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8

Alle waren sie gegangen, die Wuppermanns, die Männer vom Berg, die Freunde, die Wegherr am Abend neu gewonnen hatte. Frank Willart stand auf dem Bahnhof. In seinem kräftigen Gesicht war die Zuversicht zu lesen, wenn er seine Augen auf Wegherr heftete.

»Es ist eine Bresche geschlagen,« sagte er. »Gestern abend noch sind die Drahtmeldungen an alle bedeutenden Zeitungen des Landes hinausgegangen. Sie stehen in den Morgenblättern. Um Mitternacht ist ihnen der Drahtbericht über das Bankett gefolgt. Der wird den Lesern in Amerika zum Nachmittag aufgetischt. Und so muß es nun weitergehen, damit die Leute in der Erregung bleiben. Ich habe in jeder Stadt, die Sie besuchen, für einen Telegraphisten gesorgt.«

»Man wird leicht berühmt in Amerika,« meinte Wegherr lachend.

»Und ebenso schnell vergessen, wenn man sich nicht gründlich bemerkbar macht. Die Masse der Eindrücke ist zu groß, und alles drängt. Dort kommt Ihr Zug. Gute Reise, Mr. Wegherr, und deutschen Sieg.«

Der Zug nach Washington stand bereit. Kräftig schüttelten sich die Herren die Hände, und Wegherr stieg ein. Ein breitschultriger Nigger nahm sein Handgepäck mit vertraulichem Grinsen, führte ihn im Pullmanwagen zu seinem Drehsessel und sorgte für seine Bequemlichkeit. Früher, dachte Wegherr, kletterte ich als Geschichtsprofessor auf den Katheder und lehrte meine Studenten. Heute spannt sich mein Hörsaal von einem Ozean zum anderen. Für Deutschland! Und in seinen Augen war ein heißes Licht.

Von draußen klopfte ein Stock ans Fenster. Da standen der Baron von Dachsberg und Unkelbach Vater und Sohn und winkten ihm zu. Er ließ das Fenster herunter und reichte beide Hände hinaus. Wie ihn die ehrlichen deutschen Gesichter freuten!

»Also nicht abzubringen von der sogenannten Idealidee, Doktor?« rief der Klevesche Baron. »Es geht also wirklich los, und Sie wollen der Gesellschaft wegen am eigenen Leibe Harakiri verüben? Mann, o Mann, diese Gesellschaft ist nicht ohne Leibschmerzen zu genießen. Das deutsche Herz sitzt in amerikanischen Lederhosen.«

»Baron, man muß ein Beispiel geben.«

Der Baron blies in feinen grauen Schnauzbart.

»Ein heldisches Beispiel. Ich verstehe. Gewissermaßen ein Selbstopfer. Also in Gottes Namen druff! Wenn man eine Kröte fressen muß, soll man es gleich tun, sonst kriegt man leicht einen Ekel davor. Guten Appetit, Doktor – wollte sagen: gute Fahrt.«

Und Unkelbach Vater und Sohn riefen »Auf Wiedersehen«, und hinter ihnen stand Frank Willart und winkte mit der Hand. Der Zug rollte, und Wegherr war allein.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und blickte sich um. Da lagen die Mitreisenden lang ausgestreckt in ihren Polsterstühlen, die Herren hinter den Zeitungen versteckt, die Damen ein illustriertes Magazin in der Hand, die meisten mit leise mahlenden Kiefern, ein Stückchen Kaugummi zwischen den Zähnen. Der Nigger des Wagens schob ihnen weißleinene Kissen unter den Hinterkopf, rückte ihnen Polsterbänkchen unter die Füße, überstieg die Beine, die ihren Stützpunkt schon auf dem gegenüberliegenden Sitze gesucht hatten, und machte es sich endlich in einem leergebliebenen Sessel selber bequem. Schnarchtöne verrieten bald sein Behagen.

Amerikanische Gleichheit, dachte Ernst Wegherr, überwand die Versuchung, den Kerl bei den Ohren hochzuziehen, und blickte zum Fenster hinaus.

Der Zug rasselte über eine Brücke. Die Wasser des Schuylkill plauderten dort unten, und nun rauschte der Delaware sein schwermütiges Lied von der Urväter Zeiten und den freien Jagdgründen, von den ersten Siedlern, die über das Meer aus Schweden kamen und dem großen Manitou zum Hohn die Christenkirche bauten, von den Siedlungen, die zu Städten wurden, die Schornstein um Schornstein emportrieben auf dem alten Indianerboden, aus der Erde das Eisen holten, auf den Werften Schiffe bauten, auf tausend Spindeln die Baumwolle des Südens zu Geweben verarbeiteten und das Holz der Wälder, des Heiligtums der Urbewohner, bis auf den letzten Stamm unter den Dampfkesseln verfeuerten, in den Sägemühlen zerrissen und zersplissen.

Was wissen die Wasser der Flüsse zu erzählen, dem, der mit der Seele horcht. Und Wegherr horchte mit der Seele und sah Gestalten erstehen und vergehen im Wechsel der Landschaften und fuhr auf und staunte auf das gewaltige Bett des Susquehana, der seine Fluten in ein blitzendes Wasserbecken ergoß. Das war die Chesapeake Bay. Und dort, wo in der Ferne der Patapsco breit ausladend sich mit der Bucht vermählte, lag Baltimore, die gebietende Hafenstadt, aus dem rastlosen Fleiß englischer Auswanderer unter Lord Baltimore erschaffen, gestützt von vertriebenen Franzosen, die von Haiti herübersegelten, ausgebaut von dem Strom der Deutschen, die eine neue Heimat suchten. Und Wegherr sah sie vor Augen und sah sie zähe alle ihre Kräfte hergeben, die einsamen Kinder der Völker, und sah sie, wie zum Trotz gegen die verlassenen Vaterländer, ihr Riesenwerk verrichten und dachte noch immer forschend und rechnend darüber nach, als die Stadt schon entschwunden war mit ihren Häfen und Werften, mit ihren Fabriken und Kornspeichern und dem Kranz der unaufhörlich pochenden Eisen-, Stahl- und Kupferwerke.

Flach dehnte sich das Land und gab den Gedanken Muße.

Ein paar der Mitreisenden hatten sich erhoben, um im Rauchwagen eine Zigarre anzubrennen, um im Speisewagen irgendein Gericht mit Hilfe einiger Glas Eiswasser hinunterzuschlingen, um an einem Pulte Depeschen zu schreiben oder beim Zeitungshändler die Reisebücher zu durchblättern. Keiner kümmerte sich um den anderen. Ein jeder war auf sich angewiesen. Selbst beim Ein- und Aussteigen an den Haltestellen. Und ein jeder verließ sich nur auf sich selber.

Dort hinten blitzte es auf, baute es sich auf. Wegherr erhob sich und lehnte sich gegen das Fenster. Er wußte, das, was ihm entgegenblitzte, war die Wasserfläche des Potomac, was sich auf dem Hügel über dem Strom wie eine Erscheinung hob, das Kapitol von Washington. Was Amerika an klassischem Boden zu verzeichnen hatte, hier war es. Die Stadt Washingtons, des Befreiers. Die Bundeshauptstadt.

Ernst Wegherr schritt durch die breiten, von Laubbäumen eingefaßten Straßen dem Hotel zu. Ihn freute die Schönheit der Stadt, die Vornehmheit der Gebäude, die Pflege der baumreichen Anlagen. Aber er fragte sich leise nach dem Zweck seines Hierseins. Das war eine Beamtenstadt, die nichts anderes kannte und kennen konnte als Amerika. Das war ein schöner, stiller Ort, den Wissenschaften heilig, der nur zu buntem und hastigem Leben erwachte, wenn die Redeschlachten des Kapitols erklangen und in den Telegraphendrähten des ganzen Landes weitersangen. Wer in Washington lebte, lebte am Herzen der Union und doch fernab der Welt.

Ruhig ergingen sich die Menschen auf den Straßen. Beschaulich und gemessen. Unschöne Eile verstieß gegen den Diplomatencharakter der Stadt.

Ernst Wegherr befand sich schon eine Weile in seinem Hotelzimmer, als ihm der Besuch von Willarts Vertreter gemeldet wurde.

»Entschuldigen Sie, Mr. Wegherr, daß ich nicht rechtzeitig am Bahnhof war. Ich hatte nicht mit der Zeit gerechnet.«

»Oh,« meinte Wegherr freundlich, »es sind ja noch ein paar Stunden bis zum Beginn meines Vortrags.«

Der andere verbeugte sich. »Bestimmen Sie, bitte, über mich. Wenn es Ihren Wünschen entspricht, fahre ich Sie zum Kapitol, zur Kongreßbibliothek und zum Weißen Hause. Leider ist der Präsident im Weißen Hause nicht anwesend. Er kommt erst in acht Tagen zurück, zur Eröffnung des Kongresses. Aber ein Bauwerk wie das Kapitol dürften Sie nicht wiedersehen und niemals eine Bibliothek von dem riesigen Umfang, der Einrichtung und Bedeutung unserer Washingtoner. Ich habe ein Auto vor der Tür.«

Wegherr folgte ihm gern. Und während sie im Kapitol die Sitzungssäle besichtigten und durch die Hallen der Kongreßbibliothek schritten wie durch die Wunderländer der Wissenschaft, während die Bekanntschaft des Führers mit den Gepflogenheiten die Pforte des Weißen Hauses sich öffnen ließ und Wegherr auf dem Boden stand, der Zeuge so mancher weltgeschichtlichen Beschlüsse und Botschaften, so mancher schweren Seelenkämpfe der Erwählten der Republik und gewaltiger Energiespannungen gewesen war, fragte er sich noch einmal nach dem Zweck seines Hierseins, und er fragte seinen Führer nach der Zusammensetzung des Publikums.

»O gewiß, ein auserwähltes Publikum. Die besten Kreise der Stadt.«

»Deutsche?«

»Nun, wie Sie wollen. Es sind Washingtoner.«

Wegherr nickte. »Ich dachte es mir. Und nun habe ich Ihre Freundlichkeit über Gebühr ausgenutzt und muß an meine Vorbereitungen denken.«

Sie fuhren zurück über Straßen und Plätze, und überall blickten aus gepflegten Gebüschen marmorne und bronzene Standbilder hervor. Und Wegherrs Begleiter nannte die Namen der Freiheitshelden, die hier in Denkmälern geehrt waren, und es waren Namen in englischer, französischer und polnischer Zunge. An der Long-Bridge ging es vorüber, an der Potomacbrücke, über die die Truppen der Nordstaaten nach Virginien marschiert waren, in den Bürgerkrieg hinein. Weiter zum Washingtonobelisken, dem hochaufragenden marmornen Ehrenzeichen, das vom amerikanischen Volk dem vergötterten Führer im Unabhängigkeitskrieg gesetzt wurde, dem großen George Washington. Jeder Fußbreit Boden hatte seine Erinnerung.

Ernst Wegherr stand auf der Bühne des Saales, den die Zuhörer nur zur Hälfte füllten. Nun, sagte er sich, eine auserwählte Zuhörerschaft kann nie die Mehrheit sein. Aber die Fehlenden wären mir lieber. Keines Freundes Gesicht sah ihm in Spannung und Freude entgegen. Die gekommen waren, wollten einen Abend verbringen. Sie grüßten hinüber und herüber, musterten den Fremdling, der ihnen von der Bühne herab vorgestellt wurde, lauschten mit verbindlich lächelnden Mienen und ließen das Lächeln und horchten auf.

Mit allem Feuer der Beredsamkeit sprach Ernst Wegherr auf sie ein. Er hatte den Kreis seiner Betrachtungen enger gezogen. Er sprach über die Beteiligung des Deutschtums am Unabhängigkeitskrieg, er zeichnete in markigen Strichen die Gestalt des Barons von Steuben, der, ein Scharnhorst der amerikanischen Armee, Washingtons Heere neugebildet und sieghaft gemacht habe, er ließ die ungeheuren Gut- und Blutopfer der Deutschen Amerikas vor den Augen der Zuhörer erstehen, und wie die Gleichheit in diesem Lande ausgesprochen sei, so forderte er die Gleichstellung der großen Namen deutscher Herkunft mit den gefeierten amerikanischen Namen. »Erst wenn sie in den Lesebüchern dieses Landes nebeneinander stehen, wenn es erreicht ist, daß das amerikanische Kind sie mit derselben Ehrfurcht erlernt und mit derselben vaterländischen Begeisterung nennt, wird die Stellung des Deutschamerikaners seiner ruhmreichen Vergangenheit angepaßt sein, wird man das Herz Amerikas am verstärkten Schlag vernehmen. Nur wer seine Väter ehrt und ihren Namen Achtung erzwingt, ehrt sich selber, erzwingt sich selber Achtung, hat Anspruch auf die Achtung seiner Kinder. Unsere Nachkommen aber sind es, denen wir vor Gott Rechenschaft schulden. Unsere Unterlassungssünden sind ein Diebstahl an ihrem Erbe. Bleiben Sie Ihrer Kinder eingedenk, die nicht wie Findelkinder ohne die Geschichte ihres Hauses stumm beiseite stehen wollen, wenn um sie her vaterländische Lieder ertönen. Geben Sie Ihren Kindern den größten Stolz, den Sie zu vergeben haben, den, daß Sie die Eltern waren!«

Er trat ab von der Bühne, und die Menschen blieben schweigend sitzen. Und sie blickten starr in den Schoß, als er durch den Saal schritt, und ein schweres Atmen folgte ihm nach. Keine Hand rührte sich, und doch wußte er, daß er gesiegt hatte, stärker vielleicht als unter dem stürmischen Jubel zu Philadelphia.

Aber nur wenige Tage hielt es ihn in der Landeshauptstadt, nur so lange, bis er sich ihr Bild eingeprägt hatte. Denn das Leben verrann hier wie in den mittelgroßen Residenzen Europas, denen die Beamtenschaft Gesicht und Würde verleiht. Was er suchte, waren die Menschen der Arbeit, die am Feierabend mit ihren Gedanken reisen.

Sein nächstes Ziel war Pittsburg, die Eisenstadt. Die Fahrt war lang, aber die Landschaft und ihre Geschichte hielt ihn gebannt. Immer wieder blitzte der Potomac auf, und sein Raunen und Rauschen erzählte von der Potomacarmee und den deutschen Söhnen, die unter ihrer Fahne für die Auslöschung des Schandflecks der Menschheit, für die Erlösung der schwarzen Sklaven, gekämpft und geblutet hatten, und nun rollte der Zug über die Grenze des Staates Westvirginien, und Harpers Ferry tauchte auf, und Ernst Wegherr grüßte den Schatten John Browns, von dem die Lieder sangen, der ungestüm auf eigene Faust den Befreiungskampf für die Sklaven begann, mit einer kleinen Schar todesmutiger Gefährten in das Städtchen Harpers Ferry eindrang und sich zehn Tage gegen die virginischen Truppen schlug, bis die meisten der Seinen niedergemacht waren und er mit dem Rest gefangen und gehängt wurde. Und in Ernst Wegherrs Ohren tönte das Lied, das die Nordstaatler sangen im blutigen Bürgerkrieg, jauchzend nach einem Sieg, zornwütig nach einer Niederlage, wie einen Choral beim Friedensschluß: » John Brown's soul.«

Der Abend dämmerte über dem Flußbett des Potomac. Durch den Staat Maryland brauste der Zug. Weiter, immer weiter, an Städten und Städtchen vorüber, die wie Visionen auftauchten und verschwanden, einer Mauer entgegen, die sich in der Ferne mit felsigen Bastionen zum Himmel türmte, sich jäh öffnete, schloß und den aufheulenden Zug in ihrem Dunkel verschlang. Durch die Majestät des Alleghanygebirges ging die Fahrt.

Die Nigger riefen die Fahrgäste zum Dinner. Ihre langgezogenen Töne gellten durch die Wagen. Und während die Gäste sich an den Tischen drängten und sich von einer Negerschar bedienen ließen, deren Hautfarbe vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Ebenholzschwarz abwechselte, machten sich die Wagenneger daran, die verlassenen Wagen in Schlafsäle umzuwandeln, und Ernst Wegherr sah sich bei seiner Rückkehr mit zwei Dutzend Damen und Herren zusammen, die ohne viel Federlesen mit der Nachttoilette begannen, die Betten erkletterten und zur guten Nacht die Vorhänge schlossen.

Diese Ungezwungenheit belustigte sein Forscherauge, und er freute sich, am Morgen dasselbe Schauspiel zu genießen. Und der Morgen kam, und die Nähe Pittsburgs scheuchte die Schläfer aus den Betten. Ernst Wegherr rieb sich die Augen. Was da aus den Betten hervorstieg, waren es dieselben Menschen, dieselben anmutigen Ladies, dieselben tadellosen Gentlemen, die am Abend mit vollendeter Grazie ihre Lagerstätten aufgesucht hatten? Mit grauen Gesichtern, nachlässigen Frisuren und zerdrückten Gewändern schoben sie sich gähnend den Waschräumen zu, und Ernst Wegherr entfloh auf die Plattform, und mit ihm entfloh das Ideal des Pullmanwagens.

Das Bild aber, das sich ihm darbot, fesselte mit Macht seine Sinne.

Von Bergen umringt, lag das Tal von Pittsburg, und die Wasser des Monongahela und des Alleghany vereinigten sich zum Ohiostrom. Die Berge bekränzt von den Wohnhäusern der Menschen, und über dem Tal, undurchdringlich fast, die Rauchwolke der Arbeit, die sich mühte, zu den lichteren Höhen emporzudringen.

Pittsburg, die Eisenstadt.

Wegherr sprang aus dem Wagen. Hier fühlte er sich heimisch. Hier gab es Menschen und keine Masken.

Das spürte er gleich an der Begrüßung der Männer, die ihn auf dem Bahnhof erwarteten. Das war die alte, deutsche Art, die sich nie wohler fühlt als mit dem Herzen unterm Arbeitskleid. Und er spürte es am Abend an der ehrlichen Begeisterung, die ihm dankte, als er den atemlos horchenden Zuhörern von dem Aufschwung im alten Vaterland erzählt hatte, von dem Hochstand der Industrie und der verschwisterten Technik, dem kühnen Vorwärtsdrängen der Arbeitgeber und der wirtschaftlichen Hebung der Arbeitnehmer und von der Arbeiterfürsorge der Regierung. Und die Männer der Arbeit reckten ihre Köpfe, als er ihnen von deutscher Alters- und Invaliditätsversicherung sprach, und meinten, als sie ihm die Hände schüttelten, wenn es sich im freien Amerika besser leben ließe, so ließe es sich im alten Deutschland doch besser sterben, und kehrten heim voll guter und gehobener Gedanken, die sie über das ferne Meer sandten.

Und Wegherr fuhr oft hinaus zu den Eisen- und Stahlwerken, die ihresgleichen suchten, und stand am liebsten in Andrew Carnegies Stahlwalzwerken und blickte schweigend zu, wie das Eisen wie Suppe im Ofen brodelte, wie der Ofen entleert wurde und die flüssige Masse, durch Zusätze kunstgemäß zubereitet, in Riesentuben gelassen und in Blöcken ausgestoßen wurde, die aufs neue in den Ofen zur Weißglühhitze gebracht werden mußten. Dann griffen automatisch die Hebewerke wie vorweltliche Hummerscheren zu, holten sie heraus, führten sie durch die Luft auf die Walzmaschinen, die sie mit ihrem ungeheuren Druck zu Panzerplatten, Eisenbahnschienen und Trägern zurechtwalzten, als wären es Teigklöße. Ohne Unterbrechung wiederholte sich das Spiel, vom Morgen bis zum Abend, nicht schneller, nicht langsamer, berechnet bis auf die Sekunde, und aus dem Eisen wurde das Gold, wurden die Millionen, die Milliarden. Nur die Arbeit bringt ein Volk vorwärts, nur die Arbeit, sagte sich Wegherr, und daß Reichtum Macht bedeutet, hat Amerika der ganzen Welt gezeigt.

Scharf ging er seine Beobachtungen durch und verglich sie mit seinen deutschen.

Nein, schloß er ab, wir brauchen uns nicht zu verstecken. Unsere Industrie leistet, was die amerikanische nur zu leisten vermag. Der Deutsche aber geht schweigend seinen Weg, und der Amerikaner redet von seinem Können und seinen Errungenschaften mit der Kraft einer Trompete, bis die ganze Welt ihn hört und ihn kritiklos bewundert. Ja, wie ein Wunderkind kommt er sich vor, und er darf es. Aber auch wie ein Kind wagt er und setzt er aufs Spiel, wo andere die Köpfe schütteln würden, und da das Glück meist mit dem Mutigen ist, bleibt er auch meist der Gewinner und befestigt in der Welt den Ruf seiner kaufmännischen Überlegenheit. Hinter ihm aber stehen die unerschöpflichen Kapitalien, die ihn zum Siege führen müssen, weil sie durch unüberwindliche Trustbildungen Gegnerschaft wie freien Wettbewerb einfach ausschalten. Die Trusts!

Und je länger Wegherr im Lande weilte, lernend und forschend, um so tiefer schaute er in die wirtschaftlichen Gefahren hinein, die die Trustbildungen mit Naturnotwendigkeit einem Lande bringen mußten: die Aufsaugung der mittleren und kleinen Betriebe, die Vernichtung des männlichen Selbstbewußtseins durch die Aufhebung des freien Wettbewerbes, durch Befehlsempfang und Befehlserfüllung, die Dämpfung des freudigen Eifers am eigenen, vorwärtsgebrachten Werk, die allmähliche Verarmung des bürgerlichen Mittelstandes und die brückenlose Scheidung von reich und arm, der Wenigen und Allzuvielen.

Das aber kann kein Land, kein Volk auf die Dauer ertragen.

Weiter war Wegherr gewandert, in den eisigen Winter hinein. In Rochester hatte er gesprochen, und immer stärker kamen ihm die im Lande gesammelten Erfahrungen zugute. Vom Ontariosee war er zum Eriesee gezogen, und nach seiner heißen Ansprache in Buffalo waren mit dem Strom der Menschen selbst die deutschen Saalkellner bei ihm erschienen, um ihm stumm die Hand zu schütteln. Wieviel Sehnsucht lag doch tief auf dem Grund aller dieser Seelen, trotzig gehütet oder auf Erlösung hoffend.

Nun war er hinausgefahren zu den Wundern der amerikanischen Natur, zu den Niagarafällen. Aus der Ferne schon vernahm er das Gebrüll der Wasser, die er nicht sah. Aber die Brücke schritt er, die vom amerikanischen Ufer zum kanadischen Ufer führt, tat zwanzig Schritte und stand wie gelähmt. Da stürzten die Fälle und rissen die Sinne mit in den Strudel. Wie Watte, die in Rollen schwindelnd schnell über eine Maschine gedreht wird, wirkten die amerikanischen Fälle, dreifach mächtiger und einen Gischt erzeugend, der doppelt hoch als Wasserdampf aus dem Bett wieder aufstieg, die Hufeisenfälle Kanadas. Und der aufgepeitschte Wasserdampf gefror in der schneidenden Winterluft zu abenteuerlichen Eisgestalten, die aus dem Bett aufzutauchen schienen, um weiter zu stürmen. Und nun sah Wegherrs Auge, woher sie stammten. Breit und majestätisch erkannte er in der Ferne den Niagarafluß. Jetzt verengte sich sein Bett. Jetzt wurden die Wasser munter, wurden ungestüm, jagten links und rechts einer Insel dahin in reißendem Lauf. Die Wasser? Nein, jetzt sah er es deutlich, was da herangaloppierte über Stock und Stein. Die Urzeit war es, die hier auf Sekundenlänge ihre Auferstehung feiern durfte. Eine Riesenkoppel Indianerpferde, die Krieger auf dem Rücken, brauste heran, warf die Zügel der aufgezwungenen Herrschaft ab und stürzte sich mit flatternden Mähnen, brüllend vor Wonne, in den Abgrund der alten Wildheit.

Hier war das Abbild des alten Amerika. Was wollten dagegen die Menschenwerke besagen, die sich an den Ufern die furchtbaren Kräfte des Wassers dienstbar machten. Hier blieb die Natur dennoch die Siegerin.

Und langsam und fast scheu wandelte Wegherr die Fälle ab und stieg hinunter in die Windhöhle, wo ihm der Gischt die Augen beizte und das Tosen des Orkans das Gehör benahm, und trat ans Licht zurück und wandelte weiter, bis die Wut der neuen Wasserstürze ihn wiederum staunend und selbstvergessen haltmachen ließ und noch einmal der Riesenstrudel des Whirlpool alle seine Sinne fesselte.

Am Abend erst riß er sich los und kehrte versonnen zurück. So klein hatte er sein Menschendasein nie empfunden. Und doch hatte er schon in anderen Erdteilen dem Rausch der Natur ins Auge geblickt.

Ich bin so allein, gestand er sich. Ich habe niemand, dem ich meine Gedanken senden könnte, und niemand gar, der bei mir stände und das Gefühl der Kleinheit durch seine warme Lebensgegenwart aufhöbe.

Und aus dem Gefühl seiner Einsamkeit heraus begannen seine Gedanken zu wandern und gelangten in eine Stadt, die er, eine lachende Frau im Arm, in heißer Seligkeit durchstreift hatte, und die Frau war die Seine geworden und hatte die Seligkeit in Verachtung gewandelt.

Wie kam es nur, daß er heute ihrer gedenken mußte, ob er auch nicht wollte?

Nein, nein, es war ja nicht diese Frau, es war die Seligkeit, die ihm einmal, einmal von einer Frau gekommen war, die Seligkeit, die nun aus der Einsamkeit heraus vor Sehnsucht schrie.

Er zwängte die Lippen zusammen und ging gegen die herben Schmerzen an, die doch wieder wie Feuer brannten. Und mit heißem Gesicht fuhr er durch die Winternacht, floh er vor den eigenen Gedanken, die ihn immer wieder einholten und überfielen, bis er sich aufs neue in seine Arbeit stürzte und sich mit Anspannung aller Kräfte seiner Aufgabe widmete.

Das Ufer des Eriesees fuhr er entlang, und im Staate Ohio drang die deutsche Sprache kräftig an sein Ohr. Das gab ihm ein heimatlich Gefühl. Und es kam hinzu, daß ein Sonntag war, der Sonntag vor Weihnachten.

Sein Reiseziel war Cleveland am Eriesee, und er freute sich der schönen, baumbestandenen Stadt, ob sie auch im Schnee lag.

Deutsche Herren nahmen ihn in Empfang, geleiteten ihn ins Hotel und warteten in deutscher Gemütlichkeit, bis er den Reiseanzug gewechselt hatte. Denn einer der Herren gab ihm zu Ehren ein Abendessen.

Als er in die Halle des Hotels zurückkehrte, bewillkommneten sie ihn aufs neue.

»Wie wär's, Herr Doktor, wenn wir zur Begrüßung ein Glas echt Münchener oder echt Pilsener Bier zu trinken bekämen? Wir haben noch eine gute Stunde Zeit.«

»Ich denke,« entgegnete Wegherr, »der Bierausschank ist im Staat Ohio an Sonntagen streng untersagt? Weshalb täuschen Sie mir also die unerringbarsten Genüsse vor?«

»Streng untersagt, meinen Sie. Schön. Das läßt sich nicht abstreiten. Aber den Polizeigewaltigen der Stadt möchten wir sehen, der es außerdem hinderte. Hier geben die Deutschen bei den Wahlen den Ausschlag. Und der Polizeigewaltige möchte seine Stelle behalten. Humbug, Doktor, alles Humbug. Na, Sie werden ja sehen.«

Und Wegherr sah. Sah staunend.

Sie waren vor eine große Bierhalle gelangt, deren Fenster abgeblendet waren. Ein Klopfen genügte, und die Tür öffnete sich. Sie tasteten durch einen dunkeln Gang. »Nun,« lachte Wegherr, »das nenn' ich ein heimliches Trinken. Nein – mein Gott – was ist das?«

Der Türhüter hatte die Tür zu den Wirtschaftsräumen geöffnet. Da saßen in weitem Saale Kopf an Kopf die Menschen, Hunderte an Zahl, gemütlich und gelassen, und tranken ihr Bier wie zu jeder anderen Zeit.

»So also sieht die Befolgung der Gesetze aus.«

»Sie werden nicht leugnen, Herr Doktor, daß sie sehr gemütlich aussieht.«

»Läßt sich nicht bestreiten. Danke sehr, meine Herren, Ihr Wohlsein!«

Er tat einen durstigen Zug und setzte den Bierkrug nieder.

»Es ist nicht zu glauben,« sagte er und musterte belustigt die dichtgedrängte Menschenschar.

»In Amerika, lieber Herr Doktor, ist alles zu glauben, nur die unparteiische Handhabung und Befolgung der Gesetze nicht. Es gibt ja auch redliche Richter hierzulande, nur findet man sie so selten, und ein unparteiischer Spruch geht deshalb gleich wie die Verkündung eines salomonischen Urteils durch die Zeitungen der ganzen Union. Die Richter wechseln mit der jeweiligen Regierung in Washington. Was Wunder, daß so mancher die paar Jahre ausnutzt, um sein Schäflein ins trockene zu bringen. Erst muß er unter der Hand für den Posten bezahlen, dann sucht er das Anlagekapital wieder hereinzubringen und so viel dazu, daß er nach Ablauf seiner Amtsperiode in Frieden und Freude davon leben kann. Das ist hier alles Geschäft, und der Meistbietende kriegt den Zuschlag. Was aber die Richter können, kann die Polizei noch viel schöner. Bestechlichkeit und politische Machenschaften sind an der Tagesordnung, und keiner dreht sich danach um. Heuchelei, du lieber Gott, wohin Sie blicken. Nicht nur bei den Temperenzlern und Frömmlern.«

»Ich war,« erzählte Wegherr, »kürzlich bei dem Präsidenten einer Universität zu Tisch geladen. Der Hausherr zeigte mir sein Arbeitszimmer und fragte mich, ob ich einen Cocktail mit ihm tränke. Als ich bejahte, zog er einige Flaschen aus seinem Schreibtisch, mischte kunstgerecht Schnaps und Wein mit dem Eis der Eiswasserflasche und füllte zwei Sektschalen. ›Noch einen Cocktail, Mr. Wegherr?‹ Ich nahm dankend den zweiten. ›Noch einen Cocktail, Mr. Wegherr?‹ Nun verzichtete ich dankend. Er aber mischte sich für den eigenen Bedarf im Laufe der Unterhaltung fünf. Dann begaben wir uns zu Tisch, der Präsident mit etwas starren Blicken. Das Mahl war ausgezeichnet. Als Getränk wurde Eiswasser gereicht. ›Vermissen Sie etwas?‹ fragte mich die Hausfrau in amerikanischem Deutsch. Und ich antwortete, der Gastfreundschaft im Studierzimmer gedenkend: ›Ich würde Ihnen Dank wissen für ein kleines Gläschen Bier oder Wein. Ich kann leider das Eiswasser nicht vertragen?‹

›O,‹ rief sie bedauernd, ›das tut mir leid. Aber in dieses Haus ist seit siebzehn Jahren, die ich bin verheiratet mit Mr. Soundso, hineingekommen kein Tropfen Alkohol.‹ Und der Hausherr blickte aus starren Augen, die nicht umzudeuten waren, freundlich seine Frau an.«

Die Cleveländer Herren lachten, daß ihnen die Tränen kamen.

»He, Charly, noch eine Runde. Verzeihung, Herr Doktor, aber Ihre Geschichte macht Durst. Nein, nein, keine Angst. Bei uns gibt es auch daheim zu trinken. Ha, das Bier ist gut. Nichts über deutsches Bräu. So, nun hätten wir die Unterlage.«

Und es gab daheim zu trinken. Die Hausfrau war eine fröhliche Pfälzerin, aus altem Winzergeschlecht, und wie sie waren die anderen Damen in Deutschland geboren und keine Spielverderberinnen. Der Abend war so deutsch, daß nach der Tafelrunde selbst die Bowle nicht auf dem Tische fehlen durfte, und als sich herausstellte, daß einige Herren in Deutschland studiert hatten, stieg ein feierliches » Gaudeamus igitur« zur Zimmerdecke. Draußen am Eriesee lag das Haus, ein amerikanischer Winter blies vor der Tür, und drinnen saßen sie bei deutschem Wein und sangen deutsche Studentenlieder.

An diesem Abend hörte Wegherr den Schrei in seiner Brust nicht mehr. Unter den fröhlichen Menschen hatte er zehn Jahre seines Lebens abgetan.

Und als er am nächsten Abend vor überfülltem Saale von der Kraft der Deutschen sprach, alle Fährnisse und Schicksalsschläge siegreich zu überwinden, weil sie die Kunst, sich zu freuen, mit sich nähmen auf all ihren Wegen, als er diese Freude den besten Hochzeitsschatz nannte, den sie dem nüchternen Amerikaner mitgebracht hätten, und ein frohes, zukunftfrohes und starkes Deutschtum den Kitt der Völker, da gab es kaum einen Satz in seiner Rede, der nicht jubelnd ausgenommen worden wäre, und in heller Begeisterung umdrängten die Menschen das Podium, auf dem er stand, um ihm wieder und wieder zu versichern, daß die Deutschen Clevelands – Clevelander Deutsche seien!

Die deutsche Freude ...

Nun huschte sie in Deutschtand durch die weihnachtlichen Straßen und suchte das Köstlichste, die Gegenfreude. Nun lauschte sie in Deutschland an den Türen und lugte durch die Eisblumen der Fenster und horchte in Herzen und Seelen nach den Wünschen geliebter Menschen.

Ernst Wegherr hatte nicht zu lugen und zu lauschen. Die Liebe war ihm fern, und ohne die Liebe wußte die Freude nichts zu beginnen.

Am 23. Dezember war er in der Fabrikstadt Kolumbus, der Hauptstadt von Ohio, eingetroffen, einer grauen, einförmigen Stadt, in graue Nebel eingehüllt. Kaum fünfzig Menschen waren zu seinem Vortrag erschienen, und der Einberufer stand beschämt neben dem Redner.

»Die Leute sind zu stumpf,« entgegnete er, »sie laufen in ihre Fabriken und Geschäfte und sind entwöhnt. Was ist da zu machen?«

Ernst Wegherr blickte über die kleine Schar.

»Die gekommen sind, sollen nicht enttäuscht werden. Ich werde annehmen, es wären fünftausend.« Und er begann. Und redete von der Weihnachtszeit im alten Vaterland, von den wundersamen frohen und heiligen Gebräuchen, von der Kindheit und der Zeit, da die Kinder selber Große geworden sind und wieder Kinder um sich sehen, in deren Augen das uralte Weihnachtsmysterium träumt. »Was man uns auch nachmachen kann in der weiten Welt – die deutsche Weihnacht kann uns kein Volk der Erde nachmachen, und wenn wir sie Kindern und Kindeskindern hinterlassen, so haben wir ihnen Feiertage der Seele geschenkt. Einen heiligen, über das Irdische erhabenen Atemzug. Wer wüßte Besseres ... Das ist die deutsche Tiefe, die tiefer ist, als ihr selber von euch wißt, aus der ihr die Kräfte schöpft, euch Deutschland, euch die Heimat vorzuzaubern, Eltern und Freunde, die fast vergessen wurden, und es braucht nichts anderes als eines Weihnachtsbaumes, der das Licht in die Tiefe wirft. Laßt mich heute diese Lichter entzünden. Und Gott schenke euch und euren Nachkommen immerdar eine deutsche Weihnacht.«

Da waren unter den Anwesenden ein paar alte Mütterlein, die Deutschland seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatten und nun den Lichterbaum vor sich erblickten und bitterlich zu schluchzen begannen. Da war ein junges Mädchen, das die Not über das Meer getrieben hatte als Erzieherin und das den Kopf gesenkt hielt, damit die Umsitzenden die heißen, nassen Augen nicht sähen. Da waren Männer, die im Krampf das Gesicht verzogen, um nicht unmännlich zu erscheinen, und Wegherr starr in die Augen blickten, als er an ihnen vorüberschritt mit dem gleichen starren Blick, hinaus aus der Weihnachtsstimmung in den rauhen amerikanischen Winter.

Ziellos und zwecklos war er herumgeirrt in den nächsten Tagen, die alten Wunden waren aufgebrochen, und der Frost des Verlassenseins war hinzugetreten und ließ sie schwären. »Hätte ich ein Kind,« sagte er sich, »hätte ich ein Kind, ich wäre der reichste Mann und feierte Weihnachten, und wenn es in der Hölle wäre.«

Das neue Jahr brach an. Und es forderte wie jedes neue Jahr helle Blicke und klare Köpfe für den neuen Lebenskampf.

Wegherr hatte sich wieder. In der ersten Woche des Jahres langte er in Cincinnati an, der Handelshauptstadt des mittleren Westens. Hier pulste das Leben in heißem Strom, hier stritten deutsche Bildung, deutsche Tatkraft um die Krone der Bürgerschaft. Von Hügeln umkränzt, lag die schöne Stadt an die Brust des Ohiostromes gebettet, vom Miamikanal durchschnitten. »Über dem Rhein« hieß der Stadtteil nördlich des Kanals, der der Schiffahrt den Weg bahnte zum grünen Eriesee, denn »über dem Rhein« war das Volk deutsch und rheinisch froh und wagemutig.

Wegherr war durch die Stadt gewandert, und als er über eine der Ohiobrücken geschritten war, befand er sich auf dem Boden von Kentucky. Er stieg die Hügel hinan und wandte sich, das Landschaftsbild mit einem Blick zu umfassen. Da lag es vor ihm und um ihn her, lustig und lieblich, als stände er auf einer Rheinhöhe und blickte hernieder auf rheinisches Land.

Erfrischt kehrte er heim ins Hotel und fand eine Anzahl Zeitungsberichterstatter vor, die ihre Photographen mitgebracht hatten, und es wurde eine fröhliche Stunde des Ausfragens und Aufnehmens. Zu Tisch begab er sich in das Haus des Konsuls und fand einen Kreis hervorragender Männer, Ärzte, Gelehrte und Kaufleute, die alle die Welt durchfahren hatten, wie er selber, und von den Städten der chinesischen Mandschurei, den Gruben Transvaals und den Handelsplätzen Australiens sprachen, als wären die trennenden Ozeane Bäche zum Hinüber- und Herüberspringen. Eine Unterhaltung von Männern, die keine Unmöglichkeit anerkannten.

Ein helläugiges Volk fand er anderntags in der Aula der Universität versammelt, und was er zu ihm sprach von dem großen Beruf Deutschlands in aller Welt und in Amerika zumal, weckte blitzschnell das Verstehen und rief einen Jubel hervor, wie ihn nur Männer haben, die sich selber achten.

Kreuz und quer ging es durch die Staaten im Fluge der Wochen. Heute sprach er vor den Viehhändlern von Indianapolis, wenige Tage später vor den Studenten von Ann Arbor in Michigan. Am stürmischen Huronensee stand er und trank die Wildheit der Wasser und des Landes in sich ein, und ihm war, als säße er als Knabe daheim, das herrlichste Indianerbuch, den »Lederstrumpf«, auf den Knien, und blickte auf und sah die Kanus durch die Wogen spritzen, Bleichgesichter, fliehende Trapper im ersten, Rothäute hinterdrein.

Über den Michigansee fuhr er in hellen Februartagen, und sein Gesicht war wetterbraun und seine Gestalt sehnig geworden. Und als er im Staate Wisconsin in der Universitätsstadt Madison über die deutschen Errungenschaften, die die Zukunft verhießen, gelesen hatte, trat als letzter ein eisgrauer Professor auf ihn zu mit zuckenden Gesichtsmuskeln.

»Ich bin Mecklenburger,« sagte er mit stoßendem Atem, »als Student wegen politischer Dinge hinausgejagt. Gehaßt habe ich das Kleinkrämerland, gehaßt. Und der Haß hat mich einsam gemacht bis in mein hohes Alter. Heute, am Rand des Grabes, haben Sie mich das deutsche Vaterland wieder lieben gelehrt.«

Und plötzlich steckte er die Arme aus, riß den andern an seine Brust, wandte sich hastigen Schrittes zur Tür und ließ ihn ohne Abschiedswort.

»Das war mein stärkster Sieg bisher,« murmelte Wegherr, und alles wurde licht in ihm.

Die nächste Woche sah ihn in Milwaukee, der Stadt der Deutschen.

Dreihunderttausend deutsche Blutsgenossen lebten hier im Stadtbild von »Deutsch-Athen«, und mit Begeisterung ging er an die Arbeit.

Aber die Deutschen waren gespalten in Vereine und Vereinchen, in Turn-, Musik- und Schützenvereine, in wissenschaftliche Gesellschaften und Landsmannschaften. Es war wie im alten Deutschland, bevor die große Woge des Einheitsgedankens das kannegießernde Kleinbürgertum bis auf wenig Reste hinwegfegte. Und mehr als einmal mußte Wegherr die Waffen der Ironie zu Hilfe nehmen gegen Spießbürgerei und Philistertum. Bis ein verwundertes Aufmerken, ein gutmütig-strahlendes Erwachen erfolgte.

Reich waren die Deutschen Milwaukees geworden, und viele Schiffbrüchige aus deutschen Landen, die sich im großen Amerika nicht zurechtzufinden vermochten, strebten mit letzter Kraft hierher, zum letzten Hafen.

Hier lag gar manches Kapitel des in die Irre getriebenen Menschenlebens aufgeschlagen, und Wegherr, las darin und fand so manches Leben, das für Amerika nichts bedeutete, weil es entwurzelt war, und das in der alten Heimat zum guten Baume hätte emporwachsen können.

Am letzten Tage war es, den er in Milwaukee verbrachte. Er besichtigte, von dem Besitzer geleitet, eine große Brauerei und schritt über einen Hof, in dessen Winkel ein Flaschenspüler stumpf seine Arbeit verrichtete. Der Mann war hager und schlecht gekleidet. Eine alte Mütze bedeckte den Köpf, Holzpantinen staken an den Füßen, zwischen den Zähnen hielt er eine irdene Stummelpfeife.

Als die Herren sich näherten, blickte er gleichgültig auf. Dann erkannte er den Besitzer, und in seine Augen trat ein feiner Glanz. Er ließ die Flasche, die er gerade reinigte, zu Boden gleiten, sprang auf, nahm die Pfeife aus dem Mund, zog die Mütze und machte eine weltmännische Verbeugung. » Ah – good morning, Sir.«

»Guten Morgen. Fleißig bei der Arbeit, wie ich sehe.«

»Bitte um Entschuldigung, daß ich mich nicht vorteilhafter präsentiere. Räuberzivil, Sir.«

»Es geht Ihnen gut?«

»Darüber wollen wir nicht sprechen, wenn es Ihnen angenehm ist. Darf ich mich nach dem Befinden von Frau Gemahlin erkundigen?«

»Danke. Es läßt nichts zu wünschen übrig.«

»Bitte um gehorsamste Empfehlung. Und ich würde mir Sonntag die Ehre geben, meine Aufwartung zu machen.«

Der Brauereibesitzer nickte ihm zu, und sie schritten weiter. Der Flaschenspüler war in seine alte Stellung zurückgesunken und verrichtete stumpf wie vorher seine Arbeit.

»Wer war denn dieser seltsame Gentleman?« fragte Wegherr leise.

Der Brauereibesitzer nannte den Namen. Es war der Name eines der ältesten Adelsgeschlechter Deutschlands.

»Er war Oberleutnant in einem Kavallerieregiment, bevor er herüberkam,« fügte er hinzu.

»Mit schlichtem Abschied entlassen?«

»Nicht einmal das. Er hat mit allen Ehren seinen Abschied genommen, war unter seinen Kameraden beliebt wie kaum ein anderer, und seine Papiere stellen ihm ein vorzügliches Zeugnis aus.«

»Und doch Flaschenspüler? Auf der tiefsten Arbeiterstufe?«

»Es reichte nicht mehr für anderes, Herr Doktor. Als er vor fünf Jahren von Neuyork herüberkam, vollständig abgebrannt, legte er sich ins Spital. Vollkommen entkräftet. Zufälligerweise erwähnte der Arzt, der in unserem Hause verkehrt, seinen Namen und seine Schicksale. Meine Frau horchte auf. Sie hatte in Deutschland mit einer jungen Dame gleichen Namens Musik studiert. Romantisch, wie Frauen sind, setzte sie sich in den Kopf, den armen Kerl, der wirklich der Bruder ihrer einstigen Mitschülerin war, zu retten. Sie besuchte und pflegte ihn im Spital, und er genas. Aber das Landstreicherleben, das er zuletzt geführt hatte, hatte ihn schon zu weit heruntergebracht. Er vertrank jeden Dollar, den er in die Hände bekam. Nur um ihn tagsüber unter Obhut zu haben, beschäftige ich ihn beim Flaschenspülen. Sonntags aber wacht er auf. Dann wacht der Offizier und Aristokrat für ein paar Stunden in ihm auf. Und er kleidet sich sorgfältig an und macht meiner Frau seine Aufwartung, bringt ihr eine Blume und plaudert mit ihr.«

»Und seine Familie,« fragte Wegherr, »seine Familie hat sich nie nach ihm erkundigt?«

»Das ist das Traurige,« bemerkte der Erzähler, »daß er seinen Niedergang gerade seiner Familie verdankt. Der Vater war als Regierungspräsident gestorben. Die Gräfin, seine Mutter, hatte glücklich die Tochter verheiratet. Als sie die Aussteuer bezahlt hatte, ließ sie ihren Jungen vom Regiment zu sich kommen und erklärte ihm, sie fühle sich noch nicht alt genug, um im Winkel zu sterben, und brauche nun das Geld, das sie ihm bisher als Zulage gegeben habe, selber. Er möge nach Amerika gehen und sich mit seinem Namen eine reiche Frau suchen. Das Geld für die Überfahrt stelle sie ihm noch zur Verfügung. Dem Sohn blieb nichts anderes übrig, als auf den Vorschlag einzugehen. Er war ein brauchbarer Frontoffizier gewesen, hatte sonst aber nicht viel hinzugelernt. In Neuyork besuchte er, so lange die wenigen Groschen reichten, die gute Gesellschaft, hatte nach vierzehn Tagen keinen Pfennig mehr, irrte bald wie ein verlaufener Hund herum, fand wenig Arbeit, geriet an den Whisky, betäubte sein Erinnern, machte sich auf die Landstraße, um von Neuyork fortzukommen, hungerte, trank, verkam und endete hier als Wrack.«

»Und die Mutter, die eigene Mutter, und die einzige Schwester kümmerten sich nicht um seinen Verbleib?«

»Meine Frau schrieb natürlich hin. Es kam eine entsetzte Antwort. Man möge der Familie den Schimpf ersparen. Derselben Familie, die den Schimpf auf dem Gewissen hat.«

»Wie kann man nur sein Kind verlassen?!« grübelte Wegherr. »Wie kann man nur sein Kind in Not und Untergang wissen, ohne sich für sein Kind zu opfern und sein eigenes Leben wegzuwerfen für ein einziges Aufleuchten im Auge des heimatlos gewordenen.«

Und das stumpfe Gesicht des Flaschenspülers verließ ihn nicht, als er schon längst Milwaukee verlassen hatte.

»Armer Bruder ...«


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