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Gertrud van Weert hatte die Wagenfahrt schweigend zurückgelegt. Wohl war die Stimme ihres Begleiters an ihr Ohr gedrungen, und sie hatte sich Mühe gegeben, den Erläuterungen Frank Willarts zu folgen. Aber der Name Ernst Wegherr, der in seinem Munde immer wiederkehrte, ließ sie allein aufhorchen, trieb ihr eine Unruhe ins Blut, über die sie nachgrübeln mußte, bis sie es wußte. Der Name war es nicht, es war die Aufgabe, die mit ihm zusammenhing, es war der Zug zur Freiheit, zur Befreiung.
Zur Befreiung ...
Und sie preßte die Hände schmerzhaft ineinander.
Hinaus können, hinaus. Aus der drückenden Enge in eine große Betätigung hinein, in eine Aufgabe, die ein Menschendasein lohnte, in die Gemeinschaft von Menschen gleichen Fühlens.
Da hielt der Wagen vor dem Campus, dem weitgedehnten Universitätsgebiet, und die hohen Gebäulichkeiten ragten dunkel aus den Sport- und Spielplätzen hervor. Sie warf einen verzweifelten Blick hinüber. Dort wurde Tag aus, Tag ein, Jahr für Jahr an der Befreiung von tausend jungen Geistern gearbeitet, und das eigene, noch so jung gebliebene Gemüt verdorrte.
Hastig nahm sie Abschied von ihrem Begleiter, der den Wagen zur nächsten Station weitergehen ließ, und schritt dann, wie von einer plötzlichen Müdigkeit gelähmt, langsam den Kiesweg zwischen den Rasenstreifen entlang dem Wohnhaus zu, in dem die Beamtinnen und Lehrerinnen untergebracht waren.
»Ich ertrag' es nicht mehr,« murmelte sie vor sich hin. »Ich will lieber – ja, was denn nur? Was denn nur? Was will ich denn lieber beginnen?« Und sie stand still und versuchte mit weitgeöffneten Augen die Dunkelheit der Nacht zu durchdringen, als könnte sie dadurch Licht in ihrem Innern schaffen.
Mein Erspartes reicht nicht für ein halbes Jahr, dachte sie. Ich könnte es wieder mit Privatstunden versuchen. Aber jeder Geistesarbeiter, der herüberkommt, versucht es um Lebens oder Sterbens willen mit Privatstunden und drückt die Hungerpreise noch mehr hernieder, bis er erlöst nach dem Posten eines Hausknechts oder Geschirrwäschers greift. Nein, das ist doch wohl nichts. Und die Frechheiten der Männer, die in der Privatstunde nur die Gelegenheit zu einem unverschämten Flirt mit der verlassenen Lehrerin suchen – sie schauderte in der Erinnerung.
Mein bißchen Schneiderkunst – ein trübes Lächeln zog um ihren Mund – ach Gott, es reichte für die Prärie und für den halbwilden Bruder, nicht für Ladies, nicht mal für die letzte Küchenmagd. Stenographie und Schreibmaschine. Darin hatte sie sich in den Mußestunden der letzten drei Jahre vervollkommnet. Wenn sie ihre Sprachkenntnisse dazunahm, Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch, so mußte sich doch wohl ein Platz als Korrespondentin oder Sekretärin auf einem großen Kontor finden? Ja, das mußte es. Und nach des Tages Last und Arbeit durfte sie sich selbst gehören, konnte sie an ihrem eigenen Menschen bilden, von der Kunst genießen, an der Wissenschaft sich erheben, durch die Natur streifen nach Herzenslust. Und brauchte nicht mehr in ihrem Lehrerinnenstübchen zu hocken, bis die Reihe wieder an sie kam, Putzmacherin am Geist anmaßender junger Damen zu spielen oder Aufsichtsdame ohne Kommandogewalt, ein Spatzenschreck, nicht mehr.
Ihr junger Körper streckte sich. Und sie spürte, wie aus weiter Ferne der Stern des Lebens zu ihr zurückkehrte, und spürte insgeheim die federnde Spannkraft der Muskeln. Wie damals, ehe der Bruder starb, der Jan.
»Ich ertrag' es nicht mehr,« sagte sie laut und öffnete die Tür des Wohnhauses.
Als sie das elektrische Licht angedreht hatte und ihr Zimmer aufsuchen wollte, kam über den Korridor eine hohe, hagere Gestalt.
»Guten Abend, Mrs. Präsident,« grüßte Gertrud van Weert und wollte vorüber.
»Guten Abend, Miß van Weert. Wir sahen Sie nicht bei der Abendkonferenz.«
»Ich hatte mich entschuldigen lassen, Mrs. Präsident. Ich war zum Dinner zu Freunden geladen.«
Die Präsidentin nickte. »Ich weiß. Aber ich hätte gewünscht, daß Sie nach dem Dinner zur Konferenz zurückgekehrt wären.«
Fräulein van Weert senkte den Kopf. »Meine unbedeutende Stimme ...«
»Miß van Weert, es handelt sich nicht darum, wie man seine Stimme einschätzt, sondern wie man seine Pflichten auffaßt.«
Da hob das junge Mädchen stolz den Kopf.
»Habe ich jemals Grund zur Klage gegeben? Bin ich in den drei Jahren je etwas anderes gewesen als Pflicht und wieder Pflicht?«
Die Präsidentin bewegte leicht abwehrend die Hand.
»Gerade darum möchte ich nicht, daß es anders würde. Aber es ist seit kurzem eine Unruhe in Ihnen, und heute abend scheint sie mir einen besonderen Grad erreicht zu haben. Das verbietet der Vorteil des Instituts.«
Sie hatte ohne jede Erregung gesprochen. Ohne auch nur einmal die Stimme zu heben. Geschäftlich und selbstverständlich. Aber gerade diese Leidenschaftslosigkeit war es, die Gertrud van Weert heute abend stärker als je erregte.
»Dürfte ich Sie um eine Unterredung bitten, Mrs. Präsident? Ich würde Ihnen dankbar sein, wenn wir diese Unterredung vom Korridor auf Ihr Zimmer verlegen dürften.«
»Dem steht nichts im Wege, Miß van Weert. Folgen Sie mir, bitte.«
Und sie schritt voran durch den langen, grauen Korridor, öffnete eine Tür und trat in ein behagliches Wohnzimmer. Fräulein van Weert mußte die Tür hinter ihr schließen.
Die Präsidentin setzte sich in einen bequemen Lehnstuhl. Aber die hohe Gestalt saß gerade und aufrecht darin, als wären die Polster Holz. Und sie wies mit der Hand auf einen anderen Stuhl.
»Setzen Sie sich, bitte, ebenfalls, Miß van Weert,« sagte sie, und in ihrem vornehmen Gesicht spielte keine Muskel. »Sie wünschen mir etwas mitzuteilen, wenn ich recht gehört habe.«
Gertrud van Weert war stehengeblieben. Ihr Blick streifte schnell das Gemach, die hohe, hagere Gestalt im Stuhl, und in ihr stieg die Stunde auf, da sie schon einmal hier gestanden hatte, als Bittstellerin um einen Lehrerinnenposten, und nach langer Prüfung erhört worden war. Sie atmete hastig und suchte den erregten Atem zu unterdrücken.
»Ich möchte Sie um meine Entlassung bitten, Mrs. Präsident.«
Die Präsidentin nickte mit dem weißen Kopf vor sich hin.
»Es ist, wie ich es mir gedacht hatte. Ich bat Sie, Platz zu nehmen, Miß van Weert.«
»Sagen Sie mir, bitte, zuvor ...«
»Sie müssen sich nicht so erregen. Es steht einer Lady nicht an, und viel weniger noch einer Lehrerin. So, nun sitzen Sie. Wir sind zwei Frauen, die sich miteinander unterhalten möchten, und nicht zwei Kampfhähne.«
Fräulein van Weert saß mit herunterhängenden Armen. Diese geruhige Freundlichkeit war das drückendste. Man fühlte sich als Sache, als Gegenstand, nur nicht als Mensch, der mit seinen Schmerzen und Seelenstimmungen zum andern kommen konnte. Und wieder vernahm sie die leidenschaftslose Stimme, die das Blut zurückjagte.
»Darf ich noch einmal bitten, mir Ihren Wunsch zu sagen?«
»Meine Entlassung,« brachte Fräulein van Weert nur hervor.
»Wie kommen Sie zu dieser seltsamen Idee, mein Kind? Haben Sie hier nicht ein Heim, das Sie birgt und schützt? Haben Sie hier nicht einen Pflichtenkreis, der Ihnen das erhebende Gefühl Ihrer Nützlichkeit verleiht? Ist das nicht der Weg zum Glück?«
Gertrud van Weert schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Nein sagen Sie? Ich kann mich nicht mehr wundern, mein Kind, denn ich habe zu viel Wunderliches im Leben erlebt. Aber Ihr Nein berührt mich nicht – angenehm. Ja, das ist es. Nicht angenehm. Ich hatte mehr Stolz in Ihnen erwartet, denn ich habe Sie immer mit besonderer Liebe beobachtet.«
»Stolz?« wiederholte Fräulein van Weert. Und als ob sie sich im Worte verhört hätte: »Liebe?« –
»Sie haben recht gehört, mein Kind. Den Stolz der Größe, die wir nicht erlernen können, die uns angeboren sein muß und die uns aus unserer Umgebung hervorheben würde, selbst wenn wir die Beschäftigung einer Dienstmagd verrichteten. Und meine Liebe zu Ihnen war in der Tat eine besondere, weil ich in Ihnen etwas wie eine verwandte Natur vermutete, eine andere als die der Lehrerinnen, die nur ihr Pensum herzusagen wissen, ohne sich jemals selbst eins zu stellen. Sie waren durch Seelenkämpfe hindurchgegangen, Sie hatten tapfer Ihr Leben in die Hand genommen, ich – bot Ihnen die Gelegenheit dazu.«
»Ja, Mrs. Präsident. Aber – ich kann nicht mehr.«
Das klang ruhig, und darum erschütternd.
Die Präsidentin legte eine kleine Weile die Hand über die Augen. Ihr weißes Haar lag auf ihrem Haupte wie das Schneefeld eines Lebens. Dann sank die Hand in den Schoß zurück, und die Augen blickten kühl.
»Was wissen Sie junges Mädchen, was ein Mensch kann und was er nicht kann. Er kann sterben bei vollem Leben. O ja, das kann er. Tausende müssen es. Aber sterben und wieder auferstehen! Und ein neues Leben leben können. Mit dem Stolz des Starken, der für fremdes Mitleid verachtungsvoll dankt. Wer kann es? Es ist euch zu schwer.«
Da sagte Gertrud van Weert inbrünstig:
»Ich will auferstehen. Aber ich will und darf mich auch in dem neuen Leben nicht verlieren, oder es wäre nur ein Zerrbild auf den Tod. Und deshalb muß ich gehen, denn ich verliere mich hier.«
»Das ist eine Empfindung, Miß van Weert, aber keine Begründung.«
»Eine Begründung? Eine Begründung? Werden es nicht Worte sein, Mrs. Präsident, die wir wie aus zwei verschiedenen Sprachen heraus miteinander wechseln?«
»Ich war auch einmal jung.«
Fräulein van Weert sah der weißhaarigen, unnahbaren Frau in die Augen, als ob sie sie zum erstenmal sähe. Nie war ihr der Gedanke gekommen, daß aus diesen Augen auch einmal die Jugend gelacht haben könne, daß diese ruhig atmende Brust auch nur ein einziges Mal unter stürmischen Herzschlägen erbebt sei.
»Mrs. Präsident,« sagte sie, »ich fühle, daß Sie mir Güte zeigen möchten. Verzeihen Sie, wenn ich undankbar erscheine. Aber ich bin seit Jahren an keine Güte mehr gewöhnt, nur wenn ich sie mir draußen bei Fremden suchte. Verstehen Sie mich daher recht, ich bitte darum. Ich möchte gehen, weil ich noch jung sein will, jung bleiben will. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und kann noch nicht wunschlos sein.«
»Und wohin zielen diese Wünsche, Miß van Weert?«
»Dorthin, wo Die Menschen frei sind und glücklich.«
»Solch ein Land gibt es nicht.«
»Mrs. Präsident, machen Sie es mir nicht so schwer. Mir vertrocknet das Herz, weil ich es an nichts hängen kann.«
»Ich denke,« sagte die Präsidentin, »Sie hatten es einmal an Ihren Bruder gehängt. Was wurde? Er mußte sterben. Sterben vor Ihren sehenden Augen, an Ihrem schlagenden Herzen. Lohnt es sich wirklich, sein Herz an etwas zu hängen, das einem morgen schon weggenommen, zerstampft werden kann? Sie haben Tränen in den Augen und meinen, ich wäre grausam? Ich bin nur klug geworden.«
Gertrud van Weert hatte sich hastig die Augen getrocknet.
»Nein,« erwiderte sie, »ich will nicht klug werden. Das ist ja das lebendige Begrabensein, vor dem ich fliehen will. Je früher, desto besser. Sobald Sie mich gehen lassen.«
»Sie kennen Ihren Vertrag, wie ich ihn kenne.«
»Mrs. Präsident, das kann nicht Ihr Ernst sein. Mein Vertrag läuft noch bis zum nächsten Herbst. Ein ganzes Jahr noch. Für mich finden Sie bald Ersatz. Lassen Sie mich gehen, sobald Sie eine Nachfolgerin für mich haben.«
Lange sah die Präsidentin die Bittende an. Es war, als ob ein wärmeres Licht für Sekundenlänge in ihren Augen geleuchtet hätte.
»Kind,« sagte sie endlich, »ich war nicht nur jung wie Sie, ich habe auch das Leben geliebt. Mehr als das. Doch davon wollte ich nicht sprechen. Und nun war etwas – etwas wie ein Schein aus ferner Zeit, der mich Sie gern sehen ließ. Auch das war schon zu viel. Nicht einmal dieses Wenig lohnt. Ich werde Sie nicht halten können. Aber gerade das mütterliche Gefühl, das ich im stillen für Sie hegte, zwingt mich, Sie vor übereilten Schritten, vor einem bloßen Nachgeben des Gefühls zu bewahren. Übers Jahr sind Sie frei. Bis dahin können Sie nachprüfen, ob Ihre Gefühle standhalten, oder ob Sie an meine Erfahrung glauben gelernt haben, daß wir erst ruhig werden können, wenn wir über uns gesiegt und mit uns abgeschlossen haben.«
Gertrud van Weert krampfte im Schoß die Hände ineinander.
»Sie sprechen aus der Erfahrung des Alters,« rief sie. »Wie soll ich da nachprüfen, wenn ich nichts von der Jugend weiß als die Jahre in der Wildnis? Nein, nein, Sie können nicht jung gewesen sein und Ihr Herz gespürt haben, daß Sie schreien möchten, wenn Ihre Erfahrungen so gar nichts davon wissen.«
Wieder legte die Präsidentin eine Weile die Hand über die Augen. Aber die Weile wurde länger als vorher, und es lag eine Röte um ihre Augen, als sie endlich die Hand sinken ließ. Das war es, was Fräulein van Weert plötzlich still und ruhig werden ließ.
»Sie haben da etwas ausgesprochen, mein Kind,« sagte die weißhaarige Frau, »was ich als eine Verletzung empfinden könnte, wenn mich noch etwas zu verletzen vermöchte. Auch weiß ich, daß jugendliches Ungestüm die Worte nicht wählt und wägt. Ich habe wohl ein Menschenalter lang nicht mehr von diesen Dingen gesprochen. Wenn ich es heute tue und mir damit eine schwere Stunde mache, so tue ich es, um Ihnen die Stunde zu erleichtern. Denn das ist auch eine Pflicht des Alters. O, ich weiß: meist eine zwecklose.«
»Mrs. Präsident,« sagte Gertrud van Weert leise.
»Lassen Sie es gut sein, mein Kind. Wenn ich Ihnen nicht mehr vertraute, spräche ich Ihnen nicht von Dingen, die mich wie eine Lobrednerin meiner eigenen Person erscheinen lassen müssen. Ja, ich war jung, mein Kind. Mehr: ich war schön und gefeiert. Mehr noch: ich war die Gattin eines hervorragenden Mannes und Offiziers. Das ist alles schon so lange her.«
Sie schwieg, und ihre Zuhörerin merkte es ihr an, wie sie ihre Gedanken rückwärts zwang.
»Ich kam auf einer australischen Farm zur Welt,« fuhr sie fort, und ihre Augen hafteten irgendwo an einem Punkt. »Ich wurde verwöhnt, wie nur die Einzige aus begütertem Hause verwöhnt werden kann. Spielend lernte ich die fremden Sprachen von meinen Erzieherinnen, und die besten Lehrkräfte halfen meine Erziehung vollenden. Alle Freistunden aber sahen mich zu Pferd, und mit zwölf Jahren ritt ich mit dem wildesten Pferdehüter um die Wette, von morgens bis abends, ohne Ermüdung, den Lasso in der Hand. Da gab es kein Hindernis für mich, da gab es nur ein Anspannen der Muskeln und kindischen Jubel. Ich glaube, ich darf sagen, daß ich jung war.
Mit fünfzehn Jahren kam ich nach Amerika. Das, was mir als Dame noch nötig war zu lernen, sollte ich hier erlernen. Ich kam nach Washington, in die Familie eines Senators der Nordstaaten, der als feuriger Anhänger der Antisklavereibewegung wirkte. Es war das Jahr 1860 und Washington der Brennpunkt der Welt. Was Amerika an bedeutenden Männern, großen Rednern und kühnen Soldaten besaß, sammelte sich hier, und so war auch der Stand der Gesellschaft von einer Höhe wie nie zuvor. Abraham Lincoln, der schlichte, wundervolle Mann, wurde zum Präsidenten gewählt. Er trat sein Amt am 4. März 1861 an. Die Südstaaten fielen ab. Der Bürgerkrieg war nicht mehr zurückzuhalten. Wenige Tage noch, und im Süden fiel der erste Schuß. Die Konföderierten des Südens nahmen die Bundesfestung Sumter im Hafen von Charleston mit bewaffneter Hand. Lincoln aber rief das Vaterland zu den Waffen.
Sechzehn Jahre zählte ich, und aus dem wilden Kind war eine begeisterte junge Dame geworden, die mit ganzer Seele der Sache der Freiheit und der Menschenbefreiung gehörte. Mit ganzer Seele. Denn das ganze Herz gehörte einem jungen Offizier, der trotz seiner Jugend zum Brigadegeneral ausersehen war. Sein Temperament war von mitreißender Wucht, seine Kühnheit grenzte an Tollkühnheit, zu Pferde war er mit seinem Tier verwachsen. Diese Eigenschaften waren den meinen verwandt. Er wurde der Mann meiner Phantasie, der Mann meines Herzens, er wurde, bevor er ins Lager zog, mein Gatte. Kinder waren wir in der Liebe und liebten uns mit der Leidenschaftlichkeit von Kindern. Vier Jahre blutigsten Bürgerkrieges waren unsere Flitterwochen. Ich wich nicht von seiner Seite.
Wir wurden geschlagen und rückten wieder vor. Wir siegten und mußten wieder zurück. Furchtbare Schlachten wechselten mit endlosen Märschen. Das Gesicht der Armee änderte sich fortwährend. Wer heute noch neben uns marschierte und die Flinte abfeuerte, bis sie rauchte, lag morgen kalt und starr im Gras, und einer aus den zahllosen Nachschüben marschierte an seiner Stelle. Hunderttausende sahen wir, um sie niemals wiederzusehen. Nur mein Charles blieb immerfort an seinem Platz, und meine Liebe hütete ihn und stärkte ihn, wenn wir im Lager lagen, und seine Wunden wusch und verband ihm meine Hand. Bei jeder Schlacht erzitterte mein Herz um sein Leben, und aus jeder Schlacht gewann ich ihn mir zurück, als begänne unsere Ehe erst jetzt, als hätte ich ihn zum erstenmal am Herzen.
Und ich ritt mit ihm auf dem berühmten Marsch, den General Sherman mitten durch Feindesland unternahm, und wir eroberten Atlanta und zogen quer durch Georgia, erstürmten Savannah, rückten durch Süd- und Nord-Carolina und reichten dem Oberstkommandierenden General Grant die Hand zum letzten großen Schlag gegen die Konföderierten unter ihren löwenmütigen Führern Lee und Johnston. Am 9. April war Lees Armee bei Appomattox Court House umzingelt und zur Kapitulation gezwungen, am 26. April die Armee Johnstons. Und zwischen den beiden Jubeltagen der Union der niederschmetterndste Tag für die Union: am 14. April fiel der große, selbstlose Lincoln durch Mörderhand. Jedes Glück hat seinen Zahltag.«
Es war still in dem kleinen Zimmer der Präsidentin. Draußen lag der Campus der Universität dunkel und tot. Und es zog wie Schemen aus der Tür des Zimmers und zerflatterte draußen in der Nacht.
Da ertönte noch einmal die Stimme der hohen, weißhaarigen Frau.
»Jedes Glück, jedes. Und weil unsere Liebe keine Alltagsliebe gewesen war und wir sie durch das Feuer der Batterien und das Blut der Schlachtfelder getragen hatten, um sie immer wieder zu erneuern und zu bejubeln, mußten wir auch anders zahlen als Alltagsmenschen. Der Friede wurde geschlossen. Und die letzte Kugel, die verfeuert wurde, diese letzte verspätete Kugel, zerriß Charles' Brust, sein Herz, mein Leben. Eine Wahnsinnslaune des Schicksals. Zahltag ...«
Die Präsidentin starrte ins Leere. Und Gertrud van Weert saß in ihrem Stuhl und hielt die Augen zugepreßt.
»Ich glaube,« sagte die Präsidentin, und ihre Stimme kam wie aus weiter Ferne, »ich darf wohl sagen, daß ich die Liebe kenne. Nur wer das Leid der Liebe erfuhr, erfährt sie ganz. Und das Übermaß des Schmerzes erstickt den Schmerz in sich selbst. Ich wurde alt und kalt.«
»Das – das konnten Sie?« kam es von Gertrud van Weerts Lippen.
»Ich konnte noch mehr, Miß van Weert. Ich konnte mich langsam in eine neue Tätigkeit hineinarbeiten und das Vergessen lernen.«
Gertrud van Weert schüttelte den blassen Kopf.
»Sie glauben nicht, daß es geht, mein Kind? So glaubt die Jugend, und ich hatte meine Jugend auf dem blutigen Acker liegen lassen. O ja, damals kam es mir vor, als wäre mir und mir ganz allein in der Welt ein verruchtes Unrecht geschehen, als gäbe es keinen Gott und keinen Vater im Himmel, als würde ich, und ich ganz allein, in die Knie gerissen und durch den Kot geschleift samt meiner zerrissenen Seele und meinem zerfetzten Herzen. Dann kehrte ich zurück. Und erblickte im Süden verwüstete Felder, niedergebrannte Städte und die Scharen der Witwen und Waisen aus dem Bruderkrieg. Und erblickte nach Norden hinauf meilenweite Grabstätten und sah durch die Erde hindurch Tausende und Tausende der Gefallenen, der Toten, wie mein Toter einer war. Da verschlug mir die Scham die verzweifelte Empörung. Damals begann ich still zu werden. Es ist uns allen ein Ziel gesetzt.«
»Und wir sollen uns nicht wehren, Mrs. Präsident? Nicht dagegen wehren, daß wir schon bei Lebzeiten zu den Toten zählen?«
»Die Toten haben die Heimat. Und so ist es mit uns. Wo unser Herz ruhig schlägt, ist Heimat. Auch Sie werden ruhig werden, und Ihr Jugenddrang wird es werden, und Sie werden wie ich eines Tages beginnen, alle Erlebnisse der Freude und der Trauer wie bunte Kinderbuchbilder zu betrachten, die einen lächeln machen.«
»Die einen weinen machen,« stieß Fräulein van Weert hervor, »oder wir waren nicht würdig, sie zu erleben.«
»Mein Kind,« sagte die Altgewordene und saß aufrecht im Lehnstuhl, »nichts auf der Welt ist für uns der Mühe wert, zu weinen. Wir würden sonst alle längst erblindet sein.«
Die junge Lehrerin erhob sich. Und als sie sich erhob, spürte sie das junge Blut durch den Körper jagen.
»Ich bin Ihnen dankbar, Mrs. Präsident, für Ihr großes Vertrauen. Aber weshalb – weshalb mir das?«
»Um Ihnen zu zeigen, liebe Kleine, daß auch ich einmal jung war und schön war wie Sie und doch erst das Glück in der Ruhe fand.«
»Sie durften erleben, ich nicht!«
Das klang wie der Ruf einer Gefangenen, und die Präsidentin hörte den Ton heraus.
»Ich sprach Ihnen von meiner besonderen Liebe zu Ihnen, Miß van Weert. Ich glaubte in Ihnen etwas wie eine verwandte Natur zu verspüren. Deshalb schenkte ich Ihnen meine Erlebnisse, damit Sie keine eigenen brauchen.«
»Und wenn die meinen wie bisher durch Sturm und Leid gingen, so sind es doch die meinen, und wenn sie mir Freude schaffen, so ist es meine eigene Freude. Mrs. Präsident, es muß sich wohl jeder Mensch seine Schatzkammer selbst schaffen, und wenn sein Gold und sein Edelgestein auch für den anderen Talmi bedeutet. Und so muß auch ich.«
Da erhob sich auch die Präsidentin.
»Gute Nacht, Miß van Weert,« sagte sie gelassen. »Zum Herbst des nächsten Jahres läuft Ihr Vertrag ab. Ihn abzukürzen, sehe ich keinen Grund, und ich erwarte von Ihnen wie bisher strengste Pflichterfüllung.«
Fräulein van Weert verneigte sich tief, verließ das Zimmer und suchte ihr Lehrerinnenstübchen auf.
Ein Jahr noch, rief es in ihr, und sie sagte es vor sich hin, als sie mit gelöstem Haar noch einmal ans Fenster trat und ziellos und zwecklos die Blicke durch die Dunkelheit schweifen ließ: ein Jahr noch.
Nun wohl, auch dieses Jahr würde vorübergehen, wie die anderen vorübergegangen waren. Und sie begann, die Ferienzeiten auszurechnen und in Abzug zu bringen. Das machte sie fröhlich, und der Druck wich.
Dann kauerte sie vor einer Truhe, die die wenigen Angedenken ihrer Mädchenzeit enthielt, und nahm Stück für Stück in den Schoß: ein paar Bilder, ein paar Blumen aus der Heimat, Mineralien und Versteinerungen, die sie mit dem Bruder gesammelt hatte, als sie an seiner Seite, frei wie ein Vogel, quer durch Amerika gezogen war. Und nun – ein Bild der Eltern.
Sie stutzte, blickte es lange an, blickte über die gesammelten Schätze hin und legte alles in die Truhe zurück.
Verstört saß sie auf dem kleinen Sofa und suchte ihre Gedanken zu sammeln.
Wie ist es möglich, dachte sie, wie ist es möglich ...
Sie sah sich als kleines Mädchen daheim. Da war der Vater, verärgert und leicht reizbar, wenn er aus dem Staatsdienst nach Hause kam. Immer wähnte er sich übergangen, nie genügend gewürdigt, und so trat er dort, wo kein Vorgesetzter ihm dreinzureden hatte, in der eigenen Häuslichkeit, als Herr und Gebieter auf. Die Mutter war ihm ähnlich geworden, war angesteckt von seinen immerwährenden Klagen, und auch sie glaubte sich zurückgesetzt, von den Frauen ihres Kreises ungenügend beachtet, und ihre Hauptbeschäftigung war es, die Klagen ihres Mannes aufzunehmen und weiterzuspinnen. Und Vater und Mutter führten ein Sparsystem ein, das jedem Pfennig seinen Platz anwies, das drückend über dem ganzen Hausstand lag und immer mehr einem scharrenden Geiz ähnlich wurde. Sollte doch eine Summe erreicht werden, die sie selbständig machen könnte von der Tyrannei des Dienens.
Bruder Jan – da war der Bruder Jan. Zehn Jahre älter als das kleine Mädchen, das bewundernd zu ihm aufschaute und seine hin und her gestoßene Liebe zu dem großen klugen Bruder flüchtete. Und immer winkten ihr seine schnell geöffneten Arme, immer hatte er den Platz auf seinem Knie für sie frei, auch wenn er über den Büchern saß oder am Zeichenbrett. Dann erklärte er ihr oft, wie man einem Kinde Märchen zu erzählen pflegt, die geheimnisvolle Bedeutung seiner Striche und Zahlenreihen, und daß er den Zauberschlüssel suche, der ihm die ganze Welt erschlösse.
»Gehst du dann fort von hier?« fragte das kleine Mädchen ängstlich.
»Ja, du lieb Dummchen, weshalb sollte ich sonst wohl den Zauberschlüssel suchen?«
»Und nimmst mich mit, Jan? Ich muß sonst sterben, wenn ich so allein bin.«
»Aber natürlich nehme ich dich mit, Kleines. Und wir spielen in der weiten Welt Brüderlein und Schwesterlein, wie hier in der engen Stube.«
Und er hob feierlich die Finger wie zu einem Schwur, und dann lachten sie miteinander, der große Bruder und das kleine Schwesterchen, bis sie beide zusammenfuhren. Das war, wenn die Haustüre scharf ins Schloß schnappte und der harte, hastige Schritt des Vaters über die Treppenstufen kam.
Ganz still hockten sie beieinander und hofften, daß der Schritt weitergehen möge, aber er ging nicht weiter, und der große Junge und das kleine Mädchen stammelten gleich scheu und verlegen ihr »guten Abend, Vater« bei seinem Eintritt.
»Guten Abend,« sagte der Vater. »Was ist das wieder für eine Kinderei, Jan, daß du das Mädel auf dem Schoß hast? Ist das eine Art, zu arbeiten, wie? Nun kann ich wieder nachprüfen, und kein Mensch nimmt darauf Rücksicht, ob ich müde und abgearbeitet bin. Laß sehen.«
Dann schlich das kleine Mädchen scheu die Wände entlang und schlüpfte zur Zimmertür hinaus, als wäre sie ein Lüftchen, und die Mutter in der Küche schickte sie auch hinaus: »Der Vater soll wohl wieder schelten, daß das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch steht. Weshalb bist du nicht schon im Bett? Hier hast du ein Butterbrot. Nun lauf zu.«
O, das waren noch gute Jahre. Als sie zur Schule mußte, nahm der Jan, der schon die Unterprima besuchte, sie bei der Hand und lieferte sie vor dem Schultor ab, und mittags wartete sie auf dem großen Eckstein vor der Schule auf ihn. Was wußte sie alles zu fragen und er zu erzählen auf diesen Wegen, obwohl sie sich sputen mußten, denn der Vater wünschte, wenn er das Haus betrat, alle um den Tisch versammelt zu sehen.
Zwei Glücksjahre waren es, und sie ließen das Kind reifen über sein Alter hinaus, denn es mühte sich, den Bruder zu verstehen und ihm lieb und angenehm zu sein. Als sich aber das zweite Schuljahr seinem Ende zuneigte, begann eine Unruhe in dem Kind aufzusteigen, und die Unruhe wuchs zur Angst, als der Bruder spielend die Reifeprüfung bestand und auf Stipendien hin die technische Hochschule besuchen durfte. Denn das Kind wußte nicht mehr, an wen es seine Liebe hängen konnte.
Immer engherziger waren Vater und Mutter geworden, immer selbstsüchtiger und nur auf die eigenen Pläne bedacht. Sie sahen kaum, wie das Kind erblühte und die Freude der Nachbarschaft wurde. Aus jedem Spiel heraus rief man sie ins Haus und schickte sie zu ihren Büchern und Aufgaben. »Lern, lern, ein Mädchen, das seine Lehrerinnenprüfung machen will, sollte andere Dinge im Kopfe haben als den Firlefanz.«
Erst zürnte sie den Büchern und saß oft mit mühsam verhaltenem Weinen über den Grammatiken. Dann aber schrieb ihr der Bruder, der nun schon in höheren Semestern stand und sich auf die Diplomprüfung vorbereitete. Er schrieb ihr, daß das Wissen die Welt regiere und nur das Wissen die Freiheit sei. Nicht, wer die Bücher auf dem Rücken, wer sie im Kopfe trüge, hätte das Leben vor sich. »Also sorge, kleine Traute, für den richtigen Marschproviant.«
Von Stund an waren die Bücher ihre Freunde. Die Schulaufgaben wurden rasch erledigt. Nach des Bruders Plan ging es mit glühendem Eifer an die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen, meilenweit über die Grenzen des Schulunterrichts hinaus. Und wenn dann Jan in die Ferien kam, suchten sie die stillen Feldwege auf, die rings um die Stadt liefen und sich weit, weit in den holländischen Wiesen verloren, und ein Tag war der französische Tag und der andere der englische. Kein deutsches Wort durfte gesprochen werden, und sie schwatzte mutig drauflos und ließ ihre Aussprache von Jan verbessern und die Wahl der Worte. Als Jan seine Diplomprüfung bestanden hatte und im Eisenbahn- und Brückenbau beschäftigt wurde, waren ihr die englische und französische Sprache fast so geläufig wie die deutsche. Damals zählte sie erst vierzehn Jahre.
Der Vater hatte seit einiger Zeit sein Augenmerk auf ihr großes Sprachtalent gerichtet. Nun suchte er auch diese Studien zu überwachen und stachelte immer mehr ihren Eifer an. Für Vergnügungen, wie sie die jungen Mädchen lieben, war er nicht zu haben. »Du wirst in wenigen Jahren Geld verdienen können,« sagte er ihr immer wieder, »und das wird dem Haushalt zugute kommen.« Sie besuchte nun schon die Selekta der höheren Töchterschule und erteilte bereits einigen Privatunterricht. Wie gern wollte sie beitragen, des Vaters Pläne zu verwirklichen – für ein einziges, gutes Wort.
Das aber blieb aus. Nur ein Drängen und Drängeln war, und dieses ewige Berechnen.
Für ein einziges Liebeswort hätte sie sich den Eltern an die Brust geworfen als gehorsame, dankbare Tochter.
Und wieder schlich sie scheu durch die Zimmer, wie sie es als Kind beim Eintritt des Vaters getan hatte, und war schon eine Sechzehnjährige mit der Sehnsucht im Herzen, die nach jedem Stück blauen Himmels schaut.
Da erschien unerwartet Jan zurück.
Er hatte mit großer Auszeichnung gearbeitet, in der Praxis Arbeitsverbesserungen von Bedeutung herausgefunden, die Aufmerksamkeit einer amerikanischen Kommission, die Europa bereiste, erregt und sich als leitender Ingenieur eines neuen Schienenweges in den Vereinigten Staaten verpflichten lassen. Nun war er gekommen, Abschied zu nehmen.
»Jan,« hatte sie gerufen und seine beiden Hände umklammert.
»Traute, Traute, an dir fliegt ja jeder Nerv. Und hohlwangig und abgemagert bist du auch. Was ist mit dir, Mädel?«
»Ich halt' es nicht mehr aus, Jan.«
Ach ja, es war dasselbe Wort, das sie heute der Präsidentin zugerufen hatte. Dieselbe Angst vor dem Verkümmern. Es fiel ihr ein.
»Komm mit, Gertrud. Ich hab' dich lieb und kann dich gebrauchen.«
Da war sie ihm halb besinnungslos vor Freude um den Hals gefallen.
»Mein armes Mädel,« hatte der Bruder gesagt und ihr schmales Gesicht gestreichelt, »das Leben wird viel an dir gut zu machen haben. Na, gib acht, wir werden den Kopf schon hoch kriegen.«
Es war ein furchtbarer Auftritt mit den Eltern geworden. Der Vater verlangte, allein den Weg der Kinder zu bestimmen.
»Vater, dein Weg kann nicht Gertruds Weg sein. Sieh sie dir an. Sie vergeht euch unter den Händen.«
»Ein Mädchen gehört ins Elternhaus. Schlimm genug, daß man sie eines Tages nach all der Last und Qual einem wildfremden Menschen herausgeben muß, der uns nichts dafür gibt als neue Sorgen.«
»Vater, ist dies wirklich Gertruds Elternhaus? Hat sie das je an eurer Liebe gespürt?«
Es wurde eine Stunde der Erregungen und keine Verständigung.
In der Nacht klopfte Jan an ihre Tür. »Komm, Traute.« Und sie war herausgekommen und hatte sich bebend an seinen Arm geklammert und sich fortführen lassen, zum Bahnhof, weiter, zum Hafen. Wie zwei heimatlose Kinder zogen sie aus, ihr Glück zu suchen. Ihr Abschiedsgruß an die Eltern war unerwidert geblieben.
Wie ist es möglich, wie ist es möglich, grübelte die Einsame im Lehrerinnenstübchen, daß Eltern ihren Kindern nicht ihre Liebe nachsenden, wenn auch die Wege auseinanderliefen. Wie arm müssen sie sein, wenn es nicht für das bißchen Liebe reicht.
Wie reich war Jan gewesen. Wie verschwenderisch hatte er sie beschenkt, sie die Freude gelehrt, die Hingabe an die Natur und ihre Schönheiten, die wie Trösterinnen sind. O du lachendes Leben! Und Jan war gestorben und lag begraben in fremder, amerikanischer Erde, und sie selber sah, einsamer als je zuvor, eingefangen und angekettet, und ganz vergessen.
Vergessen?
Und immer wieder grübelte sie darüber nach. Wie können Eltern ihr Kind vergessen, selbst wenn es gegen den elterlichen Willen gefehlt haben sollte? Muß nicht Elternliebe wie ein Zauber sein, der durch die Meere fährt und durch die Wüsten und sucht und sucht, bis er gefunden hat und neue Sonne an den Himmel zaubert?
Nein, nein, es war kein Brief gekommen in all den Jahren, keine Antwort auf ihr Rufen aus der Fremde, das um Liebe bettelte.
Sie war allein und mußte das Leben weiter zwingen.
»Ja,« sagte sie und erhob sich. »Ich muß. Wenn ich mich jetzt ergebe, ist es zu Ende. Was würde Jan zu seiner Schwester sagen, die wie ein Mann mit ihm durch die Felsengebirge und durch die Steppen ritt? Freiheit, würde er sagen. Ein eigenes Strohlager ist besser als ein gemietetes Prunkbett.«
Sie sah ihr schmales Eisenbett an, und das Lächeln kehrte ihr zurück.
Es war kein Prunkbett, o nein. Aber träumen wollte sie jetzt in ihm. Von dem heutigen Tag. Von der Begeisterung des Mannes, der ihre eigene schlafengegangene Begeisterung wieder aufgeweckt hatte. Von – von – und tausend Mädchengedanken wirbelten ihr durch den Kopf.
Verlassen? Nein, sie war nicht verlassen, denn sie verließ sich selber nicht. Sie hatte ihn wieder, den Willen zum Leben.
Sie streifte die Kleider ab, löschte das Licht und dehnte auf dem harten Lager die Glieder. Und eine Freude schoß durch ihr Blut dahin, als sie spürte, wie die Muskeln stark und fest geblieben waren und spielend gehorchten.
»Ich bin noch jung, ich bin noch nicht lebensmüde,« sagte sie laut in das Zimmer hinein, und ein frohes Mädchenlachen flog hinterdrein.
»Noch ein Jahr – nur noch ein Jahr ...«