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12

Ein drückender Sommertag war aufgestiegen, der die Luft knistern machte, die Erde zu Staub zerrieb und die Menschen erschlaffte. Wer heute nicht zum Gerichtshaus wanderte, blieb daheim und schloß die Fensterläden vor den sengenden Sonnenstrahlen, wenn ihn nicht die Arbeit frühmorgens schon in die Bergwerke gerufen hatte. Nichts fürchten die Leute, die ihr Leben lang die grelle Sonnenglut zu ertragen haben, mehr als die Hitze.

Um die zehnte Morgenstunde drückten sich Männer und Frauen schwitzend und fluchend durch den kargen Schatten der Häuser die Straßen entlang und verschwanden erregt im Gerichtshause. Der Verhandlungssaal füllte sich. Spanische und englische Worte schwirrten durch die Luft. Hin und wieder ein Gelächter. Denn die Menge freute sich auf ein Schauspiel, dessen Ausgang keinem ungewiß war. Man würde ihr den Dutchman opfern.

Das Gericht betrat den erstickend heißen Saal, und die Geschworenen nahmen ihre Plätze ein. Der Richter forderte zur Ruhe auf. Er befahl, den Angeklagten vorzuführen.

Von zwei Polizeileuten geleitet, schritt aus einer Nebentür der junge Unkelbach hervor und trat vor die Schranken. Seine männliche Gestalt trug er aufrecht, sein fröhliches Gesicht aber war mager und blaß geworden.

Pfiffe empfingen ihn. Verwünschungen. Der Richter hob die Hand: »Ladies und Gentlemen, es kommt ein jeder zum Wort. Aber erst, wenn ich ihn ausdrücklich darum ersuche. Bitte das zu beherzigen.«

Der Staatsanwalt blätterte in der Anklageschrift. Er betupfte mit seinem Tuche fortwährend die perlende Stirn. »Gottlob,« meinte er dumpf zu dem Rechtsbeistand des Angeklagten, »es ist eine kurze Sache. Alle Zeugenaussagen stimmen überein.« Der Rechtsanwalt nickte und fächelte sich mit den Akten Luft zu. Hier waren keine Lorbeeren zu erringen. Und für den Haß der Bevölkerung dankte er.

Die Personalien waren festgestellt. Die Anklage wurde verlesen.

Der Deutsche Joseph Unkelbach, Farmer und Viehzüchter, wurde beschuldigt, gegen des Gesetzes Bestimmungen versucht zu haben, den Grubenarbeiter Billy zur Entwendung von Edelmetallen aus den Bergwerksschächten zu verleiten, und wurde ferner beschuldigt, den Mann, als er sich weigerte, auf den Handel einzugehen, durch einen Revolverschuß getötet zu haben.

»Die Zeugen sind zur Stelle.«

Es war totenstill im Saal. Nur gierige Augen in der Runde und hin und wieder ein erregter Atemstoß.

Der junge Unkelbach wandte langsam den Kopf. In seinen Augen stand die Verständnislosigkeit. Sein abgemagertes Gesicht versuchte ein Lächeln aufzubringen, das um freundliche Hilfe bitten sollte, aber das Lächeln kroch zurück, als es auf die Gier der heiß auf ihn gerichteten Augen aller der Menschen stieß. Er zog die Stirn hoch, als sähe er nicht recht. Er schloß die Augen krampfhaft, als wollte er nicht sehen. In seinem Gesicht sprangen wirr die Muskeln. Das war der Tod, der in der Gier der Augen lauerte, der auf dem Richtertisch kauerte, über die Schultern des Staatsanwaltes grinste. In der Einsamkeit seiner Zelle war er ihm nicht erschienen. Mit den Menschen kam er, reckte sich riesengroß, füllte den Saal aus, hieb ihm mit den Krallentatzen seine frohe Zuversicht in Fetzen, würgte den letzten Atem aus der Kehle und eiskalten Schweiß aus der Stirn.

Mit den Menschen kam er. Er war das Tier im Menschen.

»Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?«

»Ich –?« fragte der ratlose Mensch, riß die Augen auf und wollte sich dem Richter zuwenden.

Und mit einem Male ging ein Stoß durch seine Gestalt.

Die Augen weiteten sich. Das Zucken der Gesichtsmuskeln erlosch. Eine helle Röte flog über das blasse Gesicht.

Und nun kam auch das Lächeln wieder hervor, still und feierlich.

Der junge Unkelbach hatte in der Saalecke seinen Vater gesehen.

Mitten unter den Menschen saß auch Wegherr. Er krampfte die Nägel in die Handflächen, um nicht aufzuschreien. Der Junge verriet sich. Nein, der junge Unkelbach verriet sich nicht. Ganz ruhig stand er und sah den Richter an.

»Angeklagter, ich habe Sie gefragt, ob Sie sich schuldig bekennen. Spielen Sie hier nicht den Geistesabwesenden!«

»Ich bin unschuldig.«

»Es sind hier zwanzig Zeugen versammelt, die das Gegenteil bekunden werden. Ihnen selbst steht nicht ein einziger Zeuge zur Seite. Wollen Sie sich diesen niederschmetternden Schuldbeweisen gegenüber nicht lieber bequemen, ein reumütiges Geständnis abzulegen, als leichtfertig die Geduld des Gerichts auf die Probe zu stellen?«

»Ich habe über nichts anderes Reue zu empfinden, als daß ich in diese Stadt gekommen bin. Denn ich bin unschuldig angeklagt.«

Wütende Rufe flogen ihm zu. Die Männer warfen die Arme in die Luft, und die Weiber kreischten auf.

»Ich hoffe, Mann,« sagte der Richter mit drohender Schärfe, »daß Sie es unterlassen werden, dieser Stadt eine weitere Beleidigung zuzufügen. Weshalb sind Sie hergekommen? Wir haben Sie nicht gerufen. Also werden Sie schon einen Grund gehabt haben. Nun, wir werden es ja hören. Erzählen Sie.«

»Ich war auf einer kleinen Vergnügungsreise begriffen,« berichtete der junge Unkelbach ruhig, »und stieg hier aus, um einmal den Betrieb eines Goldbergwerks durch den Augenschein kennen zu lernen.«

»Also Sie geben bereits zu, daß Sie des Goldes wegen kamen.«

»Ich bitte meine Worte nicht umzudeuten, Herr Richter, ich habe von dem Betriebe eines Bergwerks gesprochen. Das ist doch wohl etwas anderes.«

»Seien Sie hier nicht unverschämt, Mann! Sie stehen hier vor Ihrem Richter!«

»Vorläufig stehe ich hier nicht als Überführter, sondern als Angeklagter, den man in seiner Verteidigung behindert.«

»Wenn Ihre Verteidigung nicht anders aussieht, wird das Gericht zu einem kurzen Prozeß kommen.«

»Ich hatte mir bisher unter Gericht die Gerechtigkeit vorgestellt.«

»Weiter!«

»Jawohl,« sagte der junge Unkelbach und fuhr fort: »Es war ein heißer Abend, als ich ankam, und ich ging in eine Bar, um ein Glas Bier zu trinken. Da erschien der Mann, den sie Billy nannten, und bot mir ein Stück Gold, das noch im Gestein saß, zum Kauf an. Ich lehnte ab.«

»Wo hatte er das Gold?«

»In der Hosentasche. Und er steckte es wieder in die Tasche zurück.«

»Ah, da haben Sie sich fangen lassen. Die ganze Geschichte ist erfunden. Nicht ein Atom Gold fand sich bei dem Toten vor.«

Der junge Unkelbach zuckte verächtlich die Schultern. »Ich glaub's. Da waren Leute genug, die ihn wegschafften.«

»Wollen Sie,« rief der Richter, »damit sagen, daß dieselben Ehrenmänner, die hier als Zeugen auftreten, ihrem Kameraden die Taschen umgekrempelt haben? Wollen Sie einen dieser Bürger einen Spitzbuben nennen?«

»In diesem Fall – ohne weiteres, Herr Richter.«

Und wieder flogen Wutschreie aus dem Publikum gegen ihn an, und Fäuste streckten sich drohend in die Luft.

Der Richter schlug auf den Tisch.

»Mäßigen Sie sich, Mann. Sie waren in der Bar, und die meisten dieser Leute kamen auf die Hilferufe erst von draußen hereingestürmt. Diese Leute waren also nüchtern, während Sie dem Laster der Dutchmen frönten und sich betranken!«

»Herr Richter, ich bin ein Deutscher und kein Dutchman und lege Verwahrung ein gegen die Verhöhnung meines Volksstammes.«

»Fassen Sie sich kurz. Was geschah weiter?«

»Der Mann, den sie Billy nannten, schrie aus Wut über den mißlungenen Handel den Leuten zu, ich hätte ihn zum Diebstahl verleiten wollen. Mich hörten die Leute überhaupt nicht an, obwohl sie den Lumpen, den Billy, kennen mußten. Sie drangen auf mich ein, um mich totzuschlagen. Schüsse fielen. Ich wurde verwundet und sprang über das Geländer der Bar, um mich zu retten. Da schoß der Kerl, der Billy, aus nächster Nähe, und in der Notwehr gab ihm mein Revolver, den ich endlich aus der Tasche ziehen konnte, die Antwort. Das ist alles.«

»So! Das ist alles! Die Vernichtung eines kostbaren Menschenlebens – das ist alles.«

»Es war nicht kostbar, Herr Richter. Und als es sich um seines oder meines handelte, war meines das kostbarere.«

Der Richter wandte nur den Kopf.

»Haben Sie eine Frage, Herr Staatsanwalt?«

Der verneinte und wehte sich mit dem Tuche Kühlung zu.

»Die Zeugen!« befahl der Richter. »Der erste vor.«

Die Zeugenvernehmung begann. Mexikanische Amerikaner, Mischlinge, ein paar abenteuerliche Kerle aus den Nordstaaten traten vor und bekundeten gleichermaßen, daß der Fremde dem gutmütigen Billy die nichtswürdigsten Vorschläge gemacht, den über solche Anerbietungen Erregten bedroht und ihn, als der Bedrohte seine Mitbürger zu Hilfe herbeirief, niedergeknallt hätte wie einen Hund, um schleunigst die Flucht zu ergreifen. Zwanzigmal erfolgte dieselbe Aussage. Kein Zeuge meldete sich für den Angeklagten.

Mit heißhungrigen Blicken hingen die Menschen im Zuschauerraum am Munde der Zeugen. Als der zwanzigste seinen Spruch hergesagt hatte, ging ein lautes Aufseufzen durch den Raum. Die vorgereckten Körper sanken zusammen. Man sah sich wieder um, als erwache man eben erst und bemerke seinen Nachbar. Jetzt erst spürte man die Hitze wieder. Man wurde die Sache leid und wünschte das Ende herbei, um irgendwo in der Kühle des Hauses einen Schlaf tun zu können.

»Den Jungen hat's,« sagte man, und das Wort lief durch den Saal.

»Angeklagter, haben Sie auf die Zeugenaussagen noch etwas zu erwidern?«

Der junge Unkelbach hob den Kopf. Er hatte zum Schluß nicht mehr zugehört.

»Alles, was vorgebracht wurde, ist eine abgekartete Lügengeschichte. Wie soll ich mir da Ehre holen. Ich verlange von einem unbestechlichen Gericht Recht und Gerechtigkeit.«

Der Staatsanwalt hatte sich erhoben. Die Geschworenen blickten zu ihm auf.

»Gentlemen,« begann er, »in unserer der Arbeit geweihten Stadt ist ein nichtswürdiges Verbrechen begangen worden. Ein Mensch, der unsere Gastfreundschaft erschlich, hat unsere Wohltaten mit Blut gedankt. Ein ehrlicher Mann, wenn auch nur ein armer Teufel, ist seiner Habgier zum Opfer gefallen. Die lügnerischen Angaben des Angeklagten, mit denen ich Ihnen nicht noch einmal lästig zu fallen gedenke, sind durch die übereinstimmende Zeugenaussage von zwanzig ehrenwerten Männern in Grund und Boden vernichtet worden. Nichts ist übriggeblieben als die Tatsache der Lüge, die Tatsache des Mordes. Ein Mensch, der so aufzutreten pflegt wie der Angeklagte, selbst noch an Gerichtsstätte, hat das Recht auf eine mildere Betrachtung des Falles verwirkt, denn wenn er die Stirn hat, sich selbst vor Gericht noch in Beleidigungen dieser Stadt und ihrer Bürger zu ergehen, wie erst wird er sich in der ungezügelten Freiheit und vom Geist des Alkohols getrieben benehmen. Er hat versucht, uns trotzdem an Notwehr glauben zu machen. Zwanzig Zeugen beschwören das Gegenteil, und nicht einer ist für ihn aufgefunden worden trotz allen Suchens und Forschens. Also stellt sich seine Ausrede nur als ein neuer Akt der Feigheit dar, dessen sich Männer dieser Stadt nie hätten schuldig gemacht.«

Die Männer auf den Geschworenenbänken nickten vor sich hin. Sie wünschten, in ihrem Eifer von den Mitbürgern gewertet zu werden. Das befriedigte Knurren der Zuhörer drang an ihr Ohr.

»Gentlemen,« fuhr der Staatsanwalt fort, »Sie sind trotz der Gluthitze des Tages in treuer Pflichterfüllung hier erschienen, um Ihres schweren Amtes zu walten. Krönen Sie Ihr Werk, indem Sie einen Missetäter der wohlverdienten Strafe übergeben. Der Geist des Getöteten, Ihres alten Kameraden Billy, ist unter uns und fordert Sühne. Ich will ihn nicht länger darauf warten lassen. Lassen auch Sie ihn nicht warten um dieses hergelaufenen Fremden willen. Wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden.«

Wieder nickten die Männer auf der Geschworenenbank vor sich hin, und wieder zog das befriedigte Knurren der Zuhörer durch den Raum.

Der Angeklagte war gerichtet. Und wenn der Verteidiger mit Engelzungen redete.

Der Staatsanwalt warf den Kopf in den Nacken. Aller Augen hingen in neu aufgepeitschter Gier an seinem Munde.

»So beantrage ich denn gegen den Deutschen Joseph Unkelbach, der durch zwanzig einwandfreie Zeugen ohne einen einzigen Gegenzeugen überführt ist, den Grubenarbeiter Billy aus gemeinen Beweggründen erschossen zu haben, die Todesstrafe

Er setzte sich.

Und in selber Sekunde donnerte aus der Saalecke eine Stimme:

» Hände hoch

Ein einziger Aufschrei die Antwort.

»Hände hoch, zum Teufel! Sitzt ihr auf den Ohren?«

Und plötzlich vor den Türen und aus der nächsten Nähe des Richtertisches her derselbe eiskalte Ruf: »Hände hoch!«

Die Arme flogen in die Höhe. Entsetzte Blicke starrten nach den Rufern, nach den blinkenden Schußwaffen. Es wurde totenstill.

Und aus der Ecke des Saales kam ein großer, schwerer Mann geschritten, mit grausenerregendem Gesichtsausdruck, in jeder Hand einen Revolver schußbereit.

»Wer auch nur einen Zuck oder einen Muck tut, kriegt eine Bohne in den Bauch.«

Nun stand der furchtbare Alte neben dem Angeklagten.

»Ladies und Gentlemen,« sagte er, »ich bedauere, Ihnen für wenige Minuten Ungelegenheiten bereiten zu müssen. Damit Sie klar sehen, mache ich Sie höflich darauf aufmerksam, daß Sie sich hier zehn schußbereiten Revolvern gegenübersehen, jeden zu acht Schuß. Damit machen wir Brei aus Ihnen, wenn es auch nur einem von Ihnen einfallen sollte, eine Unklugheit zu begehen. Vor dem Hause aber stehen weiter sechs Mann und bewachen Türen und Fenster. Das sag' ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung.«

Mit den anderen hatte Wegherr die Arme hochgeworfen. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Jede Sekunde dünkte ihn eine Stunde. Jetzt blickte er rasch nach dem Fenster. Andere mit ihm. Als grinste der Teufel in den Raum, so lugte das verwitterte Reitergesicht des Barons von Dachsberg durch die Scheiben, um jäh wie eine Erscheinung wieder zu verschwinden.

Der graubärtige Alte hatte sich an Richter und Geschworene gewandt.

»Um es kurz zu machen: ich bin der Vater dieses jungen Mannes, und ich will verdammt sein, wenn einer von euch lebendig diese Bude verläßt, bevor wir sie verlassen haben. Der Junge ist unschuldig. Ihr habt es von ihm gehört und wißt es so gut wie ich. Und ihr wißt ebenso genau, daß euer Billy ein Halunke der schlimmsten Sorte war, und daß ihn nur bestochene oder vor Angst schlotternde Richter und Geschworene reinzuwaschen vermöchten. Ich will euch aus dieser Seelenqual befreien, bevor ihr euer Gewissen mit einem falschen Schuldspruch belasten könnt. Denn der Junge ist unschuldig, und ich – kurz – ich bin der Vater. Damit ist wohl alles gesagt.«

Er winkte dem Sohne mit dem Kopf zu.

»Vorwärts, Jupp, geh nach Hause. Du bist kein Umgang für diese Gentlemen.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, verließ der junge Unkelbach den Saal.

Der Alte horchte, bis sich der Schritt des Sohnes auf der Straße verlor.

»So,« sagte er, »nun wollen auch wir nicht länger stören. Dort die Uhr zeigt eins. Ihr bleibt freundlichst hier versammelt, bis sie zwei schlägt. Es könnte sich sonst eine Überraschung ereignen, die für euch alle die letzte wäre. Noch eins, damit kein unnötiger Gedankenaufwand getrieben wird: telephonieren und derlei Scherze sind durch das Reißen des Drahtes an verschiedenen Stellen leider von der Tagesordnung abgesetzt. Kommt, Jungens. Bitte um Entschuldigung, Ladies. Good bye, Gentlemen.«

Seine Leute öffneten die Türen. Ruhigen Schrittes ging der Alte hinaus. Rückwärts schreitend folgten ihm die Vier und schlossen von außen die Türen wieder. Draußen schoß der Kraftwagen des Barons heran. Die Männer sprangen in den Wagen und auf die Führerbank. Und schon schoß der Wagen lautlos weiter durch die Stadt, die wie ausgestorben in der Mittagsglut lag, gewann das Freie, bog von seiner nördlichen Richtung ab und flog gen Süden, über die Staatengrenze nach Neu-Mexiko, und verschwand in der Weite der Prärie.

Die Menschen im Gerichtssaal hatten stöhnend die Arme sinken lassen. Kaum wagte einer aufzublicken. Dann scholl ein wildes Gelächter durch den Raum. Ein Mann aus den Nordstaaten hatte es angestimmt. »Jungens,« schrie er, »ein Hipp, hipp, hurra für den alten Gentleman! Ob's den Billy freut oder nicht: ein Hurra für den Graubart!«

Die Stimmung schlug um. Das Temperament riß die Leute mit und die wilde Freude an allem Kühnen und Ungewöhnlichen. Sie schrien sich Bemerkungen zu, klatschten sich lachend auf die Schenkel, wiederholten sich und dem Nachbarn die Worte des Alten.

»Was tun wir? Hierbleiben?«

»Wenn wir dem Graubart ein Vergnügen damit machen?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich ihm nicht eine gesegnete Reise wünsche.«

»Ich auch! Ich auch! Ich auch!«

Und die Weiber gebärdeten sich in ihrem Begeisterungsrausch am ungebärdigsten.

»He, Fred, wenn sie dir deinen süßen Percy, den Herumtreiber hängen wollen, haust du ihn auch so aus der Schlinge?«

»Hör, Pablo, du könntest dir ein Beispiel nehmen. Von dem Whisky, den du herunterschüttest, werden deine Kinder nicht satt!«

»Hei, mein Alfonso hätt's grad so gemacht!«

Der Richter ließ sie schreien. Heimlich hob er den Hörer vom Tischtelephon und drehte behutsam die Kurbel. Dann drehte er schneller und horchte angestrengt. Aber er wartete vergebens.

»Der Graubart hat die Wahrheit gesprochen,« murmelte er.

Der Staatsanwalt nickte stumpf.

Der Richter erhob sich, rot vor Zorn. Er rief in den Saal hinein, bis die Leute Lust verspürten, ihm zuzuhören.

»Es soll einer ein Pferd nehmen und im Galopp zur nächsten Ortschaft reiten! Von dort an die Grenzorte telegraphieren! Los! Wer meldet sich?«

Ein Gelächter war die Antwort.

»Der Graubart hat gesagt: nicht, bevor es zwei schlägt!«

»Alberne Drohung!« rief der Richter. »Fürchtet ihr euch bei lichtem Tage vor Gespenstern?«

»Reiten Sie doch selber, Herr Richter! Es ist doch, bei Gott, Ihr Geschäft und nicht das unsere.«

Wie die Kinder waren sie, die einen Streich erleben durften, und des Lachens und Lärmens war kein Ende. Bis die Stunde vergangen war und die Uhr auf zwei zeigte. Da stoben sie hinaus in die Sonnenglut, zogen die Hutkrempen über die Augen und rannten den verschlafenen Häusern zu.

»Später, später, wenn es kühler geworden ist. Verrückt, wer einen Hitzschlag riskiert.«

Regungslos hatte Wegherr unter dem heißblütigen Volk gesessen und den Zeiger der Uhr nicht aus dem Auge gelassen. In ihm wogte und wirbelte es. Und nur den einen Gedanken vermochte er zu fassen: Es glückt – es glückt; jetzt sind sie in Neu-Mexiko, wo sie niemand findet. Und dann war es ihm, als ob seine Lippen ein Gebet murmelten, irgendein Gebet aus der Kinderzeit. Aber es sollte helfen. »Lieber Gott – lieber Gott« ...

Der Saal war leer, und die Geschworenen waren verabschiedet worden, nachdem das Gericht kurz die Sache vertagt hatte. Noch saßen Richter, Staatsanwalt und Verteidiger in erregter Beratung beisammen. Und Wegherr schoß es durch den Kopf, sich bemerkbar zu machen, den Freunden einen neuen Vorsprung zu sichern. Er erhob sich, ließ sein Notizbuch fallen und rückte mit Geräusch die Bank, um es wieder aufzunehmen.

Die Herren blickten ärgerlich auf. »He – was machen Sie da noch? Die Sitzung ist geschlossen.«

»Bitte um Entschuldigung. Ich suchte nur noch meine Aufzeichnungen zusammen. Ich möchte zum nächsten Telegraphenamt.«

»Aufzeichnungen? Was für Aufzeichnungen, wenn's beliebt?«

»Ich habe mir erlaubt, die Verhandlung Wort für Wort stenographisch niederzuschreiben. Bis zu dem Augenblick natürlich nur, da der alte Vater des Angeklagten uns ersuchte, ihm die Sauberkeit unserer Hände zu zeigen. Was sich alsdann noch ereignete, habe ich soeben aus dem Gedächtnis ergänzt.«

»Wollen Sie die Freundlichkeit haben, einmal näherzutreten?« bat der Richter, der die Verhandlung geleitet hatte, und kniff die Mundwinkel. Und Wegherr trat mit ritterlichem Anstand vor die Schranke.

»Gern zu Ihren Diensten, meine Herren, aber meine Zeit drängt.«

»Bitte mir zu überlassen, wie ich über Ihre Zeit verfüge. Sie stehen in diesem Augenblick an Gerichtsstelle und haben mir auf meine Fragen zu antworten, so lange ich Sie zu fragen für nötig erachte. Leuchtet Ihnen das ein?«

»Sie irren,« entgegnete Wegherr lächelnd, »das leuchtet mir auch nicht eine Minute ein. Die Sitzung ist geschlossen, und ich habe keinerlei Vorladung zu einer Vernehmung erhalten. Ich wünsche mich zu verabschieden, meine Herren.«

Dem Richter stieg das Blut zu Kopf. »Sie bleiben! Zwingen Sie mich nicht, zu anderen Maßregeln zu greifen. Wie heißen Sie, und wer sind Sie?«

»Eine – Drohung?« fragte Wegherr langsam. »Habe ich recht verstanden? Sie wünschen einen neuen Fall daraus zu machen? Gut, ich beuge mich der Macht und ersuche nur um beschleunigte Absendung eines Telegramms an den deutschen Konsul in Denver, der mich heute abend erwartet.«

»Der deutsche Konsul erwartet Sie? Aus welchem Grunde?«

»Sollte diese Frage eine Rückkehr zur Höflichkeit bezeichnen, so werde ich sie gern beantworten. Andernfalls dürfte Ihnen der Text meines Telegrammes genügen.«

Der Richter biß sich auf die Lippen. Er fühlte den Gegner und sah, daß er sich einen Schritt zu weit vorgewagt hatte. Sein Ton nahm eine andere Färbung an.

»Darf ich Sie nochmals um Namen und Stand ersuchen, mein Herr? Auch um eine Begründung, weshalb wir die Ehre haben, Sie hier zu sehen?«

»Gern. Ich bin der Universitätsprofessor Doktor Ernst Wegherr und bereise im Auftrage des Bundes der Deutschen Amerikas die Staaten zum Zweck kultureller Forschungen und Aufklärungen. Hier sind meine Papiere, die Ihnen jeden Aufschluß über meine Person geben.«

»Ah – sehr bemerkenswert. Ohne Zweifel sehr bemerkenswert. Zwar ist mir dieser Bund der Deutschen Amerikas bis zur Stunde gänzlich unbekannt.«

»Keine Sorge,« entgegnete Wegherr ruhig, »Sie werden ihn kennen lernen. Er umfaßt heute bereits zwei Millionen Mitglieder und dürfte sich bis zur nächsten Präsidentenwahl verdoppelt haben. Im Kapitol zu Washington stellt man ihn sehr lebhaft in Rechnung.«

»Und der Zweck Ihres Hierseins, mein Herr? Darf ich fragen, ob der heutige Prozeß Sie hergeführt hat?«

»Lediglich. Nichts anderes. Mir kam zu Ohren, daß hier das Schicksal eines jungen Mannes entschieden werden sollte, der sich durch einwandfreien Lebenswandel der allgemeinen Hochachtung in seinen Kreisen erfreut. Und ohne die Unparteilichkeit des Gerichts in Frage stellen zu wollen, bin ich hierhergeeilt, um einen wortgetreuen Bericht über den ganzen Gang der Verhandlung den führenden Zeitungen zuzusenden und ihn persönlich sowohl dem deutschen Botschafter wie dem Herrn Präsidenten in Washington zu überreichen.«

»Und dieses Stenogramm hier enthält den Bericht?«

»Es enthält ihn. Leider ist er nicht so ausgefallen, wie ich es in Anbetracht vieler Umstände gewünscht hätte.«

Wieder huschte eine Röte über das Gesicht des Richters. Aber es war nicht die Röte des Zornes.

»Darf ich, ohne unbescheiden zu sein, fragen, was Sie an der Verhandlung auszusetzen fanden?«

»Ich habe,« erwiderte Wegherr, »nicht das Recht, an einer richterlichen Handlung irgend etwas zu beanstanden. Ich habe nur die Pflicht, bis auf das kleinste Wort festzustellen, was hier vorgenommen wurde und wie es vorgenommen wurde. Die Schlußfolgerung wird von höheren Instanzen gezogen werden, und zwar, wie ich denke, ohne die Diplomatie zu bemühen, denn der Fall liegt ja so sonnenklar, daß ein gesammeltes Vorgehen der fünfzehn Millionen Deutschen in den Staaten ihn ohne weiteres erledigen dürfte.«

»Sie vergessen, daß es zu keiner Urteilsfassung gekommen ist. Irgendein Vorgehen würde also zwecklos sein.«

Wegherr verbeugte sich.

»Ich bin von dem Gerechtigkeitssinn des Gerichtshofes so überzeugt, daß auch ich im Ernste nicht an eine Verurteilung des Angeklagten geglaubt habe. Ohne das eigenmächtige Dazwischentreten des Vaters, der mit seinen Freunden nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung das Leben seines Sohnes bedroht sah, hätte das Gericht ohne Zweifel den schuldlosen jungen Unkelbach gegen den in der ganzen Stadt als Dieb und Raufbold berüchtigten Billy in Schutz genommen und ihn der Freiheit wiedergegeben.«

Der Richter sann vor sich hin. Dann streifte ein rascher Blick die Herren seiner Umgebung.

»Die Auffassung der Angelegenheit,« meinte er zögernd, »macht der Schärfe Ihrer Urteilskraft alle Ehre. Zweifellos wäre der Richterspruch so erfolgt, wie Sie es andeuteten. Das Eingreifen des Alten aber und seiner Helfershelfer hat der Sache ein anderes Gesicht gegeben.«

Wegherr wiegte leise den Kopf.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn mein Rat aufdringlich erscheinen sollte. Ich bin der Meinung, daß Ihnen kaum Besseres widerfahren konnte als das geradezu abenteuerliche Vorgehen des alten Mannes. Wäre es nicht erfolgt, so hätten Sie bei einem Freispruch den Zornausbruch des ganzen Gesindels hier gegen sich gehabt und wären doch nicht den Angriffen der Zeitungen, die das Deutschtum verteidigen, und den Anklagen in Washington und beim Gouvernement entgangen. Dazu waren bereits zu viele – sagen wir: scharfe Bemerkungen – vom Richtertisch gefallen. Der alte Mann aber hat jede Verlegenheit behoben. Das Publikum selbst hat ihn hochleben lassen und sich nach seiner ergreifenden Vatertat auf seine Seite geschlagen. Und das Gericht hat nach beiden Seiten hin eine unangreifbare Stellung gewonnen. Der Telegraphendraht ist durchschnitten. Das ist ein weiterer Entschuldigungsgrund. Ein Bote war, erst bei der herrschenden Angst, dann bei dem Umschwung der Volksstimmung zugunsten der Entführer, nicht zu beschaffen. Dafür biete ich mich als Zeuge an. Lassen Sie den Flüchtigen vierundzwanzig Stunden Zeit, und Sie hören und sehen nichts mehr von ihnen, und die Angelegenheit ist ein für allemal erledigt.«

Der Richter sah aus zusammengekniffenen Augen scharf zu Wegherr hinüber.

»Sie scheinen mir merkwürdig genau unterrichtet, mein Herr.«

»Selbst wenn es so wäre – aber es ist durchaus nicht so – wäre es besser, als daß die Instanzen, die ich vorhin nannte, durch mich unterrichtet würden. So, wie der Fall jetzt liegt, werden Ihnen die hohen Behörden für ein möglichst stilles Begräbnis der unerquicklichen Angelegenheit nur besonderen Dank wissen.«

»Wer bürgt uns dafür, daß der Bericht nicht dennoch auftaucht und – als Waffe verwandt wird?«

Wegherr trat dicht an den Tisch heran. Klar und fest blickte er von einem zum andern.

»Ein deutsches Ehrenwort bürgt Ihnen dafür. Das ist etwas, an dem nicht zu rütteln ist.«

Die Herren sahen still am Tisch. Draußen lag die kleine, wilde Bergwerksstadt lautlos und erschlafft in der kochenden Sommerhitze. Jedes Lebewesen streckte die Glieder. Müde krochen ein paar Fliegen über das Gebälk des Zimmers und ließen sich matt zur Erde fallen.

Wegherr zog ein Telegramm aus der Brusttasche und reichte es dem Richter hin.

»Ich telegraphierte bei meiner Ankunft in der Nacht an den deutschen Konsul in Denver. Um acht Uhr hatte ich seine Antwort. Ich möchte bitten, entlassen zu werden, damit ich den Zug nach Denver nicht verfehle und den Konsul nicht vergeblich warten lasse.«

Der Richter las und reichte es Wegherr zurück.

»Es ist in deutscher Sprache abgefaßt. Belieben Sie, es vorzulesen und zu übersetzen.«

»Professor Doktor Wegherr, Poste restante,« las Wegherr mit lauter Stimme. »Hocherfreut, Sie bei mir sehen zu dürfen. Erwarte Sie unter allen Umständen heute abend noch als hochwillkommenen Gast.« Er übersetzte den Inhalt ins Englische und zog die Uhr. »Der Schnellzug bringt mich in sieben Stunden hin. Ich könnte also kurz nach zehn Uhr noch eintreffen.«

»Um Bericht zu erstatten?«

»Das richtet sich nach Ihren Wünschen.«

Die Herren nickten dem Richter zu. Der erhob sich und reichte Wegherr mit höflicher Verbeugung die Hand.

»So dürfen wir Ihnen eine angenehme Reise wünschen, mein Herr. Reisen Sie mit guten Gedanken.«

»Und – mein Ehrenwort?«

»Ein deutsches Ehrenwort ist eine heilige Sache. Wir behalten es hier und werden es behutsam in acht nehmen.«

»Und wann – wann werden Sie nach den Flüchtigen Ausschau halten?«

Der Richter lächelte und zuckte die Achseln.

»Was soll man machen? Der Telegraphendraht ist gerissen. Und bei dieser wahnsinnigen Hitze bekommen Sie nicht für Geld und gute Worte einen Menschen zur Arbeit oder zum Botenritt. Vor morgen vormittag werde ich nichts unternehmen können. Sie kennen dieses wilde Landgebiet nicht und seine wenig umgängliche und aufsässige Bevölkerung. Bis morgen vormittag aber werden sich die Gesetzesverächter längst in der mexikanischen Republik in Sicherheit befinden und sich den Hafen aussuchen, den sie wollen. Was soll man machen? Leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl,« erwiderte Wegherr, verneigte sich und verließ den Saal.

Eine halbe Stunde später saß er im Zuge, der gen Norden brauste, der Hauptstadt des Landes, Denver, zu. Zur Linken türmten sich die Felskolosse der Rocky-Mountains, zur Rechten floß unübersehbar die endlose Prärie ins Weite, ein verbranntes Gräsermeer. Weißgraue Hasen flohen vor dem Rädergerassel ins Grasdickicht, Scharen von Karnickeln hinterdrein. Tausende von feisten Präriehunden aber hockten steif auf dem Fettschwanz neben ihren hochgewölbten Höhlen, machten Männchen wie guterzogene Streckenwärter und hüteten den Frieden der Klapperschlangen und kleinen Eulen, die friedlich in den Erdhöhlen mit ihnen zusammen hausten. In der Luft aber stand unbeweglich ein Adler und ruhte majestätisch auf ausgespannten Flügeln.

Und plötzlich kam eine Erschütterung über Wegherr, daß er alle Kraft aufbieten mußte, um sich zu halten. Die Nerven, den ganzen Tag bis zum Reißen angespannt, wollten nachgeben. Der Rückschlag setzte ein.

Er schloß die Augen und kämpfte sich aus dem wilden und wirren Kreislauf der Gedanken heraus. Sein Körper bäumte sich auf. Er zwang sich zu tiefen, ganz tiefen und regelmäßigen Atemzügen, und endlich wurde er des Schwindelanfalls Herr, der ihn befallen wollte, als die Bilder und Geschehnisse des Tages in ihrer schreienden Wildheit, ihrer abenteuerlichen Größe und mit Einsetzung seiner Person gemilderten Tragweite noch einmal scharf und nüchtern an seinen Augen vorüberzogen.

Die Gefahr war vorbei. Jetzt erst, als sie hinter ihm und den Freunden lag, kam der Schauer der Erkenntnis, der ihm kalt bis ins Mark hinein drang.

»Gerettet, gerettet!« sangen die eilenden Räder.

Irgendwo sauste ein Kraftwagen die Prärie entlang. Er sah ihn mit geschlossenen Augen. Darin saßen enganeinandergepfercht Unkelbach Vater und Sohn und der hagere Baron von Dachsberg mit seinen Leuten. Ihre Augen blickten stier aus den vor Erregung blassen Gesichtern, und jeder verzerrte den Mund vor Spannung und Bereitschaft. Wo sich der Pfad verlor, ging's durch die Prärie, bis ein neuer Pfad sich auftat oder eine Viehtrift. Glühend stach die Sonne, aber der Luftzug, den der sausende Kraftwagen erzeugte, linderte die Qual. Eine Stunde folgte der anderen. Das Herz schien bersten zu wollen unter dem Druck des Blutes. Weiter! Weiter! Nun stieß der Baron einen Raubvogelschrei aus, schrill und schneidend. Jetzt waren sie auf dem Grund und Boden seiner alten Pferdefarm. Dort lag die äußerste Schutzhütte der Pferdeboys. Hier wurden die wackeren Burschen abgesetzt, die Unkelbachs mit anderen Kleidern versehen, und wieder weiter! Weiter zur nächsten Bahnstation, gegen goldenes Trinkgeld in den leeren Wagen eines Eilgüterzuges hinein, der nach Süden fuhr, an der Grenze in den Schnellzug, dem Meere zu, der Freiheit entgegen.

Wegherr erlebte die Fahrt, als ob er zwischen den Freunden säße, mit jagenden Pulsen. Seine Hand flog, als er nach der Uhr griff, um die Stunde festzustellen. Es ging gegen zehn Uhr. Er hatte nicht bemerkt, daß Tag und Dämmerung und Dunkelheit gewechselt hatten und im Wagen längst die Lampen brannten. In der Ferne schimmerten die Lichter von Denver, der Königin der Ebene. Er atmete auf wie ein Mensch, der aus schwerer Betäubung erwacht.

»Deutsche Treue,« murmelte er, und seine Gedanken grüßten noch einmal die drei getreuen Nachbarn in Nacht und Ferne.

Aber in Denver hielt es ihn nicht länger als zwei Tage. Seine Nerven sehnten sich nach Ruhe und dem Frieden der Natur. Er sprach den Menschen, die sich zu seinem Vortrag drängten, von der Heimat und wußte es kaum. Er sprach ihnen von deutscher Treue, die festhält bis zum Tod, und dachte doch nur an drei Männer, drei Männer irgendwo. Als aber die Menschen zu ihm kamen, ihm die Hand zu drücken, als sie die Lippen öffneten und nichts anderes zu sagen wußten als immer das gleiche: »Wir haben Heimweh bekommen, Heimweh!«, da antwortete er, und ein heller Schein zog über sein erregtes Gesicht: »Dann ist es gut. Das war mein Wunsch.«

Eine Stunde vor seiner Abreise erhielt er aus einer kleinen mexikanischen Hafenstadt eine Depesche durch das Konsulat:

»Wir stechen in See. Heimatwimpel. Die vom Niederrhein.«

Er fühlte, daß seine Augen feucht waren.

Und das weiche, frohe Gefühl, das sonst nur ein Genesender nach schwerer Krankheit spürt, blieb in ihm, als er Abschied genommen hatte von dem gastfreundlichen Konsul und seiner deutschen Gattin, und es blieb in ihm, als er einfuhr in das schwermütige Reich der Rocky-Mountains und die Schneegipfel des Felsengebirges ihm schweigend winkten.

»Ferien!« sagte er vor sich hin, als er in Colorado Springs, der Badestadt, den Zug verließ. Und noch einmal, jauchzend wie ein Knabe: »Ferien!«

Den ganzen August lag er still und freute sich an der Farbenpracht, die ihn umwob, dem leuchtenden Rot des Felsgesteins, dem blitzend weißen Schnee auf den Gipfeln und in den Schründen, dem fernhin wogenden grünen Meer der Prärie. Oft mietete er sich ein Pferd und ritt weite Strecken in die Felseinsamkeit hinein oder weite Strecken durch das Schweigen der Prärie, daß er nur am Schauern des Pferdes das Leben spürte. Und seine Nerven stählten sich aufs neue, und sein Gesicht war von einer tiefgebräunten Frische.

Im September wurde es kalt. Ein Wetterumschlag stand bevor.

Da beschloß er, durch Arizona nach Kalifornien vorzurücken.

Noch einmal ritt er hinaus, um Abschied zu nehmen von den feuerfarbigen Bergen mit ihren schneebedeckten Häuptern, die altersweiß auf die Gesteinsglut niederblickten wie eine stille Vergangenheit auf den leuchtenden Tag. Nach Manitou ritt er, den heilkräftigen Wassern, die den alten Indianern heilig gewesen waren seit Jahrhunderten, und Manitou hieß die Siedlung nach dem ›Großen Geist‹ der rothäutigen Urbewohner, der sich hier seinen Kindern offenbart hatte in schmerzenlindernden Quellen. Und er grüßte das gewaltige Felsenhaupt des Pikes Peak, der wie ein schlohweißer Wächter stand, greis vom ewigen Schnee. Und er ritt weiter zum ›Garden of the Gods›, dem Göttergarten, dessen phantastische Säulen und Burgen, Tier- und Menschenfratzen ihn heute anzogen wie nie zuvor.

Durch das Felsentor ritt er ein in das alte Heiligtum der Indianer, die ihren Versammlungsort in die wildeste Felsenwildnis gelegt hatten und in den phantastischen Tier- und Menschenfelsen Götter sahen, die die Wahrheit wußten.

Wahrheit! Was ist Wahrheit?

Er jagte ihr nach auf den Spuren der Geschichte und trug sie zusammen in Bücher und Bände. Sein Hirn war voll von ihr, und sein Herz war leer geblieben von der göttlichsten der Wahrheiten, der zeugenden Liebe. Er dachte an die Frau in Deutschland, die Steine gegeben hatte statt des Brotes des Lebens; er dachte an die andere, die Winifred geheißen hatte und den Ernst der Wahrheit in Spielen erschöpfen wollte. Im Garten der Götter dachte er an den verwaisten Garten seines Herzens.

Der Gaul schüttelte sich. Er fuhr im Sattel auf und griff nach dem Wettermantel, den er angeschnallt am Sattelriemen trug. Ein jäher Temperatursturz war eingetreten. Er spürte die schneidende Kälte bis auf die Haut.

Das Pferd setzte seitwärts. Er riß es zusammen und drängte es gegen eine Felswand. Ein Pfeifen zog durch die Luft.

Hastig blickte er auf, sah eine weiße Göttergestalt, die von der Erde bis in den Himmel ragte, sah sie im Sturm einhergezogen kommen mit ausgebreiteten Armen, schlagenden Gewändern.

Nichts sah er mehr als eine Wirbelsäule von Schnee, die sich von den Bergen hernieder heulend in die Täler stürzte und blitzartig die Prärie durchfuhr. Nichts sah er mehr.

Sein Tier war wie wahnsinnig unter der Wucht des Blizzards. Er drückte es mit eisernen Schenkeln zusammen, daß er glaubte, die Muskeln müßten ihm reißen bei der Überspannung der Kräfte. Die Zügel schlug er ums Handgelenk. Die Hände allein vermochten sie nicht mehr zu halten. Wie von Nadeln waren sie durch die Schärfe des eisigen Schnees zerrissen. Und das Blut gefror ihm im Körper.

Nur Minuten währte das Unwetter. Ihn dünkten sie eine Ewigkeit der Finsternis und des Grausens.

Das Pferd wieherte auf. Der furchtbare Luftdruck ließ nach.

Erschöpft trieb er von der schützenden Felswand ab. Dort hinten blaute es. Der Himmel blaute über dem roten Felsgestein.

Er rieb sich den Schnee aus den Augen.

Was war das für ein Blau, das sich von dem roten Felsen hob, der wie eine feierliche Kathedrale sich wölbte?

Es bewegte sich. Es war ein Mensch.

Ein Mensch in dieser Einsamkeit? Eine Frau in Wetter und Sturm, einsam und verschlagen wie er?

Er gab dem Gaul die Sporen zu kosten und sprengte durch die Felsbrocken vor.

»Hallo!« rief er.

»Hallo!« klang es zurück.

Er sprang aus dem Sattel, schob einen Stein über das Zügelende und kletterte zu der Felskathedrale empor.

Mit wenigen Sprüngen war er vor der Höhlung.

Stand und schaute die Frauengestalt an.

»Nein,« sagte er leise, »wie ist das möglich? Wie ist das möglich?«

Da lehnte an der roten Felswand, von der Höhlung überwölbt, das Fräulein van Weert, zerzaust wie ein einsamer Vogel im Winterschnee, und blickte aus verstörten Augen dem Mann entgegen.


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