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6

Es folgte eine Woche, die an Fritz Stoltenkamps Körper und Geist die stärksten Anforderungen stellte. Vom ersten Arbeitsmorgen an, den er in Siepers Hammer verbrachte, merkte sein nur auf die Wirklichkeit gerichteter Verstand gar bald, daß es unter den alten Praktikern für ihn mehr zu lernen als zu lehren gab. Und während er unermüdlich am Reckhammer wie beim Schleifen und Polieren des Stahls die hervorragenden Eigenschaften seines Gußstahls bewies, lernte er gleichzeitig die Forderungen kennen, die für jede einzelne Arbeit an dasselbe Werkzeug gestellt wurden und seine Beschaffenheit demgemäß regelten und bestimmten, lernte er die Kunstgriffe, die die Sandwerksmeister im täglichen Umgang zur Verbesserung und Erhöhung der Leistungsfähigkeit erfunden hatten, lernte er vor allem die Bedeutung der angewandten Eisensorten kennen und ihr Verhalten in jedem Einzelfalle. Eine Eisenlieferung von geringerer Güte und ohne eine der geschickten Vorproben, wie sie diesen Männern aus der Schule des Lebens erwachsen waren, und kein Fleiß und Kräfteaufwand vermochte fehlerhaften Ausfall, Zeit- und Geldverluste zu verhindern.

Die Meister aber erfreuten sich in der Stille an dem scharfsichtigen und unermüdlichen Jüngling, der nach ihrer Art in der Arbeit das Tagesgebet sah und im übrigen nicht empfindlich war gegen eine Derbheit und eine Natürlichkeit, und da er selbst von seinem Wissen jedem gab, was er nur davon benutzen mochte, so gaben sie ihm von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung, wiesen ihm, was ihre Werke zu leisten vermochten und was noch not tat, und saßen des Abends mit ihm vor den Haustüren und besprachen dasselbe noch einmal bei der Pfeife.

Immer weiter zog Fritz Stoltenkamp die Enneper Landstraße entlang, und wo er seine Geschäfte erledigt hatte, fand er immer einen Meister, der nach Feierabend seine Jacke überzog und ihn persönlich in den benachbarten Bezirk einführte. Und nach Überwindung der ersten groben Höflichkeiten war er bald bei Schmieden und Schleifern, Gürtlern und Gerbern zu Hause, und jedes ihrer Werkzeuge und selbstgefertigten Hilfswerkzeuge wurde ihm geläufig, wußte er auf Arbeitswert und Verbesserungsmöglichkeit zu bestimmen. Wie man ihn aber selber gerngewann in seiner geraden und gesunden Art, der jede Überschwenglichkeit meilenfern lag, so gewann man auch wachsendes Zutrauen zu seinem Stahl und den vielen Verwendbarkeiten, die ihm der junge Erzeuger in rasch zupackender Erfindergabe, oft in wenigen Strichen auf ein Blatt Papier, anwies. Die Aufträge auf Gußstahlsättel zur Dauerhaftmachung der Hammerbahnen mehrten sich, und an Bestellungen auf unbearbeiteten Gußstahl und fertige Werkzeuge lag auch ein lohnender Posten vor. Fritz Stoltenkamp konnte zufrieden sein mit der Ausbeute seiner ersten Geschäftsfahrt.

Am Sonnabend abend machte er in der Gegend von Herdecke Schluß. Einer erneuten Sonntagsheiligung im Kreise der Hammerschmiede wollte er entgehen. Sie war ihm doch zu anstrengend nach der Probe auf dem Vogelsang. Todmüde vom Schaffen legte er sich früh zur Ruhe, um zeitig auf den Beinen zu sein und die Heimfahrt anzutreten.

Die Heimfahrt! Wie wohl und weich das Wort war nach der langen Wochentätigkeit. Er kuschelte sich hinein wie in eine Decke, und als er einschlief, dachte er an das Wunder daheim – die Mutter.

Die Glocken läuteten, als er nach langem Schlaf erwachte. Die Jugend hatte ihr Recht gefordert, und er sah, daß er den Abgang des Postwagens verschlafen hatte. Ein Blick zum Fenster hinaus zeigte ihm die Welt in goldener Septembersonne, und sofort beschloß er, die Ruhr hinab bis zur Stadt Mitten zu wandern, um dort die bequemere Postverbindung zu erreichen.

Die Tasche umgehängt, das Merkbüchlein mit den Bestellungen, Aufzeichnungen und Entwürfen wohl verwahrt, machte er sich auf den Marsch. Die Ruhr tänzelte und glitt spiegelblank an seiner Seite als Wanderkamerad, und von den Waldhügeln des Ardeygebirges mischte sich verträumtes Rauschen in das leise Gekicher des Flusses. Die Augen weit geöffnet, aber den Blick nach innen gerichtet, ging Fritz Stoltenkamp seinen Weg. Er träumte nicht wie die verschwiegenen Wälder des Ardeys und tanzte nicht wie die Ruhrwellen, die sich von der Stadt Witten ein Vergnügen zu versprechen schienen. Er ging ganz einfach die Ergebnisse der vergangenen Woche durch, veranschlagte Arbeit und Verdienst und legte sich die kommende Woche zurecht in ihren Erfordernissen und ihrer lohnendsten Bewältigung. Es wurde Mittag, und er hatte die Schönheiten dieses Fleckens Erde nur an der Stille empfunden, in der seine Gedanken ungehemmt Aufgaben zu stellen und zu lösen vermochten, und mit den Augen nichts von all der lockenden Poesie gesehen.

Da lag der schmucke Ort Witten, dem seit ein paar Jahren die Stadtrechte verliehen worden waren, aus trägen Jahrhunderten erwacht wie das Eisen und die Kohle, denen er sein lachendes Erblühen über Nacht verdankte gleich den vielen anderen Örtchen und Orten im Wassergebiet der Ruhr und ihrer reichen Berge. Fahnen hingen aus den Häusern, und grüne Gewinde zogen sich über die Straßen, von Musikklängen überflattert und einem Gewirr kreischender Töne. »Was gibt's denn hier?« fragte Fritz Stoltenkamp einen Bürger, der sich in der Haustür sonnte.

»Wittener Pferdemarkt. Das weiß doch jedes Kind an der Ruhr.«

Die engen Straßen waren mit Menschen überfüllt, die sich ziellos und zwecklos durcheinander zu schieben schienen. Männer der verschiedenen Ortschaften feierten Wiedersehensfeste, Frauen begrüßten sich mit aufschreiendem Staunen, Kinder waren dort, wo man sie nicht brauchte, und wo man sie zur Hand haben wollte, nirgend zu finden. Vom Markt aber und den unbebauten Plätzen scholl das schmetternde Gewieher der Hengste, die weichere Antwort der Stuten, das ausgelassene Trompeten der springenden Fohlen. Und in langgezogenen Tönen muhten die Kühe nach dem Kalb, das sie dem Käufer zu schenken sich verpflichteten. Über alles hinweg Orgel und Schlagbecken des Karussells, Flintengeknatter an den Schießbuden und die heisere Stimme des Ausrufers, der heute, aber auch nur heute zu Ehren des Wittener Pferdemarktes und einer nicht genug zu schätzenden hohen und höchsten Kundschaft aus Stadt und Land zu einem Paar Hosenträger eine funkelnagelneue Nankinghose zugab. Knallend flog der Handschlag durch die Luft, mit dem die Männer Westfalens ihre Geschäfte abschlossen, fester als mit Schrift und Siegel, und in den Wirtshäusern drängten sich die Marktgäste an den Tischen, um einmal im Jahr etwas draufgehen zu lassen.

Auch Fritz Stoltenkamp spürte Hunger und Durst, und da er festgestellt hatte, daß der Postwagen erst in einigen Stunden ging, arbeitete er sich auch in eine Wirtsstube hinein und eroberte sich einen Fensterplatz. Da saß er, und um ihn knackten die Hühner- und Schinkenknochen, klirrten die Gläser unter dröhnenden Zurufen, begann ein niedersächsisch Lied die Reise, zündete ein derber Witz und löste die letzte Hemmung der Gemüter. Auf einem Brettertisch erschien ein vornehmer Herr in seinem Tuchfrack und gesticktem Hemd. Nachlässig fuhr er sich durch die Löwenmähne und winkte Schweigen. Starr über den Anblick gehorchte die Menge. Ein Gitarrenspieler hockte auf dem Tischrand und klimperte prüfend auf den Saiten. Und der vornehme Herr machte plötzlich ein verzücktes Gesicht, warf den Kopf in den Nacken, gab einen hohen, herrschsüchtigen Ton von sich und schmetterte ein Lied hinterdrein, eine Ballade von der Westfalen Liebling, Wittekind, dem Sachsenherzog. Die Leute stießen sich an und lachten wie besessen über die Heldengesten und das gewaltige Gesichterschneiden, und als er sich wiederum verzückten Auges an einem hohen, quellenden Ton zu berauschen schien, flog ihm klatschend eine Zitronenhälfte an den Kopf, bevor er sie abwehren konnte, und er brach mitten im Ton ab und sagte, das wäre »nich noblig«, mit einer halben Zitrone zu schmeißen, und es gehörte sich wenigstens das Kotelett dazu. Da jubelten ihm die Westfalen zu, daß die Wirtsstube erbebte, und der feine Herr nahm sofort einen Teller und ging absammeln.

Als Fritz Stoltenkamp sich wieder ins Freie gerettet hatte und über den Markt schlenderte, um die Fohlen zu bewundern, die mit ihren rosigen Schnauzen an allem Erreichbaren herumschnoberten, stutzend davor zurückschreckten und es in neuem jähem Angriff durcheinanderwarfen, bevor sie in übermütiger Flucht von dannen stoben, hörte er plötzlich seinen Namen rufen und wandte sich suchend um. Aus der Gegend des Karussells winkten ein Paar Arme wie zappelnde Windmühlenflügel. »Stoltenkamp! Heda, Fritz Stoltenkamp! Hierher, nur hierher spaziert!«

»Was! Max Schlechtendahl? Willst du Pferde kaufen?«

»Du sagst das in einem Ton, als ob du ›Pferde stehlen‹ sagen wolltest. Einstweilen keins von beiden. Und später denke ich zu diesem Zwecke nicht nach Witten zu gehen, sondern zu einem Vollblutgestüt.«

»Recht so,« lobte Fritz Stoltenkamp trocken. »Bist du inzwischen geschäftlich hier?«

Der Kleine rieb sich die Hände. »Ich habe mir einen Tag Ferien gemacht. Heut ist ja doch das ganze Landvolk von weit und breit in Witten,« fügt er wie entschuldigend hinzu, »da hätt's mit dem Geschäft doch nicht geklappt. Da hab ich meine Schwester hierhergeführt. Die wird sich freuen.«

»Wo ist sie denn?« »Dort auf dem Schimmel.« »Alle Wetter, das Fräulein probiert sich schon einen Gaul aus? Das gefällt mir. Aber ich seh sie noch immer nicht.«

»Dort auf dem Karussellschimmel! Sie winkt uns doch in einem fort.«

»Auf dem Karussellschimmel?« wiederholte Fritz Stoltenkamp verdutzt. »Auf dem hölzernen –?« Und nun sah er ein schlankes Persönchen in einem bauschigen und geblümten Kleidchen, wie es zu Lebzeiten des Vaters die Mutter getragen hatte, und mit einem breitrandigen bebänderten Sommerhut, unter dem ein schmales, elfenbeinfarbenes Gesichtchen mit dunklen Augen lugte. Er zog den Hut, und sie neigte den Kopf, als säße sie wirklich zu Pferde und sprengte an den Kavalieren vorbei in einen geheimnisvollen Märchenwald. Die langen Bänder ihres Sommerhutes umflatterten den kreisenden Holzschimmel, die Orgel schrie, und der Mann, der die Becken schlug, sang anfeuernd immerzu:

»Schimmela, Schimmela, hopsassa,
Schimmela, Schimmela: Bumm!«

Max Schlechtendahl strahlte bewundernd seine Schwester an. »Was sagst du dazu, wie sie im Sattel sitzt? Sieh nur! Sieh nur!«

»Im Sattel? Ach so – ja, freilich. Sie ist ein sehr schönes Mädchen, deine Schwester.«

»Nicht wahr, das ist sie? Ich kenn kein schöneres. Nun verstehst du auch – Gott ja,« unterbrach er sich, »ich habe ja noch gar nicht gefragt, wie du nach Witten kommst? Geradeswegs von der Enneper Landstraße? Und nun willst du sie auf dem Pferdemarkt verdauen?«

»Es war eine glückliche Woche für mich, Max. Schweiß habe ich freilich lassen müssen. Bei deinem Freund Sieper fing's beinahe mit einem Handgemenge an. Aber dadurch lernten wir uns um so schneller schätzen, und das Endergebnis auf der ganzen Strecke ist überraschend gut. Vielen Dank, Max, für deine freundschaftliche Fürsorge. Letzte Nacht konnte ich schon in Herdecke zu Bett gehen, und wenn ich den Postwagen nicht versäumt hätte, wär ich wohl jetzt zu Haus.«

Gerade hielt der Schimmel knapp vor ihnen, und Mathilde Schlechtendahl schwang sich aus dem Sattel, daß die weißen Strümpfe aufleuchteten, und trat zierlich zu den Freunden. »Mein alter Schulfreund Fritz Stoltenkamp,« stellte der Bruder vor, »Mitinhaber der Firma Friedrich Stoltenkamp – meine Schwester Mathilde.«

Fritz Stoltenkamp machte mit gezogenem Hut eine tiefe, steife Verbeugung. Das junge Mädchen knickste ein ganz klein wenig und reichte zur Begrüßung die Hand hin, den Handrücken ganz damenhaft nach oben. Einen Augenblick wußte der große Junge nicht, was damit beginnen. Dann schüttelte er die Scheu ab und ergriff freimütig die Hand mit seinem starken Druck. »Entschuldigen Sie,« sagte er erschrocken, als er bemerkte, wie sie zusammenzuckte.

»Sie sind sehr stark, Herr Stoltenkamp,« meinte sie, »aber das gefällt mir gerade.«

»Denke dir,«rief der Bruder, »er hat geglaubt, du rittest über den Wittener Pferdemarkt auf einem wirklichen Schimmel. Und ganz verdutzt war er, als es nur ein hölzernes Karussellpferd war.«

»So? Das haben Sie geglaubt? Wie eine Märchenprinzessin, meinten Sie?«

»Ich reite so leidenschaftlich gern,« verteidigte sich Fritz Stoltenkamp, »daß ich auf einem Pferdemarkt am allerwenigsten auf einen Holzschimmel raten konnte. Macht Ihnen das denn Spaß?«

»Vielleicht war es gar kein Holzschimmel, als ich darauf ritt. Als Märchenprinzessin kann man doch wohl verzaubern?«

»Hab ich denn von Märchenprinzessin gesprochen?« sagte er ärgerlich. Er kannte sich in den Gewundenheiten nicht aus.

»Mathilde,« jubelte der junge Buchhändler, »Mathilde, merkst du denn immer noch nichts? Er kommt von der Enneper Landstraße! Er ist vollgesogen von ihrer Kultur! Ein Kanadier, der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte!«

»Auch das gefällt mir,« sagte das junge Ding mit einem spottenden Knicks, daß die Röckchen sich auf der Erde bauschten. »Möchten Sie mich jetzt vielleicht ein wenig über den Markt führen?«

Der große Junge bekam einen dunklen Kopf. »Es tut mir leid, Fräulein Schlechtendahl, aber ich muß mich nach dem Postwagen richten.«

»Wir fahren auch mit dem Postwagen,«legte sich der Freund ins Mittel, »aber mit dem Abendwagen. Natürlich fahren wir zusammen.«

»Ich sagte schon, Max, daß es mir leid tut. Ich bin auf keiner Vergnügungsfahrt und muß heim.«

»Vorhin,« murmelte der kleine Buchhändler und nagte an der Unterlippe, »behauptetest du, daß du mir ein wenig dankbar wärst –«

Mathilde Schlechtendahl streckte ihm zum zweitenmal die Hand hin. Ihre dunklen Augen standen ganz still, nur etwas größer schienen sie jetzt in dem elfenbeinfarbenen Gesicht. »Gute Heimreise denn, Herr Stoltenkamp.«

Er hätte sich prügeln können. Aber das war nun zu spät. Konnten sie wirklich glauben, ihre Gesellschaft – paßte ihm nicht? Er preßte ihre Hand, die sie ihm mit einem leisen Ruck entzog, lüftete mit einer steifen Verbeugung den Hut, sagte dem Freund, er solle kein Narr sein, und schritt über den Markt durch das Menschengewühl dem Posthaus zu.

Wie wird sich Mutter freuen, dachte er, als er die Landstraße entlang fuhr. Aber seine eigene Freude war nicht mehr die von der Frühe. Es war ein Stäubchen hineingeraten, das immer wieder an die Oberfläche kam, so oft er es fortblasen wollte. Ganz ärgerlich wurde er, und noch ärgerlicher, als ihm sein rechtliches Gewissen sagte, daß er selber und er nur ganz allein die Schuld trage. Mußte er sich denn benehmen wie ein Bauer? Konnte denn das schöne Mädchen dazu, daß es fröhlicher den Feiertag genoß als er nüchterner langer Mensch? Konnte er dem Freunde, der ihm doch auch so manche Stunde geopfert hatte, nicht die paar Sonntagnachmittagstunden Zum Opfer bringen und seine Freude an der Lust der Schwester teilen? Oder – oder war ihm doch Amaliens Bemerkung im Kopfe hängen geblieben: sie würfe sich heran an die älteren Namen? Das – das wäre nun ganz niederträchtig gewesen.

Er grübelte und grübelte mit rotem Kopfe und achtete nicht auf den Weg. Und das Endergebnis blieb das Anfangsergebnis, er konnte es drehen und wenden, soviel er wollte: er hatte sich betragen wie ein Bauer.

Dann aber kam die Heimatstadt. Der achteckige Turm der alten Münsterkirche kündete sie schon aus der Ferne an. Und nun achtete er auf den Weg, und der Postillion, schien ihm, fuhr einen Schneckengang, und die letzten Minuten wurden ihm länger als die ganze Fahrt. Kaum war die Postkutsche unter gellendem Horngeschmetter in das Stadttor eingebogen, als er auch schon im Sprunge hinaus war, die Stadt durchquerte, zum anderen Tor hinaus das Freie erreichte und in mächtigen Schritten dem Stoltenkampanwesen in den Feldern zustrebte. Kein Stäubchen schwamm mehr auf der Freude. Kein Gedanke irrte mehr ab. Mutter! freute er sich, Mutter! dachte er immerzu, Mutter! rief er schon von weitem.

Frau Margarete stand am offenen Fenster des Arbeitszimmers. Die goldene Nachmittagsonne lag auf ihrem braunen Haar und ließ es sprühen. »Fritz!« rief sie. »Ich dachte, du wärst unter die Menschenfresser geraten.« Die Umhängetasche mit den Stahlproben und Werkzeugen flog auf den Arbeitstisch. Und er selbst – weiß Gott, da hatte er sich von der Mutter in den großen Sorgensessel drücken lassen, in dem sonst nur Großmutter Stoltenkamp zu sitzen kam, und da saß er nun und fühlte sich ganz weich und warm und gar nicht sorgenschwer, und die Mutter saß vor ihm und strich ihm die Knie und sagte: »Na, du alter Weltläufer?«

»Mutter, ich bringe Arbeit für ein paar Monate! Mutter, insgesamt wohl für zweitausend Reichstaler.«

»Siehst du,« sagte Frau Margarete, »weil du auf meinen selbstgestrickten Strümpfen gelaufen bist.«

»Mutter, das ist noch nicht alles. Ich habe die Augen aufgehalten und viel gelernt, viel, was wir nachmachen und – was wir besser machen können. Es geht aufwärts, Mutter, verlaß dich drauf.«

Ihre Hände strichen ihm immer noch über die Knie. »Was habe ich für einen großen Jungen? Ich kann es gar nicht glauben, daß das nun schon mein Junge ist.« Und dann sprang sie hastig vom Sitz und lachte ihn an. »Ob du ausgehungert kommst und verdurstest, danach frage ich gar nicht. Nur ob du mit Aufträgen kommst und mit einem großen, großen Geldsack. Wie die Geizhälse hocken wir beisammen, aber nun wollen wir einmal Verschwender werden.«

Fritz Stoltenkamp saß ganz weich und warm in dem großen Sorgenstuhl. Er horchte auf jeden Schritt der Mutter, auf diese leichten, schnellen Schritte und auf das zirpende Geräusch ihres Sonntagkleidchens. Er hörte, wie sie das Feuer schürte mit ihren seinen, weißen Künden und die Pfannen rückte und die Eier zerschlug, die sie in der brodelnden Butter briet. Und wie sie mit Tasse und Teller klapperte.

»Kann ich dir nichts helfen, Mutter?« rief er aus der Tiefe seines Stuhles heraus. Nur um ihre Stimme zu hören.

»Hast du mich etwa mit auf die Enneper Landstraße genommen?«

Und nach einer Weile: »Sind Amalie und Eberhard nicht daheim?«

»Sie sind zur Großmutter zum Sonntagsbesuch. Aber ich fürchte fast, ihr Besuch gilt mehr dem Kolonialwarenladen, und ich selber bin nicht ganz unschuldig daran. Ist das nicht eigentlich scheußlich, Fritz?«

Fritz Stoltenkamp lachte in die Ohrenklappen seines Sorgensessels hinein. Wie ihn diese Stimme frisch und freudig machte.

»War Großmutter Stoltenkamp zuweilen hier draußen?«

»Sie kam allabendlich nach Feierabend und hat meine Buchführung überprüft. Fritz, sie war ernsthaft traurig, weil sie keinen Fehler fand, und ich war ernsthaft vergnügt. Aber ich hätte der freudlosen Frau, die so selbstlos für uns sorgt, doch wohl die Freude machen und einmal patzen können. Meinst du nicht auch, Fritz?«

»Das hättest du wohl. Mutter. Und du kannst es nachholen, wenn ich einmal wieder auf Reisen bin.«

»Jetzt bist du zuerst einmal hier,« sagte Frau Margarete und öffnete weit die Tür zur Wohnküche. »Und nun sorge, daß ich nicht umsonst von dir weggelaufen bin.«

Das tat er, und kein Krumen blieb auf dem Teller und kein Tropfen in der Tasse.

Dann aber ließ sich Frau Margarete von ihrem Sohne bedrängen, die schönen, stillen Stunden bis zum Abendbrot und bis zur Rückkehr der Geschwister dazu zu nutzen, einen Überblick über die Ergebnisse seiner Reise zu gewinnen. Und sie saßen sich im Arbeitszimmer an dem großen Arbeitstisch gegenüber, und Fritz Stoltenkamp holte sein Merkbüchlein und seine Entwürfe und Berechnungen aus der Brusttasche, legte alles vor und erstattete dazu einen ausführlichen Bericht. Ganz wie ein Teilhaber dem anderen. Aber von starker Gestaltungskraft und durchsichtiger Klarheit.

Es war für Frau Margarete ein leichtes, zu folgen. Aber sie ging nur eine kurze Strecke mit und ließ dann ihre Augen weicher und weicher auf ihrem allzu ernsthaften Jungen ruhen, dem Familienoberhaupt, dem Fabrikherrn, der nur von Pflichten wußte und nichts von den süßen Spielen der Jugend. Und nur, wenn er das Auge Zu ihr hob, nahm ihr Blick schnell den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit an, und ihre Lippen wiederholten die letzten Worte, die er gesprochen hatte.

Nichts von den süßen Spielen der Jugend, die uns im Alter die Zufriedenheit geben, als wäre unser Leben reich gewesen und nur reich. – – –

»Der Herr Stoltenkamp ist zurück. Alle zum Herrn Stoltenkamp kommen, um acht Uhr in den Schmelzbau.« Auch der lange Haniel legte die Welle um und den Reckhammer fest und begab sich befehlsgemäß zur Versammlung.

Schon um fünf Uhr in der Frühe war Fritz Stoltenkamp bei den Schmelzöfen gewesen. Wenige Minuten später, und die Arbeiter trafen ein, der kraushaarige Frowein als erster. »Alles im Lot, Herr Stoltenkamp. Aber auch die letzte Bestellung aufgearbeitet bis auf die Knochen.«

»Freut mich, Frowein,« lachte der junge Herr. »Denn ich bring Futter für Öfen und Tiegel, daß sie nur so die Zähne danach blecken sollen.«

»Wir blecken sie mit, Herr Stoltenkamp. Und die Kinnbacken dazu! Sie bringen ordentlich einen frischen Luftzug mit, und damit wollen wir die Ofen so gut schüren wie mit den Aufträgen.«

»Frowein. Aufträge für ein paar Monate.«

»Is wahr, Herr Stoltenkamp? Spaß beiseite? Ich setz mich auf den glühenden Tiegel, wenn's die Leinenbux aushält.«

»Frowein, es ist erst der Anfang. Brüllt nicht gleich wie ein Indianer, sondern hört zu. Ich habe diesmal nur hineingerochen in den Riesenbedarf. Und die Leute wissen noch nicht einmal, was sie alles brauchen, aber ich bring sie schon auf die Spur. Denn ich hab bei den Leuten in den verschiedenartigen Betrieben erst die rechte Ahnung gekriegt, was wir alles herstellen können. Jetzt heißt es vor allem, Betriebskapital schaffen, und damit fangen wir heute an. Laßt die Arbeiter um acht Uhr hier zusammentreten. Ich will ihnen die neuen Arbeiten erklären. Und dann drauf los, Frowein.«

»Dann drauf los, Herr Stoltenkamp.« Und der Vorarbeiter ging und beschied die Leute.

Punkt acht standen sie in einem leeren Räume des Schmelzbaus. Über ein paar leere Tonnen war ein Brett als Tisch gelegt. Eine Kiste diente dem Fabrikherrn zum Sitz. Er begrüßte seine Leute mit einer Frische, das sie gleich die Hälse reckten und alle ihre Gedanken zusammenrissen.

»Der Frowein wird euch schon mitgeteilt haben, daß ich nicht mit leeren Händen komme. Und ich hoffe, daß sie immer voller und voller werden, je mehr ich hinauskomme und der Kundschaft zeigen kann, was mein Gußstahl und meine Leute alles vermögen. Denn auf euch kommt es mindestens so viel an, und ich weiß, daß mich keiner von euch im Stiche läßt.«

»Warraftig nich,« murmelten die Männer erwartungsvoll.

»Also gebt acht. Unser Gußstahl ist gut und wird immer noch besser werden. Das kommt auf die Güte der Rohstoffe und auf unsere Geschicklichkeit an. Das Roheisen hab ich jetzt schon ein bißchen besser kennen gelernt, und euch kenne ich seit meinen Kinderjahren. Man braucht euch das Sprungbrett nur immer ein wenig weiter zu stellen, und ihr springt.«

Die sieben um ihn herum lachten sich eins in den Bart.

»Wir wollen uns gar nicht überheben,« fuhr Fritz Stoltenkamp fort, »wir wollen Schritt für Schritt vorgehen und immer den Blick für das Erreichbare behalten. Langsam, aber sicher, dann fallen wir nicht aus dem Himmel klaftertief in den Dreck und müssen uns erst mühsam wieder herausarbeiten. Alle Kraft immer auf die eine Aufgabe beschränken, die wir vor der Nase und unter den Fäusten haben. Die aber mit aller Beharrlichkeit und eisernem Fleiß verfolgen, bis wir sie gelöst haben und mit erneutem Wagemut an eine gesteigerte gehen können. In unseren Taten Meister sein und in unseren Gedanken immer Lehrlinge bleiben. Ich hab eine ganze Masse gelernt da draußen, und das wollen wir nun meisterlich ausführen.«

Er entrollte seine Entwürfe und erklärte sie Zug um Zug, bis sie jedem geläufig waren. Er unterrichtete sie über jeden Kunstgriff, den er erlauscht hatte, in der Werkzeughärtung, -schleifung und -polierung. Er versprach, sofort an die Verrichtung einiger neuer Werkzeugmaschinen zu gehen, die die Handarbeit unterstützten, und dann wieder auf die Reise und wiederum auf die Reise, damit er immer mehr lerne und der Fluß nicht mehr ins Stocken käme. »Nun? Glaubt ihr, daß ihr's schafft?«

»Kleinigkeit, Herr Stoltenkamp.«

»Also ran an den Feind. Und fragt in einem fort. Mich, den Frowein, einer den anderen. Glückauf.«

»Glückauf, Herr Stoltenkamp.« Und die neuen Aufträge eifrig besprechend, gingen sie an ihre Arbeit.

»Da Fritz kriegt dreizehn grad,« sagte draußen der lange Haniel zu dem fröhlich pfeifenden Frowein. »Ich hab gesehen, wie 'r et Reiten lernte.« Und er zündete sich eine frische Tonpfeife an und ging mit langen Schritten seiner Mühle zu.

Ohne Zögern begann Fritz Stoltenkamp mit der Verbesserung seines Betriebes. Geld stand ihm nicht zur Verfügung, aber seine Erfinderphantasie griff zu den einfachsten Mitteln, und aus Holzkloben und Stahlbacken erbaute er sich Pressen, aus altem Material neue Schmiedegeräte. Und er probte und verbesserte, bis sie jedem seiner Ansprüche genügten. Bald konnten die ersten Gußstahlsättel an die Hammerwerke der Enneper Landstraße geliefert werden. Das beste Osemundeisen war ihm gerade gut genug, der Preis war ihm Nebensache. »Die Kundschaft muß blind auf die Güte unserer Erzeugnisse schwören und vom Billigeren von selbst immer wieder zum Besseren greifen. Das allein schafft den Namen. Und viele Einzelzahlen ergeben zum Schluß auch eine große Summe.«

Die Gußstahlsättel der Reckhämmer bewährten sich. Die Männer der Enneper Landstraße kargten nicht mit ihrer Anerkennung. Aber über den Stangenstahl liefen Klagen ein. Er wurde rissig beim Schmieden oder zersprang. Ohne weiteres nahm Fritz Stoltenkamp die beanstandeten Stücke zurück und versprach vollwertigen Ersatz. »Es ist nur das Ungewohnte in der Behandlung,« sagte er zu Frowein. »Die Schmiede können noch von ihren alten Handgriffen nicht lassen und müssen eine Übergangszeit haben. Traurig, daß ich die Übergangszeit bezahlen muß.«

»Wenn der Stahl gut ist, würd ich auf ihre Dummheit pfeifen und sie selber die Kosten tragen lassen.«

»Doch nicht, Frowein. Ich laß mir ein Probestück schicken und schmiede ihnen danach, soviel sie wollen. Dann kriegen sie die gläubigen Augen. Belehrender Briefwechsel nimmt immer einen gereizten Ton an.«

Und er stand im blauen Arbeiterhemd mit bloßer Brust am Schmiedefeuer, und sein Hammer flog im Takt mit den anderen. Von morgens fünf bis in die Nacht. Da schielten die Arbeiter auf die Unermüdlichkeit ihres jungen Herrn, der sich nicht anders gab als ihresgleichen, und keiner war, der sich beschämen lassen wollte, und alle Hämmer flogen so sicher wie nie zuvor.

»Dä jung Herr kann einen in Schweiß bringen,« meinten sie, wenn sie am Feierabend die Jacke über das triefende Hemd zogen, »aber et is vergnüglicher Schweiß.«

Für Fritz Stoltenkamp brach der Feierabend noch lange nicht an. Eine Drehbank mußte gebaut, eine Schleifmaschine entworfen und hergerichtet werden. Dazu waren die Abendstunden in den todstillen Räumen gerade recht. Und dann hieß es, für den Formguß die Modelle schaffen und das Gießverfahren danach einrichten. Aus jeder Arbeit, die er vornahm, entsprang eine neue, regte ihn an, sie auf der Stelle zu bewältigen, verscheuchte die Müdigkeit und schenkte ihm Gewißheit.

Seine Leute waren wie seine Leibgarde. Sie wuchsen zu einem einzigen Körper zusammen. Ein Wink, und sie griffen zu wie mit einer einzigen Hand, und die Güsse erfolgten bald mit einer Gleichmäßigkeit, die nicht mehr zu übertreffen war.

Im Spätherbst und im Winter ging Fritz Stoltenkamp auf neue Kundenbesuche. Einmal ins Wuppertal und ins bergische Land, in die Webereien der aufblühenden Städte Barmen und Elberfeld, in die Hammerwerke Remscheids, in die Schwertfegereien Solingens. Ein zweites Mal ins westfälische Sauerland, das Tal der Volme entlang von Hagen aus bis über Lüdenscheid, und das Tal der Lenne entlang von Herdecke und Hohenlimburg bis ins Land von Iserlohn, über die Silberstadt Altena weit hinaus bis ins hüttenreiche Siegerland. Von der Emscher kam er zur Lippe, und von der Lippe zum Niederrhein in den jungen Hafen von Ruhrort. Immer eigenartiger sah er die Betriebe, immer vollkommener die Hilfsmittel. Immer gewaltiger aber auch das Absatzgebiet für seinen Stahl.

»Es müssen wieder ein paar Leute mehr eingestellt werden,« meldete Frowein ein jedes Mal, wenn der junge Herr von einer Reise zurückkehrte und seine Lieferungszettel auspackte. Und Fritz Stoltenkamp antwortete: »Stellen Sie ein, was Sie müssen, aber langsam, vorsichtig, nehmen Sie jeden einzelnen erst in die Mache, bis er sich den anderen einfügt und kein falscher Hammerschlag entsteht.« Er war, seitdem er dem Vorarbeiter eine Art Meisterstellung eingeräumt hatte, zum ›Sie‹ übergegangen, um den Neueingestellten gegenüber die Vertrauensstellung Froweins besser zu betonen.

Und der Frühling kam und brachte Arbeit statt Blumen, und der Sommer ging über der Arbeit hin, und der Herbst konnte die Blumen welken lassen, ohne daß Fritz Stoltenkamp und die Stoltenkampleute es gewahrten und daß sie bald wieder im Schnee staken so tief wie in der Arbeit und Weihnachten und Neujahr vorüberhuschten wie andere Kalendertage.

Schon ein Jahr war Schwester Amalie konfirmiert und aus der Schule, und sie hatte das Hauswesen in ihre kleinen, zähen Hände genommen, als hätte es nie in anderen gelegen. Und es war hohe Zeit. Denn Frau Margarete hatte bei der steigenden Entwicklung des Geschäftes tagaus, tagein über den Büchern zu sitzen, den Briefwechsel zu besorgen und die Rechnungen auszufertigen, und statt, des ernsten Gesichtes ihres großen Jungen, den die Reisen oder die dringenden Arbeiten in der Fabrik fernhielten, sah sie des Abends ein Stoltenkampgesicht sich gegenüber, in dem der heiße Ernst zu einer starren Strenge umgewandelt war, das der Frau Jodokus Stoltenkamp, die pünktlich wie die Uhr nach Feierabend erschien und sich nach stummem Gruß am Arbeitstisch niederließ. Ihr Briefwechsel war zu schroff, aber für das Ausstellen der Rechnungen eignete sie sich wie keine zweite. Da fehlte kein Tüpferl auf dem i, weder zu gunsten noch zu ungunsten.

Wenn Fritz Stoltenkamp über den Hof schritt, sah er durch das niedere Fenster die beiden Frauen bei der Öllampe. Das frische, lebensfrohe Gesicht der Mutter und das längst verwelkte, lebensmüde Gesicht der Großmutter. Beim Schein der Öllampe aber wiesen die beiden Frauenköpfe, tief über die Arbeit gebeugt, denselben Zug: den Willen zum Vollbringen.

»Unsere Stoltenkampfrauen,« sagte dann der junge Werkherr vor sich hin, und er lachte, wenn er aus der Wohnküche der Schwester Amalie streitbare Stimme vernahm, die den quecksilbernen Bruder Eberhard zur Ruhe und Ordnung verwies.

Wieder einmal war Vorfrühling, und Fritz Stoltenkamp kehrte aus dem Lennetal heim und spürte eine seltsame, sehnsüchtige Müdigkeit in allen Knochen. »Es war doch diesmal nicht mehr und nicht weniger anstrengend als sonst,« sagte er sich und ärgerte sich über seine Schlappheit und ließ ihr doch gern ein wenig die Zügel. Zu Zause traf er zu seinem Erstaunen den alten Schulkameraden Max Schlechtendahl, der mit seiner Schwester Mathilde zu einem Besuch gekommen war.

»Ich hatte sie noch ein Jahr in einer höheren Mädchenanstalt in Düsseldorf,« flüsterte er dem Freunde zu. »Es ist eine Freude.«

»Dir geht's gut?« fragte Fritz Stoltenkamp. »Nun bist du auch schon über Jahr und Tag selbständig.«

»Meine Augen sind überall, und meine Hand auch,« lachte der Freund und kniff die noch immer entzündeten Augen ein. »Ich erzähl dir später davon. Willst du jetzt nicht Mathilde begrüßen?«

Sie stand in ihrem zierlichen Besuchskleid und dem großen, gebogenen Bänderhut neben Amalie, die klein und farblos neben ihr erschien. Die dunklen Augen sahen ihm ganz ruhig entgegen. »Guten Tag, Herr Stoltenkamp.«

Er äußerte seine Freude, sie zu sehen, und bat, sich nach der langen Reise eben umkleiden zu dürfen. Sie nickte und wandte sich wieder den anderen zu. Und Fritz Stoltenkamp grüßte mit den Augen Mutter und Geschwister und ging mit unsichererem Schritt, als es seine Gewohnheit war, aus der Stube. In seiner Dachkammer mußte er sich erst ein paar Minuten niedersetzen. Ganz traumselig war ihm. »Wie 'ner Kirchenjungfer,« sagte er und steckte den Kopf ins Wasser.

Der Besuch hatte sich im Arbeitszimmer niedergelassen. Mathilde Schlechtendahl saß zwischen Amalie und Frau Margarete in einem kleinen Halbkreis, während ihr Bruder mit dem jungen Eberhard Stoltenkamp nahe der Tür plauderte. Da Amalie der früheren Schulkameradin gegenüber etwas zurückhaltend blieb, nahm Frau Margarete die Kosten der Unterhaltung freundlich auf sich, befragte das junge Mädchen über Leben und Treiben in Düsseldorf und wunderte sich bald über die Treffsicherheit ihrer Antworten. Da war kein Haus und sein Bewohner, so er einen Namen trug, kein Reiter und sein Pferd, kein Maler und sein Gemälde, sie verstand jeden und jedes mit wenigen Worten greifbar hinzustellen, und die Darbietungen in Schauspiel und Konzert berührte sie gesprächsweise wie eine Eingeweihte.

Der junge Eberhard Stoltenkamp horchte mit so großer Spannung zu den Damen hinüber, daß er dem Buchhändler nur noch zerstreute Antworten gab.

Als Fritz Stoltenkamp eintrat, spürte er aufs neue Mathilde Schlechtendahls ruhig forschenden, er hätte sich sagen mögen: »abschätzenden« Blick. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit in den Halbkreis.

»Wir kommen gewiß sehr ungelegen,« meinte das junge Mädchen. »Wer von einer Reise heimkehrt, hat andere Dinge zu erfüllen. Noch dazu ein Herr Fritz Stoltenkamp.«

»Warum gerade ich? Trauen Sie mir so wenig Höflichkeit zu?«

»Da sagen Sie es selbst,« lachte das junge Mädchen. »Höflichkeit! Höflichkeit ist aber kein Bedürfnis. Ihr Bedürfnis steht jetzt nach der Fabrik.«

»Das ist wahr,« gestand Fritz Stoltenkamp freimütig zu. »Aber wenn ich eine Post später abgefahren wäre, könnte ich die Leute in der Fabrik jetzt auch nicht mehr antreffen.«

»Nehmen wir es so,« sagte Mathilde Schlechtendahl. »Haben Sie eine schöne Reise gehabt? Es muß jetzt herrlich sein da draußen im Vorfrühling.«

»Ich komme aus dem Lennetal. Ja, wahrhaftig, ich entsinne mich, in den Wäldern knospt es schon kräftig. Ich sah es, als ich die Straße von Hohenlimburg nach Hohensyburg fuhr.«

»Da nennen Sie zwei der romantischsten Punkte Westfalens, als ob sie nichts als bloße Namen wären.«

Sie spähte unter dem wippenden Hutrand mit einem lustigen Blick zu ihm auf. »Daß es in ganz Deutschland kaum eine Burgruine von der Schönheit der Hohenlimburger gibt, sahen Sie wohl nicht, und daß die Hohensyburg Wittekinds Residenz war, daß Karl der Große sie stürmte und der sagenhaften Historie nach Papst Leo III. in eigener Person die Kirche christlich weihte, die bis dahin der Verehrung einer Irminsul gedient hatte, macht Ihnen die Stätte wohl auch nicht reizbarer?«

Sie redet wie eine Elster, dachte Fritz Stoltenkamp. Wenn sie nur die verteufelten Augen von meinem Gesicht ließe. Und laut antwortete er: »Und daß Hohenlimburg oder doch der Ort ausgiebige Eisensteingruben und Hüttenwerke besitzt und um Syburg herum Fabrikunternehmungen aller Arten betrieben werden, dürfte Ihnen dafür weniger reizvoll erscheinen, Fräulein Schlechtendahl?«

Amalie lachte trocken vor sich hin, die schöne und gewandte Freundin aber nahm den Handschuh auf.

»Das kann ich nur bis zu einem gewissen Grade zugeben. Die Arbeit hat sogar sehr große Reize und noch größere Werte. Das lehrt mich schon mein Bruder Max. Aber ist es denn wirklich möglich, daß man zu Fuß, zu Roß und zu Wagen jahraus, jahrein durch alle Wunder der Natur zieht, ohne ihnen auch nur einen tieferen Blick zu schenken?«

Fritz Stoltenkamp wurde es schwül. Er mußte die Berechtigung ihrer Frage anerkennen, und doch war sie ihm wie ein Überfall.

»Es gibt vielleicht noch andere Dinge, denen man einen tiefen Blick zu schenken hat, während die Menschen schwärmen.«

Sie sah ihn noch einmal ruhig forschend an und wandte sich artig an Frau Margarete. Fritz Stoltenkamp aber nutzte die Gelegenheit, um mit dem alten Schulkameraden ein paar Worte zu wechseln, eine Gelegenheit, die Eberhard nutzte, um des Bruders leergewordenen Stuhl einzunehmen.

»Also, du bist zufrieden, Max? Worin arbeitest du hauptsächlich?«

»Zufrieden bis zu einem gewissen Grade, Fritz. Bis jetzt ist mir alles gelungen. Aber was ist dies kleine ›alles‹ gegen das große ,alles', das es noch zu erobern gilt. Nun, das weißt du ja von dir selber.«

»Möglich. Also du betreibst den Buchhandel und Schreibwarenverkauf nach wie vor, nur jetzt als freier Mann und großzügiger.«

»Ja, großzügiger.« Des Kleinen Augen leuchteten. »Ich habe die meisten Gruben und Zechen in Westfalen und am Niederrhein zur Kundschaft gewonnen. Auch eine eigene kleine Druckerei habe ich mir in der Stadt zugelegt. Nicht nur für Druckaufträge. Ich drucke da eine kleine Zeitung, die über alles, was nur den Bergbau betrifft, zu plaudern weiß, über Mutungen und den Wert von Kuxen, über die Stärke der Kohlenflöze und die Menge und Güte des vorgefundenen Eisenerzes, über lohnenden und unlohnenden Abbau und über die Gewinnmöglichkeiten in Zahlen ausgedrückt.«

»Und die Zeitung findet Abnehmer?«

»Ich schicke sie mit der Post ins Land hinaus an alle, die ihr Geld in bergwerklichen Dingen anlegen möchten oder sonstwie mit dem Geldbeutel schon daran beteiligt sind.«

»Donner noch einmal, da bist du ja für die Zechenbesitzer und Grubenherren der reine Wettermacher?«

»Bin ich auch.« lachte der Kleine, »und sie bitten oft genug um gut Wetter. Ich spür's an den Aufträgen.«

»Mensch, da sieh nur zu, daß du nicht mal durch die zehn Gebote hindurchflitschest. Nein, für mich war das nichts.«

»Glaub ich dir, Fritz. Aber wegen der zehn Gebote kannst du dich beruhigen. Nur muß man auch mal Milde walten lassen.«

»Oder fünf gerade sein. Nee, das war kein Geschäft für mich. Aber das mußt du wissen.«

Mathilde Schlechtendahl hatte sich erhoben. Ihr Röckchen wippte durch das Zimmer mit dem übergebogenen Bänderhut um die Wette. Sie war wirklich schlank und zierlich wie eine Bachstelze. Sie bedankte sich bei Frau Margarete für die gütige Aufnahme, und Frau Margarete lud sie freundlich ein, ihren Besuch nach Gefallen zu wiederholen.

»Der hast du's gründlich gegeben, Fritz,« lobte Amalie, als der Besuch draußen war.

»Ich fand es einer jungen Dame gegenüber reichlich unverschämt,« ereiferte sich Eberhard. »Sie wußte aber mehr als ihr, das war's, und daß sie mehr auf ihren äußeren Menschen hält als Amalie.«

Mit einem großen, ernsten Blick gebot die Mutter Ruhe. »Ist es vornehm, über Abwesende zu sprechen, die eben erst unsere Gäste waren?« Da trugen Eberhard und Amalie ihren Streit in die Küche hinaus.

An diesem Abend betrachtete Frau Margarete ihren großen Jungen mit noch versonneneren Blicken.

Immer stärker zog der Frühling herauf. Die Blumen stießen vor Erregung mit den Köpfen durch den Boden, und das Menschenblut wurde unruhig und sehnsuchtsvoll und wußte nicht weshalb. Auch Fritz Stoltenkamp wußte es nicht.

Es war an einem Sonnabendmorgen, als er zu einer dringenden geschäftlichen Besprechung nach Ruhrort und Duisburg fahren mußte, und die Mutter schlug ihm zu seiner Überraschung vor, mitzufahren und den Sonntag irgendwo am Rhein mit ihm gemeinsam zu verbringen. »Wir wissen ja gar nicht mehr, wie der Frühling aussieht, Fritz. Großmutter wird uns vertreten.«

Sie benutzten die Post, die nach den Rhein-Ruhr-Häfen führte, und, als der Sohn bald seine Geschäfte erledigt hatte, den Postwagen, der gen Düsseldorf fuhr. Bei dem kleinen Orte Wittlaer stiegen sie aufs Geratewohl aus, ohne auch nur seinen Namen zu kennen. So hatte es die Mutter gewünscht. Und da es Abend war, gingen sie in einem bäuerlichen Gasthof zur Ruhe, um vor Sonnenaufgang im Freien zu sein und das Erwachen des Frühlingstages zu erleben.

Noch dämmerte es kaum, als sie dicht beieinander auf einer Holzbank saßen, in einem wipfelüberdachten und versteckten Winkel, den ein toter Arm des Rheines bildete, vor sich den gewaltigen Strom. Es war so still, daß sie ihren erwartungsvollen Herzschlag hörten. Ein Vogel hob an wie im Traum und brach ab. Ein zweiter, ein dritter. Wieder regte es sich im Blätterdach. Ganz weich begann ein Ton, schwoll an, stärker und stärker, war wie Sehnsucht, wurde zum Jubel, zu hundert, zu tausend Sehnsuchts- und Jubelliedern, die von allen Zweigen gen Himmel drangen. Dort aber fingerte es golden und rot wie eine Feenhand voll Wunderringe, die sich ausstreckt, winkt, lockt und gewährt.

»Mein Gott,« sagte Fritz Stoltenkamp, »wie schön.« Aus dem glitzernden Strome des Rheines sprangen die Fische empor, über den schilfübersponnenen Nebenarm huschten die wilden Enten. Ein Fischreiher ruderte durch die Luft. Und ein wildes Duften kam aus allen Hecken.

In das Jauchzen der Natur klang dünn und hell das Glöckchen einer Kapelle. Noch hatte der letzte Ton nicht ausgeschwungen, als auf der Landstraße fern ein altes, krummes Weiblein erschien, das dem Glockenruf nachhaftete.

»Wie fromm sie ist,« sagte Fritz Stoltenkamp, als die Alte näher hastete. »Sie will die erste in der Kirche sein.«

»Glaubst du, sie wäre frommer als die anderen, weil sie vor den anderen die erste sein will?«

Da lachte Fritz Stoltenkamp leise vor sich hin und meinte: »Sie wird wohl aus ihrer Jugend her mehr auf dem Gewissen haben als die anderen.«

Und Frau Margaretes fröhliches Lachen klang mit hinein.

Dann lehnte sie sich zurück, daß sie des Sohnes Kopf vor sich sah.

»Wie kommt es, Fritz, daß du heute alle die Schönheit um dich erkennst und voll Freude erkennst, von der du nichts wußtest, als das junge Mädchen dich fragte?«

»Wohl, weil du heute bei mir bist, Mutter.«

»Und wenn das junge Mädchen an meiner Stelle hier sähe?«

»Um alles in der Welt nicht, Mutter.«

»Aber sie ist jung und schön und kann, glaube ich, sehr unterhaltend und auch sehr übermütig sein.«

»Gerade deshalb. Weil sie das alles ist. Und weil sie noch viel mehr zu werden verspricht. Ich darf mich doch nicht verlieben?«

»Weshalb darfst du nicht?. Es gehört zur Jugend. Es gleicht vieles aus im Leben.«

»Mutter, was ich erfasse, das erfasse ich ganz. Und was ich liebe, das will ich behalten. Ja, wenn ich nicht das Familienoberhaupt wäre, wie du so oft scherzest, und was doch grimmiger Ernst ist, und nicht der Mitinhaber der Firma Friedrich Stoltenkamp, der eine Lebensaufgabe übernommen hat – ja, dann vielleicht. Dann nähme man's leichter.«

»Nimmst du es schwer, Fritz?« fragte Frau Margarete und horchte in mütterlicher Angst.

»Ich nehme es schwer, weil ich es hoch und heilig nehme. Und ich wüßte mir auf der ganzen Welt nichts Schöneres.«

»Auch kein schönes Mädchen? Hast du wirklich kein Auge dafür? Ach, Fritz, es wäre traurig.«

»Mutter,« sagte Fritz Stoltenkamp, »ich habe so sehr Augen dafür, daß ich vergleiche und vergleiche. Und keine ist wie du, Mutter. Und da ich fasse und behalte, was ich liebe, so erfasse und behalte ich dich ganz, Mutter, denn du liebst mich am meisten und mit mir das Werk. Ach, Mutter, strenge dich nicht an, du wirst mich im Leben nicht los.«

»Wir werden sehen, Fritz,« lächelte sie und hatte Tränen an den Wimpern.

»Wir werden sehen, Mutter.« Und er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter.

Und so saßen sie im wipfelüberdachten, vogellieddurchhallten Versteck, den Rhein, den gewaltigen Strom der Arbeit, im schimmernden Sonntagskleide vor sich, das wilde Blühen um sich her, und hielten ihre Frühlingsfeier.

*

 


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