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3

Quer durch den Wald zog der Reiterzug. Der steile Abstieg wurde vermieden. In Kehren, die nur in der Einbildung des Führers bestanden, mußte die Bergkuppe, auf der sich die mondbeschienene Halle hob, umritten werden, mitten durch krachendes und splitterndes Unterholz. Aber der Baron war der Führer. Den grauen mexikanischen Schlapphut in den Nacken geschoben, trabte er scharfen Auges voran, ließ auf wegsamen Strecken den Gaul angaloppieren und ruhigtastend im Schritt gehen, wenn ihm die Stämme von links und rechts wieder auf die Hacken rückten. Er ritt mit dem Instinkt des Reiters der Wildnis. Er hätte sich mit derselben Sicherheit in den Pampas Argentiniens und in den Urwäldern des Amazonenstromes zurechtgefunden wie in dem Menschengewühl der Pariser Boulevards.

Dicht an seine Fersen hielten sich Unkelbach Vater und Sohn. Der Alte saß wie angegossen auf seinem kräftigen Pferd, und in der Reiterkunst gab er trotz seines Schwergewichts dem hageren Baron kaum nach. Auch hier war der Sohn das Abbild des Vaters. Und wenn der Baron bei einem kühnen Ansprung seinen wildesten Jauchzer erschallen ließ, so schrien Vater und Sohn Unkelbach um die Wette mit.

Wegherr ritt, als hätte er Zeit seines Lebens nichts anderes getan, als im nächtlichen pennsylvanischen Bergwald den Hals gewagt. Sein Kopf war frei von allen drückenden Gedanken, seine Brust dehnte sich, und die Seele wurde ihm so seltsam jung wie eine Knabenseele im Abenteuerland. Immer wieder flog ihm ein Lachen von den Lippen. Wo war er? Was tat er? Wer war er geworden? So unglaublich phantastisch dünkte ihn das Brausen des deutschen Reiterzuges durch die amerikanische Nacht.

Nun kamen sie an den Fußpfad. Der Baron wandte sich im Sattel um und winkte mit der Hand.

»Seid ihr alle beisammen?«

»Wenn Sie noch beisammen sind?«

»Wartet, Jungens, ich werde euch Appetit auf das Frühstück machen.« Und in atemlosem Galopp führte er weiter bis zum nächsten Kreuzweg. »So, und nun habe ich euch wohl genügend ins Gebet genommen, daß ihr die Morgenkirche sparen könnt.«

Die Hälfte des Trupps verabschiedete sich. »In vier Wochen!« riefen sie und winkten mit den Reitpeitschen.

»Bringt mehr Durst mit!« donnerte der alte Unkelbach hinter ihnen her. Dann hatte der mächtige Wald sie verschlungen.

Der Pfad war breiter geworden, und Wegherr ritt eine Zeitlang an der Seite des Barons.

»Geradenwegs wieder nach Neu-Mexiko, Herr Baron? Oder erst noch eine Ausspannung?«

»Hab' noch in Washington zu tun. Geschäfte mit der Bundesregierung. Stellen ein neues Artillerieregiment auf, und dafür habe ich gerade die drahtigsten Gäule. Alles Groschen für meine Klevesche Klitsche, Doktor.

»Also unbeschränkter Urlaub. Sie haben's gut.«

»Urlaub?« verwunderte sich der Baron. »Von wem Urlaub? Ach, du lieber Gott, Sie trauen mir doch keine Frau zu? Nee, Verehrtester, davor hat mich der niederrheinische Himmel im Kleveschen bewahrt, und auf den amerikanischen pfeif' ich. Scherz beiseite, Doktor. Könnt' es mir sonst so gut gehen?«

»Also eingefleischter Weiberhasser?«

»Was?« schrie der Baron. »Nicht im Traumzustand! Ich kann mir gar nichts Famoseres denken als so ein niedliches, properes Geschöpf. Aber sehen Sie,« fügte er lachend hinzu und klopfte den Hals seines Pferdes, »da erzählen uns doch die lieben Weiberchen immerzu, sie wollen nichts als unser Glück. Schön, sage ich, dann schenkt mir ewiges Junggesellentum. Juhu!«

Das Pferd tat bei dem Wonneschrei einen Satz, als wollte es ausbrechen. Aber der Baron hatte es fest in der Hand. »Nee, nee, Doktor, über das Wohlbefinden des Junggesellen geht nichts, aber rein gar nichts. Sie dürfen Ihr eigener Mensch sein, werden nicht zur Ohrenbeichte herangezogen, brauchen über Gehen und Kommen keine Rechenschaft abzulegen und abends nicht das Portemonnaie vorzuzeigen, können die Köchin hinausschmeißen und auf den Tisch hauen und tausend schöne Dinge tun, von denen der guterzogene Ehemann erst im Todesschlaf zu träumen wagt. Ach ja, der Schlaf. Wie köstlich ist der Schlaf des Junggesellen. Kein Mensch hustet in Ihrem Zimmer als nur Sie, immer haben Sie Recht, und die Zähne dürfen Sie sich ganz alleine putzen.«

Er schauderte in den Schultern, ließ das Pferd angaloppieren und entfloh vor den eigenen Bildern.

Lachend verhielt Wegherr seinen Gaul und wartete die anderen ab. Es waren noch Unkelbach Vater und Sohn und Georg Wuppermann. Mit ihnen ritt er weiter, bis die Landstraße erreicht war und es wieder ans Abschiednehmen ging.

»Die Unkelbacher reisen mit mir nach Washington,« erläuterte der Baron. »Haben einen Fleischkontrakt abzuwickeln. Von dort geht's zusammen heim. Die alte rheinische Nachbarschaft wird nämlich zwischen Südwest-Kansas und Neu-Mexiko fortgesetzt. Auf Wiedersehen, meine Herren. Ein ander Mal im Leben. Hat mich wirklich gefreut, Doktor.«

Dann nahmen die Unkelbacher das Händeschütteln auf. Gegen seine Gewohnheit war der Alte ernst, als er Wegherrs Hand presste.

»Verdammt,« sagte er, »Sie haben so einen frischen Luftzug aus Deutschland mitgebracht. Ich wollt', Sie hätten's nicht getan. Aber ich bin doch arg froh.« Warf seinen Gaul herum und sprengte kerzengerade hinter den anderen drein.

»Prachtkerle, Georg. Und dieser unverwüstliche Lebensmut.«

»Und hausen mutterseelenallein. Der eine auf seiner Pferdeprärie, die beiden anderen auf ihrer Rindviehranch. Aber einmal im Jahr besuchen sie uns. Wenn sie in Washington mit der Armeeverwaltung zu tun haben.«

»Und alle drei unbeweibt?«

»Alle drei. In den westlichen Staaten sind die deutschen Mädels rar, und vor den Amerikanerinnen haben sie eine Heidenangst.«

»Was ich von den Amerikanerinnen gesehen habe,« meinte Wegherr im Weitertraben, »war nicht übel. Aber die Frauenfrage scheint hier ein gefährliches Kapitel zu sein.«

Wuppermann dachte nach. »Ja und nein,« sagte er dann. »Man muß die Sache nur mit amerikanischen Augen betrachten. Daß die amerikanische Frau eine andere Stellung einnimmt als die deutsche, ist weltbekannt. Ob aber diese Stellung eine bessere, sagen wir mal: für das Volkswohl gesündere ist, das steht freilich auf einem anderen Blatt. Will man ganz gerecht sein, so muß man einen Blick auf die Kulturgeschichte der amerikanischen Frau werfen, und das liegt dir ja als Geschichtsforscher besser als mir.«

»Gut,« sagte Wegherr, »ich will versuchen, mich hineinzufinden, und du magst als Kenner von Land und Leuten nachher die Kritik übernehmen. Die Vereinigten Staaten sind noch sehr jung. Bei Licht betrachtet kaum 100 Jahre alt. Der Riesenteil aber, der Westen und Nordwesten, war bis vor einigen fünfzig Jahren noch menschenleer. Denn die Indianerstämme zählen hier nicht mit. Dann kam auf die Kunde von den amerikanischen Goldfunden ein Strom von Männern ins ungeheure westliche Land. Trapper, Farmer, Abenteurer aus den Städten diesseits und jenseits des Ozeans, alles wusch und grub Gold. Frauen gab's in den wilden Lägern keine. Wo sich eine zeigte, wurde sie wie eine Heilige oder doch wie die größte aller Kostbarkeiten verehrt. Die Goldsucherei hörte eines Tages auf. Die Männerscharen verstreuten sich in den unendlichen Gebieten, nahmen Land in Besitz, wurden Weizenbauern und Viehzüchter oder gründeten Handelsniederlassungen, die wie Pilze aus der Erde schossen und sich schnell zu großen Städten verdichteten. Immer noch bildeten die Frauen in der Kindheit dieser neuen Länder eine geringe Minderheit. Und wie alles Seltene, so hatten sie die höchste Bewertung und den höchsten Preis. Um ihre Kleinodien zu hüten, scharten sich die Männer einer Farm, eines Jägerlagers, einer Ortschaft oder einer Stadt zusammen und verteidigten sie gegen Wind und Wetter, gegen Indianerüberfälle und Negergier. Die Beleidigung ihrer Heiligen, ihrer Frauen und Mädchen, wurde mit Blut gesühnt. Einen Wunsch der Frauen zu erfüllen, und setzte man Hals und Kragen dafür ein, galt in der Wildnis wie in den aus der Wildnis aufgeschossenen Städten als selbstverständliche Ritterpflicht. Was Wunder, daß das den Frauen und Mädchen zu Kopfe stieg, daß sie das, was in der Wildnis Rechtens gewesen war und eine moralische Schule der bunt zusammengewürfelten Männer, bald auch in die Kulturzentren des Ostens einführten. Hier nahmen es die Gebildeten erst als Sport, aus dem Sport aber erwuchs eine Wirklichkeitsregel, die nicht mehr wie Baseball oder Tennisschläger beiseite zu legen war. Der amerikanische Frauenkultus war zum Dogma geworden, aus ritterlichem Spiel ein krankhafter Ernst.«

»Ausgezeichnet,« lobte Wuppermann staunend. »Nur das Wort krankhaft will mir nicht gefallen.«

»Ist es nicht krankhaft,« fuhr Wegherr im Eifer fort, »wenn alles über eine Schnur gezogen wird? Ich bin wahrhaftig ein Frauenverehrer und Frauenlob, aber ich möchte mir doch die Freiheit bewahren, diese Verehrung dort zu betätigen, wo sie am Platz ist. Wo der Gegenstand sie aus sich selbst heraus bewirkt. Jede Naseweisheit eines grünen Gänschens aber für eine Erleuchtung zu halten und vor jeder Laune einer überheblichen Frau in die Knie zu knicken, nur weil ein Unterrock im Spiel ist, dafür möchte ich mich mit meiner männlichen Würde doch allerbestens bedanken. Will die Frau als ein höheres und idealeres Wesen behandelt sein, so soll sie sich danach betragen, und der Männer Betragen wird sich von selber danach richten. Anders ist es eine künstliche Raserei, die aus Frauen Kokotten und aus Männern weibische Gesellen macht.«

Wuppermann hatte aufmerksam zugehört.

»Ich unterschreibe das vollständig,« erwiderte er. »Eine Frau, die immerzu mit dem kleinen Finger winkt, und ein Mann, der das Maul zu halten hat, wenn er sich nicht gerade vor dienstlichem Übereifer überschlägt, sind mir beide gleich widerlich. Aber – und nun kommen zwei wichtige Aber: ›aber‹ erstens findest du diese Gattung Frauen auch in Berlin und Paris und allen möglichen Städten drüben wie hier, wenn sie auch naturgemäß bei uns zu Lande wegen der jüngeren Kultur erschrecklichere Ausdehnungen aufweist, und ›aber‹ zweitens gibt es Gott sei Dank heute auch schon bei uns eine Frauenklasse, die etwas Besseres zu tun weiß, als das Gnadenherrgöttle im Unterrock zu spielen, nämlich ihrem Mann fest an die Hand zu gehen und eine tapfere Hausfrau zu sein. Für die Anbetung fällt dann immer noch reichlich Zeit ab. Und, aus erhöhten Wertschätzungsgründen, in verstärktem Maße.«

Eine Weile ritten sie stumm dahin. Dann sagte Wegherr, und in seiner Stimme schwang etwas Fernes mit:

»Du bist ein braver Kerl, Georg, und dein Urteil ist von einer unerschütterlichen Gesundheit. Nun soll ich bald unter dein Dach treten. Und du hast noch nicht erfahren, was hinter mir liegt.«

Georg Wuppermann legte ihm die Hand auf den Arm.

»Ich würde nie danach fragen. Weil ich an dich glaube. Seitdem wir unsere ersten Hosen miteinander zerschlissen. Und deshalb werde ich auch das, was du mir zu erzählen für gut hältst, nur als einen neuen Vertrauensbeweis auffassen. Dort, in dem Gartengelände, liegt mein Landhaus. Es ist zwei Uhr nachts, und morgen ist Sonntag. Wenn du also willst, stehe ich dir als Zuhörer zur Verfügung. Zu Bett hätt' ich dich doch noch nicht gelassen.«

Vor dem Gittertor sprangen sie von den Pferden. Ein Hund schlug an, erkannte seinen Herrn und schwieg. Und über den geharkten Kiesweg führten sie die Pferde in den Stall und besorgten sie selber. Dann erschloß Wuppermann die Haustür, drehte das elektrische Licht an und ließ den Gast über die Diele in sein Arbeitszimmer treten.

»Entschuldige nur eine Minute,« bat er. »Nur einen Trunk zum Willekumm. Nee, nee. Liegt schon in der Küche im Eisschrank zurecht. Du willst mich doch nicht vor meiner Frau lächerlich machen?«

Wie wohlig das hier war. Ernst Wegherr dehnte die vom Ritt versteiften Glieder im bequemen Klubsessel und blickte ringsum. Die Möbel waren von gediegenem Geschmack, die Bücherei in der Ecke gut besetzt, an den Wänden aber hingen die Familienphotographien genau wie in dem Schmiedehaus der Herzbachstraße, nur daß die Reihe durch ein ernsthaftes Frauenbildnis und vier lustige Kinderbilder erweitert war.

Lange sah Wegherr in die ernsten Frauenaugen hinein. »Augen, die Heimatglück bringen,« sagte er vor sich hin.

Wuppermann kam zurück. Er setzte zwei Gläser und eine Flasche auf den Tisch und wies auf die Aufschrift. »Kabinettswein, mein Junge, den kriegten wir in der Herzbachstraße nicht.« Er schenkte ein und stieß mit dem Freund an: »Willkommen in meinem Hause, Ernst. Laß es dir gefallen.«

»Ich danke dir, Georg. Das hätten wir beide einst nicht geahnt.«

Sie saßen in ihren Klubsesseln und sahen dem Rauch ihrer Zigarren nach. Ihre Gedanken waren weit. Und mit einem Male klang aus der Stille heraus Wegherrs Stimme, ruhig und fest, als führe er in einer Unterhaltung fort.

»Das sind jetzt fünf Jahre, daß ich mich verheiratete. Ich hatte also hinlänglich Zeit gehabt, eine Wahl zu treffen. Sie fiel auf eine Frau, die zu den ersten deutschen Schauspielerinnen zählte, und da mein Name als Forscher schon Nachhall gewonnen hatte, hoffte ich, auch von ihr nicht übersehen zu werden. So kam es, daß ich sie bald nicht nur auf der Bühne sah, wo sie mich begeisterte und durch die überragende Wahrhaftigkeit ihres Spiels immer stärker auf mich wirkte, sondern daß ich sie auch bald in einigen der besten Häuser traf, zu deren gesellschaftlichen Veranstaltungen auch ich zugezogen wurde.

Du weißt, es hat immer ein gut Stück Psychologe in mir gesteckt. Das hat ein Geschichtsforscher vor allen Dingen nötig. Darauf verließ ich mich und dachte nicht daran, daß Psychologie und Liebe sich ungefähr wie Feuer und Wasser zueinander verhalten. So gefiel sie mir auch in der bürgerlichen Rolle der Dame nur immer besser, ja, Bühne und Leben schienen mir in ihr an Wahrhaftigkeit des Charakters und Temperaments dasselbe zu bedeuten. Sie bemerkte meine stillen Huldigungen, und da sie sich wohl bei den Gastgebern und Gästen nach mir erkundigt hatte und somit von meiner Anständigkeit als Mann und Wissenschaftler überzeugt sein durfte, so verwehrte sie mir meine Verehrung nicht. Die glücklichste Zeit meines Lebens brach an.

Damals war ich gerade von einer längeren Studienreise zurückgekehrt und hatte eine Professur übernommen. Die Studenten strömten mir zu. Sie wurden wohl nicht betrogen, wenn auch das Feuer, das bis in meine Beredsamkeit hineinlohte, nicht allein meinen wissenschaftlichen Forschungen entsprang. Abend für Abend, wenn Margarete eine große Rolle spielte, saß ich irgendwo im Dunkel des Theaters, ließ kein Auge von ihr, sog den Ton ihrer Stimme auf, glaubte ihre Seele in meinen Händen zu tragen. Das war kein blindes Verliebtsein. Das war ein Erkennen und Verstehen im Reiche des Geistigen.

Aber auch der Verliebte kam zu seinem Recht. Wenn ich sie an der dunklen Straßenecke, gegenüber dem Schauspielereingang, erwartete, war mir wie einem seligen Primaner zumut. Ich glaube sogar, dies war mein erstes ernsthaftes Abenteuer. Und deshalb berauschte es mich so über die Maßen. Dabei hatte ich sie noch nicht geküßt. Das geschah an einem späten Theaterabend, als wir in heftigem Wortstreit durch eine Anlage schritten und sie mir plötzlich die Lippen hinhielt. Mein Gott« ...

Sein Gesicht färbte sich. Er kämpfte etwas nieder und fuhr fort:

»Von nun an stritten wir kaum noch beim Nachhauseweg. Wir wurden – nun ja – wir wurden das echte und rechte Liebespärchen. Wie die Kinder waren wir. Sobald die Straße leer war, hingen wir uns so fest ineinander ein, daß wir alle drei Schritte stehenbleiben mußten, um Luft zu schöpfen. Aber einer mußte den anderen fühlen, mußte wissen: du bist bei mir, wir sind eins. Und wenn wir uns dabei ›Herr Professor›, und ›Königliche Hofschauspielerin‹ betitelten, so war des kindischen Jubels kein Ende. Ein Universitätsprofessor und eine berühmte Künstlerin wie ein Tanzstundenpärchen in den dunkelsten Gegenden der Residenz – es hatte einen Reiz, der kopflos verliebt machte.

Seltsam, daß ich damals auch nicht eine Sekunde darüber nachdachte, wie dies tolle Tun und Treiben zu der großen Linie passe, die mich zuerst – im Theater wie im Salon – in Bewunderung hatte aufblicken lassen. Meine Sinne standen wohl schon zu sehr im Bann ihrer starken Weiblichkeit.«

Er ließ die kaltgewordene Zigarre achtlos in den Aschenteller fallen und legte die Hände im Schoß ineinander.

»Dann fragte ich sie eines Abends, wann wir heiraten wollten, denn uns das zu fragen, hatten wir bei all unsern Liebesbeweisen noch gar keine Zeit gefunden.

›Heiraten?‹ fragte sie zurück. ›Du willst mich heiraten?‹

›Margarete,‹ sagte ich, ›du bist von einer köstlichen Harmlosigkeit. Was soll ich sonst wohl wollen? Vom Fleck weg heirate ich dich.‹

›Mein hoher Herr,‹ gab sie spottlustig zur Antwort, ›ich bin nur eine arme Magd.‹

›Ich verdiene für zwei, und wenn uns das Glück wohl will, für ein halbes Dutzend.‹

›Ei,‹ sagte sie, ›so hoch bezahlt man in Preußen die Professoren?‹

Da setzte ich es ihr auseinander. Mit dem Stolz des Schaffenden. Daß ich mit den Einkünften meiner Professur kaum rechne, nicht zu rechnen brauche. Daß mich nicht nur mein ererbtes Vermögen unabhängig mache und mir die Mittel für meine Forschungsreisen gewähre, sondern daß der Ertrag meiner wissenschaftlichen Werke allein hinreiche, um einen standesgemäßen Haushalt zu bestreiten. Beides kommt zusammen,« fügte ich hinzu, »und du wirst sehen, wie es mir helfen wird, wenn ich in Zukunft dich zum Begleiter habe in aller Welt, wo es gilt, den Spuren der Geschichte nachzugehen und sie aufzudecken, bis das Erforschte wie ein lebendes Bildnis vor uns steht und kühne und starke Schlüsse ausspricht für Gegenwart und Zukunft. – So redete ich mich in die Begeisterung.

Und Margarete ging nachdenklich neben mir her.

›Ich soll dich begleiten?‹ sagte sie dann aus ihren Gedanken heraus. ›Also meinst du, daß ich meine Entlassung von der Bühne nehmen soll. Nun, wir wollen sehen.‹

›Wir wollen sehen? Was gibt es da für zwei Menschen, die sich liebhaben, noch viel zu bedenken?›

Sie aber blieb dabei. ›Ich will ja nur acht Tage Bedenkzeit. Nicht um zu bedenken, wie groß das Opfer meiner Kunst ist, sondern für uns beide, damit wir uns während der achttägigen Trennung ohne den Rausch des Sehens klar werden, ob wir ohne einander leben oder nicht leben können.‹

Ich willigte ein.

Und diese acht Tage nutzte sie, um über mein Vermögen und meine Einkünfte, über meine Stellung und meine Zukunft die genauesten Erkundigungen einzuziehen. Doch das erfuhr ich erst später.«

Er spielte mit dem Fuß seines Glases, nahm es vom Tisch und setzte es wieder hin, ohne zu trinken.

»Nach acht Tagen gab sie mir ihr Ja-Wort. Erlaß mir die Schilderung meiner Empfindungen. Ein Rausch läßt sich nicht mit Worten malen. Ich wandelte auf Wolken, und nicht auf der Erde. Die Entlassung aus dem Verbande der Bühne wurde ihr nach zähen Unterhandlungen mit dem Abschluß der Spielzeit gewährt. Und diese Monate bis zu unserer Vereinigung nutzten wir zur Einrichtung unseres Nestes.

Nun, es wurde ein Nest, das sich sehen lassen konnte. Da war nicht ein Stück des Hausrates, das nicht die feinen Reize des Altertumswertes besaß, und wer über die alten, farbenheißen Teppiche schritt, dem mußten die Sinne geweckt werden für die geheimnisvollen Schönheiten des Lebens, der mußte etwas wie eine Offenbarung erwarten. So ist es nicht allein mir ergangen.

Die Hochzeit fand statt. Meine Eltern waren tot, von ihrer Familie wußte ich nicht viel. Ihr Vater lebte irgendwo im Osten als Regierungsbeamter, und ein paar Schwestern waren hier oder dort verheiratet. Es hatte seit Jahren schon kein innigeres Band mehr in der Familie bestanden, und es erschien auch niemand von der Familie zur Feier. Aber in großem Stile wurde sie trotzdem gehalten, das hatte Margarete so gewünscht, und der beliebteste Modeprediger mußte im vornehmsten Gotteshaus die Trauung vollziehen. Die Kirche war so gedrängt voll Menschen, wie sonst an Sonntagen nicht. Als ob ein neues Stück im Theater gespielt würde mit der berühmten Schauspielerin in der Hauptrolle. Es war in der Tat so. Margarete trat zum erstenmal in der Rolle von Frau Professor Wegherr auf.«

Ein Zucken ging um seinen Mund. Wie ein schmerzhaftes Lachen. Still saß Wuppermann dem Freunde gegenüber.

Und Wegherr fuhr fort.

»Ich war verheiratet. Ich hatte die angebetete Frau, die bis dahin der Kunst und den Kunstenthusiasten gehört hatte, für mich. Für mich ganz allein. Und ob es auch für den Süden schon etwas weit in der Jahreszeit war, ich entführte sie nach Sizilien. Ich lebte mit ihr ein paar Wochen, die etwas Unwirkliches an sich hatten in ihrem wilden Schönheitszauber. Wie ein Jugendrausch war es auch über sie gekommen, der ihr Bestes hervorrief. Eine Spanne lang. Und dann verlangte sie nach Rom, unter Menschen. Aber Rom war schon in der Sommerfrische, bis auf eine Kolonie von Malern und andern Künstlern, die sie mit der Willkür einer Königin vor ihren Wagen spannte. Ich gebe zu, daß mir die Tributpflichtigkeit eines jeden Mannes, der vor ihr Angesicht trat, eine Art stolzer Genugtuung war. Denn ich – ich war ja der Herr und König dieser Königin und war doch nur der Lieblingssklave.

Ich wurde zum erstenmal furchtbar in meinem Stolz ernüchtert, als es in unserem Beisein zu einer wüsten Schlägerei zwischen zwei jungen Malern kam, die einer im andern den glücklichen Nebenbuhler witterten. Die übrigen nahmen Partei. Und die Osteria, in der wir den Abend zuzubringen gedachten, erdröhnte von dem Geschrei der wahnsinnig gewordenen Menschen. Margarete aber saß in ihrem Stuhl vorgebeugt und nahm mit funkelnden Augen das widerwärtige Schauspiel in sich auf.

›Wir gehen,‹ bestimmte ich.

›Nein,‹ antwortete sie nur. Und ihre Stimme war ganz kalt geblieben. Ich weiß noch heute, wie mich die Kälte der Stimme inmitten des heißen Getümmels überraschte. Und plötzlich kam mir der Gedanke, daß sich die Frau neben mir, die Schauspielerin in ihr, nur ein künstlich-berechnetes Schauspiel geschaffen habe. Sie wollte sehen, wie weit sie noch zu wirken vermöge. Da stand ich auf, bot ihr den Arm und führte sie hinaus.

Wir sprachen kein Wort, bis wir in unserem Hotelzimmer angelangt waren.

›Warst du schuld?‹ fragte ich.

Sie hatte seelenruhig schon mit der Nachttoilette begonnen. Sie wandte kaum den Kopf.

›Aber natürlich, Ernst.‹

›Natürlich?‹ gab ich ganz erschrocken zurück. ›Das findest du natürlich? Du, Kind, überlege bitte einmal.‹

›Jetzt noch?‹ lachte sie. ›Aber jetzt liegen sie sich ja in den Haaren! Große Schlußszene des ersten Aktes.‹

›Also wahrhaftig von dir künstlich herbeigeführt?› staunte ich. ›Und diese scheußliche Szene beleidigt nicht dein Frauenempfinden?‹

›Wieso denn nur?‹ gab sie achselzuckend zurück. ›Auf der Bühne hab' ich in noch viel scheußlicheren Szenen mitgewirkt, und meine Kunst ist nur dabei gewachsen. Dort erprobte ich meine Wirkung auf dem Theater, hier im Leben. Studien, lieber Freund, wie du sie für deine Geschichtsforschungen machst.‹

›Um Gottes willen, Margarete,‹ unterbrach ich sie, ›das sind doch unhaltbare Vergleiche. Meine Studien und Forschungen sind mein Lebensberuf. Du aber bist meine Frau geworden. Und so hast du es vor allen Dingen nicht mehr nötig, Studien zu machen, die gegen den guten Geschmack verstoßen. Darin, scheint mir, liegt die Pflicht einer Frau.‹

›Und die Pflicht eines Mannes,‹ gab sie kurz zurück, ›liegt darin, eine Frau nicht mit philisterhaften Reden zu langweilen.‹

›Nennst du das so, wenn ich über deinen guten Ruf wache?‹

›Wenn der gute Ruf einer Frau schon durch einen Kuß litte,‹ spottete sie, ›so gäbe es kaum noch eine anständige Frau auf der Welt.‹

›Du hast ihn – geküßt?‹ fragte ich und glaubte, mißverstanden zu haben.

›Ihn?‹ lachte sie. ›Alle beide. Jeder erhielt einen Theaterkuß. Und dann kam es, wie ich es vorausgesehen hatte. Wenn du nicht ein solcher Philister gewesen wärst, vorzeitig aufzubrechen, hätten wir noch einen viel köstlicheren Spaß erlebt.‹

›Mein Gott,‹ sagte ich und starrte sie fassungslos an, ›sprichst du im Ernst?‹

Sie sah mir ruhig ins Gesicht. ›Ich habe mich nicht verheiratet, um mich zum alten Eisen legen zu lassen. Ich bin an die Huldigungen der Menge gewöhnt. Ich bin daran gewöhnt, sie zu entfesseln. Und diesen Spaß lasse ich mir nicht nehmen. Heute hatte ich Lust darauf.‹

Es war mir nicht möglich, sie zu überzeugen. Alles, was sie an Beweisen zu erwidern hatte, lag meiner Gefühlswelt, meiner ganzen Erziehungswelt so meilenweit fern, daß wir in zwei verschiedenen Sprachen aneinander vorbeireden mußten. Als wir uns zur Ruhe legten, hatte sich eine dünne, unsichtbare Wand zwischen uns aufgerichtet, und die ganze Nacht lag ich wach und zermarterte mein Hirn, wie ich die Wand wieder entfernen könne, bevor sie sich verdichtete. Am anderen Morgen reisten wir ab.«

Eine Weile saß Wegherr stumm. Dann reichte ihm Wuppermann die Hand herüber.

»Erzähle nicht weiter, wenn es dich bedrückt.

Da hob Wegherr den Kopf.

»O nein, es bedrückt mich gar nicht mehr. Je weiter ich dir berichte, desto leichter wird mir. Nur der Anfang war schwer. Da war ich noch mit dem Herzen beteiligt. Nachher wurde ich bloßer Zuschauer.«

Er nahm sein Glas auf und trank es leer.

»Wir reisten nach Deutschland und saßen ein paar Monate in unserem künstlerisch schönen Nest. Aber diese trauliche Schönheit langweilte sie. Ihr alter Theaterarzt, den sie beibehalten hatte, verordnete ihr Ostende. Und wir reisten dorthin. Es war so drückend heiß in der Stadt geworden, daß auch ich eine Erholung brauchen konnte. Diese Erholung bestand in einer immerwährenden Qual. Ich bin nicht eifersüchtig und halte die Eifersucht bei einem Manne für eine Erniedrigung, für ein Aufgeben des Persönlichkeitswertes. Aber ich habe ein unbedingtes Bedürfnis der seelischen Reinlichkeit. Und alle die Blicke, die Margarete zu entfesseln wußte, die sie spielend an sich zog, hochmütig ablehnte und mit einem Augenaufschlag wieder an sich fesselte, alle die suchenden, tastenden, bettelnden Männerblicke empfand ich wie etwas unsagbar Beschmutzendes. Für Margarete aber waren sie eine Quelle des Vergnügens.

Dann kam die Wintersaison in der Residenz. Alles, was zur ›Welt‹ gehörte, strömte bald in unser Haus. Für jeden hatte sie ein Wort, einen Blick, einen Händedruck, der ihm Vertrauliches zu sagen schien. Dabei verlor diese Frau sich selber nicht für eine Sekunde. Alles an ihr war und blieb die große Schauspielerin. So war die Schönheit ihres Körpers, so war – ihre Seele. Das, was man bei anderen Menschen Seele nennt. Ob Offizier, ob hoher Beamter, ob ernster Wissenschaftler: darin mußten sie sich mit dem jüngsten begeisterungsfähigen Studenten teilen, ihr mit aller Hingabe zu huldigen und zu dienen. Von Frau Margarete Wegherr beachtet oder gar ausgezeichnet zu werden, galt bald als neuester gesellschaftlicher Befähigungsnachweis. Und sie blieb lockend wie eine Flamme und kalt wie Eis. Das schürte, weil man die Kälte für einen Kampf mit der Tugend nahm.

Mein lieber Junge, du kennst mich von Kindesbeinen an. Und so wirst du dir selber sagen können, daß ich innerlich zerrissen, tief beschämt und selbst in meiner Wissenschaft gelähmt wurde. Zu häuslichen Szenen lag kein Anlaß vor. Sie wußte bei all ihrem Spiel genau, wie weit sie zu gehen hatte, ohne ihre Stellung zu gefährden. Und gerade das war es, was ich am meisten verabscheute. Keine verzeihliche Leidenschaft, nur ein Spiel, aber ein Spiel, bei dem sie keine Scheu und Schonung kannte.

Als das Winterhalbjahr zu Ende war, mußte ein Entschluß gefaßt werden. Ich gab meine Lehrtätigkeit auf, um mich ein oder zwei Jahre lang frei meinen Forschungen hinzugeben. Der Plan eines neuen großen Werkes stand vor meinen Augen. Ich trug ihn Margarete vor. Aber ihre Neigungen lagen auf einem anderen Gebiet. Und der Gedanke einer Studienreise durch ein paar Erdteile mit allen ihren Mühseligkeiten, aber auch mit aller ihrer Forscherwonne, erschien ihr geradezu als eine Ungeheuerlichkeit, als ein Anschlag gegen die Freiheit ihrer Persönlichkeit. Da ich auf meine Reise nicht verzichten konnte und verzichten durfte, ohne mich und meine Zukunft einfach aufzugeben, so traf ich allein meine Reisevorbereitungen, in der stillen Hoffnung natürlich, sie werde sich dem Ernst meines Entschlusses beugen. Das geschah nun keineswegs. Und so blieb mir als Notanker nur der Gedanke, daß eine zeitweilige Trennung uns wieder näher bringen werde. Ihr Programm ging dahin, den Sommer bei Bekannten auf einem Gut zu verleben, eine Kur in einem Wildbad anzuschließen und sich für den Winter mit einer Gesellschafterin zum Genuß einer Konzert- und Theatersaison einzurichten. So wenig hatten wir uns im Grunde noch zu sagen, daß wir unsere gegenseitigen Pläne guthießen und das übrige der Zeit anheimgaben.

Ich blieb ein Jahr lang draußen. Jetzt erst merkte ich, was aus mir geworden war, was ich brauchte, um mich wieder in die Höhe zu schnellen. Mit beiden Fäusten packte ich die Arbeit an. Und in der Arbeit fand ich mich wieder. Jede Woche schrieb ich meiner Frau einen Brief. Die Antworten trafen unregelmäßiger ein. Ihr Programm hatte sie längst gewechselt. Auf dem Landsitz war die Dame des Hauses der Eifersucht unterlegen und die Stimmung ungastlich geworden. Statt des kleinen Wildbades kamen Trouville und Biarritz an die Reihe. Und der Genuß des Theaterlebens wurde dahin abgeändert, daß sie selber handelnd eingriff, zu großen künstlerischen Veranstaltungen auf der Bühne erschien und sich als Heimgekehrte von einem tobenden Publikum bejubeln ließ. Alles das erfuhr ich stets, wenn es geschehen war. Selbst, wenn ich ein Verbot erlassen hätte, wären Umwege von ihr gefunden worden. Denn sie war unwahrhaftig und ihr Wirklichkeitsstil nur größtes Kunstvermögen.

Mehrere Male hatte ich sie gebeten, nachzukommen, mich in dieser oder jener indischen Stadt zu treffen. Nein, es lockte sie nicht. Sie nannte das vegetieren und nicht leben. Sie fühle sich sehr wohl daheim und wünsche nur, daß mir meine Arbeiten eine ebenso große Heiterkeit des Gemütes bescherten. Das Verletzende traf mich nicht. Die Waffen eines ungleichen Gegners vermochten mir nur ein tiefes Bedauern zu erwecken. Aus der Liebe war Pflicht geworden. Ich konnte wieder lächeln.

Dann kam ich heim. Und fand sie in ihrer Kunst gewachsen. In der Kunst, alles zu nehmen und nichts zu geben, alle Hoffnungen zu erwecken und bis zur lodernden Flamme aufschlagen zu lassen und nicht eine im Ernstfall zu erfüllen. Das Spiel einer schlanken, schönen, gänzlich seelenlosen Katze. Mich konnte es nicht mehr packen wie in den ersten Jahren. Ich hatte meine Arbeit, und der ergab ich mich. Ihr Charakter war für mich nicht mehr als der eines historischen Studienobjektes, den ich ergründet hatte.

Aber nach Jahr und Tag wurde ich jäh aus meiner Zurückhaltung herausgeschleudert. Wohl wußte ich auf Grund meiner Bankauszüge, daß in meinem Hause mit dem Gelde geschleudert wurde. Nun, noch konnte ich es ertragen. Wer es aber nicht ertragen konnte, waren einige der Freunde und Verehrer, die sich zugrunde richteten, um ihrer Königin Feste veranstalten zu können. In einer Nacht wurde ich in die Wohnung eines Beamten gerufen, der Frau und Kinder besaß. Frau und Kinder hatte er vor wenigen Tagen zum Besuch der Großeltern in irgendeine Stadt gesandt. Als ich das Zimmer betrat, lag er mit blutiger Fratze vor seinem Arbeitstisch im Sessel.

Er lebte noch. Die Kugel aus eigener Hand hatte ihn gräßlich zugerichtet. ›Professor!‹ stöhnte er. »Ich bin auch hierin ein Stümper gewesen. Jetzt betrüg' ich mich noch um einen anständigen Tod, wie ich mich um ein anständiges Leben betrogen habe. Dreißigtausend Mark fehlen in der Regierungskasse. Eine Kleinigkeit für Sie, für mich – der Tod. Ich lieg' hier schon eine Stunde seit dem schlechten Schuß. Als ich zu mir kam, dachte ich an die Meinen. Zum erstenmal seit langem – langem. Da kam die Todesangst: du nimmst auch ihren anständigen Namen mit, wenn das da – das da nicht gedeckt wird!›

›Weshalb taten Sie das Allerletzte?‹ fragte ich tief bewegt.

›Das – fragen Sie?‹ stöhnte er. ›Sie? – Nun ja. Sie haben sich stärker gezeigt, ich – war ein Schwächling – verblutete mich – für eine Frau, die Blut trinkt – und mit Steinen bezahlt. Meine Kinder! Helfen Sie!‹

Auf dem Schreibtisch lag, in Stücke zerrissen, eine Photographie. Ein paar Augen blickten mich an ... Ich nahm die Fetzen auf und hielt sie dem Sterbenden hin. ›Deshalb?‹ fragte ich.

Er richtete sich auf. Sein bluttriefendes Gesicht verzerrte sich. Den letzten Atem holte er aus der Brust:

›Pfui Teufel – des–halb ...‹

Und fiel tot in den Stuhl.

Der Arzt war eingetreten. Das jammernde Dienstmädchen wurde beruhigt und in die Küche geschickt. Ein Unfall, wurde ihr gesagt. Beim Nachsehen der Pistole ein Schuß losgegangen. Und in meinen Ohren das Pfui Teufel des Toten, riß ich mich mit übermenschlicher Kraft zusammen und vermochte den Arzt, der den Tod festgestellt hatte, zunächst mit mir zu dem Vorgesetzten des Verstorbenen zu fahren. Wir wurden sofort empfangen, trotzdem es gegen Mitternacht ging. Und ich berichtete dem alten Herrn, daß der Verstorbene in einer Art von geistiger Verwirrung aus der Regierungskasse einen persönlichen Fehlbetrag gedeckt habe, daß er mir in letzter Stunde gebeichtet habe und ich bereit sei, um der Ehre der Hinterbliebenen willen die Summe sofort zu ersetzen.

Der alte Herr, tief betroffen, nahm meinen Vorschlag augenblicklich an. Er tat es wohl mehr um der Ehre seiner Beamtenschaft willen. Die nötigen Schritte mit dem Polizeipräsidium wurden auf der Stelle eingeleitet, und wir gaben uns ein Schweigeversprechen. Ich breche es dir gegenüber nicht.«

Wuppermann schüttelte den Kopf. Er saß mit zusammengebissenen Zähnen auf seinem Stuhl.

»Dann,« fuhr Wegherr fort, »dann befand ich mich allein auf der Straße, allein in der Nacht, so recht und wahr mutterseelenallein. Ich ging nach Hause und fand meine Frau aus einer Theatervorstellung heimgekehrt. Sie saß mit einigen Herren und Damen in lauter Unterhaltung bei einem Glase Wein. Ich ließ sie in mein Zimmer bitten, und sie erschien höchst verwundert.

›Mein hoher Herr befiehlt?‹

›Schicke auf der Stelle die Leute fort,‹ gebot ich ihr ruhig. ›Die nächste Stunde verträgt kein Publikum.‹

›O, diese nächste Stunde hat bis morgen Zeit,› antwortete sie gelassen und wandte sich zur Tür.

›Du wünschest also, daß ich die Herrschaften selber auffordere?‹ fragte ich. ›Nun, wie du willst.‹

Sie wandte sich blitzschnell nach mir um. Unsere Blicke kreuzten sich. Der meine hielt stand. Da gewahrte sie, daß es Ernst geworden war, nickte mir oberflächlich zu, ging und kehrte nach einigen Minuten zurück.

›Also was gibt es denn so Wichtiges in aller Welt, daß du mir meine harmlosen Freuden störst?‹

›Dein Freund, der Oberregierungsrat, hat sich erschossen.›

Alles in ihr schnellte hoch. Das Gesicht war wie eine Maske der Spannung. Ein paar Sekunden stand sie wie aufgepeitscht. Dann glitt die Spannung von ihr ab, und sie sagte lässig nur zwei Worte: ›Der Dummkopf.‹

Da packte ich sie bei den Handgelenken und schleuderte sie weit von mir, daß sie in der Zimmerecke zusammensank.«

Wegherr hatte sich erhoben. Wuppermann mit ihm.

»Gib mir ein Glas Wein,« sagte Wegherr rauh. Und er trank es in einem Zuge.

»Das war der Schluß, Georg, oder doch wenigstens der Anfang dazu. Denn sie zog ihn verteufelt in die Länge. In der Nacht noch hatte sie das Haus verlassen und ein Hotel aufgesucht. Durch einen Rechtsanwalt schickte sie mir ihre Adresse. Ich ersuchte sie um die Scheidung. Sie spielte die Beleidigte und Gekränkte. Ich ersuchte um die Vorschläge der anderen Seite. Die Antwort war, daß nur in Verhandlungen eingegangen würde, wenn ich von vornherein jegliche Schuld auf mich nähme. Diese Mitwirkung in der Komödie aber war mir zu arg. Meinen anständigen Namen wollte ich mir auf jeden Fall erhalten. Ich bot ihr die Hälfte meines Vermögens bei einer Entscheidung innerhalb vierundzwanzig Stunden. Da griff sie zu und reiste ab, um ihrerseits ›böswilliges Verlassen‹ herbeizuführen. Die Ehescheidungsklage wurde anhängig gemacht, die Aufforderung zur Rückkehr erlassen, der ganze Apparat, erfunden, um einen anständigen Menschen sich selber zum Ekel zu machen, in Tätigkeit gesetzt. Ein ganzes Jahr lang mußte ich mich gedulden. Dann erst konnte nach dem Gesetz der Klage nachgegeben werden. Und wieder verging ein halbes Jahr mit Terminen, Sühneversuchen und Gegenüberstellung, bis das Urteil verkündet wurde. Ich war frei.«

Stumm griff Wuppermann nach den Händen des Freundes und schüttelte sie.

»So bin ich denn herübergekommen, Georg. Andere Luft, andere Menschen, andere Verhältnisse – alles anders mußte ich haben. Um wieder der alte zu werden, mein Junge. Da hast du meine Beichte.«

»Kein Wort mehr davon, Ernst. Und da dachte ich wunder welche Kämpfe ich bestanden hätte. Und war nur mit den Fäusten beteiligt und dem bißchen Mutterwitz. Während du – Himmelherrgott, es liegt mir nicht. Kein Wort mehr davon. Du bist hier, und ich wünsch' dir eine funkelnagelneue Gesundheit in der neuen Welt.«

»Ja,« sagte Wegherr, »eine neue Welt muß mir schon aufgehen.«

»Für Leute wie dich gibt's in Amerika Arbeit in Hülle und Fülle. In der Arbeit lernt man das Vergessen.«

Wegherr streckte sich geradeauf. Sein Kopf machte eine jähe Bewegung.

»Ich habe bereits vergessen, Georg. Nein, du, hier steht kein Kranker. Aber neu aufbauen möchte ich, mit der alten Begeisterung, etwas, das wie Heimat aussieht.«

Und dann saßen sie noch eine Weile zusammen und sprachen von der Herzbachstraße und den Menschen der Herzbachstraße, ließen Tote auferstehen und die Lebenden ihr Sprüchlein sagen und waren bald vom alten Heimatzauber so dicht umsponnen, daß sie sich nur schwer zu trennen vermochten.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht und sechs Stunden gesunden Schlaf. Dann lacht das Leben, und wenn's Bauernjungen regnet.«


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