedelung der Alten. Auf allem ruhte Fritz Stoltenkamps Auge, und er wies Franziska auf die kleine Arbeiterstadt hin und sagte: »Wir haben auch hier nichts verabsäumt. Sobald die Heere heimgekehrt sind und alle die Arbeitsfäuste wieder ins Land kommen, wird der zweite Bauplan ausgeführt. Bald sollen mehr als zweitausend Arbeiterwohnungen stehen. Das ist mir ein lieber Gedanke. Und nun darf ich wohl auch einmal an uns denken.«

»An uns?« fragte Franziska und horchte hoffnungsfreudig auf. »Sollen wir mehr von dir haben?«

»Wie leicht du zufriedengestellt bist, Franziska. Nein, du, das wäre kein besonderer Gewinn für dich, einen alten Karrengaul im Stall stehen zu haben. Jetzt noch nicht, wo das deutsche Vaterland neu geboren ist und wir alle jung werden. Jetzt noch nicht. Aber für dich möchte ich ein freies, schönes und dir angemessenes Heim schaffen, von dem aus du in das neue Deutschland hineinblicken kannst, ohne die Begleitmusik meiner Hämmer, Walzen und Maschinen. Franziska, wir sind jetzt im siebzehnten Jahre des Heils miteinander verheiratet, und ich habe dir noch nie ein persönliches Geschenk gemacht.«

»Ich habe dich doch,« unterbrach sie ihn. »Hast du den Winternachmittag an der Kölner Werft vergessen, das wilde Schneetreiben, in dem du mich Nirgendzuhaus so reich beschenktest?«

»Davon weiß ich nichts,« sagte Fritz Stoltenkamp. »Ich weiß nur, daß ich mir aus einem Schneetreiben mein Glück ins Haus holte. Und nun richte einmal deinen Blick mit mir in die helle Zukunft.«

Sie wanderten die Ruhr entlang und sahen das altertümliche Städtchen liegen, in dem der Ohm Grote sein bauernschlaues Leben verbracht hatte. »Von diesem Flecken Erde komme ich nicht los, Franziska. Hier faßte mich mein Schicksal.«

Silbern floß die Ruhr an der leichten Waldhöhe entlang, auf der sie standen. Ein alter Baumschlag reckte sich über sie hin wie eine vergessene Insel im Meere der Arbeit. Drüben träumte das Städtchen in den Winterwiesen.

»Das ist der Friede,« sagte Franziska vor sich hin.

»Ja, Franziska, das ist der Friede. Und doch nicht der schlummermüde Friede. Ein Blick von hier droben auf die Straßen meines Schicksals dort unten würde mich vor der Gefahr des Einschlafens bewahren.«

»Dann ist gut sein hier droben, Fritz.«

»Ich habe den Wald gekauft,« fuhr Fritz Stoltenkamp fort. »Ich habe auch schon den Plan für unser geräumiges Heim im Grünen entworfen. Heute, wo das Deutsche Reich neu errichtet ist, wollen auch wir unser Haus neu errichten. Deshalb habe ich dich hierher geführt. Du sollst mir sagen, ob dir unser Abendsitz gefällt.«

Sie drückte ihren Kopf gegen seinen Arm und schaute in stiller Bewegung ins Land hinaus.

»Der Abendsitz eines Mannes, der nur den Tag kennt, Fritz, und doch ist es so wunderschön.«

»Dann ist es gut, Franziska. Morgen beginnen wir mit der Ausschachtung. Auch das Gästehaus soll hier hinauf. Damit die fremden Herrschaften doch gewahr werden, wie wunderherrlich Deutschland selbst in seinem schwärzesten Winkel ist.«

Er brach ab und sann in die Weite.

»Und dann,« schloß er, »wird die freie, frische Strom- und Waldluft auch die schwache Brust unseres Jungen kräftigen. Hier ist der Platz zum Gesundwerden.« – –

Das weiße Haus erstand mit dem Knospengrün der Bäume. Und als es eingerichtet und bezogen wurde, bezogen Tausende von Arbeitern mit Weib und Kind ihre neuen Heimstätten. Es waren Riesensummen, die Fritz Stoltenkamp in sein Wohlfahrtsunternehmen steckte, und die Banken zogen die Brauen hoch.

»Was verstehen diese Geldmenschen von uns und unseren Bedürfnissen,« lehnte der Werksherr jeden Einwurf ab. »Unsere Arbeit hat das Geld hereingeschafft, jetzt muß das Geld wieder neue Arbeitsmöglichkeiten schaffen und mit der Arbeit die Kräfte. Seht euch um im neuen Vaterland. Arbeit zuhauf!«

Als wäre mit den paar Milliarden der französischen Kriegsentschädigung ein unversiegbarer Goldstrom ins Land eingedrungen, so erwachte mit dem Aufschwung des Großgewerbes auch das Goldfieber der Menschen. Allein in der Hoffnung auf raschen Gewinn, in der Gier, mitzuschöpfen aus dem goldenen Strom, wuchsen landauf, landein die Neugründungen aus der Erde, ohne auch nur die Grundmauern zu festigen. Von allen Seiten flossen die Bestellungen. Ein Rausch hatte das Volk erfaßt, ein Taumel, über Nacht reich zu werden, das Leben auszugenießen. Die Eisenbahnen aber erweiterten allenthalben ihre Verkehrsnetze. Im Rhein- und Ruhrgebiet dampften alle Schlote. Die Förderung der Kohle und des Eisens mußte verdreifacht werden, um den Schienenlieferungen und dem Ruf nach Stahl gerecht zu werden. Und Fritz Stoltenkamps Schienenwalzwerk arbeitete mit den übrigen Tag und Nacht.

Es war die Zeit, in der das Geld auf den Straßen lag und kaum einer sich bücken mochte, aus Angst, er könne darüber eine Freude des Lebens versäumen. Und das Geld kam ja auch ohnedies ins Haus. Die Menschen waren toll darauf, es zu hohen Zinsen anzulegen, und wenn die Zinsen vom Monde kommen sollten. Ein irrsinniger Tanz um das goldene Kalb hob an, und die besten Ausrufer gewannen die prallsten Taschen.

Für Eisen und Stahl waren lohnende Jahre. Ein ausreichender Einfuhrzoll hinderte das Ausland, die deutschen Märkte mit Massenwaren zu überschwemmen, die Schäden des Krieges mußten im Heere ersetzt, die Lehren des Krieges für zukünftige Kriege in Rechnung gestellt werden. Nicht lange, und die Neubewaffnung des gesamten Heeres wurde angeordnet.

Die rastlose Weiterarbeit, die Fritz Stoltenkamp mitten in Krieg und Sieg fortgeführt hatte, trug ihre Früchte. Seine verbesserten Geschütze standen bereit, bis ins kleinste nach den Lehren des Krieges durchgearbeitet. Seine Werke erhielten gewaltige, aber kurzfristige Aufträge. Tausende neuer Arbeiter mußten heran.

Auf seinem Freiherrnsitz im Grünen saß er und gedachte ein paar tiefe Atemzüge zu tun. Aber schon hatte die Arbeit seine Spur gefunden und holte ihn ein und riß ihn von der Ruhe zurück.

Frau Franziska seufzte.

»Nun glaube ich an den Abendsitz nicht eher, als bis es Nacht für uns geworden ist.«

Aber sie erkannte die Unabänderlichkeit und blickte mit stolzen Augen dem Unermüdlichen auf seinen Wegen nach. Was half's ihr auch, ob er hier droben saß! Sie mußte ihn doch den Gästen lassen.

Seit die gesteigerte Arbeit für die Neubewaffnung des Heeres eingesetzt hatte, wurde das Gästehaus nicht mehr leer. Hohe Offiziere erschienen in Scharen, die großen und kleinen Fürsten kamen und gingen, Staatsmänner meldeten sich an, um ihrem Wissensdrang zu genügen, und auf der Durchreise kehrte auch der eiserne Kanzler des neuen Deutschland ein, Fürst Otto von Bismarck.

Die Besichtigung der Stahlwerke war beendet, die Gäste erschienen zur Tafel. Der Kanzler hatte seinen Platz zwischen dem Hausherrn und der Hausfrau eingenommen, und das Gespräch bewegte sich noch eine Zeitlang in den Bahnen des eben Erschauten. Mit strahlenden Augen berichtete der Kanzler Franziska von der Wunderwelt, in die er einen Einblick genommen hätte, und Franziska vermochte leicht zu antworten, da es sich in der Hauptsache nur um das augenfällige Bild des Stahlwerks handelte, das sie von ihren vielen Besuchen beherrschte.

Der Reichskanzler machte ihr eine ehrerbietige Verneigung.

»Alle Hochachtung, meine gnädigste Frau. Sie verstehen über diese schwierigen Dinge zu plaudern wie ein gelernter Fachmann.«

Franziska lehnte errötend ab.

»Wenn Euer Durchlaucht wüßten! Ich sehe nämlich nur die Oberfläche und habe von all den technischen Dingen, die dem Ganzen erst die Seele geben, leider keine Ahnung.«

Des Fürsten Auge wurde noch strahlender. Dann zwinkerte er seiner Nachbarin heimlich zu und raunte launig hinter der vorgehaltenen Hand: »Ick ooch nich. Ick jebe mir bloß die Haltung.«

Und er legte mit strahlenden Augen den Finger auf seinen Mund.

Das war ein glücklicher Abend für Franziska. Die Ritterlichkeit des Kanzlers benahm ihr jede Scheu, die Unterhaltung schwang sich über den Alltag hinaus, die Welt der Gesamtheit und das Leben des einzelnen erschien anders und bedeutungsvoller in den prägenden Worten des deutschen Eckarts. »Erst das Vaterland durch uns, dann wir durch das Vaterland.«

Und in den Tagen, die folgten, dachte Franziska immer wieder an diesen Abend zurück und an ihren starken und ritterlichen Nachbar.

»Gottlob, er versteht auch nichts vom Gußstahl. Er gibt sich nur die Haltung, alles zu verstehen. Und ist doch ein Mann aus Stahl.«

Immer höher schwoll die Zahl der Neugründungen an, immer noch neue Aktiengesellschaften bildeten sich zur Ausbeutung des goldenen Stromes. Auch die Arbeiterklasse wollte teil daran haben. Geschickte Hände waren gesucht, die Löhne stiegen, und wo sie nicht schnell genug stiegen, traten die Arbeiter in den Ausstand und erzwangen sie. Fritz Stoltenkamp nahm von den Vorkommnissen nicht die geringste Notiz. Er war sich bewußt, ein ganzes Leben lang wie ein väterlicher Kamerad an seinen Leuten gehandelt zu haben, und war seiner Arbeiterschaft sicher.

Um so stärker traf ihn die Meldung, daß die Belegschaft einer Zeche, die er erst kürzlich käuflich an sich gebracht hatte, die Arbeit niedergelegt habe.

Steif und blaß bis in die Lippen stand er in seinem Geschäftszimmer und nahm die Meldung entgegen, ohne eine Antwort zu erteilen. Dann setzte er sich an seinen Arbeitstisch. Er war allein. Und er preßte die Fingernägel in die Augen, als müßte er Bilder des Ekels verscheuchen.

»Pfui Teufel noch einmal.«

Es gab keinen Menschen im ganzen Reich und auch nicht einen nur, der so umfassend für seine Arbeiter vorgesorgt hatte und vorausblickend in die Zukunft hinein sorgte. Er war aus der Dunkelheit heraus mit ihnen gewandert und hatte sie ans helle Licht geführt. Und sie waren ohne Zaudern mit ihm gegangen durch dick und dünn. Ah, das war ein Stolz gewesen, dies Einssein von Werk und Werksangehörigen. Nun war der Stolz kaputt. Pfui Teufel noch einmal.

»Nein,« sagte er sich, »du urteilst zu hart, weil du im ersten Zorn urteilst. Es gibt nichts Treueres als deine alten Kerle, und was nach ihnen gekommen ist, haben sie brav in die Mache genommen, bis die neuen wurden wie die alten. Du mußt den Geist anerkennen, der durch ihre Reihen geht. Sie haben ihren Stolz auf dich und das Werk, wie du ihn auf sie und ihre Mitarbeit hast. Sie alle trifft es nicht. Es ist der fremde Klüngel von draußen.«

Er ließ den Betriebsleiter der Zeche zu sich rufen.

»Ihre Leute streiken. Weshalb, wenn ich fragen darf.«

»Lohnerhöhung, Herr Stoltenkamp. Es ist jetzt überall dasselbe Lied.«

»Überall nicht. Nicht bei Friedrich Stoltenkamp. Meine Leute wissen, daß ich sie zu allen Zeiten reichlich und oft überreichlich am Gewinn habe teilnehmen lassen, und daß ich ihnen auch in den Jahren, in denen es für das Werk selbst nichts zu brechen und zu beißen gab, die Treue gehalten habe. Gott sei gedankt, meine Leute sind aufrechte Männer und haben ihren Arbeitsstolz. Andersgeartete passen nicht zu ihnen. Sagen Sie Ihrer Gesellschaft, ich dankte, und sie könnte abkehren. Wir werden eine neue Belegschaft anmustern.«

»Herr Stoltenkamp, es ist die neue Zeche. Die Leute kennen Sie noch nicht.«

»Ich sollte doch wohl meinen, daß man sich über das vorbildliche Verhältnis im Stoltenkampschen Betrieb zur Genüge hätte unterrichten können. Es bleibt dabei.«

Der Zechenleiter kam am nächsten Tage zurück. Fritz Stoltenkamp ließ ihn sofort vor und sah ihn verwundert an.

»Herr Stoltenkamp, ich hab es der Belegschaft noch gestern mitgeteilt. Und seit heute früh stehen ein paar alte Knaben draußen, die dem Herrn ihre Beschwerde selbst vortragen möchten und um Vertrauen bitten.«

»Vertrauen? Ist das Vertrauen, was sie herführt, oder Angst? Ein seltsamer Weg des Vertrauens, die Arbeit hinzuwerfen und mit drohender Faust zu verhandeln. Schicken Sie die Leute nach Hause.«

Noch einmal kehrte der Beamte zurück. »Herr Stoltenkamp, sie wollen nicht und sagen, es sei Sünde –«

»Was sei Sünde? Da soll doch –« Er riß das Fenster auf. »Kommt mal herauf, ihr da unten!«

Die Abordnung stand vor ihm.

»Kein Wort will ich hören. Was ihr an mir geübt habt, ist Verrat. Daran ist nichts zu deuteln. Was Sünde sein soll, will ich wissen.«

»Sünde is,« sagte ein alter Hauer langsam, »wenn man eine Witwe heiratet un bekümmert sich nur um die eigenen Kinners un nich um die der Frau. Der Herr Stoltenkamp hat uns wohl übernommen, aber noch keine Zeit für uns übrig gehabt.«

Fritz Stoltenkamp sah den Sprecher betroffen an.

»Ich hätte euch vernachlässigt? Zugunsten der anderen? Das ist natürlich ein Unsinn.«

»Wir wohnen wie die Schweine, Herr Stoltenkamp. Un wir haben uns gesagt, als die Zeche verkauft wurde, jetzt kommt die bessere Zeit. Als sie nich kam, haben wir die Arbeit niedergelegt.«

»Und das nennt ihr ein anständiges Benehmen? Ohne weiteres die Arbeit hinzuschmeißen?«

»Wir wohnen wie die Schweine, Herr Stoltenkamp. Wie kann man da groß ein anständig Benehmen von uns verlangen?«

Das Wort saß. Stoltenkamp mußte es sich bekennen. Er drückte auf den Klingelknopf und bestellte seinen Wagen. »Ihr könnt mitfahren. Erwartet mich unten.« Und er brachte seine Arbeit zu Ende, nahm Mantel und Hut und fuhr mit den drei Abgesandten hinaus auf die Zeche.

Ermüdet kehrte er am Abend zurück und ließ Ungemach zu sich bitten.

»Der reine Raubbau, den meine Herren Vorgänger in den letzten Jahren da draußen getrieben haben. Seit sie sich sagten, daß ich die Zeche eines Tages doch kaufen müsse, haben sie nur noch gefördert und sonst alles verludern lassen. Die Wohnungen der Belegschaft sind in einem Zustand ...! Raubbau am Wohlergehen der anvertrauten Arbeiter ist das Gemeinste. Schaffen Sie das aus der Welt, Ungemach. Schicken Sie sofort die Herren des Baubüros hinaus. Das Arbeiterdorf muß von Grund aus neu aufgebaut werden.«

»Soll ich nicht zuerst den Kostenanschlag vorlegen?«

»Was hilft mir der Kostenanschlag? Es muß sein. Da ist nichts zu berechnen. Sie lassen die Einfamilienhäuser bauen, wie sie zuletzt gebaut worden sind. Da es sich um ländliche Bevölkerung handelt, mit Gartenland.«

»Entschuldigen Sie, Herr Stoltenkamp, daß ich noch einmal darauf zurückkomme. Die Sache kostet einen Haufen Geld.«

Fritz Stoltenkamp stand auf und ging im Zimmer umher.

»Ich weiß es, Ungemach. Und ich weiß auch, daß ich mit einer Lohnerhöhung billiger davongekommen wäre. Aber hätte ich den Leuten damit genützt? Hand aufs Herz. Die paar Groschen hätten sie abends versoffen, um des Nachts ihren Schweinestall weniger zu empfinden. Das wären nicht die richtigen Arbeitskameraden für uns. Da hab ich lieber das andere Abkommen mit ihnen geschlossen. Morgen fährt die Gesellschaft wieder ein.

Er dehnte die Arme und sah sich nach seinem Hute um.

»Das Herumkriechen in den Baracken hat mich müde gemacht. Ich will heimfahren. Ja, Ungemach, die Jüngsten sind wir nun auch nicht mehr. Grau wie die Eulen schauen wir aus. Na, und nun machen Sie ein fröhliches Gesicht. Die allgemeine Geschäftslage ist eine glänzende für uns. Wir können das Geld gar nicht besser anwenden.«

»Herr Stoltenkamp,« sagte Ungemach, »es gibt in der ganzen Eisen- und Stahlwelt keinen Menschen, der Ihnen an Schöpferkraft auch nur annähernd nahe käme. Aber auch keinen schlechteren Rechner.«

Und er drückte dem Werksherrn kräftig die dargebotene Hand und ging hinaus, um seine Vorbereitungen zu treffen.

Fritz Stoltenkamp lehnte sich tief in den Wagen zurück, der ihn heimbrachte. Das Vorkommnis hatte ihn doch stark mitgenommen. »Arbeitsniederlegung in der brennendsten Zeit. Fahnenflucht vor dem Feind. Klägliche Zustände da draußen, gewiß.« Aber er kam über die Untreue nicht hinweg. Gerade er nicht. »Niederträchtig war es doch.« – –

Irgendwo hatte es zu knistern begonnen. Die Sachverständigen an den Börsen horchten auf. Irgendwo eine unerwartete Zahlungseinstellung, irgendwo ein Bankrott, der überraschte. Die Banken begannen die Rechnungsauszüge ihrer Kundschaft etwas genauer anzusehen, und auf der Börse ging das Gründungsfieber herunter. Es knisterte weiter, und das Knistern wurde zum Rauschen und Krachen, wie wenn der Frühlingssturm durch den Wald geht und jeden Ast, der sich als ungesund und nicht triebfähig erweist, mit unerbittlicher Faust herunterhaut. Das Geld war festgelegt zu hohen Zinsen. Die neuen Unternehmungen vermochten die Zinsen nicht mehr hereinzubringen. Durch die Hochflut der Warenerzeugnisse war der Markt übersättigt, der Bedarf längst gedeckt. An neue Bareinlagen konnte nicht mehr gedacht werden. Die stutzig gewordenen Einzahler forderten ihr Geld zurück. Auf der Börse kam es zu wilden Aktienverkäufen. Jeder suchte für sich zu retten, was er konnte, und trat den Nebenmann dabei nieder, um auf der Flucht über ihn hinwegzustolpern und selber zu Boden zu stürzen. Schwindelunternehmungen rissen alte gediegene Häuser mit ins Verderben durch Nichteinhaltung der Verträge, durch Nichtzahlung der Warenbeträge. Die Banken schlossen dreimal ihre Kassen ab. Treu und Glauben standen auf dem Kopf. Und das Entsetzen raste durch die Handelswelt und schlug zusammen, was nicht mit goldenen Ankern felsenfest verankert war.

Noch stand die Eisen- und Kohlenindustrie in der wilden Kopflosigkeit auf festen Füßen. Die Schutzzölle der Regierung bewährten sich als Damm. Aber das Sprichwort, daß ein Unheil nie allein des Weges kommt, bewies auch hier seine unerwünschte Wahrheit. Es kamen Gerüchte von freihändlerischen Wünschen. Den tobenden Wettern sollte eine Entlüftungsklappe geöffnet werden, und man griff nach der falschen. Durch die Aufhebung der Zölle wurde das große Eisen- und Stahlgewerbe mit in den Strudel gerissen und die Kohlenzechen als Zwillingsbruder mit ihm. Durch die Bresche der Zollschranken stürzte das Ausland, überschwemmte die Märkte und unterbot durch die stärkere und billigere Förderung von Erzen jeden Preis. Mit der wachsenden Anzahl der Eisen- und Stahlwerke sahen sich die Kohlenzechen zum Feiern gezwungen. Wer nicht stillegte oder ganz zusammenbrach, mußte um Lebens oder Sterbens willen die Hälfte der Arbeiter entlassen. Kein Mensch wußte, ob er am nächsten Tage noch seinen Geschäftsstempel auf den Briefbogen sehen konnte.

Als der Sturm losbrach, befand sich Fritz Stoltenkamp mitten im Aufbau des neuen Arbeiterdorfes. Er ließ nicht einhalten. Er ließ mit verdoppelten Kräften weiterschaffen und stemmte sich stolz auf die Größe und Bedeutung seiner kampfgestählten Werke. Mochten die Stürme darüber hinwegbrausen.

Die Stürme aber machten vor den Dächern und Schloten der Stoltenkampschen Stahlwerke nicht halt. Sie rissen die Ziegel herunter und fauchten in die Essen hinein, als ob sie die Feuer zum Erlöschen zwingen wollten. Die Kanonenlieferungen für die Neubewaffnung des Heeres waren erfolgt. Die Eisenbahnen hatten sich über Bedarf eingedeckt. Und Woche für Woche galt es, zwölftausend Werksangehörige auszulöhnen und den laufenden Verpflichtungen nachzukommen.

Fritz Stoltenkamp stand auf seiner Höhe und hielt mit zäher Beharrlichkeit an dem Gedanken fest, die Bedeutung seines Werkes für das deutsche Gewerbeleben sichere es vor jeder Einsturzgefahr.

Er verbiß sich in den Gedanken seiner Unverwundbarkeit. Ein Werk, das zwölftausend Männern mitsamt ihren Familien das tägliche Brot gab, sollte von heute auf morgen weggefegt werden können wie ein überflüssiges Glied am Wirtschaftskörper des Reiches? Das wäre eine schöne Wirtschaftspolitik. Nein, nein, mit solchen Gespenstergeschichten sollte man ihn nicht schrecken.

Er verlangte eine neue Bausumme von der Bank. Die Bank lehnte ab. Fritz Stoltenkamp traute seinen Augen nicht, als er das Begleitschreiben las. Was ging die Leute sein Arbeiterdorf an? Was ging es die Bank an, ob er das Geld für die Arbeiterfürsorge oder den Bedarf des Werkes verwandte? Werk und Werksangehörige waren ein und dasselbe. Hatte die Bank die bestimmende Leitung oder der Werksherr?

Er berief seine Prokuristen. Die kaufmännischen und technischen Geschäftsbevollmächtigten saßen stumm um den Beratungstisch, während er ihnen den Inhalt der Bankabsage mitteilte. »Sprechen Sie Ihre Meinung aus, meine Herren.«

»Das Kanonengeschäft liegt vorläufig still,« sagte Moldenhauer ärgerlich. »Die Flotte ist im Bau und verspricht große Aufträge an Geschützen, Panzertürmen und Panzerplatten. Aber mit den Versprechungen können wir inzwischen die Ofen nicht heizen.«

»Mit dem Friedensbedarf liegt es noch schlimmer,« erklärte Ungemach ruhig. »Das ganze Land hat drauflos erzeugt, und die Aufhebung der Zölle hat den Rest bewirkt. Man kann sich vor englischem Stahl nicht mehr retten, und für unsere besten Marken, die sie uns nicht nachmachen können, ist kein Markt.«

Der kaufmännische Leiter hatte das Wort.

»Die Werke stellen einen Wert dar, der kaum ziffernmäßig zu berechnen ist, Herr Stoltenkamp. Aber zwei Unterlassungen sind begangen worden. Da sie öfter zur Sprache gebracht worden sind, dürfen wir auch heute nicht an ihnen vorbeischielen, sondern müssen sie offen ins Auge fassen. Die eine Unterlassung ist die versäumte Rücklage von Sicherungsgeldern. Wir haben nur an die Vergrößerung und wieder an die Vergrößerung des Werkes gedacht und nie an einen Stillstand, der die schnelle Verfügung über geldliche Hilfstruppen benötigte. Der Wert der in der Fabrik arbeitenden Gelder beträgt Millionen, und in der Stunde der Gefahr stehen diese Millionen nur auf dem Papier. Die zweite Unterlassung aber beruht darin, daß wir unseren Geldverkehr mit den Banken in der Schwebe ließen, statt ein Geringes zu opfern und eine langfristige Anleihe zu vereinbaren. So ist die Bank in der Lage, von heute auf morgen ihr Guthaben zu kündigen und uns in so ernstliche Schwierigkeiten zu bringen wie die heutigen.«

»Sie halten also die Schwierigkeiten für wirklich ernst?« fragte Fritz Stoltenkamp ungläubig.

»Sie sind mehr als ernst, Herr Stoltenkamp.«

»Und die unberechenbaren Summen, die im Werke liegen, sollten nicht Bürgschaft genug bieten? Der Gedanke ist lächerlich.«

»Wenn die Bank, die so lange Jahre mit uns gearbeitet hat, nichts darauf gibt, Herr Stoltenkamp –«

»So werfen wir sie über Bord. Für den Pappenstiel finden wir eine andere.«

»Herr Stoltenkamp,« sägte der kaufmännische Leiter ernst, »es handelt sich nicht um einen Pappenstiel. Sie dürfen sich in dieser schweren Stunde nicht täuschen. Ich habe seit Jahren immer wieder darauf hingewiesen, daß unsere Geldwirtschaft unglücklich eingerichtet ist, daß Rücklagen eher geschaffen werden müssen als neue Betriebe. Aber ich möchte um alles in der Welt in diesem kritischen Augenblick nicht als Rechtbehalter erscheinen wollen. Die Lage ist ohne Umschweife die: Wir brauchen für die Ablösung der gekündigten Bankschuld und für den gesamten Weiterbetrieb ebenfalls Millionen. Wir wissen nicht, wie lange diese niederdrückende Flaue anhält, und müssen Geld in der Hand haben. Die Geldknappheit der Banken ist heute aber fast ebenso groß wie ihre Vorsicht. Ich sehe noch keinen Ausweg.«

»Das mir,« stieß Fritz Stoltenkamp hervor, »das mir, wo ich endlich oben bin.«

Und in dem Raum, der so viele heiße Arbeitspläne und ihre Erfüllungen erlebt hatte, wurde es still wie im Sterbezimmer.

Fritz Stoltenkamp hob den niedergesunkenen Kopf. Er sah die Augen der erprobten Männer, die gewohnt waren, in ihm zu jeder Stunde den Führer zu erblicken, in Spannung und Mitgefühl auf sich ruhen. Das gab ihm einen Ruck.

»Ich danke Ihnen, meine Herren. Wir wollen, jeder für sich, über Sachlage und Ausweg nachdenken und uns morgen um diese Zeit wieder versammeln. Ich danke Ihnen.«

Es gab keinen Ausweg. Die Banken beharrten bei ihrer Ablehnung. Und jetzt sah auch Fritz Stoltenkamp den Zusammenbruch, Auge in Auge. Er saß in seinem weißen Haus, das die Wipfel der jahrhundertealten Bäume beschatteten, und blickte über die Ruhr hinaus auf den alten Schicksalsweg seiner Jugend. Diesmal, nein, diesmal gab es keinen Ohm Grote, der Geschäfte witterte, und wenn die Geschwister alles zusammenlegten – es langte nicht zu einem Drittel. Das Werk war zu groß geworden.

Der Gedanke fiel ihm auf die Seele wie ein würgendes Gewicht.

»Zu groß geworden? Konnte ein Werk, das ein einzelner geschaffen hatte mit der Daransetzung seines ganzen Geistes und ganzen Lebens, zu groß für den einzelnen werden? Konnte es über seinen Herrn und Meister hinauswachsen?« Seine Augen bekamen einen herausfordernden Glanz. Er stöhnte auf, als müsse er einen Alb von sich abwälzen. Seine Hände griffen in die Luft. Und dann waren seine Hände eingefangen und seine glühenden Augen von einer kühlen Hand geblendet. Und über seinem grauen Haar sprach Franziskas Stimme: »Nun ist es genug, Fritz. Nun will ich die Hälfte von deinem Unglück, wie ich mehr als die Hälfte von deinem Glück erhielt.«

Das war das einzige Mal in Fritz Stoltenkamps Leben, daß er sich einem aufgepeitschten Schmerz überließ und Trost bei einem Menschen suchte und fand. Ganz still saß die Frau, die er sich vor Jahren aus dem Schneetreiben geholt hatte, weil ihre Stimme und ihre Bewegungen von so mütterlicher Art gewesen waren, neben ihm und hielt seinen Kopf fest an ihrer Brust, bis der leidenschaftliche Ausbruch vorüber war.

»Jetzt ist dir leichter, Fritz. Du hättest das nicht so lange mit dir herumtragen sollen. Ach, du, ich fürchte nur eine Einschränkung, und das ist die deines Vertrauens. Jetzt fürchte ich gar nichts mehr.«

»Ja, Franziska, es wird eine harte Zeit der Einschränkungen werden. Das wiederholt sich in meinem Leben. Aber niedergekriegt hat es mich nie. Was macht der Junge?«

»Er arbeitet für seine Reifeprüfung, Fritz.«

»So groß ist er schon. Und morgen steht er vor mir und fragt: Was nun? Da wird es Zeit für mich, daß ich seinen geordneten Lebenslauf in der Hand habe.«

Am nächsten Tage reiste er nach Berlin. Er kam zu den Großbanken nicht als Bittender. Zäh und unerschütterlich wies er auf die wirtschaftliche und vaterländische Bedeutung seiner Werke und auf die unübersehbare Schädigung des deutschen Geschäftsnamens in aller Welt, wenn das größte Werk des Reiches feig im Stiche gelassen würde. Er legte die zahlenmäßigen Unterlagen vor, die die völlige Gesundheit des Werkskörpers bekräftigten. »Er kann nur verhungern, niemals aber an eigener Krankheit zugrunde gehen. Lassen Sie ihn verhungern, und Sie werfen das Wirtschaftsleben Deutschlands zugunsten des Auslandes um zwanzig Jahre zurück. Sein Tod wird hunderttausend Tode nach sich ziehen. Die werden auch an Ihnen nicht spurlos vorübergehen. Sie müssen mich über den Graben hinwegbringen, und wäre es nur aus eigenem Erhaltungstrieb.«

Er kämpfte ohne zu ermüden. Er widerlegte jeden Einwurf und gab keinen Schrittbreit preis. Die Großbanken schlossen sich zusammen, bewilligten die Millionenmittel als hochverzinsliche, zehnjährige Anleihe und legten bis zur Tilgung die Pfandhand auf die gesamten Stoltenkampschen Werke.

Fritz Stoltenkamp kehrte nach Hause zurück. Seine Haltung war straff wie immer, aber sein graues Haar war weißer geworden, und die Adern an seinen Schläfen sprangen auf und ab. Das Werk hatte einen Vormund.

»Nun ruh dich aus,« sagte Franziska. »Du mußt erst deine Kräfte wieder sammeln.«

Er sah sie verständnislos an. »Meine Kräfte sind so gesammelt wie noch nie. Man hat mir an Stelle des alten einen neuen Zentner auf die Brust gelegt. Der muß herunter.«

»Zehn Jahre Vormundschaft, wenn alles gut geht,« sagte er zu seinen Herren. »Unser Stolz hat einen Knick gekriegt. Wir müssen ihn ausglätten. Was halten Sie von den zehn Jahren? Sollen wir darüber wegsterben?«

»Herr Stoltenkamp, in Amerika erschließen sie den Westen. Mit der bekannten amerikanischen Schnellzuggeschwindigkeit. Die Eisenbahnen können kaum nach. Herr Stoltenkamp, wir sollten alles andere stehen und liegen lassen und uns jetzt einzig und allein auf den Eisenbahnbedarf werfen. Wer am schnellsten liefert, beherrscht das Feld.«

Fritz Stoltenkamp setzte die hagere Hand auf den Tisch.

»Abgemacht. Und nun lassen sie den Telegraphen spielen. Wir übernehmen jeden Auftrag von drüben.«

»Es ist Glück, nichts anderes,« sagte er bald zu Franziska, mit der er jetzt immer häufiger von seinen geschäftlichen Angelegenheiten sprach. »Nichts als Glück, daß mir das große amerikanische Geschäft zur rechten Zeit in den Schoß fallen muß. Eigentlich tief beschämend, daß das Glück in einer Nacht mehr zustande bringt als alle Tüchtigkeit eines Lebens.«

Franziska schüttelte den Kopf.

»Da irrst du, Fritz. Das Glück hat vielleicht Launen, wie eine Frau sie hat, die ihre Gunst verschenkt, um einen Menschen fassungslos zu machen. Einfangen und festhalten läßt es sich aber, wie eine Frau, nur von dem Starken.«

»Nun muß sich alles dem einen unterordnen,« fuhr Fritz Stoltenkamp fort, »dem einen: durchzuhalten und sich wieder an die Oberfläche zu kämpfen, die alte beherrschende Stellung wiederzugewinnen. Das Werk und das Haus muß sich unterordnen. Das Werk hat alle Zukunftspläne auszuschalten und an nichts als an die Tagesarbeit zu denken. Und in der Einfachheit der Haushaltung haben wir allen Werksangehörigen voranzugehen.«

»Es soll keine zehn Jahre dauern,« sagte Franziska mutig, und der Frondienst begann. Täglich nahm jetzt Fritz Stoltenkamp den Sohn mit sich aufs Werk hinaus. Die Reifeprüfung in der Schule war erfolgt. Der Vater führte den Sohn in die schwere Berufsbahn ein. Er ließ ihn nicht von seiner Seite, erklärte in seiner scharfen und treffsicheren Art unermüdlich, pflanzte jeden seiner Gedanken in den Sohn hinein und arbeitete nur darauf hinaus, aus dem jungen Friedrich Franz in Kürze seinen Vertreter und sein zweites Ich zu machen. »Ich erspare dir alle die Jahre des Tastens und Suchens, ich lege dir gleich die reifen Früchte in die Hand. Du hast es leicht gegen mich.«

Aber der Sohn hatte es schwerer. Die Fülle der Eindrücke, die der Vater in langsamer und jahrzehntelanger Wanderung hatte erstehen sehen, sollte der weicher veranlagte Sohn in Jahresfrist bewältigen. Der Vater weckte seinen Ehrgeiz. Da gab er her, was er mit Anstrengung aller seiner Kräfte zu geben vermochte, und überwand seine Neigungen, die andere Bahnen wiesen, und vermochte doch nicht Schritt zu halten mit dem abgehärteten Gang des Vaters.

»Mutter,« sagte Friedrich Franz, wenn er an einem Sonntagmorgen in Franziskas Zimmer gesessen und ganz benommen ihrem meisterlichen Klavierspiel gelauscht hatte, »es ist ein Glück, dein Sohn zu sein.«

»Es ist ein Glück, ein Stoltenkamp zu sein, Friedrich Franz.«

»Es ist ein Stolz, ein Stoltenkamp zu sein, Mutter. Da muß viel Glück als Zahlung dienen.«

Das erste Lehrjahr war herum. Fritz Stoltenkamp hatte den ringenden Eifer für die Tat genommen und gab zu, daß der Sohn eine höhere technische Schule besuche. »Wenn du glaubst, dem Stahl wissenschaftlich schneller näher kommen zu können als durch die Erfahrungslehre, ich will es nicht hindern. Ich habe bisher nur mit den Hilfsmitteln meiner fünf Sinne die sogenannten technischen Untersuchungen vorgenommen. Kann die Wissenschaft mehr, so beug ich mich.«

Das Jahr hatte, wie zum Hohn auf die harten Bedingungen der Großbanken, mit einem Reingewinn abgeschlossen wie kein anderes zuvor. Fritz Stoltenkamp lachte grimmig. »Eure zehn Jahre! Ich bin selber Reiter, und mein Roß greift aus, wenn es für mich Gefahr wittert.« Er brachte seinen Jungen zur Hochschule und besuchte nach langer Zeit einmal wieder auf der Rückfahrt Düsseldorf.

Frau Mathildes Haar glänzte über dem faltenlosen Gesicht, das seine Glätte und zarte Farbe behalten hatte, wie frischgefallener, fleckenloser Schnee. Die silberweiße Frau mit dem Mädchenkörper und dem Mädchengesicht bot trotz ihrer sechzig Jahre ein so eigenartiges und fesselndes Bild, daß Fritz Stoltenkamp wohl verstand, wie es einen Maler locken mußte. Der Maler war zugegen.

»Es ist Jan Kröger, unser alter Jugendfreund,« sagte Mathilde Stoltenkamp nach der ersten Begrüßung. »Sieht er nicht aus wie eine Flamme auf der Eisscholle? Das wilde, eisgraue Haar ist echt, an den buschigen, kohlschwarzen Brauen ist ein wenig nachgeholfen. Aber sein Herz schlägt heiß, und es schlägt für mich, Fritz. Er malt mich zum Liebhaberpreis und meint das Doppelte.«

Jan Kröger hatte den Freund an den Schultern gerüttelt. »Sieh sie dir an, sieh sie dir an. Die ewige Jugend der Ninon de Lenclos ist ein Spatzenschreck gegen dies Blütenweiß, dies Elfenbeinrosa, dies – ja, wenn du blind bist, kann ich dir nicht helfen.«

Er nahm Pinsel und Palette auf, starrte sein Modell mit heißen Augen an und strich drauflos.

»Laßt euch nicht stören,« sagte Fritz Stoltenkamp, »ich mache mich ganz klein.«

Aber Frau Mathilde hielt kaum wenige Minuten still und plauderte unaufhörlich.

»Fritz, du hättest dir an Jan Kröger frühzeitig ein Beispiel nehmen müssen. Der hat gelebt – und geliebt dazu. Was, Meister Kröger? ›Unwiderstehlich‹ heißt das Feldgeschrei, und wenn Sie schon im Himmel unter den Engeln sitzen.«

»Spotten Sie nur, schönste Frau. Spott ist nichts als eine Verteidigungswaffe. Haha. Im vorigen Winter malte ich eine russische Gräfin – nein, es war eine Großfürstin – richtig, es war die Geliebte des Zaren. Was verschlug mir das. Für mich war sie ein Weib. Ein blendend schönes Weib. Ich malte sie. Meine Augen sogen sie auf. Sie atmete hörbar. Ihre Brust wogte. Es nutzt dir nicht, Prinzessin, Jan Krögers Augen haben dich schön gefunden. Sie will ihrem Zaren die Treue halten. Sie erstickt in dem Kampf zwischen Tugend und Verlangen. Luft! ruft sie aus und zerreißt die dreifache schwarze Perlenkette um ihren Hals und stürzt auf der Flucht vor sich selber hinaus. Ihr glaubt es nicht? Ich habe die schwarzen Perlen, groß wie Haselnüsse, in meinem Atelier als Andenken eingesammelt und trage sie in der Tasche.« Er suchte eifrig in seinen Taschen nach. »Natürlich. Ich habe sie in meiner Samtjoppe gelassen.«

»Nun?« fragte Frau Mathilde und winkte Fritz Stoltenkamp zu. »Das ist noch ein Düsseldorfer Maler von altem Schrot und Korn. Ich glaube, er lügt sogar beim Beten.«

Da lachte Jan Kröger, daß er sich kaum noch zu beruhigen vermochte.

»Was macht dein Sohn, der so viel Maltalent versprach? Entsinnst du dich? Als ich dich zum erstenmal besuchte. Du maltest damals die Lorelei.«

»Die Lorelei ...« wiederholte der Maler sehnsüchtig zärtlich. »Das war ein Mädchen ... Wo sind die Zeiten, da es noch solche Mädchen gab ... Entschuldige meine Weichheit. Du fragtest nach meinem Sohn, dem großen Peter Paul Kröger. Er ist so groß geworden, daß er sich einen Zwicker auf die Nase setzen muß, um seinen leiblichen Vater noch auf der Welt zu entdecken.«

»So bedeutend ist er geworden? Wo lebt er, und was malt er?«

»Er lebt in Berlin und läßt sich von hochgebildeten Bankiersfrauen vergöttern und in die Zeitungen bringen. Was er malt? Da muht du schon fragen, wie er malt. Er malt die allerneuste echt französische Malerei, von der man in den hochgebildeten Kreisen jetzt so eifrig zu sprechen beginnt, weil man sie vorläufig noch nicht versteht. Er malt sie noch besser. Aus dem einen Bilde der Franzosen nimmt er das Wasser, aus dem anderen die Luft, aus dem dritten den Baumschlag, aus dem vierten die lebende Haut. Das nennt er nach Goethe: die Bausteine nehmen, wo er sie findet. Selbst malt er eine flüchtige Tunke herum, und der Beschauer sagt: ›Wie geistreich. Das Unwesentliche deutet er nur so an – weil es doch das Unwesentliche ist‹. Ja, da habe ich einen Prachtkerl in die Welt gesetzt. Aber Geld verdient er. Das muß ihm der Neid seines Vaters lassen.«

Fritz Stoltenkamp lenkte ab.

»Was weißt du von den anderen Schulkameraden? Wie lange ist dein Bruder nun schon tot, Mathilde ...«

Frau Mathilde nickte gedankenvoll.

»Ein armer, edler Mensch, Fritz. Er hatte Eberhard und mich zu Miterben eingesetzt, da er ohne Kinder starb.«

»Und Robert Hüttemann? Und Karl Schulte?«

Da rieb sich Jan Kröger vergnügt die Hände.

»Gold ist Macht, war der Wahlspruch des kaltblütigen Rechenkünstlers. Weißt du noch, Fritz? Ich glaube, es war auf deiner Dachstube, als er uns sein knöchernes Geheimnis zum erstenmal offenbarte. Nichts hat er sich gegönnt als seinen Reichtum. Und den mißt er nach Scheffeln. Und nun muß er es sehenden Auges erleben, daß die Söhne über die Verwendbarkeit des köstlichen Mammons anders denken und ihn mit vollen Händen unter die Töchter der Muse Terpsichore streuen.«

»Bleibt Karl Schulte, denn Felix Moldenhauer gießt bei mir Kanonen, und nicht die schlechtesten.«

»Er sitzt im preußischen Abgeordnetenhaus und im deutschen Reichstag, redet und schreibt. Sehr volkstümlich, Fritz.«

»Ja,« sagte Fritz Stoltenkamp, »er hat sein Werk an eine Aktiengesellschaft verkauft und löst die Arbeiterfrage jetzt wissenschaftlich. Aber ein ganzer Kerl ist er doch.«

Eberhard Stoltenkamp hatte sich eingefunden. Er sah älter aus als seine Frau und zog ein Gichtbein nach.

»Kinder, ist das eine Überraschung! Der Fritz! Rundum der Fritz! Hast du denn noch nicht den alten Burgunder heraufholen lassen, Mathilde? Fritz, sieh den Jan Kröger an! Bei dem Wort Burgunder packt er heimlich und beschämt seinen Farbenkasten. O nein – nicht um nach Hause zu gehen.«

Sie saßen bis zum Abend, tranken, tafelten und erzählten übermütige Geschichten. Nur Fritz Stoltenkamp wurde immer schweigsamer. Er schützte die Eisenbahn vor und erhob sich.

»Nun habe ich euch alle wiedergesehen und euch wie immer gefunden. Das ist mir eine Beruhigung. Lebt wohl denn.«

Er fuhr durch die Nacht nach Hause. Er grübelte über die Lebenskunst der Freunde, über ihre Frauen, ihre Söhne ...

»Franziska,« sagte er, »Friedrich Franz« ...

Und es war viel Dankbarkeit in ihm.

*

 


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