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18

Wollen wir Pferde nehmen?« fragte er, als sie aus dem Bahnhof herauswaren und den Weg zur Stadt einschlugen. »Wenn wir einen Wagen nehmen, haben wir immer den Kutscher als dritten. Finden Sie nicht auch, daß wir ohne den dritten ganz gut auskommen werden?«

»Ich bin ja im Reiseanzug,« erwiderte sie und ging straff neben ihm her. »Wenn Sie meinen, daß ich darin reiten kann?«

»Sie können im Cowboyanzug reiten, wenn Sie wollen,« sagte er lachend, und Frau Marys Vergleich fiel ihm ein. »Sie brauchen nur im Sattel zu sitzen und sehen gut aus. Außerdem werden wir wohl die einzigen Lebewesen auf dem Schlachtfeld sein.«

»Auf dem Schlachtfeld? Nun höre ich doch, was Sie vorhaben. Bis jetzt haben Sie noch kein Wort von Ihren geheimen Plänen verlauten lassen.«

»Ach,« sagte er, »das ist ja auch so einerlei. Die Hauptsache ist, daß ich Sie bei mir habe.«

Sie fragte nicht, weshalb er sie hergerufen hatte. Sie kam mit keinem Wort auf den Depeschenwechsel des vorigen Tages zurück. Sie tat, als ob es eine alte Verabredung sei, daß sie sich in Gettysburg treffen würden, und als ob sie nun seine weiteren Bestimmungen erwartete. Aber den Kopf hielt sie kerzengerade auf dem schlanken Hals, und in ihren dunklen Augen stand die Freude, den Mann, um den sie sich gesorgt hatte, so frisch anzutreffen.

Und nach einer Weile begann sie:

»Ich hätte ja wirklich erst nach meinem Gepäck sehen müssen, aber Sie warfen ja sofort den Lasso über mich und schleppten mich in die Weltgeschichte. Nun, ich meine, es geht auch ohne den Kutscher.«

»Wie Sie lachen können, Fräulein van Weert!«

»Das tut der frische Morgen. Und die Aussicht auf den Gaul. Und überhaupt.«

»Und überhaupt! Fräulein van Weert, dabei wollen wir bleiben. Das soll die Losung sein. Halt! Hier steht angeschrieben, daß die Blüte der pennsylvanischen Rosse stundenweise zu vermieten sei. Hinein in den Marstall! Ich muß einen milchweißen Zelter haben für dies nachtschwarze Mädchen.«

Zwei Gäule beherbergte der Stall. Sie waren von einem rötlichen Braun, und ihr Fell war struppig und sehnte sich nach dem Striegel. Den Reitlustigen verschlug es nichts. »Sitzen Sie auf, Fräulein van Weert,« gebot Wegherr. »Und im selben Augenblick wird sich der Racker in ein Märchenroß verwandeln. Hören Sie? Der meine wiehert schon wie ein Turnierhengst vor der Brüstung der Prinzessin.«

Er hielt ihr die Hand hin, und sie schwang sich ohne Besinnen in den Sattel. Aber wie ein Ruck war es durch seine Hand gegangen, als sich ihre Sehnen zum Schwunge spannten. Ich wußte es ja, dachte er, in dem Körper sitzt Spannkraft.

Seite an Seite ritten sie im Schritt die Alleen hinan. Und plötzlich stieß das Mädchen einen kurzen Ruf aus, wie die Rauhreiter der Steppe, und im Galopp fegte ihr Gaul dahin, daß Wegherr nur noch die Eisen sah und auf langgestrecktem Rücken ein schlankes Menschenkind, das nichts wußte als reiten, reiten ...

Er setzte seinem Gaul die Fersen ein, und das Tier griff aus und kam in mächtigen Sätzen endlich gegen den Stallgefährten auf.

»Vorwärts, vorwärts!« rief Wegherr, als Gertrud van Weert mit einem Ruck ihr Pferd zum Stehen brachte. »Herrgott, mit Ihnen lohnt es.«

»Ich denke, Sie wollen die Schlachtfelder besichtigen? Hier müssen Sie beginnen.«

»Schlachtfelder her, Schlachtfelder hin! Zügel los und Schenkeldruck!«

»Mein Herr,« rief sie übermütig zurück, »ich habe die Ehre, den größten deutschen Geschichtsforscher auf das größte amerikanische Schlachtfeld aufmerksam zu machen!«

»Es ist wahr,« gab er nach, »die Wissenschaft ist eine strenge Göttin. Aber es gibt ja auch noch andere Göttinnen im Olymp! Wir werden uns bei guter Gelegenheit in andere Dienste schlagen.«

»Damenwahl?« lachte sie. »Dann bitte ich um den nächsten Galopp.«

Er warf die Schultern zurück, daß die Brust sich weitete. Wie ein Abenteurer kam er sich vor, an denen dieses Land so reich gewesen war, wie ein Abenteurer, und neben ihm, auf Pferderücken, das Glück.

»Mein gnädiges Fräulein, ich bin Ihr Partner. Und wenn es über Hecken und Zäune geht – erst recht!«

Da lag das Schlachtfeld, auf dem drei Tage lang die Heere der Nordstaaten gegen die Heere der Südstaaten blutig um die Entscheidung gerungen hatten. Und das meilenweite Gräberfeld hatte sich zu einem Museum gewandelt, das in Hunderten von Denkmälern das Gedächtnis der Lebenden wach halten sollte an die Taten der Väter.

Mit ernst gewordenen Augen ritten sie die Straße, die auf Schritt und Tritt vom Blute gedüngt und von Erinnerungen geheiligt war.

Ein Granitstein wuchtete, wo einst General Reynolds fiel, der Tapfere, der als erster mit seiner Reiterei vorgestürmt war, den vorrückenden Heeresmassen General Lees den Weg zu verlegen. Dort ragte ein Fahnenträger, der Fahnenträger des 13. Massachusetts-Regiments, den hier die Kugel durchbohrte, als er das teure Banner zum Sturmangriff vorantrug, hoch voran. Und wohin das Auge blickte, Denkmäler der Helden, kriegerische Gruppen, Tafeln in Marmor und Erz in unverrückbaren Felsen. Täler und Hügel ein Heldengrab.

Inmitten friedlich der Dorffriedhof. Die müden Knochen alter Ansiedler barg er in seiner Erde, und nie hatte sein Stolz daran gedacht, daß er berühmt werden würde in der Geschichte des Landes wie kein anderer Friedhof vom Atlantischen Meere bis zum Stillen Ozean, daß seine Schollen mit Strömen warmen, jungen Blutes gedüngt werden sollten und an seiner Seite sich, Halt gebietend, der Nationalfriedhof erstrecken würde, in dem die Gebeine von dritthalbtausend Söhnen des Nordens und Südens friedlich beieinander ruhten.

Und wieder reihte sich Denkmal an Denkmal, und sie verhielten ihre Pferde und lasen.

»Hier liegen,« sagte Wegherr ernst, »mehr als tausend Tote, von denen man nicht Name noch Herkunft wußte. Wie manche Mutter, wie manches Mädchen mag daheim gewartet haben, Jahr um Jahr, und ihren stillen Schläfer, von dem keine Kunde mehr kam, lieblos und treulos gescholten haben. Mehr als tausend Tote unbekannt. Als Namenlose verscharrt. Und dabei Helden wie die Kameraden, von denen die Denksteine ruhmredig erzählen. Das ist die Tragik.«

»Wie mancher deutsche Bruder mag unter ihnen sein, der Vater und Mutter jenseits des Ozeans um einen Tod verließ.«

»Ja, Fräulein van Weert, der die Heimat verließ, die nie so hart sein kann wie die Fremde. Aber die Schlachtfelder der ganzen Welt sind von deutschen Knochen bedeckt. Und wo kam je der Lohn von der Fremde? ›Tausend Tote unbekannt.›«

»Es haben viele Deutsche für die amerikanische Freiheit gekämpft. Für das, was Abraham Lincoln die Freiheit nannte.«

»Ganze Regimenter, Fräulein van Weert. Das Armeekorps, das unser Landsmann Karl Schurz befehligte – es war das elfte –, hatte ein deutsches Rückgrat und viele deutsche Offiziere. Wer nennt ihre Namen? Ja, wenn man Sündenböcke suchte, dann waren die Namen gerade gut genug. Aber wie haben sie im Feuer standgehalten, wie sind sie mit dem blanken Bajonett vorgegangen, was haben die wackeren Jungen als Artilleristen geleistet! Ganze Batterien waren deutsch in der Schlacht von Gettysburg, und wenn die Feinde, die Konföderierten, im Sturme die Schanzen nahmen, wehrten sie sich bis auf den letzten Mann und schlugen mit Knüppeln und Feldsteinen den Kerlen noch die Schädel ein. Sie verstehen mich recht. Die Amerikaner, die sich die eingeborenen nennen, haben gefochten wie Löwen, aber die Deutschen haben auch gefochten wie Löwen – und nun zeigen Sie mir das Lesebuch, worin davon ein Wörtchen steht.«

Weiter und weiter ritten sie über das ausgedehnte Schlachtfeld, und die Freude des Historikers kam über Wegherr, als er erklärte:

»Es handelte sich für die Konföderierten darum, ihre eigenen Südstaaten zu entlasten und den Krieg in Feindesland zu tragen. Deshalb schob General Lee seine Heeresmassen über den Potomac vor. Der Befehl über die Bundestruppen wurde General Meade übertragen, dem rechten Mann am rechten Platz. Er folgte dem Gegner und erreichte Gettysburg so früh, daß er sich die festesten Stellungen sichern konnte, bevor General Lee heran war. Dort sehen Sie die Hauptpunkte: den Seminarhügel und den Bogen über Gettysburg hinweg bis drüben zu dem Hügel, Culps Hill, die Standlinie der Konföderierten, und den Friedhofrücken, den die Bundestruppen hielten. Die Konföderierten waren in die Rolle der Angreifer verwiesen. Wenn man die Geschichte der derzeitigen Schlacht aufmerksam studiert, muß man, trotzdem unsere Hinneigung zu den Nordstaaten geht, der Bewunderung voll sein für die Helden des Südens. Sehen Sie, dort liegt der berühmte Pfirsichgarten und dort das Weizenfeld, in denen die Südstaatler die zum Angriff vorrückenden Nordstaatler geradezu abschlachteten. Dort hinten stürmte der General Ewell mit seinen wilden Truppen, die die Tiger von Louisiana hießen, mitten durch das Geschützfeuer hindurch. General Meade, der ruhige Schlichte, der nicht viel Wesens von sich machte, warf ihn am dritten Tage von Culps Hill wieder herunter, ohne daß sein Gegner General Lee davon erfuhr. Der glaubte Meades Truppen geschwächt und plante einen Frontangriff, um Schluß zu machen. Eine furchtbare Kanonade begann das Vorspiel. Eine Batterie der Bundestruppen schwieg nach der anderen. General Lee hielt sie für niedergekämpft und befahl den Angriff. Fünfzehntausend stolze Söhne des Südens rückten vor wie auf dem Paradefeld. Laufschritt wird kommandiert. Die Offiziere sprengen voran. Hinter ihnen flattern die siegreichen Rebellenfahnen. Durch das offene Tal braust der stolze Strom. Jetzt sind sie im Bereich der Kanonen, die sie vernichtet wähnen. Von allen Seiten richten sich die Mäuler der Geschütze ihnen zu. Ein furchtbarer Donnerschlag zerreißt die Stille. Hundert wütende Donner folgen. Klaffende Lücken sind in die Fünfzehntausend gerissen. Todesverachtend schließen sie sich zusammen, stürmen sie mit dem alten, heißanfeuernden Rebellenruf weiter gegen den Friedhof an. Jetzt gelangen sie in den Bereich des Infanteriefeuers, das noch schweigt. ›Mit Kartätschen geladen – Feuer‹ erschallt das Kommando. Und gleichzeitig prasselnde, verheerende Infanteriesalven. Da wälzte sich die Blüte Virginiens in Kot und Blut.

Die große Entscheidung war gefallen, die für die Union entschieden hatte. Wohl zog der unerschrockene General Lee in der Nacht seine Truppen unbehelligt über den Potomac zurück, wohl dauerte der erbitterte Kampf noch ein ganzes Jahr, aber er wurde in Feindesland geführt, das entblößt war vom Notwendigsten, das den letzten Mann und den letzten Gaul gestellt hatte und keinen Ersatz mehr besaß, die Verluste schnell wieder aufzufüllen. Die Würfel des Krieges waren in der dreitägigen Schlacht von Gettysburg gefallen, und ich wollte, man zählte und mäße einmal das deutsche Blut, das hier für den Kitt des amerikanischen Vaterlandes vergossen wurde. Und wo stehen die deutschen Erfolge ausgezeichnet? Der einzige Name Karl Schurz wirkt geradezu wie ein Almosen. Und wo fanden nach all ihren Taten im Krieg und im Frieden die Deutschen Amerikas in den gesetzgeberischen Körperschaften die Vertretung, die ihnen gebührte? Ich meine, es wäre an der Zeit, daß das Märchen vom Aschenbrödel endlich einmal bei dem Kapitel anlangte, in dem Aschenbrödel als schönste der Prinzessinnen auf den Thron erhoben wird.«

Die Pferde waren weitergeschritten. Der Hauptkampfplatz mit der Masse der Denkmäler lag hinter ihnen. Wegherr blickte auf. Und sein Blick strich über die geschmeidige Gestalt seiner Begleiterin hin, die versonnen im Sattel sich wiegte.

»Ja, die Prinzessin,« hob er noch einmal an. »Oft ist sie einem auf Armeslänge nahe, und man gewahrt sie nicht. Aber ich müßte doch noch zehnmal blinder sein als die Hirtenknaben im Märchen, wenn ich sie jetzt nicht gewahrte. Hallo, Fräulein van Weert!«

Sie blickte blitzschnell auf, spürte das Herandrängen seines Pferdes und ließ in selber Sekunde ihrem Gaul die Zügel frei.

»Hallo!« rief sie zurück und jagte über Stock und Stein.

»Ist das Damenwahl?« schrie er in den Wind und ließ den Stallgefährten das Rennen aufnehmen, was er an Atem im Leib hatte.

Nur ihr Lachen flatterte ihm um die Ohren. Dieses glückselige Mädchenlachen, das seine Welt wiedergefunden hatte. Und er jagte ihm nach und dem schlanken, festen Strich auf dem braunen Pferderücken, bis die Gäule klüger waren als ihre Herren, in einen Zuckeltrab verfielen und durch keinen Anreiz mehr aus ihrer Gewohnheit zu bringen waren. Da lenkten sie nebeneinander ein und ritten wie gesetzte Menschen in das Städtchen zurück. Und beide taten sie tiefe Atemzüge und lachten sich aus den Augen an.

»Das hat gut getan,« stieß Gertrud van Weert hervor. »Das war eine Wohltat.«

»Vor mir zu fliehen?«

»Oh, nun wollen Sie eine Schmeichelei. Aber zu reiten verstehen Sie.«

»Ich war Düsseldorfer Ulan. Da hatten wir Jünglinge einen Rittmeister, drei Käse hoch. Aber seine Manegepeitsche war dafür drei Ellen lang. Mit der hieb er den Gäulen, die nicht wollten wie wir, über die Kruppe, und unsere Schenkel kriegten versehentlich einen Teil mit ab. ›Parrrdon,‹ schnarrte er dann, ›auf Pferdekonto buchen.‹ Und wir sorgten bald, daß die Gäule wollten, wie wir wollten.«

Sein Wesen strahlte, und sie ließ ihr Pferd dicht neben dem seinen gehen.

Der Pferdeverleiher zog ein langes Gesicht, als er seine schweißnassen Tiere wieder sah. »Das Vollblut war nicht zu halten,« lachte ihn Wegherr an. »Sie können von Glück sagen, daß unsere unsterbliche Seele keinen Schaden gelitten hat. Alles, was recht ist: ein Teil der ersparten Begräbniskosten gehört Ihnen.«

Für Humor war der Mann auf der Stelle empfänglich. Er lehnte den Mehrbetrag dankend ab. »Gebrochene Beine sind nicht so schlimm wie gebrochene Herzen,« meinte er vergnügt, holte einen Strohbund und rieb seine Gäule damit ab, bis sie dampften.

»Was sind Sie für ein Landsmann?«

»Amerikaner,« erwiderte der Mann verwundert.

»Und Ihre Eltern?«

»O, die. Aus Deutschland. Aus – aus – es ist ein schweres Wort, verstehen Sie, aus der – Pfalz.«

»Wollen wir auf den Schreck eine Zigarre miteinander rauchen, Landsmann?«

Gertrud van Weert stand dabei und sah immer nur Wegherr an. Wie hatte er sich gewandelt in den wenigen Tagen. Wie jung er geworden war. Jünger noch als in den Tagen am Grand Cañon und am Strande von Del Monte.

»Wissen Sie auch, was wir jetzt tun?« fragte Wegherr, als sie in der Richtung nach dem Bahnhof weiterschritten.

»Das weiß ich ganz genau. Ich werde mir aus dem nächsten Bäckerladen ein Brot holen, wenn wir nicht endlich zu Mittag essen.«

»Donnerwetter,« rief er verblüfft. »Sie haben wohl seit gestern abend« –

»Nein, ich habe seit gestern abend nicht.«

»Mein Gott, das sagen Sie jetzt erst? Ja, weshalb in aller Welt haben Sie denn nicht im Eisenbahnzug gefrühstückt?«

Sie wurde verlegen, schlug schnell die Augen nieder und stotterte:

»Ich war – ich war – also,. wenn Sie es wissen wollen: ich hatte Reisefieber.«

Ohne noch ein Wort zu sprechen, hakte er seinen Arm in den ihren und brachte sie in den erstbesten Gasthof. »So. Und nun setzen wir uns mit dem Rücken gegeneinander. Das soll nämlich glänzend auf den Appetit einwirken.«

»Ich fürchte mich nicht. Und wenn ich vor Ihren Augen die ganze Speisekarte herunteresse. Ich bin einfach eine hungrige Reitersfrau und sonst nichts.«

Es freute ihn, daß sie sich so gar nicht zierte. Er bekam selber Hunger. Und dann wurde es eine Viertelstunde still zwischen ihnen.

»Darf ich Ihnen jetzt sagen, was wir tun werden?« fragte er dann, als sie die Servietten niederlegten.

»Jetzt können Sie mir einen Ritt durch die Rocky Mountains vorschlagen, und ich bin wieder dabei.«

»So weit brauchen wir nicht. Nur ein paar Stationen weit mit der Eisenbahn. In das Gebiet der Pennsylvanier Deutschen hinein.«

»Sie wollen die alte Frau aufsuchen?« fragte sie hastig und bog den Oberkörper vor. »Die alte Frau, die Ihnen von Ihrer Mutter geschrieben hat?«

»Wie Sie das behalten haben, Fräulein van Weert.«

»Das ist doch selbstverständlich. Das war doch das Schönste, was uns – was Ihnen begegnet ist. Dieser Gruß, der seit so vielen Jahren auf Sie wartet. Und den wollen Sie sich heute holen? Und ich darf mit?«

»Ich meine,« sagte Wegherr, »ein Muttergruß scheint uns beiden herumgejagten Menschen gerade jetzt gut zu tun.«

Da griff sie über den Tisch und faßte zum erstenmal seine Hand. –

Wie gute Kameraden, die sich wiedergefunden haben, gingen sie nebeneinander dahin und kamen zum Bahnhof und warteten den Kleinzug ab, der gemächlich durch die Felder und Ortschaften bummelte. An jeder Haltestelle stiegen ein paar Menschen ein, stiegen ein paar Menschen aus. Deutsche Rede tönte, mit englischen Worten willkürlich gemischt. Das »Pennsylvania-Dutch«, das sich die biederen Rheinpfälzer, Schwaben und Niederrheinländer seit zwei Jahrhunderten in diesem Lande als Rest der Heimatsprache treu bewahrt und es mit den alten Sitten und Gebräuchen der deutschen Heimat weitergegeben hatten an Kinder und Enkelkinder. Da klang noch das Du in der Rede zwischen Menschen, die sich nie gesehen, wie es einst gebräuchlich gewesen war unter des Ahns Dorfgenossen am Rhein und am Neckar.

Und Wegherr und Gertrud van Weert saßen zwischen den Menschen, als führen sie einen deutschen Grenzstrich entlang, an der holländischen Grenze oder im Elsaß, wo auch die Laute durcheinanderfließen, und ohne daß sie es wußten, waren sie mit ihnen in der Unterhaltung und plauderten und lachten, und es war ihnen ganz heimatlich zu Sinn.

Dann kam der Ort, zu dem sie wollten, und eine Frau stieg mit ihnen aus und zeigte ihnen den Weg zu Mistreß Benders Haus.

Es dunkelte bereits, als sie die Glocke an dem freundlichen Landhaus zogen, das inmitten einer kleinen Gemüsefarm gelegen war. Mit ihren Handtäschchen standen sie wie Kinder, die einen überraschenden Besuch planen, und horchten mit gespannten Gesichtern auf den Schritt, der sich durch den Hausflur näherte. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloß, die Tür öffnete sich, und eine wohlbeleibte Frau bot ihnen guten Abend.

»Frau Bender?« fragte Wegherr. »Sie werden erstaunt sein, daß wir Sie am Abend noch überfallen, aber ich bin der Ernst Wegherr, dem Sie geschrieben haben.«

Die Frau streckte die Hände aus. Sie ergriff Wegherrs Hände und zog ihn ins Haus. »Der Ernst Wegherr!« rief sie, und immer wieder: »der Ernst Wegherr, der kleine Ernst Wegherr. Ist es denn wahr? Nein, was Sie mir für eine Freude machen.«

Sie drehte das elektrische Licht an. Sie betrachtete und betastete ihn von allen Seiten. »Ich hätt' Sie sofort wiedererkannt. Jetzt, im Hellen, seh' ich's erst recht. Gerade so sah der kleine Junge aus. Das Gesicht haben Sie behalten. Männlicher, o Gott, ja, nach so viel Jahren.«

»Ich habe noch eine Begleiterin bei mir, Frau Bender, die von Gettysburg mit herübergekommen ist.« Und er nannte Gertrud van Weerts Namen.

»Aber, Fräulein – nicht wahr, das nehmen Sie mir nicht übel, daß ich erst den Ernst begrüßen mußte. Seine Mutter und ich waren Freundinnen geworden in der langen Pflegezeit. Das kommt so selten, aber das erzähl' ich Ihnen alles nachher. Treten Sie ein. Fräulein van Weert heißen Sie? Sie sind mir herzlich willkommen.«

Und die wohlbeleibte Frau nahm ihnen die Handtäschchen aus den Händen und lief voraus und öffnete die Tür zum besten Zimmer und drehte geschwind alle Lichter des Kronleuchters an.

»So, hier werden Sie zunächst einmal Platz nehmen,« und sie fuhr mit der Hand schnell noch über die Sitze der Polsterstühle, »und nun müssen Sie schon gestatten, daß ich Sie erst einmal gründlich anschaue. Ernst Wegherr – Ernst Wegherr – nein, was der Name doch tut. Wie der im Ohre klingt und im Gedächtnis herumfährt und alte Zeiten herausholt. Die besten Zeiten, wenn sie auch traurig waren, und man die liebe Frau hinschwinden sah, ohne helfen zu können. Aber alle die Gespräche, die sie mit mir führte in den langen, schlaflosen Nächten. Das kam so aus ganz tiefer Seele heraus und war so abgeklärt und erleuchtete einem den Weg, daß man oft selber meinte, man wäre in Pflege, und die liebe, sterbende Frau machte einen erst ganz gesund.«

Sie saß auf ihrem Stuhl, dicht vor ihrem Besuch, und die Hände ruhten in ihrem breiten, mütterlichen Schoß.

»Es freut mich von Herzen,« sagte Ernst Wegherr leise, »daß Sie mir so von meiner Mutter sprechen.«

»Ja,« fuhr sie fort. »Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, daß ich an Sie geschrieben habe. Aber als ich in meiner Zeitung von Ihnen las, die ganze Lebensbeschreibung und alles das, was Sie im Leben erreicht haben, da sah ich das Bild der stillen, lieben Frau vor mir, die immer so fröhlich war, ob's auch allgemach ans Sterben ging. Ich habe viele gepflegt, als ich noch Krankenschwester war, und mitansehen müssen, wie sie Angst hatten und sich gegen das Letzte wehrten. Daher ist mir auch Ihre Mutter so im Gedächtnis geblieben, weil sie nur die eine Sorge hatte, es uns leicht zu machen, die wir um sie herum waren, und uns immer mit fröhlichen Augen zuwinkte, wir sollten keine Leichenbittergesichter machen, denn der Mensch wäre doch nun einmal sterblich, und sie hätte es gut gehabt und mit Bewußtsein nie Böses getan. Das sagte sie mir, und so war sie und so blieb sie bis zu ihrem letzten Stündlein.«

»Ich möchte mir recht viel von meiner Mutter erzählen lassen,« sagte Wegherr. »Ich weiß so wenig von ihr.«

»O,« erwiderte die alte Frau, »Sie kommen mir auch nicht so schnell hier weg. Den ganzen Abend muß ich Ihnen erzählen, und ich könnte Ihnen noch viel länger davon erzählen. Denn sehen Sie, die Jahre in Amerika stehen auf einem anderen Blatt. Was man erlebt hat, äußerlich und innerlich, das ist einem in Amerika, als ob das alles früher gewesen wäre, bevor man hier herüber kam, und das, was folgte, wäre lauter Arbeit gewesen und immer nur Denken von einem Tag in den anderen hinein. Will man eine Freistunde halten und setzt sich Sonntags so recht bequem und betulich in seinen Sessel am Fenster und schaut ins Land, was kommt zu Besuch? Immer nur die Mädchenjahre von drüben und die Krankenschwesterjahre und all die Menschen, die man drüben einmal gern gehabt hat und die einem hier nicht ersetzt worden sind.«

»Aber Sie haben doch Mann und Kinder hier, Frau Bender?« fragte Wegherr.

»Das ist wahr. Wissen Sie, mein Mann war damals Monteur in der großen Fabrik oberhalb der Herzbachstraße, und dann wurde ihm durch Zufall der Werkmeisterposten in einer staatlichen Werkstätte der Vereinigten Staaten angeboten, und wir heirateten und gingen hinüber, wie man eben als junge Leute übers Meer geht, ohne sich groß Gedanken dabei zu machen. Ach ja. Und dann kamen die Kinder, sechs der Reihe nach, und wollten erzogen sein, und als sie soweit flügge waren, flogen sie aus dem elterlichen Nest, wie das in Amerika bei den jungen Leuten nun mal üblich ist, und ich war wieder allein mit meinem Alten, der auch nur Sonntags aus der Stadt herüberkommt, weil er in der Woche, der Nachtschicht wegen, nicht gern seine Maschinen ohne Aufsicht läßt. So ist denn das Leben.«

»Das ist kein leichtes Leben gewesen, Frau Bender.«

»Schwer ist es auch nicht gewesen,« sagte die Frau. »Es ist eben so gewesen, wie das Leben wohl durchschnittlich sein wird, und wenn die Menschen nicht immer glauben, sie müßten gegenüber dem lieben Nächsten eine Extravergünstigung vom lieben Herrgott haben, so läßt es sich schon ertragen. Wenn man sein Auskommen und seinen ruhigen Schlaf hat und in Frieden in die Jahre gekommen ist, so ist das auch was gewesen.«

Und sie strich geruhig die Falten ihres Kleides glatt.

Dann aber schreckte sie auf.

»Das ist aber die Höhe. Da lass' ich Sie sitzen und meinem Geschwätz zuhören, ohne Ihnen zu allererst ein Glas Wein angeboten zu haben. Das war doch zu Haus nicht Mode. Nicht wahr, Herr Wegherr, das war nicht die Mode zu Haus.«

Sie wollte auf und von dannen. Aber Wegherr legte ihr beschwichtigend die Hände auf die Knie und bat sie: »Nachher, Frau Bender, nachher werden wir gern ein Glas Wein mit Ihnen trinken. Aber jetzt möchte ich in dieser schönen Stimmung bei Ihnen sitzen und noch ein wenig von meiner Mutter hören. Dazu brauche ich keinen Wein. Bitte, erzählen Sie.«

Sie nickte ihm mütterlich zu. »Sie sind doch noch, wie Sie als kleiner Junge waren. Man brauchte nur zu erzählen, und Sie saßen mäuschenstill. Das tat Ihre Mutter immer, wenn Sie abends noch auf der Straße spielen wollten. Dann wurden Sie auf ihr Bett gesetzt, und während die Mutter ein ganz neues Märchen zu erzählen anfing, wurden Sie, ohne daß Sie es merkten, in den Nachtkittel gesteckt. Wenn ich daran denke! Was wußte die Frau Märchen zu erzählen, und die meisten mußte sie immer selber erfinden, denn das Märchenbuch reichte längst nicht mehr.«

»Wie schön ist das,« sagte Wegherr. »Jetzt sehe ich mich in Wirklichkeit wieder in ihrem Bette bei ihr sitzen und sehe ihr schmales Gesicht.«

»Sie war eine hübsche Frau,« erzählte die Alte, »auch als sie schon so schmal und blaß geworden war. Ihr schweres Haar machte ihr oft Kopfschmerzen, und dann löste ich es ihr auf und verteilte es über die Kissen. Wie ein Elfchen in einer Muschel saß sie dann.«

»Meine Mutter ...« sagte Wegherr.

»Ich glaube,« meinte die Frau nachdenklich, »es hat wohl nie eine Mutter ihren Jungen so liebgehabt. Ich kann das sagen, weil ich selbst sechs geboren habe und sie alle miteinander liebgehabt habe. Aber das war ganz etwas anderes. Es war keine übertriebene Liebe, die noch in den Unarten etwas Hübsches findet und alles zu drehen und zu deuteln weiß. Es war – wie soll ich das sagen – es war so eine ganze Liebe. Wissen Sie, der ganze Mensch wußte gar nichts Anderes mehr als nur das Kind. Das lag wohl daran, weil sie fühlte, daß sie ihm die Mutterliebe nicht lange genug schenken könnte. Sie hatte ja auch den Arzt gefragt. Und deshalb nahm die Frau schier übermenschliche Kräfte zu Hilfe, um ihrem Jungen in der kurzen Zeit mehr zu geben als andere Mütter in vielen Jahren. Ach, die frohen Augen, die sie machte, wenn Sie so vergnügt plappernd hereingestürmt kamen und zu ihr aufs Bett kletterten. Dann mußten Sie erzählen. Immer der Reihe nach. Wie es auf der Gasse aussähe. Ob die Salamander mit den roten Bäuchen noch im Straßengraben guter Dinge wären. Ob der kleine Ernst einen neuen Freund gefunden und die alten nicht darüber vergessen hätte. Und vor allen Dingen aus der Kinderschule. Denn in die Kinderschule wurden Sie jeden Morgen und jeden Nachmittag zwei Stunden lang geschickt, weil die kranke Frau Sie doch nicht genügend beaufsichtigen konnte.«

»Ja,« nickte Wegherr lächelnd, »jetzt fällt mir auch die Kinderschule ein. Wir lernten Lieder singen und Sprüche aufsagen, und wenn die Sonne schien, mußten wir exerzieren wie kleine Soldaten oder die Mädchen bei den Händen fassen und Reigen mit ihnen spielen. Das war mir als kleinem Jungen immer das Schlimmste: die kleinen Mädchen bei den Händen zu fassen.«

Die alte Frau lachte und strich sich über die arbeitsamen Hände.

»Das weiß ich noch wie heute, Herr Wegherr. Das war eine Scheu bei Ihnen, eine rechte Jungensscheu. Und Ihre Mutter hat zuerst gelacht und dann es Ihnen auszureden versucht. Mein Gott, wie oft, wenn Sie ganz zornig daherkamen und erzählten, die Mädchen wollten immer mit Ihnen nach Hause gehen, und Mädchen wären doch gar keine Freunde, und Sie wollten nur Jungens als Freunde haben, die richtig Indianer spielen könnten und Laubfrösche fangen. Ihre Mutier nahm Sie dann ganz weich in den Arm und schaukelte Sie hin und her, und einmal sagte sie Ihnen: ›Lieber kleiner Ernst, wenn du nun so ganz müde bist vom Indianerspielen und gar keinen Laubfrosch mehr anfassen magst, sind es dann die Jungen, die sich um dich bekümmern? Oder bist du für die Jungen nur der liebe Ernst Wegherr, so lange du mit ihnen herumtollst? Siehst du, dann kommst du zu deiner Mutter und ruhst dich aus und erzählst dir Geschichten mit ihr, bis es dir zu Hause noch viel besser gefällt als auf der Straße und du noch viel lustiger und erfinderischer wirst. Die Mutter ist aber auch einmal ein kleines Mädchen gewesen, und die kleinen Mädchen werden Mütter, und wenn dich eine heiratet, kann es vorkommen, daß du all ihr Leben ihr größter Junge bleibst. Nur sorg, daß du dann all ihr Leben auch ihr liebster Junge bist. Denn Mütter haben viele, viele Sorgen, und die Kinder wissen es nicht!‹ Das sagte damals die Mutter, Herr Wegherr, und an demselben Tage brachten Sie ihr ein kleines Mädchen von der Straße mit herauf.«

»Ich glaubte wohl, jede wäre die richtige.«

»Ja, das glaubten Sie und waren sehr verwundert, als die Mutter sich nicht so freute, wie Sie es erwartet hatten. Denn das Kind war schmutzig und zerzaust wie ein Strolch und hatte einen frechen Mund. In fünf Minuten war sie wieder unten.«

»Es war kein glückverheißender Anfang,« meinte Wegherr, aber seine Gedanken waren anderswo.

Und die alte Frau fuhr fort, und sie wußte Tag und Stunde zu benennen, so frisch blühten ihre Erinnerungen.

»Es war an dem Abend, an dem Ihre Mutter sich viel herumwarf, weil sie sich immer wieder aus dem Schlaf herausdachte. ›Sie müssen nichts darauf geben, Schwester,‹ sagte sie mir, ›aber ich habe ja bald genug Zeit zum Schlafen, und da wollen nun die Gedanken immer den Jungen bei sich haben. Ich kenne ihn genauer als mich selber. Er ist ja auch ein Teil von mir, und der Teil, den ich immer vor Augen habe. Er ist sehr begabt, der Ernst, und gerade eine große Begabung führt oft auf eine einsame Höhe. Da wird ihm viel Liebe vonnöten sein, damit er sich immer schnell wieder ins Leben zurechtfindet und das Leben am schönsten findet und seine Begabung nur als ein Gottesgeschenk ansieht. Darüber mache ich mir meine Gedanken, und ich sorge mich und frage mich: Wer wird ihn liebhaben wie ich, wenn ich einmal tot bin?‹ Darüber sprach sie noch oft mit mir, und es war nichts, was sie so sehr drückte.«

Sie sann nach und wiegte lächelnd den Kopf.

»An was eine Mutter nicht alles denkt. Weihnachten war vorübergegangen, und es war Silvester geworden. Da bäckt man am Niederrhein braune Krapfen, und alle Kinder freuen sich auf das heiße Gebäck. Es ging in den Tagen schnell bergab mit Ihrer Mutter, Herr Wegherr, und sie kämpfte schon stark mit der Atemnot. Aber am Silvesterabend wurde es ohne sichtliche Ursache so arg mit ihrer Unruhe, daß ich schon das Mädchen schleunigst nach dem Arzt schicken wollte. Das merkte sie und schüttelte den Kopf und winkte mir mit den Augen. Als ich mich über sie beugte, flüsterte sie mit ihrem bißchen Atem: ›Es ist ja nur wegen des Ernst. Das Mädchen hat keine Ahnung vom Krapfenbacken, und der Ernst geht mit seiner gespannten Erwartung leer aus. Kinder empfinden so etwas immer sehr schwer.‹

»Das also war der Grund, weshalb ihr Zustand sich zu verschlimmern schien. Die Sorge, daß der kleine Ernst wegen der paar Krapfen ein schweres Kinderherzchen kriegen könnte. ›Na,‹ sagte ich, ›wenn Sie mir versprechen, jetzt mollig und friedlich in Ihren Kissen zu liegen, sollen die Krapfen fertig sein, bevor der Ernst ins Bett geht. Soviel verstehe ich auch noch davon.‹ Und als ich nach einer halben Stunde aus der Küche kam, schlief sie mit einem so seligen Ausdruck, als wär' sie mitten im Lächeln eingeschlafen.«

»Und mußte sterben ...« sagte Ernst Wegherr und tat einen tiefen Atemzug.

»Ja, Herr Wegherr, das mußte sie. Das ist eine der Unbegreiflichkeiten des Himmels, die wir Menschen nie verstehen lernen werden. Da gibt es tausend Menschen, denen es eine Wohltat wäre, hinweggenommen zu werden, und Tausende, die mit ihrem Tod ihrer ganzen Umgebung eine Wohltat erweisen würden. Nein, gerade der Mensch muß dahin, der noch so viel Liebe zu geben hat und den wir meinen gar nicht missen zu können. Aber es hat keinen Zweck, darüber nachzugrübeln oder dagegen aufzutrumpfen. Der über den Wolken ist stärker als wir und geht seinen Weg.«

»Nun sagen Sie es mir,« bat Wegherr und legte die Hände ineinander.

»Wie sie starb?« fragte die alte Frau. »Sie starb so ganz anders als andere Menschen. Sie starb leicht und doch wieder nicht leicht. Sie hätte immer gern noch Abschied genommen, um zu trösten und es die anderen nicht merken zu lassen, daß sie inzwischen hinüberging. Das war in den ersten Tagen des neuen Jahres. Ihr Zustand war wie immer, und Ihr Vater hatte noch in der Fabrik zu tun, die gerade viele Aufträge hatte. Sie waren zu Bett gebracht worden und schliefen schon im Nebenzimmer, als sich Ihre Mutter plötzlich jäh aufrichtete und mit den Händen suchte. Ich war sofort bei ihr und sah an ihren verstörten Augen, daß es ein furchtbarer Anfall von Atemnot war. Ich hielt sie fest in den Armen und schaffte ihr Erleichterung, so viel ich konnte. Und das bißchen Atem, das sie noch hatte, nahm sie gewaltsam zusammen und flüsterte: ›Mein Mann. Der Junge.‹ Es wurde einen Augenblick besser mit ihr, daß sie wieder in den Kissen liegen konnte, und ich riß rasch die Fenster auf, damit die frische Luft ihr Erleichterung bringen sollte, jagte das Dienstmädchen in die Fabrik zu Ihrem Vater und weiter zum Arzt und lief selber ins Nebenzimmer und holte Sie aus dem Bettchen. Als ich Sie auf dem Arm hereintrug, trieb die Zugluft die Gardine zum Fenster hinaus. Und der kleine Junge, der nicht wußte, worum es sich handelte, krähte vergnügt: ›Hurra, Mutter, es ist Schützenfest! Die Fahnen sind zum Fenster hinaus!‹ Da hat Ihre Mutter zum letztenmal in ihrem Leben gelacht und die Arme ganz weit gemacht und Sie hineingenommen.«

Die alte Frau schwieg. Ihre Hände strichen das glatt über den Knien liegende Kleid immer noch glatter.

»Ja, und dann kam das Letzte, und ich sah es kommen und griff schnell nach dem Kind. Und sie hielt es fest und küßte es über das ganze Köpfchen hin und konnte doch nichts mehr sagen, als ›mein Junge – mein Junge!‹ Dann hatte sie die letzte Kraft vertan, und ich trug Sie schnell wieder ins Nebenzimmer in Ihr Bettchen und machte die Tür zu und sprang der Sterbenden bei. Da lag sie denn ganz still in meinen Armen und wartete auf den Mann, der totenblaß die Treppe heraufgestürzt kam, und als er in das Zimmer trat, sah sie ihn dankbar an und legte den Kopf an meine Brust und ging hinüber.«

Und nach einer Weile, während sie alle still im Kreise saßen, sagte die Alte:

»Als ich Ihren Namen in meiner Zeitung las und von den vielen Ehrungen, die Sie überall in Amerika gefunden haben, da dachte ich mir: Wenn das wirklich der kleine Ernst Wegherr aus der Herzbachstraße ist, dann wird ihm mein Geschwätz wohl auch so viel bedeuten wie eine Ehrung, und es ist doch immer so was wie ein Gruß von der Mutter, der ihm in Amerika geboten wird. Und das können die anderen nicht.«

»Nein,« sagte Ernst Wegherr und ergriff ihre Hände, »das konnten die anderen nicht. Es klingt vielleicht merkwürdig in diesem Augenblick, aber Sie haben mich sehr glücklich gemacht.«

»Dann ist es gut,« erwiderte die alte Frau, schüttelte seine Hände und erhob sich. »Und wenn wir jetzt ein Glas Wein trinken, ist die liebe Frau auch dabei.«

Sie ging zur Tür und blieb noch einmal versonnen stehen.

»Wie mag es jetzt wohl da drüben aussehen ... Was man so gern noch einmal wiedersehen möchte, das sind nicht die Menschen, dazu ist man zu alt geworden, das sind die Gräber, die mit einem jung bleiben. Ich möchte wohl das Grab Ihrer Mutter einmal wiedersehen.«

»Ich möchte es selber wiedersehen,« sagte Ernst Wegherr wie zu sich selber, »aber ich werde die Schläferin enttäuschen. Trotz ihrer Liebe, die sie mir mit auf den Weg gab und die doch wieder Liebe zeugen sollte, komme ich mit leeren Händen.«

Die alte Frau war hinausgegangen. Und plötzlich erhob sich Gertrud van Weert, mit zuckendem Gesicht und mit fliegenden Händen.

»Das ist nicht wahr, was Sie da gesagt haben. Das ist nicht wahr, und Sie wissen es selber, daß es nicht wahr ist.«

»Was ist nicht wahr?«

»Daß Sie mit leeren Händen kommen. Daß man Ihnen keine Liebe geschenkt hat. Meinen Sie denn, weil ich während des ganzen Abends kein Wort gesprochen habe, die Erzählung der alten Frau wäre spurlos an mir vorübergegangen? Ich will nicht, daß Ihre Mutter im Grabe glauben soll, kein Mensch bekümmere sich viel um das, was in Ihnen vorginge. Sie wissen, daß ich mich darum bekümmert habe, und deshalb dürfen Sie auch nicht von leeren Händen sprechen.«

Sie wußte nicht, was sie sprach. Aber sie wußte, daß sie es aussprechen mußte, um ihrer eigenen Mädchenwürde willen. Und Wegherr sah, wie alles an ihrem schlanken Körper flog und wie der letzte Blutstropfen aus ihrem Gesicht gewichen war, und erhob sich wie sie und stand ihr gegenüber.

»Ich habe leere Hände,« sagte er.

»Nein! Wäre das wahr, dann müßten die meinen auch leer sein. Und ich bin reich geworden in der Zeit.«

»Durch – mich?«

»Ja! Durch Sie!«

»Ist das wahr und wahrhaftig so, Gertrud van Weert? Täuschen Sie sich nicht?«

»Ich kann es nicht zum zweiten Male sagen.«

»Ich glaube,« murmelte er, »die Reihe ist wohl auch längst an mir.« Und er tat einen Schritt auf sie zu und nahm sie in die Arme.

»Siehst du, nun erst habe ich keine leeren Hände mehr.«

Ihr Körper spannte sich in seinem Arm; er bäumte sich auf und warf sich zurück.

»Willst du schon wieder von dannen?« fragte er. »Will das Köpfchen nicht für das aufkommen, was das Herz ausgeplaudert hat? Nun, dann muß ich mich wohl zunächst an das Herz wenden.«

Und er beugte sich hinab und küßte sie, wo er ihr Herz schlagen hörte.

»Willst du mir gehören und nicht mehr von mir lassen im Leben und im Sterben, du liebes Herz?«

Da nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände und richtete es auf und sah ihm lange in die Augen. Und mit weitgeöffneten Augen küßte sie ihn auf den Mund.

»Ich habe dich lieb, Ernst, lieb ... Mehr weiß ich nicht.«

»So lieb wie ich dich? Weißt du wenigstens das?«

»Ich weiß, daß ich nichts bin und nichts habe. Aber ich weiß auch, daß keine Frau auf der Welt dich so liebhaben kann und dich so liebhaben wird wie ich.«

»So lieb willst du mich haben?«

»Ja, ja,« rief sie und hielt immer noch sein Gesicht in ihren Händen, »so lieb will ich dich haben.«

Und dann war sie in seinen Armen verstrickt, daß sie sich nicht mehr regen konnte und alles über sich ergehen lassen mußte.

»Mädchen, ich wußte es ja schon, ohne es zu wissen, als ich dich in dem einsamen Wirtshaus am Grand Cañon so süß und ergeben in den Kissen liegen sah.«

»Ernst,« lachte sie glückselig.

»Und in Del Monte und draußen an der Bucht von San Franzisko, das Heimweh, das mich da zuweilen packte, das wollte nach dir!«

»Ernst! Ich bin ja bei dir.«

»Und als wir nach Alaska wollten, zu Jans Grab, und später auf der langen, langen Fahrt, Tage und Nächte quer durch Amerika bis nach Neuyork – Mädchen, da hab' ich es immer stärker gespürt, daß wir zusammen gehörten und die Fahrt kein Ende nehmen dürfte.«

»Du sagst alles, Ernst, was ich sagen könnte.«

»Und in Neuyork wollte ich dich fragen. Nach dem Weihnachtsabend draußen an der Battery glaubte ich es zu dürfen. Aber der nächste Tag mit Will Finkler wirkte so nüchtern und niederstimmend, und dann kam die Unruhe und der Zwischenfall mit meiner Frau.«

»Ernst,« sagte sie, »sie ist ja gar nicht deine Frau und ist es nie gewesen. Nur eine ist deine Frau, und das bin ich.«

»Kein Wort mehr, oder ich press' dich in meinen Armen tot.«

»Tu's nicht, oder du betrügst dich!«

»Nein,« lachte er, »ich betrüge mich nicht. Ich fühl' doch, was ich hier in den Armen halte. Mein Gott, wie lieb kann doch so ein Mädchen sein, so ein schönes, schlankes Mädchen, das nun mit Leib und Seele mir gehört.«

»Mit Leib und Seele,« wiederholte sie ernst.

Dann saßen sie dicht beieinander, und die Hände suchten sich und hielten sich Finger um Finger fest, und sie sprachen von der Heimat, die sie sich aufbauen wollten drüben in Deutschland, und während sie sprachen, war ihnen, als hörten sie in der Ferne das Raunen des Rheins, der seine Kinder rief.

»Und doch,« sagte Wegherr, »konntest du mich quälen und dich weigern, mit mir zum Wuppermannschen Hause zu reisen.«

»O du großer, blinder Junge,« antwortete sie und drückte seine Hand fester. »Sie hätten es mir ja sofort angesehen, wie es um mich stand, und nur du hättest es nicht gesehen, und ich wäre vor Scham gestorben.«

Er blickte ins Zimmer, als ob er noch eine Dritte anwesend wüßte.

»Ich bin nie heimisch in Frauenherzen geworden. Das hat wohl schon die Mutter geahnt, als sie mir von den Mädchen und den Müttern sprach. Aber jetzt bin ich es geworden.«

Durch die Zimmertür kam die wohlbeleibte alte Frau. Sie hatte eine weiße Schürze vorgebunden und rieb sich die vom Herdfeuer geröteten Hände.

»Es hat ein wenig lange gedauert,« entschuldigte sie sich, »aber ich habe nur schnell Ihre Zimmer fertig gemacht und das Abendessen auf den Herd gebracht. Denn zuletzt wohnen Sie bei mir immer noch besser als im Gasthaus. Nicht wahr, diese große Freude tun Sie mir an.«

Ernst Wegherr trat auf sie zu und legte ihr beide Hände auf die Schultern.

»Uns ist es eine Freude, uns, uns! Sie glauben ja gar nicht, wie glücklich wir uns hier fühlen.«

»Nein, nein,« wehrte die alte Frau, »so viel Wesens dürfen Sie von dem bißchen Gastfreundschaft nicht machen.«

»Ein bißchen Gastfreundschaft nennen Sie das? Eine ganze Heimat ist es. Da haben Sie von der Mutter erzählt und ihrer Sorge um ihren Jungen und ihrer ängstlichen Frage: ›Wer wird ihn liebhaben wie ich, wenn ich einmal tot bin?‹ Und wie Sie mir die Grüße der Mutter brachten, hier im fernen Amerika, so hat das Mädchen hier im fernen Amerika der Mutter die Antwort auf ihre Frage gegeben und ist hier in Ihrem Hause aufgestanden und hat gesagt: ›Ich will ihn so liebhaben wie du, so lange ich lebe.›«

Und Gertrud van Weert trat herzu und nahm die alte Frau in ihre jungen Arme, wie es nur Frauen vermögen.


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