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9

Wegherrs Ruf war vorausgeeilt nach Chicago, der Millionenstadt. Die deutschen Zeitungen des Landes hatten in starker Anteilnahme die Reise des deutschen Forschers verfolgt und mit Stolz auf die Begeisterung hingewiesen, die das amerikanische Deutschtum allerorts aufgeboten hatte und die als Sinnbild zu nehmen sei für die ihm innewohnende Kraft und Bedeutung. Selbst die rein amerikanischen Zeitungen konnten nicht umhin, den Gedankengängen des Mannes, der mit klarem Blick die großartigen Züge des Amerikaners altenglischer Herkunft zu erfassen und als Beispiel hinzustellen wußte, volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Mit großer Auszeichnung nahm man den Forscher und Lehrer des Volkes in Chicago auf, und Wegherr stand mit freudigem Staunen vor dem Weltwunder, das unüberwindliches Menschenwollen aus dem Nichts hervorgerufen hatte, der Stadt, die der amerikanische Genius in nicht viel mehr als fünfzig Jahren aus einem kleinen Indianerfort zur Zweimillionenstadt emporgetrieben hatte. Die Zahl der Deutschen aber überstieg um das Doppelte die der eingeborenen Amerikaner.

Die zweite Stadt Amerikas ging nun daran, eine neue Stufe zu erklimmen, den scharfen Handelssinn der Bevölkerung durch verstärkte Hinzuziehung der Wissenschaften zu läutern und zu heben, der Universität eine weithin sichtbare Stellung zu verleihen und einer verfeinerten Lebensführung die Wege zu ebnen. Das war nicht so schnell zu bewerkstelligen, als eine Stadt zu erbauen oder die neueste Pariser Mode in Chicago schon auf allen Straßen zu tragen, wenn sie sich auf den Pariser Boulevards erst schüchtern hervorwagte. Aber Wegherr empfand, daß auch dieser Schritt der wundersüchtigen Stadt gelingen würde, als er sich als Gast im Kreise der Chicagoer Universitätsgelehrten befand und auf eine Fülle bedeutender Männer stieß. Und seine Ausführungen zu einem germanischen Kulturbündnis in Amerika wurden mit um so lebhafterem Interesse angehört und durch anschwellenden Beifall ausgezeichnet, als gerade diese Stadt die Mischung der Rassen nicht in vielen Einzelheiten, sondern in massigen Zahlen aufzuweisen hatte. War doch Chicago erfüllt von mehr als vierzig Sprachen.

Schnell war Wegherr in die tonangebenden Gesellschaftskreise hineingezogen. Er fühlte es wohl, seine Tagesberühmtheit war sein Freipaß, und man stellte ihn aus, wie man ein teures Gemälde, einen seltenen Ring oder ein altes Perlenhalsband den Gästen vorzuzeigen pflegt. Er lachte darüber, nahm auch dieses Gebiet als Studienfeld und vergaß darüber nicht seine Streifzüge, die ihn bis in die tiefsten Volksschichten führten und wiederum auf die Höhen wagemutigsten und erfinderischsten Menschengeistes, von der Schaffung kunstsinniger Maschinen bis zur Fleischverarbeitung der ungeheuren Schlachthäuser und der Getreidebehandlung in den Riesenelevatoren des Hafenviertels.

Als er nach einer Vorlesung das Podium verlassen wollte, winkte ihm ein junges Mädchen bittend zu, das einen erblindeten Greis an der Hand führte. Schnell ging er dem Paar entgegen und begrüßte es.

Der Blinde hob den Kopf. Das lange weiße Haar fiel ihm wie einem Barden der Vorzeit auf die Schultern. Der Rock war nach altem Schnitt.

»Mein Herr,« sagte er und hielt Wegherrs Hand in der seinen, »ich zähle 88 Jahre und lebe fast seit 70 Jahren in einem Dorfe Wisconsins. Meine Urenkelin hier,« und er betastete sanft den Scheitel des Mädchens, »las mir aus den Zeitungen vor, daß Sie aus Deutschland gekommen seien und den Menschen von der neuen Größe und Macht der alten Heimat erzählten. Das mußte ich hören, denn das hatte auch ich einmal angestrebt. In Baden war es, im Jahre 1849, und wir wurden bei Waghäusel geschlagen, und unsere gute Festung Rastatt mußte sich ergeben, und ich und andere Leidensgefährten flüchteten über die Schweizer Grenze, durch Frankreich nach England und trugen unsere Trauer nach Amerika. Hier sind wir geblieben mit unserem Traum, der nach vielen Jahren erst Erfüllung wurde und ohne daß wir alten Kämpfer es mit ansehen durften. Es sind ihrer nicht mehr viele, mein Herr. Und die noch übrig sind, wollen schlafen gehen, wie meine Augen schon schlafen gegangen sind. Da las mir das Mädchen hier Ihre Worte, die Sie im Staate Wisconsin, in Madison und Milwaukee gesprochen haben. Und ich habe noch einmal eine Reise getan und bin Ihnen nachgefahren, an die 80 Meilen weit, um es doch einmal durch mein Gehör als Wahrheit zu erleben, was ich als Jüngling in der fernen Heimat Baden so heiß und unerfüllt geträumt hatte. Nehmen Sie den Dank eines alten Achtundvierzigers, mein Herr. Ich sehe Sie trotz meiner Blindheit. Ich sehe Sie durch den Druck meiner Hand. Sieh auch du, Eveline; so sieht der in Erfüllung gegangene Traum deines Urgroßvaters aus.«

Ernst Wegherr stand bewegt vor dem Zeugen einer vergangenen Zeit. Er bemerkte nicht die Menschen, die sich um sie gesammelt hatten, sein historisches Gewissen fragte nicht nach Recht oder Unrecht der Kämpfer jener längst überholten Tage, er sah nur den blinden Greis, der noch die Haartracht und den Kleiderschnitt trug wie als begeisterter Jüngling, der achtzig Meilen gereist war, um sich noch einmal in Deutschland zu fühlen.

Und Wegherr war es, als verkörperte dieser blinde Greis die geheime Sehnsucht der Deutschen in der Fremde, die Sehnsucht, die nach der alten Heimat schweift und greift und nicht auszulöschen ist durch das längste Leben.

»Mein Herr,« entgegnete er, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen für die große Freude dieses Augenblickes danken soll, Ihnen und dem Fräulein.«

Des Greises Züge spannten sich. Er horchte auf.

»Das,« sagte er, »das gibt mir Mut zu einer Bitte. Suchen Sie nicht nur die großen Städte auf. Kommen Sie auch hinaus, zu den Leuten auf dem Lande, die nicht zu Ihnen kommen können. Vergessen Sie alle die deutschen Dörfer in Wisconsin und Michigan nicht. Bringen Sie den deutschen Bauern einen Gruß aus Deutschland. Die Leute werden lange, lange davon leben."

Er drückte Wegherr noch einmal die Hand, tastete nach dem Arm seiner Urenkelin und ließ sich hinausführen.

Versonnen saß Wegherr am Abend an der Tafel eines eingeborenen reichen Amerikaners. Es war ein großer Prunk entfaltet an Silber, Kristall und üppigem Blumenschmuck, und die weißen Schultern der Damen hoben sich aus traumhaften Gewändern, die erst vor Wochen aus Pariser Künstlerhänden hervorgegangen waren.

Der Haushofmeister leitete mit kaum sichtbaren Zeichen die Schar der Diener. Es war der Zuschnitt altfranzösischer Aristokratie, mit einigen bunteren amerikanischen Zutaten.

Neben Wegherr sah eine zierliche Amerikanerin. Alles an ihr war edel geformt und zeugte von der verfeinerten Körperkultur der Dame von Welt. Der Kopf mit der reichen Haarwelle saß auf schlankem Halse, dessen letzte Linien zu einem feinen, schwellenden Akkorde zusammenliefen, der weiße Nacken war von zarter Rundung, und auf den Händen lag ein rosafarbener Hauch. Unter den halbgeschlossenen Augenlidern blitzte es immer wieder auf, in Spannung, Lebensdrang, versteckter Neugier. Nun wandte sie den Kopf und blickte ihrem Nachbar sekundenlang voll in die Augen.

»Denken Sie immer noch an den merkwürdigen alten Gentleman, Mr. Wegherr?« fragte sie in englischer Sprache.

Wegherr fuhr aus seinen Gedanken auf. Er hatte seine Nachbarin noch gar nicht beachtet, und sie saßen schon so lange bei Tisch.

Bewundernd sah er sie an, und sie senkte ruhig die langen Wimpern.

»Ich glaube gar,« meinte sie kühl, »Sie bemerken mich erst jetzt und geben dem merkwürdigen alten Gentleman immer noch den Vorzug.«

»Sahen Sie ihn auch?« fragte er und wußte nicht recht, was er fragte.

»O ja. Ich stand so dicht hinter ihm und so dicht vor Ihnen, daß ich nicht einmal zu entscheiden weiß, ob der alte Mann aus Wisconsin oder der berühmte Forscher aus Deutschland der – Blinde war.«

»Sie haben scharfe Augen,« gab er belustigt lachend zu.

»Schade, daß ich das nicht von Ihnen sagen kann.«

»Schade?«

Er zog die Brauen zusammen und erfaßte einen ihrer blitzartigen Seitenblicke.

»Wollen Sie damit andeuten, mein Fräulein, daß Ihnen meine Unaufmerksamkeit leid ist?«

»In der Tat. Aber nur Ihretwegen.«

Nun ging er auf ihren Ton ein.

»Ich kann ja nachholen, mein Fräulein. Also zunächst bin ich durchaus nicht mehr blind. Soll ich Ihnen verraten, was ich plötzlich sehe?«

»Wenn Sie es durchaus nicht für sich behalten können?«

»O, ich bin sicher, daß Sie es nicht weitersagen werden. Wollen Sie es hören?«

»Ich will alles hören, was nicht langweilig ist und mich davon überzeugt, daß ich lebe. Also, was sehen Sie?«

»Ich sehe,« sagte Wegherr langsam, »das schönste Mädchen Amerikas in heißem Bemühen, einen müden Fremdling vor seinen Triumphwagen zu spannen.«

»Erstens bin ich nicht das schönste Mädchen Amerikas.«

»Doch. Jetzt sehe ich es ganz deutlich. Und Sie wissen es selber.«

»Wenn es so wäre, gäbe es keinen müden Fremdling, sondern nur einen sehr fröhlichen. Das können Sie aber von sich nicht behaupten.«

»Die Erfahrung lehrt, daß es sich besser auf dem Kutschbock sitzen als im Geschirr laufen läßt.«

»Ah,« machte sie, »Sie haben Erfahrungen?« Und wieder blitzte der Blick herüber. »Da muß ich leider zurückstehen.«

»Sie belieben, schalkhafter Laune zu sein, mein Fräulein. Freilich, Schönheit und Anmut geben zu allem das Recht.«

»Dann möchte ich ein Engel an Schönheit und – und – ein Teufel an Anmut sein, um den Engel wachzuhalten.«

»Ihr Wunsch ist bereits erfüllt, mein Fräulein, und ich freue mich, in diesem Fall ein Mensch zu sein, der dem Kampfe der Über- und Unterirdischen in ungeheuchelter Bewunderung zuschauen darf.«

»Ist das alles, was man von einem Manne verlangen darf, der die Welt mit seinem Ruf erfüllt?«

»Lassen Sie Engel und Teufel und kehren Sie zur Erde zurück, auf der die Männer sich befinden. Ich befürchte, daß Sie dort sehr viel verlangen können.«

»Sie fürchten?«

»Nicht für mich. Sie hörten doch, daß ich nichts als ein müder Fremdling bin.«

Da lachte sie ein leise klingendes Lachen. Das klang wie Glöckchen aus der weißen Brust. Und die Augen lachten mit.

»Welch ein Flirt! Sie müde? Und reißen tausend müde gearbeitete Männer aus Chicago zum frischen Leben fort und einen Greis aus Wisconsin in seine Jugend? Nun ja, die Sprache ist dazu da, um die Gedanken zu verbergen, sagte der große Franzose Talleyrand.«

»Er war nicht groß als Franzose, er war nur groß als Wetterfahne, die sich nach dem Winde stellt und das einen Witz nennt.«

»Wie boshaft. Ist es nicht lustiger, mit dem Sturme herumzufahren, als auf dem Rücken zu liegen?«

»Mit dem Sturm einherzufahren! Noch besser vor ihm her, als Wegweiser. Mit dem Sturme herum? Das geht im Kreise, und wir sind zum Schlusse wieder da, wo wir angefangen haben. Nur zerzaust und atemlos. O ja, so ein rechter Sturm.«

»Lieben Sie ihn? Ich spüre, daß Sie es können.«

»Lieben?«

Die Tafel ging zu Ende. Der Hausherr erhob sich und hielt eine kurze, englische Rede auf den Gast. Die Diener hatten die Champagnerkelche herumgereicht. Nun läuteten die Gläser rings um den Tisch.

Wegherr hatte dankend sein Glas geleert. Ein Diener füllte es aufs neue.

»Wollen Sie nicht auch mit mir anstoßen, Mr. Wegherr?« fragte es neben ihm. »Auf etwas besonders Gutes und – Wünschenswertes?«

»Was könnte das sein, mein Fräulein?«

Sie sah ihn an, und er sah ihre roten Lippen. Wie rot sie waren. Rote Frauenlippen. Ihm fast zum fernen Märchen geworden.

»Auf ein Wiedersehen, Mr. Wegherr. Auf ein recht baldiges und recht frohes Wiedersehen.«

»Ich werde kaum nach Chicago zurückkehren. Morgen schon geht es nach St. Louis weiter. Und von dort wieder weiter.«

»Nach Osten, Westen, Norden oder Süden?«

»Nach Norden zurück. Ich will die deutschen Bauern in Wisconsin und Michigan besuchen. Der blinde Alte hatte Recht, mich darum zu bitten.«

»Habe ich weniger Recht als der merkwürdige alte Gentleman? Nur weil ich so lange nach ihm und in einer viel weniger merkwürdigen Zeit geboren bin?«

»Mein Fräulein,« sagte Wegherr ernst, »ich soll den Leuten Grüße bringen von dem Lande ihrer geheimen Sehnsucht.«

»Mir auch.«

Ihre Blicke begegneten sich, hielten sich fest, bis sie beide lachten. Aber es war ein anderer, fremder Ton in dem Lachen, der noch fortklang, als die Tafel aufgehoben wurde und Wegherr seiner Tischdame den Arm reichte.

»Ich werde Ihnen schreiben. Nach St. Louis oder sonstwohin. Wenn Sie wieder nördlich gehen, berühren Sie Chicago und können Ihren Freunden einen Abend schenken. Sie werden eine amerikanische Dame nicht hinter einem deutschen Bauern zurückstellen.«

»Und wie wird der Brief unterschrieben sein?«

»Ach so, Sie wissen nicht einmal meinen Namen. Ich heiße Winifred Star, aber es genügt, wenn Sie sich Winifred merken, denn mehr wird nicht unter dem Briefe stehen.«

Der Hausherr rief ihn an. Sie neigte mit freundlicher Höflichkeit den schönen Kopf, als er sich mit einer Verneigung verabschiedete.

Noch einmal sah er sie an diesem Abend. Durch die geöffnete Tür des Rauchzimmers, in dem sich die Herren zu einem Sodawhisky versammelt hatten. Sie saß bequem zurückgelehnt in einem Sessel zwischen den Damen, zwanglos die Knie gekreuzt, eine Zigarette zwischen den Lippen. Er betrachtete sie, wie ein Künstler ein köstliches Pastell betrachtet.

Jetzt gewahrte sie seinen Blick. Kein Zug in ihrem Gesicht bewegte sich. Aber wie unbeabsichtigt nahm sie mit den Fingerspitzen die Zigarette von den Lippen und winkte ihm mit dem glimmenden Feuer unbemerkt zu. Einmal und noch einmal. Das war wie ein gemeinsames Geheimnis. Und doch ungreifbar. Nein, sie hatten kein Geheimnis, und er – er wünschte keins.

So also sieht ein amerikanischer Flirt aus, dachte er, als er anderen Tags die Prärien von Illinois durchfuhr und dem Vater der Ströme, dem Mississippi, zustrebte. Das mag für den einen Teil außerordentlich unterhaltend sein, kaum für den anderen Teil. Und der andere Teil wäre ich.

Er blickte über die Prärielandschaft dahin, aus der sich plötzlich Städte erhoben, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden, und sah doch immer nur eins: eine feingliedrige Gestalt und ein Köpfchen auf schlankem Halse.

»Wem ähnelt sie doch?« fragte er sich. »Da ist doch eine Ähnlichkeit, die mich fesselt. Sonst wäre es doch nicht möglich.« Und als er ganz scharf die Gestalt beschwor, wußte er es: Gertrud van Weert.

Er sprach den Namen laut vor sich hin, horchte hinter ihm her und schüttelte den Kopf. »Welch ein Gedanke.«

Aber er blieb doch bei dem Spiel, die beiden Frauengestalten nebeneinander zu stellen und sie zu vergleichen und in ihren Bewegungen zu belauschen. Und er fand bei der einen kühn, was er bei der anderen keusch fand, und was bei dieser kühn war, fehlte der anderen: die Frauenseele.

Fehlte sie der Amerikanerin? Was wußte er von Winifreds Seele? Nach einem einzigen Beisammensein. Nun, die Seele Gertrud van Weerts hatte nach kurzen Stunden der Unterhaltung klar vor ihm gelegen. Was aber ging ihn Gertrud van Weerts Seele an? Wie kam er dazu, sie herbeizurufen? Am Weihnachts- und Neujahrstage hatte er des lieben Mädchens gedacht und eine knappe Postkarte zurückerhalten. Kein wärmeres Wort, das ihm wohlgetan hätte, ihm und seinem hungrig gewordenen Herzen. Da war es wieder, dieses Hungergefühl. Wie ein Krampf.

»Winifred,« sagte er ganz langsam vor sich hin, fuhr auf und schlug sich an die Stirn. »Fort – fort – fort.«

Doch das Bild ließ sich rufen, aber nicht verscheuchen. Jetzt blickte es unter halbgesenkten Augenlidern blitzschnell, daß es wie ein heißer Strahl ihn traf. Jetzt duldete es das leise Streicheln seiner schönheittrunkenen Augen. Jetzt winkte es ihm zu, heimlich, mit einem glimmenden Feuer. Ein-, zweimal. Keiner hatte es gesehen. Nur er. Winifred gab ihm ein Zeichen. Sie gedachte seiner. Winifred.

Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Es war noch so jung, dieses Blut, noch so unverbraucht. Und so voller Sehnsucht.

»Ich kann das Alleinsein nicht vertragen,« murmelte er. Und er spann den Gedanken weiter. Schaffen ist Schöpferfreude. Zur Freude gehört Liebe. Wie kann ich schaffen, ohne zu wissen für wen? Ein einziger Mensch muß mir das Echo der Welt sein, ein einziger Mensch, der nur mir gehört. Herrgott, wie erst würde ich schaffen können, wenn ich einen solchen Menschen wüßte.

Und sein quälendes Hungergefühl ließ ihn Winifred sehen ...

Früh am Morgen erwachte er aus wirrem Schlummer. Die Traumbilder flohen vor dem nüchternen Tageslicht. Er kleidete sich an und ging auf die Plattform hinaus, und der frische Morgenwind fuhr ihm durchs Haar und blies ihm Hirn und Augen klar.

Dort drüben wälzte der Missouri seine Wassermassen in das Bett des Mississippi hinein, und nun folgte die Bahn dem Lauf des Doppelstromes, überschritt ihn auf kühn gezogener Brücke und näherte sich in rasender Eile St. Louis. Terrassenförmig stieg die Stadt auf und dehnte sich im Flußtal unabsehbar das Ufer entlang.

An den Fluß trieb es Wegherr zuerst. Überall, wohin er kam, trieb es ihn an die rastlos strömenden Wasser, die die Grüße mitnahmen zum Meer und über das Meer hinaus und keinen je zurückbrachten.

Schmutziggelb strömte der Mississippi an St. Louis vorüber. Es war, als drängte es ihn, ohne Aufenthalt vorbei zu kommen an der Stadt, die er groß gemacht hatte und die ihn jetzt zu verachten schien. Die lange Zeile der Lagerhäuser lag mit erblindeten Scheiben, starrte aus toten Augen auf die breite Wasserfläche, die öde und einförmig dahinfloß, ohne das frohe Leben menschenerfüllter Dampfer, bewimpelter Segler. Brach gelegt war auch hier der gewaltige Verkehrsweg des Wassers. Die Eisenbahnen duldeten den Wettbewerb nicht. Den mächtigen Gesellschaften ging das Anhäufen von Reichtümern, das Wohlbefinden einiger weniger über das Wohl der vielen im Lande. Ihre Geldmacht kaufte die Schiffe auf, ihre Geldmacht durfte sie vermodern lassen, ihre Geldmacht befahl die Benutzung des Schienenstranges und diktierte die Tarife.

Ausgelöscht war das Leben am Strom, verfemt und gemieden lag das Ufer, von der Eisenbahn unterjocht, und Handel und Industrie der blühenden Stadt horchten auf die schrillen Pfiffe der Lokomotive und wußten nichts mehr von den Schifferliedern des Mississippi.

Irgendwo moderten die Knochen der französischen Pelzjäger, die auf ihren Kanus den Strom befahren, die Handelsniederlassung gegründet und ihrem König Ludwig XV. zu Ehren den Platz Saint Louis genannt hatten. An die Stelle der Franzosen waren die Deutschen getreten.

Im Hotel las Wegherr die »Westliche Post«, die große, echt deutsche Zeitung der Stadt und des Landes. Und er las mit geröteter Stirn und schneller schlagendem Herzen, was der Telegraph über Deutschland zu berichten wußte. Kriegsgerüchte trug er über das Meer. Wieder einmal neideten die alten Kolonialreiche Europas dem jungen, vorwärts drängenden Deutschen Reiche die Erwerbung neuer Kolonien, die es zum Leben brauchte, um sich die überschüssige Kraft seiner Söhne zu erhalten. Drohungen stiegen auf, von Frankreich, von England. Gewitterschwer hingen die Wolken. Und Deutschland stand so einsam vor dem nahenden Wetter, wie sein einsames Kanonenboot die afrikanische Küste befuhr.

Wie wohl tat es heute Wegherr, im fremden Lande zu deutschen Volksgenossen zu reden. Seine Worte waren wie Schwertklingen, scharf und glühend, er fühlte sich von der Wucht seiner Aufgabe getragen, und wie er sich selber hinreißen ließ von den vaterländischen Hochgedanken, so riß er die Scharen der Hörer mit.

»Sagen Sie unseren Brüdern daheim,« rief ihm ein reichgewordener Bürger zu, »wie wertvoll Amerika für Deutschland sei, das bei seiner Übervölkerung ein Land für seine Söhne braucht. Hier ist das Land.«

»Sagen Sie es mir deutlicher,« rief Wegherr zurück, »ein Wort, das kurz und klar denen da drüben verkündet, worin der Wert besteht.«

»Worin? Der Wert? Nun, darin, daß wir hier sind und nach Millionen zählen!«

»Und was würden diese Millionen tun, wenn, was Gott verhüten möge, Deutschland in einen Kampf hineingezwungen würde? Was soll ich denen da drüben von ihren amerikanischen Brüdern sagen, wenn sie mich befragen?«

»Sagen Sie – sagen Sie« ... Die Stimmen wirbelten durcheinander. »Geldsammlungen!« tönte es hier, »moralischer Druck auf die Regierung« dort. Wegherr griff das Wort heraus.

»Ich höre von einem moralischen Druck auf die Regierung. Zu welchem Zwecke? Zu welchem Ziele hin? Es gibt nur einen Zweck und ein Ziel, und der Name ist: freundliche Neutralität. Freundlich Deutschland gegenüber, in dem Sinne, daß die Zufuhren an Deutschlands Gegner aufgehoben werden und vor allem Getreide als Konterbande erklärt wird. Dann wollen wir in Gottes Namen unsere Sache daheim allein ausfechten.«

Da wurde es still im Saal, und die eben noch so eifrigen Rufer sahen vor sich hin.

Wegherr verspürte den Umschwung wie einen Schlag. Ein Beben des Zornes lief ihm durch die Glieder. Aber hier hieß es, kaltblütig sein.

»Würden Sie,« fragte er mit klarer Stimme in das Schweigen hinein, »wenn es die alte Heimat gälte, eine solche Kundgebung in die Wege leiten? Der feste Wunsch von fünfzehn Millionen dürfte in Washington nicht ungehört verklingen.«

»Es geht um den Handel, Herr.«

»Wir würden das beste Jahr verlieren.«

»Man kann sich doch nicht die einzige Aussicht verbauen, unsere geschwächte Handelsflotte wieder auf die Höhe zu bringen.«

Und plötzlich herrschte wieder ein Wirrwarr von Stimmen, ein Wirrwarr erregter Ausrufe.

»Das also soll ich Deutschland sagen?« fragte Wegherr schneidend in den lärmerfüllten Saal hinein.

»Sagen Sie – sagen Sie« –

»Ich höre!«

»Sagen Sie, daß wir im Fall eines Krieges, den irgendwer gegen Deutschland zu unternehmen kühn genug sein sollte« –

»Nun?«

»Daß wir mit unsern Sympathiekundgebungen das Weltall erschüttern werden!«

Wegherr verbeugte sich tief. Kalte Ironie saß in seinen Mundwinkeln, als er sich wieder aufrichtete.

»Ich werde Ihren schönen Auftrag ausführen. Wie wird sich die alte Heimat freuen!«

Noch einmal verneigte er sich, trat ruhig vom Podium ab und schritt hinaus. Und in seinem Kopfe malte sich eine Tragödie, die Tragödie all der vielen, die sehenden Auges dem Untergang ihres Deutschtums entgegentreiben und doch nicht sehen wollen.

Als man Simson die Locken der Heimat schnitt im fernen Land, war er nicht stärker mehr als die Philister, dachte er und schritt in die Nacht hinein. O du deutscher Simson in Amerika, was wird aus dir werden, wenn du nicht mehr die Locken schütteln kannst. Ein Bastard der Völker. O du teutonischer Herrentrotz, wach auf und wehr dich! Philister über dir!

Eine Woche blieb er in St. Louis. Mit scharfen Forscheraugen ging er umher, und die Stimmen, die sein Blut bedrängt hatten, schwiegen vor den Fragen, die die Wissenschaft dem kühlen Kopfe stellte. Wie so oft, war die Arbeit des Blutes Wellenbrecher.

Am Abend vor der Abreise erhielt er ein Telegramm.

Bevor er es öffnete, wußte er den Absender. Und er las:

»Da Sie zu den Farmern von Michigan und Wisconsin wollen, rate ich, zuerst Michigan und dann Wisconsin zu besuchen. Sie berühren dann zweimal Chicago, und wir werden die Freude haben, uns zu sehen. Telegraphieren Sie Ankunft an untenstehende Adresse. Es gedenkt Ihrer Winifred.«

Wie sicher sie seiner war. Wie sie den Spielplan entwarf und über ihn verfügte. Ganz recht – den Spielplan.

Würde er gehorchen? Um einer schönen Laune willen?

Und wenn es mehr war als eine Laune? War er nicht ein Mann, der an den Sieg seiner Persönlichkeit glauben durfte?

Dieser Weg aber glich einem Besiegtwerden, und der Mann in ihm forderte selber den Sieg. Das sagte er sich mit ruhiger Bestimmtheit, und er handelte danach noch in derselben Stunde.

»Fahre morgen zuerst nach Wisconsin. Tag meiner Ankunft in Chicago noch ungewiß. Werde rechtzeitig drahten. Ergebensten Dank und Gruß. Ernst Wegherr,« lautete seine Antwortdepesche.

Am anderen Morgen weckte ihn der Telegraphenbote schon in der Frühe.

»Ist das Leben so reich und so lang, daß man die Freude auf Wartegeld setzen kann? Ich erhoffe Ihre Ankunft heute abend. Winifred.«

Das Herz tat ein paar hastige Schläge. Heute abend. Und er sah das Rot ihrer Lippen schimmern. Heute abend. Er hielt den Atem an. Wie das lockte und dahinriß. Aber es war doch wie ein Befehl! Wie ein verwöhntes Kind zu befehlen pflegt, dem das neue Spielzeug zu lange ausbleibt. Jetzt galt es, die Hand oben zu behalten. Die Hand, die sich ausstreckte nach der duftigen Welle ihres Haares.

»Muß erst meine Aufgabe erfüllen,« telegraphierte er zurück. »Ich baue darauf, daß auch das Wartegeld der Freude Zinsen trägt.«

Und er reiste, immer die Ufer des Mississippi entlang, gen Norden nach Wisconsin.

Als es Abend wurde, verlor sich die ruhige Überlegenheit seines Wesens. Um diese Stunde hätte er in Chicago eintreffen können. Um diese Stunde, ja um diese Stunde – was hätte seiner in dieser Stunde nicht alles warten können an Schönheit und Wärme. Und er saß mit wenigen fremden Menschen im unwirtlichen Eisenbahnzug und fuhr in ein kaltes Dunkel hinein.

Er blickte auf. Nur zwei Reisende befanden sich in seinem Abteil: du weißhaariger Riese und ein schmalbrüstiger Jüngling, der still auf seinem Kissen geschlafen hatte.

Der Junge hatte eine Bewegung gemacht. Schon stand der Alte über ihn gebeugt, mit der Sorgnis einer Wärterin.

»Wilhelm?« fragte er leise, und die rauhe Sprache schien in Zärtlichkeit eingehüllt.

»Ich bin wach, Vater. Habe prachtvoll geschlafen.«

»Das ist gut, mein Junge. Nun werden wir eine Mahlzeit nehmen. Hallo, Jack!«

Das galt dem Nigger, der vorüberging und nun dienstfertig die Aufträge des Alten entgegennahm. Der Alte redete mit ihm in geläufigem Englisch. Mit dem Sohn hatte er Deutsch gesprochen.

»Wollen wir uns ein bißchen aufsetzen, Wilhelm? Nur langsam, mein Junge, ich helfe dir schon.«

Er schob ihm sanft und sacht die mächtigen Arme unter und brachte ihn in eine bequemere, halb aufrechte Lage in der Polsterecke.

»Sitzest du gut, mein Junge? Warte, das Kissen gehört noch in den Rücken. Gleich schaut die Sache anders aus.«

»Danke dir, Vater.«

Der strich behutsam über die durchsichtigen Hände des Jungen. »Der Nigger wird gleich zurückkommen. Dann wollen wir einhauen.«

Ein Lächeln glitt über das blasse und abgemagerte Gesicht des Jungen und schwand. Nur den Augen blieb das seltsame Glänzen.

Dann kam der Nigger, stellte ein Tischlein hin, deckte es umständlich und ging, die Gerichte zu holen. Der Alte schob das Tischlein näher an den Sohn heran, ordnete die Gedecke anders, entfaltete die Serviette und band sie dem Sohn um. Die schweren Hände verrichteten die Dienste so zart wie Mutterhände. Und als der Neger zurückkehrte, gebot er ihm, Speisen und Getränke niederzusetzen und sich zu entfernen.

Er nahm das aufgetragene Huhn, löste vorsichtig das Fleisch von den Knochen und schnitt es in kleine Stücke. Die Gläser füllte er mit Rotwein. » All right, Wilhelm.«

Der Sohn blickte auf. Und der weißhaarige Riese hob die Gabel und fütterte den Sohn, Bissen um Bissen. Und nahm das Glas und führte es ihm an die Lippen und ließ ihn in kleinen Zügen trinken. Eine Röte lief über die blasse Stirn des Jungen. Er hatte das Auge Wegherrs auf sich gerichtet gefühlt. Und gleich wandte sich der Alte um. In seinen Augen lag eine stumme Bitte.

Wegherr nickte kaum bemerkbar, erhob sich und suchte den Speisewagen auf. Der Alte aber hatte die Speisung des Sohnes schon wieder aufgenommen.

Als Wegherr nach einer Stunde zurückkehrte, war der Neger beschäftigt, für seine drei Wagengäste die Betten herzurichten. Der Alte kniete vor dem Jungen. Sein breiter Rücken deckte die schmale Gestalt. Er war dabei, seinen Jungen auszuziehen und ihn für die Nacht in ein flauschiges Gewand zu hüllen.

»Danke dir, Vater.«

»Nix zu danken, Wilhelm. Das nächste Mal versorgst du mich. Fertig, Jack?«

»Alles fertig, Herr.«

Der weißhaarige Riese nahm den Sohn sacht auf beide Arme, trug ihn zu dem Bett, legte ihn vorsichtig in die Kissen, strich die Decke glatt und leise über des Sohnes Haar.

»Schlaf gut, Wilhelm. Morgen sind wir daheim in Wisconsin.«

»Schlaf gut, Vater.«

Der Alte kam zu seinem Sitz zurück. Der Gang war plötzlich schwerfälliger geworden, der Blick müder. Er ließ sich auf das Polster fallen, griff nach der Rotweinflasche, goß ein Glas bis zum Rande voll und leerte es in einem langen Zuge.

»Er ist mein einziger, Herr.«

Wegherr wechselte den Platz und setzte sich still an des Alten Seite.

»Mein einziger. Wenn er stirbt, habe ich nichts mehr auf der Welt.«

»Weshalb gleich an das Schlimmste denken,« sagte Wegherr gedämpft. »Ihr Sohn könnte in keiner besseren Pflege sein.«

»Gäb' ihn auch in keine andere, müssen Sie wissen. Ob es Sie wundert oder nicht: wenn's mit dem leiblichen Jungen so steht, gehört der Vater heran. Der hat für ihn zu sorgen. Der kennt seinen Jungen. Und an den glaubt er.«

»Keine Mutter könnte es besser machen.«

»Doch, Herr. Die seine hätt's gekonnt. Sie starb, als der Wilhelm zur Welt kam. Ja, ja, die hätt's besser gekonnt. Sie sind Deutscher, Herr. Da wissen Sie, was deutsche Frauen können.«

»Und Sie sind auch ein Deutscher und wohnen, wie ich hörte, in Wisconsin.«

»Seit mehr als vierzig Jahren, Herr. Ich kam aus der Rheinpfalz und gründete mir eine Farm. Ich hatte ein Mädchen daheim, wie ein Zwanzigjähriger es so hat. Die wollte ich nachkommen lassen, wenn's mir hier erst geglückt wär'. Aber man kommt hier spät zum Heiraten, wenn man zu Anfang nur auf die eigenen Fäuste angewiesen ist. Ich war vierzig, als ich sie nachkommen lassen konnte. Sie war nämlich sehr zart, eine Schullehrerstochter, und hätt' die harte Arbeit nicht leisten können. Nun, sie hatte ruhig auf mich gewartet und kam.«

Wegherr nickte vor sich hin. Er sah die unbekannte Frau greifbar vor sich. Er sah sie in ihrer ruhig harrenden Liebe in dem kleinen rheinpfälzischen Dorf, er sah sie den weiten Weg über das Weltmeer antreten, Haus und Heimat verlassen, um dem Jugendgeliebten die Heimat in das ferne Land zu tragen, und sah sie auf der einsamen Farm wirken, als hätte sie nie eine andere Scholle gekannt.

Der Alte hatte nach dem Bette des Sohnes hingehorcht. Nun fuhr er fort:

»Zwei Jahre haben wir zusammengelebt als Mann und Frau. Das war wie zu Haus. Wenn ich aus dem Wald kam oder von den Feldern und sah sie in der Hoftür stehen und hörte in der Ferne den Fluß rauschen, Herr, da war mir, als wär' ich gar nicht nach Amerika gegangen, als flöss' da hinten der Rhein und ich ging' über altbekanntes Land und dahinter wartete mein Mädchen. Das alles kam von ihr. Und noch viel mehr, Herr. Sie war eine Schullehrerstochter und an Feinheit und Sauberkeit gewöhnt, und mein Haus sah aus wie ein Schmuckkästchen. Sie machte aus nichts vieles und alles, und nach dem Abendessen las sie mir aus ihren Büchern vor oder setzte sich mit der Zither in eine Zimmerecke und sang die Volkslieder, die wir in der Schule zusammen gesungen hatten. Dann war es genau wie in dem alten Schulhaus am Rhein, und der Gedanke kam uns gar nicht mehr, daß wir so weit weg wären und alles nie mehr zu sehen kriegen würden, das Schulhaus und den Rhein und die alten Leute und Brüder und Schwestern. Nur, weil sie da war.

Aber sie war nicht mehr die jüngste, Herr, und war doch so stolz, als sie den Wilhelm bei sich trug, und ihr schwächlicher Körper gab mehr her, als sie von ihm verlangen konnte. Ich sollte nicht merken, daß sie unter dem Kinde litt.

Und dann kam das Kind, und als es den ersten Schrei tat, tat die Frau den letzten Seufzer.«

Der Zug ratterte durch die Nacht. Vom Bette her kamen tiefe Atemtöne, und der Alte erhob sich still, ging auf den Fußspitzen hin und schloß die Gardine über dem Schläfer.

»Er war ein zartes Kind und ist es geblieben,« sagte er, als er leise seinen Platz wieder eingenommen hatte. »Er war wie seine Mutter, und ich habe ihn geschont und nicht aus dem Auge gelassen. Aber in dem kalten Winter des vorigen Jahres holte er sich eine schwere Erkältung. Bald war er nur noch ein armes Menschenbündel. Und wenn er mich so geduldig mit den Augen seiner Mutter ansah – ach Herr! Da hab' ich mir einen Stellvertreter in die Farm gesetzt und mir den Jungen aufgenommen und bin mit ihm fort in das südliche Kalifornien, in die warme Sonne, bis er mir sagte: ›Jetzt wird's auch bei uns warm und schön. Jetzt möcht' ich heim.‹ Es ist aber nur das Heimweh, müssen Sie wissen, und daran leiden wir alle, wenn wir's auch nicht sagen.«

»Ihr Sohn wird gesunden,« sagte Wegherr und drückte fest des Alten Hand. »Geben Sie acht, das Frühjahr und die vertraute Umgebung werden ein Wunder tun. Und Ihre Vaterliebe.«

»Er darf nicht sterben,« murmelte der weißhaarige Riese. »An dem Jungen hängt alles, was ich noch von daheim besitze ...«

Und er starrte in das Dunkel der Nacht, das der eilende Zug durchschnitt, und starrte, als suche er den fernen Rhein und sein Mädchen im Schulhaus.

Plötzlich erhob er sich.

»Gute Nacht,« sagte er ruhig. »Ich wünsche Ihnen eine recht gute Nacht, mein Herr.«

Noch lange lag Wegherr in seinem Bette wach, und im Dunkel des Wagens glaubte er eine Frau zu sehen wie einen stillen Schein, und sie schritt unhörbar an das Bett des Kranken und legte dem Schlummernden die Hand aufs Herz und beugte sich über ihn und küßte ihn mit langem Mutterkuß. Und wandte sich und strich dem Alten zärtlich durch das schlohweiße Haar und war verschwunden, als der Neger mit der Laterne durch den Wagen schlich.

Sie hatte einen Ausdruck, dachte Wegherr, wie das Fräulein van Weert, als sie von ihrem Bruder Jan erzählte.

Dann blitzten die Augen Winifreds durch das Dunkel, rote Lippen schimmerten, schlanke Knie kreuzten sich lässig übereinander, und ein glimmender Funke winkte, sprang auf ihn zu, brannte ihm das Herz. Er war eingeschlafen und jäh erwacht. Mit wirren Augen blickte er umher, und als er durch die Ritzen der Vorhänge den Morgen gewahrte, stand er leise auf und begab sich in den Waschraum.

Nach dem Frühstück im Speisewagen kehrte er zurück, um seine Sachen zu ordnen. Vater und Sohn waren auf, und zu seinem Staunen sah Wegherr den Sohn mit verlegenem Lächeln ein paar zaghafte Schritte tun.

»Als wäre diese Nacht ein Wunder geschehn,« flüsterte ihm der Alte zu. »Als hätte er darauf gewartet, über die Grenze nach Wisconsin hineinzukommen. Der Junge hat Heimweh gehabt. Jetzt glaub' ich selber wieder. Frau, Frau ...«

An der nächsten Haltestelle stieg Wegherr aus. Maistimmung wob in der Luft und machte ihm das Herz froh und frei. Über Nacht hatten die Bäume den Winterschlaf von sich geschüttelt, die braunen, verschwiegenen Knospen gesprengt und standen mit frischem Laub behängen. Kein scheues, tastendes Entwickeln, ein entschlossener Übergang. Das war wie ein Abbild des amerikanischen Lebens.

Wegherr aber sog den frischen Mai in sich auf, als wäre es Deutschlands Frühling, und zog mit seiner junggewordenen Fröhlichkeit durch das Land wie ein echter Sonntagsprediger und streute sie aus mit vollen Händen. In den Siedelungen klang bald sein Name. Sein offenes Wesen, sein kräftiges und gesundes Wort zog die Leute zu ihm heran. Von entfernten Gehöften kutschierten sie abends herbei, um ihn zu hören, um ihn zu befragen. Ihm war oft zumut, als durchwandere er alle Gaue des lieben deutschen Vaterlandes. Hier fand er ein Dorf von Pommern bewohnt, dort von Schleswig-Holsteinern, dort von Uckermärkern. Hier schlugen die Laute Hannovers an sein Ohr, dort Lippe-Detmolds, dort der Rheinlande, Badens, Hessen-Darmstadts. Jetzt wieder saß er unter Sachsen, morgen unter Deutschluxemburgern oder den Söhnen der Schweiz. Alle waren sie von Milwaukee ausgezogen, einzelne Pioniere zuerst, von dem Lande Besitz zu ergreifen, soweit sie mit ihren Kräften die Wälder zu roden, das Land urbar zu machen und im Ackerbau zu bearbeiten vermochten. Und sie hatten ihre Briefe in die Dörfer der alten Heimat gesandt und von dem jungfräulichen Boden erzählt, der hier umsonst zu haben sei, und hatten die Familien der Blutsverwandten und Freunde nach sich gezogen über den Ozean.

Sie waren alle etwas stiller geworden, als sie wohl in der alten Heimat gewesen waren. Aber sie waren nun einmal fortgezogen, manche wohl auch einfach fortgelaufen aus dem elterlichen Hause in sprudelnder Abenteurerlust, und manch einer, der daheim gescheitert war, hatte sich zu ihnen gefunden. Wie eine ungeheure Freiheit hatte das amerikanische Leben auf sie gewirkt, das Fehlen aller Klassen- und Rangunterschiede, dies »in derselben Reihe stehen«. Bis sie gewahr wurden, daß diese Freiheit durch tausend Gesetze eingeschnürt und Bestechlichkeit oft ihr Vollstrecker wurde. Da dachten sie mehr als bisher an das Land, das sie verlassen hatten, und träumten sich im Schlaf zurück, und manch einer biß sich tagsüber die Lippen blutig, um den Aufschrei des Heimwehs zu unterdrücken, der ihm ja doch nicht aus dem Lande half.

Bei ihnen saß Wegherr einen Monat lang und sah ihre Augen in Gier an seinen Lippen hängen, wenn er ihnen von Deutschland sprach. Das ganze Land durchreiste er und fuhr über den See zu den Württembergern und den Westfalen Michigans und kehrte noch einmal zurück, um neuen Bitten und Einladungen zu folgen. Oft saß er in einem Schulzimmer am Lehrerpult, und die Männer und Frauen hockten zusammengedrückt in den niedrigen Schulbänken und ließen sich die Seele streicheln und den Stolz härten. Oft war ein Tanzsaal der Versammlungsort, oft nur eine Schenke oder eine Kegelbahn. War der Abend aber milde, so saßen sie im Freien unter den Dorfbäumen, und seltsam wehte es sie an, wenn nach dem Vortrag Wegherrs eine alte Frau ein Volkslied zu singen anhob, andere Frauen einfielen und die Männer sich einen Ruck gaben und erst verschleiert, dann in losgelöster Vergessenheit mitsangen, bis ein zweites, ein drittes Lied an die Reihe kam.

»Fern in fremden Landen war ich auch,
Bald bin ich heimgegangen.
Heiße Luft und Durst dabei,
Qual und Sorgen mancherlei,
Nur nach Deutschland, nur nach Deutschland
Tat mein Herz verlangen.«

Der Wind strich über den Dorfanger und trug das Lied über den Wisconsinfluß, wo es im weiten Land zerflatterte.

Und stumm geworden erhob sich der eine und der andere aus dem Kreise, drückte Wegherr die Hand und ging mit schwerem Bauernschritt, sein Gefährt anzuspannen und durch die mondbeschienene Landschaft nach seiner einsamen Farm zu fahren.

Wegherr aber wanderte durch die Stille noch einmal um das Dorf herum. Seine Abreise winkte, seine Verabredungen riefen ihn weiter. Auch an das Wiedersehen mit Winifred dachte er, aber das Lied, das soeben gesungen worden war, summte immer wieder in seine Gedanken hinein, und er summte es vor sich hin mit allen seinen Sehnsuchtsworten:

»Singe, sprach die Römerin.
Und ich sang gen Norden hin:
Nur in Deutschland, nur in Deutschland,
Da muß mein Schätzlein wohnen.«


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