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17

Diesen Weg war er schon einmal gefahren. Im September war es gewesen, gleich nach der Ankunft in Neuyork, als er sich aufgemacht hatte, zuerst der Einladung Wuppermanns zu folgen, des Nachbarsohnes von der Herzbachstraße. Wegherr entsann sich noch jeder Haltestelle, jedes Gehöftes. Die ersten Eindrücke, die er dazumal vom amerikanischen Land in sich aufgenommen hatte, hatten sich nicht verwischen können.

Dazumal! Da war er gekommen auf der Flucht vor der Heimat, auf der Flucht vor sich selbst. Auf der Suche nach Ruhe und Vergessen. Auf der Suche nach einem Winkel, in den er sein Herz betten könnte: »Schlaf traumlos, hier ist die Fremde, die dich nicht mit Träumen plagt.« Und dieser Winkel sollte fest eingeklemmt zwischen dem Brustharnisch sein, während er selbst in den Kampf zog für die vielen sehnsüchtigen Herzen, um den Kampf des eigenen zu betäuben.

Nun fuhr er dieselbe Straße nach anderthalb Jahren. Der Kampf lag hinter ihm, nach seinem Willen, und schon kam das Herz hervorgekrochen und klagte: Ich schlafe nicht mehr, ich bin wieder voll von unruhigen Träumen.

Wohin schweiften die Träume aufs neue? Sie suchten Deutschland, das er wie ein Zauberbild mit sich geführt hatte nach Ost und West, Nord und Süd, durch Städte und Dörfer, Felsenberge und endlose Prärien, das er den Lauten und Leisen der verstreuten Stammesbrüder in immer schimmernderen Farben gemalt hatte, bis er selber dem Zauber erlegen war. Sie suchten Deutschland und das Heimatglück.

Das Glück ...dachte der sinnende Mann. Was kann es für mich sein? Ein Mund, heißer als alle, der die Zukunft ist, und eine Hand, stiller als alle, die durch ein Handauflegen die Vergangenheit zum Schweigen bringt. Wo ist der Mund und die Hand? Wie kann Deutschland mir da die Heimat sein? ...

Das Rauschen des Delaware tönte zu ihm herauf und gab keine Antwort auf die Frage nach der Heimat. Und die Wasser des Schuylkill, die die flachen Ufer überschwemmten, vermochten ihm noch weniger zu sagen. Philadelphia, die Stadt der Bruderliebe, lag hinter ihm. Nein, nach Bruder- und Schwesterliebe hatte er nicht gefragt. Sie war heiter wie ein Licht, aber nicht warm wie ein Herdfeuer. Das aber suchten und sahen seine Träume.

Immer weiter war die Bahn in das Schuylkilltal hineingezogen. Er hatte nicht mehr acht auf die Zeit gehabt und blickte überrascht auf, als der Neger ihm den Namen einer auftauchenden Stadt nannte. Er griff sein Handgepäck zusammen und begab sich auf die Plattform. Sie fuhren ein, und dort wuchtete auch schon der energische Schädel Wuppermanns, ein Hut fuhr ihm an den Augen vorbei und ein dröhnender Heilruf in seine Ohren.

Er sprang aus dem Wagen und umarmte den Freund.

»Da hätten wir dich!« schrie Wuppermann. »Endlich mal wieder! Nun werden wir dir für einige Zeit den Halfter anlegen. Bist du heil und gesund? Mensch, du beschämst uns Landbewohner mit deiner Indianerfarbe.«

»Wie geht es deiner Frau? Wie geht es den Kindern? Was macht die Fabrik und das Harmonium?«

Wuppermann hatte seine Ruhe bereits wiedergefunden.

»Weißt du was, Ernst? Am besten, du überzeugst dich in einer halben Stunde selber. Wenn ich die Wahrheit sage, lüge ich aus lauter Vergnügen dazu, und wenn ich das nicht tue, bleibt das Bild hinter der Wahrheit zurück. Also komm schon.«

Sie saßen nebeneinander auf dem Kutschsitz des zweirädrigen Wägelchens, und der Traber spürte die Schnicke und griff langbeinig aus. Viehweide und Industriegelände flogen vorüber, und jetzt fuhr Wegherr auf und starrte auf eine Geländemasse im winterlichen Felde.

»Die Damenuniversität,« sagte Wuppermann und pfiff dem Pferde zu wie einem Hunde. »Solltest du doch kennen, Ernst. Das famose Mädel, das Fräulein van Weert, das du vor Jahr und Tag bei uns kennen lerntest, lebte und webte dort und lehrte die Töchter des Landes, was sie nicht lernen wollten. Jetzt ist sie längst über alle Berge.«

»Ja, ja – ich entsinne mich,« erwiderte Wegherr. Und dann drehte er sich auf dem Kutschsitz um, wie von einer fernen Gewalt gezogen, und suchte nach einer Gestalt, die auf dem verödeten Campus stand und hinter ihm her blickte, als zöge dort das Leben dahin.

Ob sie jetzt ebenso an einem Fenster des Neuyorker Broadway stand mit demselben heimwehkranken Blick?

Oder ob sie sich reckte, daß ihre Brust vorwärts drängte und Schultern und Arme sich strafften im Gefühl der Freiheit ...

»Hoppla,« sagte Wuppermann, »das war ein ganz verdammter Chausseestein. Die Landstraßen liegen im ganzen Land im argen. Na, bessert sich auch mal!«

»Ist das nicht dein Haus, Georg?«

»Nicht wahr, du erkennst es nicht wieder? Hab's bis auf den Grund niedergelegt und neu gebaut, geräumiger und bequemer. Die kleinen Trabanten wachsen heran und können nicht mehr wie Brüderchen und Schwesterchen durcheinander schlafen. O, auch wir Hinterwäldler wissen, was sich schickt.«

Er lachte das dröhnende Lachen seines Vaters, des kleinen Schmiedemeisters von der Herzbachstraße. Aber es war Besitzerstolz darin.

»Ein neues Haus,« sagte Wegherr. »Und im alten lassen die Kinder ihre Unbekümmertheit.«

»Oho! Das stimmt wohl nicht ganz. Wenn die Küken größer werden, schiebt man ihnen Eier unter. Das macht ihnen dann genau so viel Spaß als vorher das Kuscheln unter Mutters Flügel. Das Leben muß sich immer erneuern. Ein Tag muß den anderen in den Schatten stellen. Dann erst kriegt man die richtige Wertung heraus. Ich meine, Ernst, wenn wir uns an ein und denselben Traum anklammern und ihn immer wieder durch die Hände streicheln wollten, würde er uns bald langweilig werden wie ein kahler Rattenschwanz; wenn wir nicht vorzögen, vorher zu vertrotteln. Nee, nee, mein lieber Junge, es hat alles seine Zeit, und wir müssen mit oder sind des Teufels.«

Da lachte Ernst Wegherr zum ersten Male wieder sein schallendes Jugendlachen.

»Kerl, du hast mir einmal nahegelegt, in deine Fabrik einzutreten. Ich könnte dich wahrhaftig als philosophischen Mitarbeiter gebrauchen.«

»Merkst du was? Heute kommt der Fabrikant und Kaufmann so wenig damit aus, an der Rechenmaschine zu fingern und seine Ware in Käsepapier einzuschlagen, wie der Schriftsteller und Gelehrte, wenn nur, wenn – na, wie sagt doch der wackere Shakespeare – ›wenn sein Aug' in holdem Wahnsinn rollt›. Wir müssen so gut das geistige Leben kennen lernen, wie ihr vom grünen Tisch aus in die Kontore und die Arbeitswerkstätten hinein müßt. Die alte Tranfunzel, die jedem sein Eckchen am Tisch anwies, ist ausgebrannt. Die neuen Menschen, die geboren sind, brennen elektrisches Licht, haben Funkentelegraphie und öffentliche Bibliotheken und nennen sich Weltbürger. Wer auf der Straße stehen bleibt, wird ins Altersasyl gebracht.«

»Mann, du begeisterst dich ja wie ein Jüngling.«

»Soll ich etwa nicht? Die Mary hat ein Kind gekriegt.«

»Das – das sagst du mir jetzt erst? Glücksjunge, Glücksjunge – laß dich beglückwünschen.«

»Runter vom Kutschbock. Willst du das Kind zu einem Waisenkind machen? Da sind wir zu Haus. Sei willkommen wie damals, Ernst.«

»Ich komme euch ungelegen,« meinte Wegherr betreten, als er den Fuß zögernd über die Schwelle setzte.

»Laß dich nicht auslachen, Ernst. Kinder kriegen ist doch nicht so was Absonderliches? Das geschieht hierzulande alle Tage.«

»Wo sind die vier größeren? Aha, da kommen sie ja. Kennt ihr mich noch?«

Die Kinder kamen auf den Zehen herbei. Der Kleinste, dem es nicht schnell genug ging, glitt über den Estrich dahin, als wäre da eine Schlittschuhbahn.

»Ihr seht ja mordsgesund aus. Hier, nehmt mal die Tasche und untersucht sie auf ihren Inhalt. Wißt ihr noch, wie wir damals den Koffer ausgepackt haben?«

Die älteren Kinder machten eine tiefe Verbeugung. Sie fühlten sich schon herangewachsen und hielten es nicht mehr für anständig, ohne weiteres über die Tasche herzufallen. Aber aus den Augenwinkeln warfen sie blitzschnell einen mißtrauischen Blick auf den Kleinsten, der, die kostbare Tasche in Händen, über den Estrich davonzugleiten begann.

»Lauft hinterher,« gebot der Vater. »Aber keinen Lärm bei der Teilung. Schläft Mutter?«

»Sie schläft,« flüsterten sie und waren dem Räuber nach.

»Ja,« sagte Wuppermann und kratzte sich hinterm Ohr, »da macht das kleine Gelichter schon seine ersten Tanzstundenverbeugungen. Wie lange wird's dauern, und man wird Großvater und rückt in die äußerste Linie vor. Man muß sich mächtig dabeihalten, daß man in diesen seinen sogenannten besten Jahren noch seinen ordentlichen Teil abbekommt. Schade – Mutter schläft.«

»Wir wollen leise hinaufgehen, Georg, damit sie nicht gestört wird.«

Sie gingen vorsichtig die Treppen hinauf. Durch einen Türspalt lugte Wuppermann in ein Zimmer.

»Sie schläft gar nicht,« flüsterte er zurück. »Mutter und Kind tun nichts, als sich anlachen. Komm nur, du darfst auch mal hineinlauern.«

»Aber, Georg!«

»Ach, Unsinn. Es ist ja nur, um den Appetit anzuregen. Na, werde nicht rot und blaß. Schön ist es doch, das da, das mußt du selber sagen.«

»Ja, Georg, es ist wunderschön. Aber nun laß mich auf mein Zimmer.«

»In zehn Minuten wird gegessen. Die Fabrik kann mir heute den Buckel hinaufspazieren. Du, das Leben ist doch schön! Selbst in Amerika!«

Und dann sah Wegherr noch von der Treppe aus, wie der Freund behutsam die Tür öffnete und rasch im Zimmer verschwand. Und er spürte einen grimmigen Humor.

Das mag ja für Freund Wuppermann seine himmlischen Reize haben, dachte er, als er in seinem Zimmer seine Sachen zusammensuchte, und er lachte vor sich hin. Aber ein Zaungastbillett in die Hand gedrückt zu bekommen und in ein so großes Glück mal ›hineinlauern‹ zu dürfen – Herrgott, ich glaube wahrhaftig, ich bin neidisch. Ich fahre extra von Neuyork zu Georg Wuppermann, um ihn zu beneiden.

Neuyork ... Wenn er nun in Neuyork geblieben wäre? War da nicht Neid noch besser als dieses unruhvolle Tasten im dunkeln?

Im dunkeln? War in der Seele Gertrud van Weerts eine Stelle dunkel?

Du bist ein Narr und ein Kind, Ernst Wegherr. Du hast Angst vor dem Herzen einer Frau. Wie ein gebranntes Kind vor dem Feuer.

Was weiß ich denn von ihrem Herzen? O ja, ihre Seele kenn' ich, diese liebe, klare, tapfere Schwesterseele. Aber weiß ich, ob ihr Herz mir gehört? Nicht ihr Schwesterherz. Für die schwesterlichen Gefühle genügt die Seele. Das Herz ist für die Liebe da, für die Liebe, die nicht weiß, was sie tut und es doch jauchzend tut, für die alles vergessende, alles vergessenmachende Zwei-Menschen-Liebe.

O du Gertrud van Weert ... Weshalb schlugst du mir die Bitte ab, mit mir hierherzugehen? Was weiß ich von deinem Herzen.

Der Freund ließ ihn nicht bei seinen Gedanken. Er schwatzte frisch darauf los und hieb ebenso tapfer in die Speisen ein. »Ich sage dir, Ernst, wenn man sich für Sechse plagen muß, kriegt man einen ganz kannibalischen Hunger.«

»Sechs? Ich denke, du hast jetzt fünf Kinder?«

»Und die Mary? Lebt die arme Frau vielleicht nur von der Liebe? O nein! Die stellt sich mit den fünf anderen in Reih und Glied. Ich habe schon meine sechs Kinder zu versorgen.«

»Na, na, das Kleinste wird ja wohl noch von der Mutter versorgt.«

Wuppermann lachte. »Nicht zu knapp. Ich sage dir, das Wurm fordert sich seinen Teil ganz herrisch. Wird ja auch gern gegeben.«

Er überlegte. Und Wegherr dachte: Wie schön muß es sein, über so zarte Dinge sprechen zu können wie über den Schmuck des Alltäglichen.

»Höre mal, Ernst.«

Wegherr kam zu sich. Er hatte geträumt. Er hatte Gertrud van Weert gesehen, ihr Kind zärtlich an der Brust. Was für ein Kind? Da rief ihn der Freund.

»Höre mal, Ernst. Wie wäre es, wenn wir das Kleinchen nach dir benennten? Ernst Wuppermann. Es liegt was Handfestes drin.«

»Ist es denn ein Junge?«

»Mein Gott, hab' ich dir das noch gar nicht gesagt? Wenn schon! Deine Frage zeugt auch nicht von tiefem Nachdenken. Wenn's ein Mädel wär', würde ich mir, wie ich mich kenne, kaum den Kopf darüber zerbrechen, ob ich sie Ernst Wuppermann taufen sollte.«

Wegherr hob das Glas.

»Der Ernst Wuppermann soll leben! Und soll zu seinem Glück und der Eltern Freude die Straffheit des Vaters mit der Güte der Mutter in sich verbinden, auf daß es ihm wohl ergehe im Leben, das vor der Kammertür der Mutter auf ihn wartet.«

»Halt!« rief Wuppermann. »Von dem Patenonkel hast du noch nichts gesagt. Von den Paten kommen die Gaben, wie im Märchen von den Feen. So wünsche ich ihm denn von seinem Paten Ernst Wegherr die starke, ehrliche Begeisterung und das treue Festhalten am Freunde. Sprich weiter.«

»Wenn wir seiner gedenken,« sagte Wegherr, »so gedenken wir der Mutter, die ihn gebar. Noch ruht er in ihrem Arm. Möge er die Mutterhand im Leben nie missen lernen und sich den Brüdern an Vaters Seite zugesellen als der Mutter und der Schwestern allzeit fröhlicher Kavalier. Stolz an, Georg. Wir trinken das Wohl Ernst Wuppermanns, des jüngsten Deutschen in Amerika. Wir trinken aus und schenken ein. Prosit!«

»Prosit!« schmetterte Wuppermann ins Zimmer, leerte das Glas und machte die Nagelprobe. »Das soll dem Jungen gut tun.«

Dann ging der Hausherr, um die nächste Flasche ›eigenhändig‹ zu wählen. »Du weißt ja. Ohne Zwischenhandel gradwegs vom Rhein bezogen. Gott, wenn das mein Schwiegervater ahnte. Unter uns: er ahnt es längst, aber der Tropfen ist ihm zu gut, als daß er ihn sich durch ›Ahnungen‹ verderben sollte.«

Wegherr blickte ihm nach. Der packte das Leben ohne viel Federlesens. Der alte Herzbachstraßengespiele. Und plötzlich kehrte ihm das Wort zurück, das der Freund als eine der Gaben des Paten aufgezählt hatte: »... und das treue Festhalten am Freunde.«

Konnte er das dem jungen Menschenkinde vorbildlich in die Wiege legen? Hatte er danach gelebt und immer festgehalten an der Freundschaft in guten und weniger guten Tagen? Auch an der Freundschaft, die er in Neuyork zurückgelassen hatte und die nun mit blassem Gesicht zu einem Fenster des Broadway hinausschaute und hierherdachte, hierher in dieses Haus, in dem die Freundschaft ihren Anfang genommen hatte? »Nein,« sagte er sich, »ich habe wohl nicht danach gelebt. Sie hat getreu die Grenzlinie beibehalten. Ich aber wollte über die Grenzlinie hinaus und war daran, mehr von ihrer Freundschaft zu fordern, als Freundschaft geben kann. Das hat sie mit ihren Mädchensinnen gespürt. Das hat sie scheu gemacht und so wortkarg. Und ich habe ihr gutes Recht als eine Kränkung genommen und ihr dafür die Freundschaft gekündigt. Bravo, ah, bravo.«

Er fuhr sich durchs Haar. Der Freund blieb lang', und er war nicht von Neuyork abgereist, um allein zu sein. Er horchte auf. Dort oben spielten Mutter und Kind, und die Mutter erzählte dem kleinen Unbewußten, was eine Mutter erzählt: von Vater, Brüdern, Schwestern und dem Patenonkel, der heute gekommen sei.

»Nein, mein kleiner Ernst Wuppermann,« sagte Wegherr, »mit so einem wurmstichigen Patengeschenk kann ich dich nicht sitzen lassen. Das muß abgeändert werden.«

»Beschwörst du Gespenster?« ries ihm Wuppermann lachend von der Zimmerschwelle zu. »Oder verfolgen dich deine Volksversammlungen im Wachen und Träumen, daß du selbst die leeren Wände anreden mußt? Hier sind ein paar Burschen. Mit denen wollen wir jetzt mal ein paar Wörtlein reden.« Und er setzte zwei schön gekapselte Flaschen auf den Tisch.

Der Abend sank nieder. Im Kamin prasselten die Holzkloben und malten den Fußboden flammend rot. Wuppermann drehte ein paar elektrische Lampen an und rückte die bauchigen Klubsessel vor die Feuerstelle.

»Hier haben wir damals auch gesessen, Ernst. Weißt du noch?«

Ob er es wußte. Dort, in dem Sessel, der leer geblieben war, hatte Gertrud van Weert gesessen, und er hatte heimlich ihr feines Köpfchen bewundert und die schlanke Mädchenfigur, die in den Bewegungen so nervig war. Und dann hatte sie auf seinen Wunsch erzählen müssen von dem Bruder, der sie mit in die Welt genommen hatte, von ihren heißen Sattelritten durch Steppen und Gebirge, von ihrer Lernbegierde und ihrer Mitarbeiterfreude, bis der Bruder starb, im fernen Alaska, und sie ihn im Sattel vor sich aus dem Lager in die nächste Ansiedlung brachte, im Sattel, an ihrem Herzen.

Das hatte sie getan. Das hatte ihre Treue getan. Das war Gertrud van Weert, wie sie leibte und lebte. Das würde sie auch heute noch tun. Für den Bruder, dachte er bitter.

Und plötzlich sah er sie im Sessel sitzen, als ob sie leibhaftig zugegen wäre, und sie hatte das blasse Lehrerinnengesicht, das sich nach der alten Freiheit sehnte, und er hörte sie auf seine lebensmutigen Worte antworten, er hatte den Klang im Ohr: Vielleicht habe ich in der Freiheit gerade so gedacht. Aber der eingegitterte Vogel läßt schnell die Flügel hängen.

Das war ihr rührendes Weibstum. Stark für die anderen, schwach für sich.

Da saß sie vor ihm im Sessel am Kamin, und da würde sie immer sitzen, solange er in diesem Hause weilte.

Ich kann hier nicht bleiben, gestand er sich, ich kann diese traurigen Augen nicht sehen, die so schön gelacht haben, so glückselig gelacht haben, als ich sie in die Freiheit schauen ließ, am Grand Cañon, in Del Monte am Stillen Meer – überall, wo wir beisammen waren. Ich kann hier nicht bleiben. Da sitzt das Vöglein wieder auf der Stange und läßt die Flügel hängen.

»Träumereien am Kamin« ... sagte neben ihm die Stimme Wuppermanns. »Ach ja, das tut gut.«

Die Holzkloben sprühten auf, und der Widerschein der Funken überzog den leeren Sessel wie Tropfen roten Herzblutes.

»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Georg. Es ist besser, wir sprechen gleich davon.«

»Abschied? Hast du noch nicht genug von der großen Jagd? Willst du sie gleich schon wiederholen? Oder willst du weiter, nach den Deutschen Südamerikas?«

»Ich will nach Deutschland, Georg.«

»Du willst« – Wuppermann richtete sich auf. »Du, das ist wohl Scherz! Du willst doch hier nicht umsonst wie ein Wilder gearbeitet haben. Du kannst hier jetzt eine Stellung verlangen, wie sie bei euch kein Geheimrat besitzt. Jetzt heißt es: Forderungen stellen.«

»Ich will nach Deutschland, Georg.«

»Ja – aber – weshalb denn nur mit einem Mal? Gefällt dir das Land nicht mehr? Hast du den Glauben daran verloren?«

»Mein Glaube an das Land ist mit jedem Schritt, den ich tiefer hineingetan habe, gewachsen. Es ist wie eine Wiege, in der ein junger Herkules die Glieder streckt. Laß diesen jungen Herkules erst mal zur Schule gegangen sein. Dann haben wir ein neues Menschengeschlecht.«

»Nun – dann warte dieses merkwürdige Umschmelzungsverfahren doch an Ort und Stelle ab.«

Da lachte Wegherr aus Herzensgrund.

»Junge, die Geschichte rechnet mit einer anderen Zeit als mit ein paar Menschenjahren. Darüber könnte ich doch ein Ehrengreis werden.«

»Also, was hast du auszusetzen, wenn du schon im Land Amerika kein Ehrengreis zu werden wünschest?«

»Ich fühle mich hier einsam, Georg.«

»Aber an Gesellschaft fehlt's dir doch nicht? Ich meine jetzt nicht die Vereinsbrüder und Gesangvereinler. Da bist du als Lehrer und Wehrer am Platz, aber nicht als Ellenbogennachbar. Du brauchst doch nur die Finger auszustrecken, und die beste Gesellschaft reißt sich darum.«

Wegherr schüttelte den Kopf.

»Das ist es nicht, Georg. Ganz abgesehen davon, daß du übertreibst. Aber selbst wenn es so wäre – ich käme mir doch einsam vor. Ich bin kein Jüngling mehr. Ich bin drüben schon zu alt geworden. Ich kann das alte Kulturleben auf die Dauer nicht entbehren. Und als Hauptsache: es ist mir hier zu still, wenn ich durch die Straßen gehe.«

Wuppermann schlug sich staunend aufs Knie. Dann ließ er die Hand in der Hosentasche verschwinden und stieß ein paar Töne aus.

»Ach so. Das soll natürlich ein Gleichnis sein. Denn noch mehr Radau können wir beim besten Willen nicht machen.«

»Es soll ein Gleichnis sein. Du hast mich verstanden, Georg. Hier weiß kein Haus und kein Baum und Strauch von mir, und ich weiß nichts von ihnen. Wir starren uns wie Wildfremde an, weil wir keine Vergangenheit, keine Jugend miteinander gemein haben. Das ist der Magnet, und der fehlt. Wenn ich in Deutschland durch die Straßen gehe, reden die Steine zu mir. Hier war ich zur Schule und hab' auf der Gasse gespielt, dort war ich Student, dort wieder und dort noch einmal. Dort hat's Mensuren geregnet, dort haben wir im Mondschein gezecht, bis es plötzlich die Sonne war. Dort war ich Soldat, dort ging's als Offizier ins Manöver, dort war ich Dozent, dort wurde ich Professor, dort habe ich mein erstes großes Werk geschrieben und den jungen Ruhm gekostet – immer ein anderes Dort, immer ein anderer Ort, und doch immer derselbe klingende Unterton – selbst dort, wo ich zum erstenmal glaubte ein glücklicher Mensch zu werden.«

Wuppermann stand schweigend auf, schenkte am Tisch die Gläser voll und brachte sie zurück.

»Trink aus, Ernst. Wir wollen uns das Unsrige dabei denken.«

»Dein Wohlsein, Georg. Du hast eine Frau und fünf Kinder. Und was für eine Frau! Was ich rede, kann daher nur für mich gelten.«

Wuppermann stellte das Glas nieder. Die Hände auf dem Rücken gekreuzt, ging er im Zimmer auf und ab.

»Ich weiß wohl,« sagte er, »da ist ein Unterschied. Ich habe in der Hauptsache nur die Erinnerung an den alten Mann in der Herzbachstraße und an unsere gemeinsamen Jugendeseleien. Und das ist schon mehr, als man ahnt, und läßt mich zuweilen nachts aufwachen und die alte Stadt und die Berghänge in lauter Maiengrün sehen. Aber den entscheidenden Teil der Jugend, den, der die Wege in die Manneszeit anbahnt und den Charakter für das Leben zurechtbiegt, den habe ich in Amerika verbracht. Ich meine die Zeit, in der in Deutschland die Jünglinge zu schwärmen anfangen, Pläne schmieden, Partei ergreifen und die heißen Freundschaften mit Gleichgesinnten schließen. Von all dem Frühlingszauber ist mir nichts zuteil geworden, und es war vielleicht gut so, denn sonst hätt' die Erinnerung mir doch wohl zuweilen die Arbeit verschlagen. Ich sage nicht, Ernst, daß es gut ist, die Erinnerung an den Frühlingszauber nicht zu haben. Zuweilen ist mir, als hätt' ich in Deutschland etwas vergessen, als hätt' ich – rein für mich genommen – das Beste vergessen. Aber dann sag' ich mir wieder: der Mensch kann nicht von allem haben, und dafür können die Frühlingszauberlehrlinge wieder nicht meine Fabriken haben und die Mary nicht und die fünf Trabanten. Siehst du, so muß man sich die Sachen zurechtlegen, wenn man hier oder dort auf festen Beinen stehen will.«

»Du hast viel erreicht, Georg. Und du hast es nur deshalb erreicht, weil du nichts Anderes als der Georg Wuppermann sein wolltest.«

»Das mag stimmen. In jedem Menschen regt sich wohl einmal der Trieb zum Höheren, und dann klappert er gewaltig mit den Flügelstümpfen. Gott, es kriegt ja auch wohl jeder Mensch mal die Masern. Da heißt eben das erste Gebot, auf seine gesunden Knochen achtgeben, die auf der festen Erde von größerem Nutzen für die liebe Menschheit sein können als die ungesunden in Wolkenkuckucksheim.«

Wegherr nickte ihm heiter zu. Der Mann da hatte seinen Lebensweg nicht verfehlt.

»Ich wollte, ich könnte viele junge Leute, die stets lieber nach dem Schein als nach dem Sein greifen, zu dir in die Schule schicken, Georg.«

Wuppermann blieb vor dem Feuer stehen. Er schüttelte den Kopf.

»Ich will mich hier nicht in bengalisches Licht setzen. Denkst du noch daran, was ich dir bei deinem ersten Besuch als Kenner von Land und Leuten sagte? Man muß jung nach Amerika kommen, man muß noch so harmlos sein, nichts Schöneres und Gewaltigeres zu kennen als Amerika, man muß noch den Bluff anbeten können und den Glauben vom Straßenfeger zum Millionär in sich tragen. Dann nur hält man's hier aus.«

»Morgen,« sagte Wegherr, »spätestens morgen abend, will ich nun weiter.«

»Ist das dein Ernst? Wir sind ja kaum warm am Kamin geworden. Leg noch zu. Du machst dem ganzen Haus eine Freude.«

»Quäl mich nicht,« bat Wegherr. »In nächster Woche muß ich in Massachusetts sein und in Boston sprechen. Zum letztenmal auf amerikanischem Boden. Vorher aber möchte ich noch die Schlachtfelder von Gettysburg besuchen, die ich von hier aus bequem erreichen kann. Der Entscheidungskampf zwischen dem Norden und dem Süden wird mir dann lebendiger vor der Seele stehen, wenn ich ihn mal am Arbeitstisch beschwören muß.«

»Ich quäl' dich nicht,« erwiderte Wuppermann, »ich bin nur traurig.«

Und auf dem leeren Sessel sah Wegherr die Gestalt kauern, die ihre Augen hinter dem Schleier verbarg, weil sie auch traurig waren.

Er erhob sich und reichte dem Freunde die Hand zur ›guten Nacht›.

»Es ist eine junge Mutter im Haus, Georg. Die wird dir schon die Trauer vertreiben. Siehst du, da strahlst du schon. Und nun heißt es, Rücksicht auf ihre Ruhe nehmen. Darum geb' ich dich jetzt frei und möchte dir noch als Letztes sagen: das Leben in Amerika hat mich viel gelehrt. In manchem kann das alte Vaterland vom neuen lernen, so in der Bewertung der Einzelpersönlichkeit, abgelöst von Herkunft, Würden und Titel. Was bei euch die Regel ist, ist bei uns die Ausnahme. Wenn bei uns aus einem Schusterbuben sich eine Leuchte der Nation entwickeln sollte, schlügen die Menschen zunächst die Hände zusammen in Staunen, Neid und übler Nachrede. Bei euch wundert man sich höchstens über die Verwunderung. ›Was wollen Sie? Dazu ist der Mann doch da!‹ Worin das neue Vaterland aber vom alten lernen kann, das haben wir zur Genüge besprochen, und wir können trotz aller amerikanischen Reklametrompeten in technischen und industriellen Fragen sagen: es wird auch in Amerika nicht anders als mit Wasser gekocht. Das ist ein tröstliches Bewußtsein für das Gleichgewicht der Völker, und damit wollen wir uns gute Nacht sagen.«

Lachend schüttelte Wuppermann dem Freunde die Hand.

Am anderen Morgen machte Wegherr den Fabriken seinen Abschiedsbesuch. Als er sich der Färberei näherte, schickte er einen Jungen hinein und ließ den Färbermeister zu sich herausbitten. Der alte Kobes tauchte aus Qualm und Nebel auf und spuckte ein Dutzend amerikanische Schimpfwörter in die Morgensonne.

» By Jove! Damn it! Ich sin midden in der Work. Un wenn ich midden in der Work sin, kann ich doch by Jove nich machen einen Walk

»Kobes!« rief Wegherr. »Kobes, du sprichst ja Englisch wie Wasser? Kobes, die Herzbachstraße steht Kopf, wenn ich ihr das erzähle.«

Jetzt erkannte der Alte den Besucher. Beschämt wischte er sich mit dem Blusenärmel die Nase, zwinkerte in die Sonne und grinste.

»Do sin ich fies 'reingefalle mit mein' Kenntnisse. Mr schneit äwwer auch vom Himmel nich grad' in 'en Färwerei.«

»Was meinten Sie denn damit, Kobes, daß Sie keine Walk machen könnten, wenn Sie bei der Work wären?«

»Ernst, dat es doch Amerikanisch. Dat heißt: wenn ich in der Arbeit steck', kann ich nich spazierelaufe.«

»Ach so. Das ist Amerikanisch. Haben Sie das auf Ihre alten Tage doch noch gelernt?«

Der Alte kniff ein Auge. Sichernd blickte er sich um und zog ein verschmitztes Gesicht.

»Gelernt, Ernst? Kanns du bat Kauderwälsch lerne? Awwer da hät die Bande in der Färwerei angefange, sich löstig öwwer mich zu mache, un hinger mei'm Rücke öwwer den dommen Dutchman geschimpft. Da han ech nor gesag': Jong, lern Amerikanisch. Und wenn dat nich mehr als drei Dutzend Kraftausdrück wer'n. Nur, dat die Bande denkt: ha, dä ohl Gentleman versteht ja doch Amerikanisch, wenn ech so urplötzlich met aller Temperatur zwischenfahr'. Un so han sech nach un nach ene Unmenge Wörter eingefunde. Dat imponiert, Ernst, kann ich dr sage. Dat sollste auch mache.«

»Das wird nun leider zu spät sein, Kobes. Ich bin nämlich gekommen, um Ihnen Lebewohl zu sagen.«

»Wat? Adschüs? Sie mache weg von Amerika?«

»Ich geh' wieder nach Deutschland, Kobes. Soll ich etwas bestellen?«

Der Alte steckte die Hände in die Hosentaschen, klimperte mit einigen Dollarstücken und betrachtete sich den Himmel.

»Sie könne bestelle,« meinte er nach einer Weile, »sie wäre alles Schafsköpp'. Der Kobes tat herrlich un in Freude lewe, un kutschiere tät'r nächstens vierspännig. Dann kämen ich se besuche.«

»Und wann, soll ich sagen, würde das ungefähr sein?«

»Sowie ich dat Geld för die Üwerfahrt beisamme hätt'. Der Dollar tät nämlich hier ooch nur hundert Cent gelte, akkurat wie die Mark Pfennig. Dat kannste die Schafsköpp' sage, die dat Maul aufreiße von wegen Amerika. Adschüs, Ernst. Grüß die Herzbachstraß'.«

Er preßte die Hand seines Besuchers zwischen seinen Pranken, machte kehrt und verschwand im Rauch und Nebel der Färberei.

Am Nachmittage wurde Wegherr in das Wöchnerinnenzimmer gerufen. Frau Mary saß in den weißen Kissen aufrecht und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich kann Sie doch nicht fortlassen, ohne Ihnen einen Gruß geboten zu haben. Das darf unter Freunden doch nicht sein.«

»Es ist gütig von Ihnen, daß Sie sich meine Freundin nennen,« sagte er und setzte sich für eine kurze Weile zu ihr.

»Ich hoffe, Sie haben in Amerika viele Freunde gefunden, Mr. Wegherr?«

»So lange ich im Lande bin – vielleicht. Nachher wird aus dem Fernen leicht ein Gegenstand des Streitens und des Bekrittelns.«

»Sie sind zu schwarzseherisch, Mr. Wegherr. Das war doch früher nicht Ihre Art?«

»Ich werde versuchen, es mir wieder abzugewöhnen, gnädige Frau. Jedenfalls ist mir Ihre Freundschaft ein besonders wertvolles Andenken.«

Sie sann vor sich hin. Dann fuhr ein Frauenschalk über ihr Gesicht.

»Wissen Sie auch, daß Sie in dieser Gegend noch mehr gute Freunde hinterlassen haben? Nun, wer das nicht gemerkt hat, muß so reich an Freunden sein, daß es ihm auf einen mehr oder weniger nicht anzukommen braucht. Sie glauben es nicht? Es war eine Dame. Ein ganz besonderes Menschenkind.«

»Eine Dame?« fragte er obenhin und fühlte doch, wie ihm der Atem stockte.

»Ja, Mr. Wegherr,« lachte die junge Mutter vergnügt, »und sie kam noch oft, als Sie uns schon lange verlassen hatten. Sie kam so oft und nannte so oft Ihren Namen, daß es mir fast schien, als hätten Sie da noch ganz etwas anderes hinterlassen, als bloße Freundschaft. Lachen Sie mich nicht aus, Mr. Wegherr, aber eine Frau hat darin scharfe Augen, und besonders eine glückliche Frau.«

»Von wem – sprechen Sie?« fragte Wegherr und bemühte sich, den Blick der frohen Frau zu ertragen.

»Von wem? Ja, wenn Sie es noch nicht wissen! Mehr darf ich wohl nicht verraten, aber sie saß neben Ihnen bei Tisch und neben Ihnen am Kamin.«

»Fräulein Gertrud van Weert?« brachte er hervor.

»Sehen Sie doch! Nun wissen Sie sogar plötzlich den Vornamen. Es ist ein großer Verlust für mich, daß sie uns verlassen hat. Ein uneigennützigeres Menschenkind werde ich wohl nie wiederfinden. Sie hatte die Gabe der Dankbarkeit. Sie hatte wohl nie ein leichtes Leben.«

Nein, sagte eine Stimme in ihm, das hat sie wohl auch heute nicht.

»Was – was haben Sie von ihr gehört?« fragte er, um das Schweigen nicht aufkommen zu lassen.

»Seit sie uns im September verließ, nichts. Aber auch gar nichts. Das würde mich bei jeder anderen wundernehmen, bei ihr nicht. Sie ist kein Geschöpf, das mit unfertigen Gefühlen beschwerlich fallen mag. Sie hält sich zurück, bis alles klar ist. Wenn sie erst ihr neues Heim gefunden haben wird, werde ich von ihr hören. Darf ich sie grüßen?«

»Wenn Sie glauben, daß es Fräulein van Weert heute noch Freude machen wird?«

»O,« lachte die junge Frau, »wie wenig Sie sie kennen. Bei Fräulein van Weert sind es keine Launen, die sie zu einem Menschen hinziehen. Nein, ich glaube wirklich, Sie haben sie nicht einmal genau angesehen, Mr. Wegherr. Sie haben gar nicht gesehen, wie schön dieses Mädchen ist. Sie könnte in einem Cowboyanzug reiten und würde doch schöner und geschmeidiger sein als die erste Lady der fünften Avenue in Neuyork. Und dort wohnen nur die Millionäre.«

Und in ihrem übersprudelnden Frauenglück plauderte sie dahin und freute sich selbst ihrer Worte, wie es Frauen tun, die glücklich sind.

»Kann ich den Kleinen noch einmal sehen?« fragte Wegherr.

Da wurde das frohe Gesicht still und feierlich, und sie wies auf ein Bettchen, das in der Ecke unter einer Gardine stand.

Wegherr erhob sich. Leisen Schrittes ging er zu dem Bettchen und schlug die Gardine zurück. Und leise legte er dem schlummernden Menschenkind die Hand auf die wirren Härchen. Als er sich umwandte, begegnete er dem erwartungsvollen Blick der jungen Mutter.

»Ist er nicht bildschön? Georg sagt es.«

»Wie kann er das sagen. Er soll sich einmal die Mutter daneben ansehen.«

Da legte sie sich tief errötend in die Kissen zurück.

»Ich muß nun Abschied von Ihnen nehmen, Frau Wuppermann. Sie haben mir mit den Minuten, die ich hier bei Ihnen, in der Glücksstille dieses Zimmers, verbringen durfte, viel geschenkt. Ich kann Ihnen nichts wünschen. Ich kann nur wünschen, daß Sie bleiben, wie Sie sind. Und nun wollen wir sagen: ›Auf Wiedersehen in Deutschland›, wenn Sie kommen, Ihren Fünfen des Vaters Heimat zu zeigen. Auf Wiedersehen bei mir, liebe, verehrte Frau.«

»Leben Sie wohl, Mr. Wegherr ...«

Im Arbeitszimmer traf er Wuppermann. Der starke Mann war seltsam bewegt.

»Du gehst heim,« sagte er. »Ich wollte, ich könnte mit hinüber. Ach, nein, es ist ja schon zu spät.«

»Du bist ein wohlhabender Mann geworden, Georg. Du kannst dir heute dein Leben einrichten, wie du willst. Wenn es dich drängt –?«

»Nein, nein, es drängt mich nichts mehr. Und dann ist hier die Heimat meiner Kinder, meiner Söhne vor allem. Ich will die Hand an der Retorte haben, wenn sie zu den Amerikanern gemacht werden sollen, wie wir Klarsichtigen uns die Zukunft des Volkes denken. Was sollte mich jetzt noch drängen. Es ist ja doch alles vorbei.«

»Was ist vorbei, Georg? Ich kenn' dich gar nicht wieder. Hast du – hast du Verluste gehabt?«

»Still,« murmelte Wuppermann, »daß die da oben es nicht hört. Ob ich Verluste gehabt habe, meinst du? Junge, den größten, der mir widerfahren konnte. Ruhig. Es ist noch in acht Tagen Zeit, daß die Mary es erfährt, oder in vier Wochen. Da ist ein Kabeltelegramm. Ja, ja, da ist es. Zwei Tage zu spät abgeschickt, weil nur einer drüben noch so viel Liebe zu mir hatte, daß er meine Adresse auswendig gelernt hatte. Und der eine mit seiner Liebe ist stumm. Ist mutterseelenallein gestorben, der alte, achtzigjährige Mann, und hat wohl gerade noch stolz von seinem Georg geträumt, dem er die gute Schulbildung hat geben lassen und der sich nun Amerika in die Tasche packt.«

Er biß die Zähne aufeinander, daß die Backenknochen hervorsprangen.

»Das ist das Schwerste,« murmelte er, »das ist das Schwerste. Zu wissen, daß über dem Ozean ein Mensch gestorben ist, der einem nur Liebes getan hat, und man hat ihm in der letzten Stunde nicht beispringen können, seinem Vater nicht beispringen können. Weißt du, um das zu begreifen, muß man selber Söhne haben.«

Er stieß das Fenster auf und sog mit geblähten Nüstern die Luft ein.

»Ich hab' doch nun alles, habe Frau und Kinder und Haus und Heim, und doch ist es einem, als wäre Blitz und Donner einem vor die Füße geschlagen und hätten ein klaftertiefes Loch gerissen. Und zu wissen, daß sich das nie, nie mehr schließt ...«

Er kehrte sich nach dem Freund um und hatte seine Fassung wiedergefunden.

»Du willst Abschied nehmen, Ernst. Ich hätte meine Geschichten auch für mich behalten können. Aber du hast den alten Mann ja auch liebgehabt.«

»Er gehörte zu unserer Jugend, Georg. Und mit meinem Abschied eilt es nun nicht mehr.«

»Ach du« – sagte Wuppermann und streichelte ihm die Schulter. »Es war gut, daß ich dich in diesen Minuten hier hatte. Du und ich, wir waren ja wohl immer eins, und nun konnte ich alles in dich hineinschreien.«

Er legte die Hand auf die Brust und atmete tief.

»So. Das Ärgste ist überstanden. Sterben müssen wir alle, und ich bin ja nicht der einzige auf der Welt, der zu klagen hat. Da gibt's keine Ausnahmestellungen. Hörst du? Oben brüllt der kleine Ernst. Das Leben sorgt immer wieder für Ersatz. Nein, du kannst ruhig reisen.«

»Komm bald einmal mit den Deinen nach Deutschland herüber. Laß es nicht so lange werden.«

»Da hast du Recht. Man soll nichts auf die lange Bank schieben, besonders kein Wiedersehen. Da geht nun wohl gerade um diese Stunde ein Leichenzug die Herzbachstraße entlang. In dem Sarge liegt nicht nur der alte Mann, meine Erinnerungen liegen bei ihm. Unsere alte, frohe Herzbachstraße ist ausgestorben, und etwas Anderes hatte ich nicht daheim ... Nun, dafür habe ich jetzt ein frisches Grab.«

»Gräber haben eine starke Anziehungskraft, Georg.«

»Ja, der Tote wird mich wohl oft herüberziehen.« Er hob den Kopf. »Und der Lebende auch, Ernst. Du auch. Man soll nicht so viel Zeit zwischen sich legen, als ob man die Unsterblichkeit gepachtet hätte. Das Kabeltelegramm hätte keine Viertelstunde später kommen dürfen. Leb wohl, alter Junge. Es hat mir verdammt gut getan, dich zu sehen. Vielleicht komm' ich noch zum Schiff, wenn du von Neuyork heimsegelst. Laß mich jetzt an die Arbeit.«

»Auf Wiedersehen, Georg. Ich werde dein Haus nicht vergessen.«

Dann saß er im Wagen, der ihn zum Bahnhof brachte, und der Zug kam, und er stieg ein, und doch war ihm, als hätte er das Wichtigste vergessen. Er sah Menschen um sich, die ihm unverständlich schienen in Worten und Gebaren, er blickte über eine Landschaft hinweg, die ihm nichts zu sagen wußte. Er versuchte, an die junge Mutter in seines Freundes Haus zu denken und an den alten Mann, der jetzt im Sarg über die alte Herzbachstraße geführt wurde, an die Frau, die ihm die Grüße seiner Mutter bringen sollte, an alles, was ihm lieb gewesen und geworden war. Es blieb eine Lücke. Und die Lücke klaffte durch seine Freude und durch sein Leid hindurch und machte beides leer, so sehr er sich bemühte, hinüberzugelangen.

Da fehlte jemand, der ihm vom andern Rand die Hand entgegenstreckte. Mit dem es sich zu lachen oder zu trauern lohnte. Der Herzschlag fehlte ihm, der erst den eigenen Herzschlag belebt und wertvoll macht.

An der nächsten Station gab er eine Depesche auf:

»Fräulein Gertrud van Weert. Neuyork. City. Broadway, Pension Smith. Bitte herzlich, sofort nach Gettysburg abfahren und sich von dort Weiterreise anschließen. Erwarte Telegramm Gettysburg, Bahnhof. Grüße. Ernst Wegherr.«

Und wenn es mir nichts Anderes einbringt, als daß ich die paar Tage noch ihre Nähe spüre, dachte er. Ich habe sie nötig.

Und während der Zug weiterrollte von Haltestelle zu Haltestelle und den breitströmenden Susquehana überquerte und wieder weiterrollte ins Land hinein, saß er still in seiner Ecke und berechnete die Zeit und gab zu und tat ab, bis er sich sagte: Jetzt hat sie das Depeschenblatt in Händen, wenn sie zu Hause ist. Aber vielleicht ist sie gar nicht zu Hause.

Und er, dem nie ein Zug schnell genug zu fahren vermochte, freute sich über den Schneckengang seines Personenzuges, weil die Rückantwort Zeit gewann und er eine Frist hatte, zu hoffen.

Es war Abend, als der Zug in der kleinen Station von Gettysburg einlief. Langsam stieg Wegherr aus. Dann aber kümmerte er sich nicht mehr um sein Gepäck und schritt geradeswegs ins Stationsgebäude.

»Eine Depesche für Dr. Wegherr hier?« fragte er hastig.

»Eben eingetroffen, mein Herr.«

Er riß den Umschlag auf und las das Blatt. In einer Sekunde hatte er die vier Worte überflogen.

»Darf ich nicht hierbleiben?« Und keine Unterschrift.

Er überlegte nicht. Er ging an das Schreibpult und warf, ohne aufzusehen, ein paar Zeilen auf ein Formular.

»Wollen Sie Ihren Freund im Stich lassen, wenn er bittet? Er bittet zum zweitenmal. Ernst Wegherr.«

Er gab das Telegramm dem Beamten auf und ging. Draußen lungerte ein Neger herum, dem er Auftrag erteilte, das Handgepäck in ein Hotel zu schaffen. Seine Koffer ließ er auf der Bahn. Und dann ging er neben dem Neger her, der sich wunderte, daß ein Mensch um diese Jahreszeit die Schlachtfelder von Gettysburg besuchen könne.

Es wurde Nacht, und er saß als einziger Gast in dem Hotel des verlassenen Städtchens und studierte immer noch das Eisenbahnbuch.

»Wenn sie um drei Uhr nachts den Schnellzug nimmt, kann sie um zehn Uhr früh hier sein,« rechnete er krampfhaft. »Ich bin wahnsinnig,« unterbrach er seine Berechnung. »Wie kann ich denn um des Himmels willen von einer Dame verlangen, daß sie mitten in der Nacht das Haus verläßt und durch die dunklen Straßen zum Bahnhof geht? Ich werde mich bis nachmittag um vier Uhr gedulden müssen. Einen ganzen langen Tag ... Und wenn sie überhaupt nicht kommt?«

Heiße Scham trat ihm auf die Stirn. Er spürte die Scham des Überflüssigen. Weshalb hatte er zum zweitenmal telegraphiert?

»Keine Depesche für mich gekommen?« fragte er den Wirt, der schläfrig an ihm vorüberging.

»Nichts.«

Nichts? Die Zeit war längst verstrichen. Er biß sich auf die Lippen und erhob sich. Und plötzlich fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, seine Hoteladresse anzugeben. Das Telegramm mußte, wenn es angekommen war, auf dem Bahnhof lagern.

»Ist der Bahnhof schon geschlossen? Ja? Um welche Zeit wird er geöffnet? Um fünf Uhr? Ich danke Ihnen. Gute Nacht.«

Er schlief nicht eine Minute. Er dachte nur an das Telegramm und las seinen Inhalt in hundert Lesarten. Punkt fünf Uhr stand er auf dem Bahnhof.

»Ein Telegramm? Danke.« Er las es. »Ankomme zehn Uhr. Gertrud van Weert.«

Er lief zum Hotel zurück und frühstückte. Er las die neuesten und ältesten Zeitungen. Der Zeiger der Uhr wollte kaum weiterrücken. Er ging auf sein Zimmer, packte seine Handtasche, zahlte seine Rechnung und rauchte. Trotzdem war es noch eine Stunde bis zur Ankunft des Zuges, als er am Bahnhof ankam. Er lehnte sich über das Geländer und schaute unverwandt in die eine Richtung.

Dann fuhr der Zug ein. Er eilte die Wagen entlang, sah einen Reiseschleier flattern und hob Gertrud van Weert von der Plattform.

»Mädchen, Mädchen,« murmelte er und schloß die Augen. »Ich bin ganz schwindelig vor Freude, daß Sie gekommen sind.«


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