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7

Ein paar heiße Arbeitswochen folgten für Wegherr im Frieden des Wuppermannschen Hauses. Sein reiches Studienmaterial, das er seit Jahren schon in Deutschland vorgearbeitet und ausgebaut hatte, lag übersichtlich geordnet vor ihm auf Tischen und Kofferdeckeln. Und an der Hand seiner wissenschaftlichen Aufzeichnungen ging er Schritt für Schritt den Weg, den die nordamerikanische Union gegangen war, von den ersten europäischen Siedelungen, den englischen Besitzergreifungen und dem Auftauchen der ersten. Deutschen an, durch die Staatenbildungen, den Unabhängigkeitskrieg, Verfassung und Gesetzgebung, den Bruderkampf zwischen Nord und Süd, hinüber zu dem immer gewaltigeren Aufschwung der großen Republik, und stellte den Anteil fest, den deutsches Blut an der Errichtung des Wunderwerkes zu allen Zeiten genommen hatte und heute nahm.

Schwere Arbeit galt es zu leisten, und sie war um so schwerer und ernster, als sie gerecht wägen mußte in der Beurteilung aller am Werk schaffenden Kräfte. Das aber sah er so deutlich, wie er es auf seiner Studierstube in Deutschland gesehen hatte, daß die von den Deutschen Amerikas geleistete Arbeit nicht in das richtige Verhältnis zur Bewertung ihrer Arbeit, zu einer ihrer Arbeits- und Opferfreudigkeit entsprechenden Stellung gebracht worden war.

»Amerika ist noch so jung, daß auch seine Empfindlichkeit die eines Kindes ist,« hatte Mr. Willart gesagt.

Die deutschen Eingewanderten aber waren Amerikaner geworden, und während sie nach den Charaktervorzügen der neuen Heimat strebten, hatten sie, um sich auf kürzestem Wege die amerikanische Gebärde zu eigen zu machen, am schnellsten die charakteristischen Fehler in sich aufgenommen, und ihre Empfindlichkeit war nach außen um so größer, als sie sich im Innern der verwundbaren Punkte wohl bewußt waren.

Darauf nahm Wegherr Bedacht: es galt nicht niederzudrücken, es galt hochzureißen.

Frank Willart kam fast jeden zweiten Tag von Philadelphia herüber. Der Mann entwickelte eine Tatkraft, wie sie nur auf amerikanischem Boden wachsen konnte, der keine Hemmungen kennt.

»Lassen Sie sich nicht durch die etwas laute Art meiner Vorbereitungen abschrecken,« bat er Wegherr mehr als einmal, wenn der Forscher den Ernst seiner Aufgabe bedroht glaubte. »Bedenken Sie zu jeder Stunde, in welchem Lande, in welchen Bildungsschichten Sie sich befinden. Die Masse ist etwas anderes als ein Kranz von Geistesmenschen. Sie wünscht lebhafte Farben, hallende Töne, lockende Lichter. Massenpsychologie ist Feldherrnkunst. Hier, in Amerika.«

Nach wenigen Wochen schon hatte Willart eine größere Anzahl deutscher Vereine gewonnen, die den deutschen Historiker in ihrer Mitte wünschten. Er arbeitete fast nur mit dem Telegraphen, der »Schreibmaschine des wirklich modernen Menschen«, wie er den Draht benannte, »der Einrichtung, die die Entschlüsse fördert«. Und er arbeitete an Wegherrs Reiseprogramm. »Das alles ist natürlich nur als vorläufig anzusehen,« bemerkte er, »wie alles in Amerika. Ich werde unermüdlich tätig bleiben und Ihnen die Städte, die um Ihren Besuch bitten, stets telegraphisch nennen. Häufig werden Sie ein bißchen die Kreuz und die Quer reisen müssen, aber da wir hierzuland jede räumliche Entfernung ableugnen – wo bliebe sonst der Ruhm unserer Eisenbahnen? – nun ja, es ist amerikanischer Bluff, aber wir verstehen uns.«

Für den ersten Abend war Philadelphia bestimmt. In der nächsten Woche sollte er stattfinden.

Ernst Wegherr mußte an das Abschiednehmen denken.

Und eines Tages sah er auf einem umgestülpten Bottich vor der Wuppermannschen Färberei und verabschiedete sich auch von Kobes, dem Färbermeister.

»Das können nun ein oder zwei Jahre werden, Kobes, daß wir uns nicht wiedersehen.«

Der einstmalige Geselle von der Herzbachstraße schüttelte den grauen, buntgesprenkelten Kopf.

»Ech verstonn dat nich, Här. Äwwer wann ech Sie wör, ech wößt, wat ech däht.«

»Was würden Sie also tun, Kobes?«

»Ech nähm dat schnellste Schiff und juckelten noh Hus.«

»Weshalb denn, Kobes? Ist das nicht ein großartiges Land?«

»Großartig?« wiederholte der Alte verächtlich. »Wat es denn hier großardig als der Schwindel? Der ein' lügt dem annern die Backe voll, dat nennt mr ›smart›, und wer dat über de Löffel balbiere am beste versteht un die meiste op dem Gewissen hät, dä kömmt dann gleich hinner'n Herrgott. Enee, et es schon ene Deubelsgesellschaft.«

Wegherr hörte ihm lächelnd zu.

»Aber Ihr alter Freund und Gönner Herr Wuppermann denkt doch anders als Sie.«

Der Grauhaarige spuckte einen Priem aus. Das Tabakrauchen war in der Fabrik verboten.

»Nu ja, der Herr Wuppermann. Dä hät et erreicht. Dem fehlt nix. Wat soll der Herr Wuppermann auch viel schimpfe? Früher, als er noch über die leere Hand blase konnt, da hat dä auch geschimpft, un nich zu knapp. Dat ändert sich erst mit 'm Dickerwerden vom Geldbeutel. Dann lernt mr: Augen zu und Händ aufgehalten. Dann lernt mr amerikanisch. Un för die, die dat nich können, bleibt dat Schimpfen von Rechts wegen.«

»Hören Sie mal, Kobes, Sie verdienen aber hier doch auch ein schönes Stück Geld.«

»Dat es et ja grad,« polterte der Alte. »Nu han ech Geld un kein Verjnügen. Wo es denn hier 'n lostige Kirmes oder 'n fidele Kumpanei? Nich mal ene anständige Kneipe mit Tisch un Bänk. Kein Gemötlichkeit. Kein Ruh un Rast un kein garnix. Kann denn hier ene einzige vernönftige Minsch öwerhaupt drinke? Da drängle se sich an de Bar heröm, kippe ehr Glas un fix noch eins un widder eins und sin noh fünf Minute so röndum voll, wie unsereins bei Gott nich noh fünf Stunde. Dat is doch keine Verkehr?«

»Kobes, ich glaube, Sie haben Heimweh nach der Herzbachstraße.«

»Här,« sagte der Alte ernst, »hier han Dausend Heimweg noh der Herzbachstraß. Mr well sich nor nich als Kobes, der Amerikafahrer, uslache lasse. Un zom Begrabewerde es dat Land so passabel als eins, wenn mr alt Eisen es. Adschüs, Här Doktor. Wann ech Sie wör, ech däht verdeck wat Pläsierlicheres, als onger die Bagasch Petri Fischzug veranstalte. Et sin lauter Hecht im Karpfenteich, un se fressen sich gegenseitig. Na denn adschüs, Ernst. Jong, holl der Nacken steif.«

Und er verschwand im dicken Qualm der Färberei.

Wegherr schaute ihm vergnügt nach. Mochte der Alte Recht haben. Je bunter das Bild, desto einträglicher für die stille Forscherarbeit. Und diese Auffassung betonte er noch einmal am Abend im Gespräch mit Wuppermann.

»Der Kobes,« meinte der Fabrikherr, »hat von seinem Standpunkt aus gar nicht so Unrecht. Es gibt eben nur Leute mit und Leute ohne Dollars. Die ersteren nennt man Gentlemen.«

»Und die anderen?«

»Wünschen es zu werden. Das heißt: Dollarleute. Bis dahin kennt sie kein Mensch. Kaum die Gesetzgebung. Selbst du würdest ihnen nichts helfen können.«

»Selbst ich?« wiederholte Wegherr. »Helfen kann sich in diesem Leben jeder nur selber. Ich gehe durch Amerika, um der Forschung zu dienen, und wenn ich dazu den Weg wähle, den wir ausgearbeitet haben, so tue ich es, weil in jedem Deutschen ein Stück Pionier steckt. Wer von meinem Deutschtum lernen will, der kann es und soll es. Wer nicht will, der ändert an meiner Forscherarbeit darum kein Jota.«

»Das freut mich zu hören,« sagte Wuppermann, »das freut mich zu hören. Nun bin ich nicht mehr bange.«

»Warst du das wirklich, Georg?«

»Ein bißchen um dich, Ernst. Falls du die Aussaat nicht schnell genug in die Halme schießen sähest.«

Da lachte Wegherr fröhlich.

»Mensch, ich bin doch kein amerikanischer Geschäftsmann. Und Willarts Telegrammstil mag recht nützlich sein, um aufmunternde Püffe auszuteilen. Aber für den Historiker kommt das alles gar nicht in Betracht. Die Jahrtausende, mit denen er sich beschäftigen muß, haben ihn das Abwarten gelehrt. Man streut aus, und irgendwo, irgendwann reift es. Auch wenn man es selber nicht mehr sieht.«

»Ernst,« meinte Wuppermann nachdenklich, »trotz Haus, Weib, Kind und Ingesind glaube ich beinahe doch, du bist der Beneidenswertere.«

»Vielleicht, weil ich von all' dem nichts zu verlieren habe.«

»Werd' nicht grüblerisch. Wer nichts zu verlieren hat, hat um so mehr zu gewinnen.«

»Ich werde mir diese funkelnagelneue Weisheit ins Stammbuch schreiben, Georg.«

Tags darauf wanderte er zu Fuß dem Damen-College zu, um sich von Fräulein van Weert zu verabschieden, die er seit dem einen Male nicht mehr gesehen hatte. Er hatte eine gute Stunde zu marschieren. Die prunkenden Herbsttage waren dahin. Regengrau wölbte sich der Himmel, und der schneidende Wind fegte das raschelnde Laub aus den Gräben auf und ließ es in Säulen tanzen, in Ringen kreisen, spurlos verwehen. In der Ferne tauchte eine einsame Häusermasse auf. Wohn- und Lehrgebäude lagen kahl auf dem kahlen Campus.

Da sitzt sie nun, dachte der Wanderer, wie ein Vögelchen, dem das Singen eingefroren ist. Und er nahm sich vor, ihr kräftig den Mut zu stärken.

In einem der Lehrgebäude verwies man ihn in den Hörsaal, in dem Fräulein van Weert gerade lehrte. Er trat leise ein und setzte sich, ohne beachtet zu werden, dicht an die Rückwand neben der Türe. Es mochten an die hundert junger Mädchen versammelt sein. Sie saßen geschmackvoll gekleidet mit übereinandergeschlagenen Beinen, den Kopf auf die Hand gestützt, und lauschten oder flüsterten ein Wort mit der Nachbarin.

Gertrud van Weert stand auf dem Katheder. Die dunklen Augen leuchteten unter der blassen Stirn, die der schwere Flechtenkranz umschloß. Sie sprach von den Liedern deutscher Dichter, die zu Volksliedern geworden waren. Sie wählte Goethes »Heidenröslein« als Beispiel. Und hell und freudig ertönte ihre Stimme:

»Sah ein Knab' ein Röslein steh'n,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu seh'n,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.«

Sie sprach die Strophen zu Ende, und frisch und fröhlich hob sie von neuem die Stimme und sang die Melodie:

»Sah ein Knab' ein Röslein steh'n ...«

Die jungen Studentinnen horchten auf. Einigen sah man das ehrliche Vergnügen an. Andere kicherten. Dann klang die Weise aus, die Vorlesung war zu Ende, und hastig leerte sich der Hörsaal.

Gertrud van Weert war auf dem Katheder zurückgeblieben. Vor sich hinsummend legte sie ihre Hefte zusammen und griff nach Hut und Regenmantel. Nein, dachte Wegherr, das ist kein Vogel, dem das Singen eingefroren ist. Aber wer das im Käfig kann, wie muß der das erst in der Freiheit können. Und er erhob sich aus seiner Ecke und trat mit schnellen Schritten zu ihr.

»War so jung und morgenschön – Lief er schnell, es nah zu seh'n. Guten Tag, Fräulein van Weert!«

»Herr Gott,« sagte sie und wurde dunkelrot. »Sie haben doch nicht etwa zugehört?«

»Aber was denn sonst? Sollte ich mir etwa Ohren und Augen zuhalten? Ich habe regelrecht Kolleg geschunden. Wie einst im Mai.«

Da lachte sie mit ihm und streckte ihm die Hand hin.

»Wie jung Sie sein können.«

»Hatten Sie mich für einen Greis gehalten? Mit Brille, Schnupftabak und schmutzigen Manschetten?«

»Das ist schön, daß Sie Wort gehalten haben. Ich wagte kaum noch daran zu denken.«

»Und es ist schön von Ihnen, daß Sie überhaupt daran gedacht haben.«

»Nein,« sagte sie, »dazu ist die Stunde zu kurz, daß wir sie an Schmeicheleien wegwerfen. Kommen Sie. Ja, wohin? In das allgemeine Empfangszimmer? Da sitzen immer ein paar Kolleginnen und üben sich als Gedankenleserinnen. Auf mein Stübchen – geht nicht. Bleibt nur der Campus, wenn Ihnen da nicht der Wind zu sehr pfeift.«

»Er wird mir bald noch ganz anders um die Ohren pfeifen. Und zwar ohne guten Kameraden.«

»Also gehen wir.« Und sie fuhr eilig in das Ärmelloch des Regenmantels, saß fest und ließ sich lachend von ihm helfen.

Die fröhliche Unruhe war noch in ihr, als sie ins Freie trat und vor den wütenden Windstößen den Hut mit beiden Händen auf den Flechten halten mußte. Und sie blieb in ihr und steigerte sich noch.

Er aber hatte seine Freude an dem schlanken, festen Mädchenkörper, und er sah sie an des Bruders Seite durch die Steppen jagen.

»Morgen also geht's in den Kampf?« fragte sie und wandte ihm begierig ihr Gesicht zu.

»Morgen abend. In Philadelphia. Werden Sie an mich denken?«

»Sie haben ja auch an mich gedacht. Was werden Sie lesen?«

»Über den Weltberuf des Deutschtums.«

»Sie müssen eine unendliche Heimatliebe in sich tragen, daß Sie soviel davon abgeben können.«

»Heimatliebe! O ja. Nur keine Heimat.«

»Ich könnte sagen, dann geht es uns gleich. Aber ein Mann schafft sich die Heimat, wo er den Fuß in die Scholle drückt und seinen Willen.«

»Bei Tag. Nachts schreit das Herz und glaubt nicht daran.«

»Ja,« sagte sie, »das Herz. Das ist ein Luxusartikel in Amerika, und Sie müssen es bald entwöhnen.«

Der Wind riß ihnen die Worte vom Munde. Und sie gingen dicht nebeneinander, um sich zu verstehen. So wird sie oft mit Jan gegangen sein, dachte Wegherr. Zutraulich wie eine Schwester.

»Sie haben es sich ja auch nicht abgewöhnen können,« sagte er laut. »Und es ist nicht Ihr Ernst, Fräulein van Weert.«

»Nein, es ist nicht mein Ernst. Nicht der meine. Aber es ist doch Ernst.«

»Wenn ich es mir abgewöhnt hätte, das, was wir Deutschen Herz nennen, so ganz yankeemäßig, würden Sie dann ebenso neben mir hergehen?«

»So!« rief sie und zog die Schultern ein, »so lauf' ich hier immer herum.«

»Aber ich sah Sie doch auf dem Katheder so frisch wie das Heidenröschen, das Sie in Wort und Weise zum Greifen malten. Wo blieben da die eingezogenen Schultern?«

Sie lachte ein echtes Mädchenlachen. Das flog mit dem Wind – über das Feld. »O ja – jetzt! Jetzt hab' ich was zum Denken.«

»Hat's noch einer mit Ihnen? Verzeihung. Es war unbescheiden.«

Sie hatte sich schon gefunden. »Welch ein Einfall,« sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Nirgendzuhaus und ein Habenichts. Darum reißt man sich nicht. Ach, wenn es nur solche Geheimnisse gäbe, wäre ich übel dran.«

»Werden die Männer hierzuland blind wie die Maulwürfe geboren?«

Sie waren weitergeschritten, rund um den menschenleeren Campus herum, bald den Wind im Gesicht, bald im Nacken. Die Kleider preßten sich ihr ans Knie, die Arme streckten sich nach dem Hut. Aber es war ein lustiges Marschieren.

»Doktor, ist das der rechte Unterhaltungsstoff für einen Mann, der in die Schlacht will?«

»Wir werden uns lange nicht wiedersehen, Fräulein van Weert. Mit zwei Jahren muß ich wohl rechnen.«

Erst kam keine Antwort. Dann sagte sie: »Es ist – schade. Wer weiß, ob wir uns überhaupt noch einmal sehen. Hier geht alles so rasch.«

»Soll ich die Staaten, die Sie früher mit Ihrem Bruder Jan durchzogen, von Ihnen grüßen?«

Sie blieb stehen. Die Hände an der Hutkrempe, blickte sie den Blättern nach, die vom Winde fortgetrieben wurden.

So stand sie lange, und er störte sie nicht.

»Ob Sie sie von mir grüßen sollen?« fragte sie endlich zurück. »Wenn Sie es mir nicht angeboten hätten, würde ich Sie darum gebeten haben. Sagen Sie, ich käme noch einmal hin. Ich müßte das alles noch einmal mit leibhaftigen Augen sehen und es mir wiederholen. Bevor – bevor ich abgestumpft bin. Und nun muß ich wieder an die Arbeit.« Sie rüttelte sich auf und reichte ihm die Hand. »Ich habe Ihnen noch für etwas zu danken, Herr Doktor. Vielleicht kann ich es Ihnen später einmal schreiben, wenn ich dann noch für Sie auf der Welt bin. Also herzlichen Dank. Und leben Sie wohl.«

Er wußte nichts zu erwidern. Er sah sie noch einmal an und zog ihre Hand an die Lippen.

»Leben Sie auch wohl, Fräulein van Weert.«

Der Campus lag hinter ihm. Auf der Landstraße packte ihn der Wind wie ein Sturm. Noch einmal wandte er sich um.

Da stand sie, wie sie gestanden hatte. Die Arme gereckt, die Hände an der Hutkrempe, vom Wind gezaust, und blickte hinter ihm drein wie ein Meerfahrer, der die Küste schwinden sieht.

Heimatlos, zog es ihm durch den Sinn. Und könnte selber eine Heimat sein ...

Am nächsten Morgen nahm Ernst Wegherr Abschied vom Hause Wuppermann. Er küßte die Kinder, die ihn umdrängten, und wollte sich mit dankenden Worten an seine Gastfreunde wenden. Aber der Hausherr kam ihm zuvor.

»Wir haben dir zu danken. Von dir leben wir nun wieder eine ganze Zeit. Und zweimal Abschied nehmen ist gerade einmal zu viel.«

»Zweimal?«

»Es ist doch selbstverständlich, daß Mary und ich heute abend in Philadelphia sind. Ist ja nur ein Katzensprung. Keine zwei Stunden Eisenbahnfahrt. Dein erstes Auftreten möchten wir doch miterleben. Alle Freunde erscheinen. Selbst der Baron Dachsberg und Vater und Sohn Unkelbach werden zur Stelle sein. Heute früh hatte ich einen Brief, daß die Unkelbachs in Washington lange hingehalten worden seien. Der Fleischvertrag ist ihnen erst in letzter Stunde geglückt. Natürlich hat der Baron als getreuer Nachbar bei ihnen standgehalten und sie durch seine vielen Beziehungen unterstützt. Nun machen sie deinethalben einen Umweg.«

»Deutsche Treue,« sagte Wegherr. Und ihm war froh und zuversichtlich zumute.

Gegen Mittag traf er in Philadelphia ein, und Frank Willart empfing ihn. Er hatte ein Paket Zeitungen unter dem Arm und breitete sie, als ein Wagen sie zum Hotel führte, vor Wegherr aus. »Die ersten Fanfarenstöße.«

Überrascht blickte Wegherr hin. Jede der Zeitungen brachte sein wohlgetroffenes Bildnis und einen über die ganze Seite sich hinziehenden Aufsatz voller Lobeserhebungen. Die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. »Wie konnten Sie so etwas dulden, Mr. Willart.«

»So etwas?« fragte der Deutschamerikaner gelassen. »Es muß noch ganz anders kommen. Warten Sie nur erst morgen ab. Und in jeder Stadt muß eine Steigerung erfolgen, daß die Federn nur so spritzen. Glauben Sie, hier liefe ein Mensch zu irgendeiner Veranstaltung, wenn ihm nicht ein Erzengel in Person versprochen würde?«

»Oder ein Barnum.«

»Gut. Oder Barnum, der Reklamekönig. Was verschlägt das? Das Ziel ist alles, und die Menge macht hier nicht die feinen Unterschiede. Die ihr beizubringen, sind Sie ja nachher da. Hauptsache, Mr. Wegherr, daß im Saal kein Apfel zur Erde kann.«

Und es konnte kein Apfel zur Erde.

Ernst Wegherr kam von einer Ausfahrt zurück, die er am Nachmittag allein unternommen hatte. Er war an den Ufern des stillströmenden Schuylkill und des majestätischen Delaware gewesen, hatte den gewaltigen Fairmount-Park besucht und unter den vielen Bildsäulen auch des großen Alexander von Humboldt Standbild gefunden, war in die Stadt zurückgekehrt und hatte vom hohen Rathausturm den Blick schweifen lassen über die unabsehbaren roten Dächermassen, die auf und ab wogten wie rote Meereswellen. Sein Herz war noch voll von dem Erschauten, als ihm Willart gemeldet wurde, der ihn zu holen kam.

In der Halle des Hotels traf er auf eine Anzahl Reporter, die ihn sofort umringten. Fragen schwirrten an sein Ohr. Er war jetzt nicht in der Laune, sie zu beantworten. Aber schon griff Frank Willart ein, mit glänzend geschliffenen Antworten, mit überlegenem Humor. Die Bleistifte fuhren hastig über das Papier. »Herr Professor Doktor Wegherr hat mir das vor wenigen Minuten erst in dieser Weise mitgeteilt,« schloß Willart. »Ich überlasse Ihnen seine Ausführungen gern.«

Nun saß er im Wagen, der sie nach dem großen Versammlungssaal der alten deutschen Halle führte. Willart sprach: »Gestatten Sie mir, darauf hinzuweisen, daß die Presse und ihre Vertreter bis zum geringsten Reporter hier eine Macht bedeuten, wie in keinem anderen Land. Der Leser hat hier keine Zeit, nachzuprüfen, auch nicht immer das nötige Verständnis. Das Geschäft geht vor allem. Zeitungsnachrichten sollen für ihn eine Aufpeitschung seiner müde gewordenen Nerven sein. Wir, die wir das übersehen, haben die Pflicht, der Peitsche den richtigen Schwung zu geben.«

Ernst Wegherr hörte kaum noch hin. Seine Gedanken waren vorausgeeilt.

Der Wagen hielt. Sie stiegen aus. Sie gingen eine breite Treppe hinauf und legten in einem Zimmer Hut und Mantel ab.

»Sind Sie bereit?«

»Ich bin's.«

»Dann kommen Sie. Die Leute sind auch bei den Abendveranstaltungen pünktlich wie beim Geschäft. Ich führe Sie ein.«

Er öffnete eine Tür. Blendendes Licht brach hervor. Schwarze Menschenmassen wogten, kamen plötzlich zur Ruhe. Wegherr schritt hindurch, folgte Willart auf das Podium. Ein Händeklatschen ging wie ein Brausen durch die Halle. Willart hob die Hand. Jäh wurde es still.

»Ladies und Gentlemen! Heute möchte ich lieber sagen: Volksgenossen! Wird mir und Ihnen doch die Freude zuteil, auf diesem Podium einen Mann zu sehen, der nicht nur eine Zierde deutscher Wissenschaft darstellt, der darüber hinaus als ein Träger des unverfälschten deutschen Blutes angesprochen werden muß und jener hohen Gesinnung, die dem deutschen Michel diesseits und jenseits des Ozeans die Mütze aus den Augen zieht, ihm den Pionierhut in die Stirn drückt, ihm den heißen Glauben an seine gesammelte Kraft und die Erfüllung seiner Weltaufgaben verleiht und somit die Vorherrschaft deutscher Kultur auf allen Gebieten des Lebens – um das Wort eines großen Preußenkönigs zu gebrauchen – stabilieren hilft wie einen rocher de bronze. Ich stelle Ihnen hiermit den Geschichtsforscher Professor Doktor Ernst Wegherr vor, der Ihnen von der großen Aufgabe des Deutschtums sprechen wird. Ich bin stolz, es zu dürfen.«

Er wandte sich Wegherr zu und schüttelte ihm die Hand. Und von brausenden Zurufen begrüßt, trat Ernst Wegherr an das Rednerpult.

Seine schlanke Gestalt reckte sich auf, als er über die Menschenmassen blickte. In seine Augen trat ein Glanz. Da saßen dicht vor ihm Georg und Mary Wuppermann. Dort drüben Vater und Sohn Unkelbach, und neben ihm winkte der hagere Klevesche Baron. Da waren der ehemalige Musikdirektor und der ehemalige preußische Offizier, der abonnentenheischende Zeitungsverleger und alle die Männer vom Berge. Da waren tausend Menschen, aus deutschen Gauen oder doch von deutschen Eltern geboren, die in Amerika die neue Heimat suchten oder schon gefunden hatten, alle begierig, ein deutsches Wort zu vernehmen, das unmittelbar aus dem alten, verlassenen, insgeheim so heißgeliebten Vaterlande zu ihnen getragen werden sollte. Mit andächtigen Gesichtern saßen sie und hielten ihre Hüte im Schoß. Und drüben, hinter der Säule, war das nicht – oder hatte er sich getäuscht – nein, jetzt erkannte er sie und lächelte: es war Fräulein van Weert.

Und während er sich noch des unerwarteten Anblicks freute, sprach er schon die ersten Worte:

»Ich bringe Ihnen einen Gruß der alten Heimaterde. Ob wir sie fliehen, ob wir verpflanzt werden, sie gibt uns die Urkraft ihres Bodens mit, ohne die wir ein haltloser Schemen wären. So wie dem Baume der Wurzelballen Erde gelassen werden muß, soll er auf neuem Standort kraftvoll weiter gedeihen, so können auch wir nur in fremden Landen ragend aufwachsen, wenn wir den Wurzelballen mitgebracht haben und zäh an ihm festhalten als dem ureigensten und stärksten Kräftebringer, den Wurzelballen: das Deutschtum.

Die Jahre gehen dahin, und die Wurzeln haben weitergetrieben und holen die Säfte aus der neuen Erde, der der Baum Schatten gibt und Früchte spendet in ewiger Wechselwirkung. Daß der Baum aber ein Segen werden konnte und eine Zierde für die neue Landschaft, das vermochte allein die alte Wurzelerde, und das wollen, das dürfen wir nicht vergessen. Denn wir achten uns.

Ein Volk, das seine Abstammung mißachtet – wie könnte es je Mitbegründer eines neuen großen Volkes werden, das mit Stolz seine Vorgeschichte rückverfolgen will bis in die alten geschichtlichen Zeiten der Ahnengeschlechter? Diesen Stolz werden unsere Enkel von uns fordern, gleich, ob sie diese oder jene Seite des Atlantischen Ozeans bewohnen werden. An uns wird es sein, nicht mit leeren Händen, nicht mit ausgeplünderter Gesinnung vor ihnen dazustehen.

Ich weiß, und wir wissen es alle, daß dieser Stolz nicht immer die stärkste unserer Stammeseigentümlichkeiten gewesen ist, daß wir uns darin jahrhundertelang von allen Völkern belehren lassen mußten. Und die Ältesten in unserem Kreise, manche wohl von ihnen, haben das alte Vaterland verlassen mit dem dumpfen Groll auf die Bedientenhaftigkeit seiner Bewohner und sich ihr aufrechtes und freies Mannestum zu retten gesucht in die neue Heimat. Zwei Wahrheiten lassen Sie mich dazu sagen. Das alte Deutschland, der Gegenstand ihres Zornes und ihres Schmerzes, ist längst dahin, und das vorwärtsstürmende Leben läßt es nicht zu, daß wir auf eine Krankheitszeit mehr als einen historischen Rückblick werfen, da vor uns das gesundete Deutschland, das wiedererstandene Reich, im Morgen seiner drängenden Kräfte liegt. Heute haben wir nur zu fragen: Was ist? Was ist geworden? Und Deutschland selber erteilt die Antwort, so machtvoll und hallend, daß es den Volksstämmen ringsum den höchsten Grad völkerschaftlicher Achtung abnötigt: den brennenden Neid.

Das ist die erste der Wahrheiten. Lassen Sie mich die zweite nennen. Nein, lassen Sie mich danach fragen. Hat das aufrechte, freie Mannestum, das Sie, losgelöst von der alten, in der neuen Heimat suchten, standgehalten, sich behauptet und durchgesetzt gegenüber den Abkömmlingen anderer Völker in diesem machtgebietenden Land? Nun, ob es hat oder nicht hat – heute kann jeder Deutsche, der in die Welt wandert oder längst gewandert ist, sein Deutschtum als überall gültige Paßkarte zeigen, die Achtung erzwingt und den Weg ihm öffnet dank der Stellung des Reiches; darin darf und soll er fortan dem englischen Blutsvetter ebenbürtig sein.

Wohl! Es waren Männer Englands, die die ersten Siedler der heutigen amerikanischen Union stellten. Bald aber folgten ihnen die Deutschen, zu einer Zeit, da es noch urbar zu machen galt und das Leben in die Schanze zu schlagen und den erkämpften Boden mit dem eigenen Blute zu düngen. Es war im Jahre 1683, daß der große Engländer William Penn, der Vater der Bruderliebe, diese Stadt Philadelphia gründete, und im selben Jahre schon führte der Deutsche Franz Daniel Pastorius seine niederrheinischen Mennoniten hierher, die die Nachbarstadt Germantown ins Leben riefen, und rheinpfälzische Bauern folgten in Scharen und erschlossen dem Ackerbau das pennsylvanische Land. Soll ich von Maryland sprechen und der stolzen Stadt Baltimore mit dem deutschen Stamm seit Bestehen? Von den frühen Zügen der Niederrheinländer und Pfälzer nach Virginien, Nord- und Süd-Carolina und den Nachschüben der Württemberger, Hessen und Elsässer? Von den um ihres Glaubens willen vertriebenen Salzburgern, die im Jahre 1734 herüberkamen und Georgia besiedeln und erschließen halfen? Ganz zu schweigen von den Tausenden von Deutschen, die zuerst mit den Holländern, dann mit den Engländern Neuyork der heutigen Blüte entgegenführten.

Bleiben wir bei den Siedlungen und Siedlern, bevor wir nach den führenden Geistern sehen. Nach deutschen Ansiedlern rief selbst der große George Washington, als es Kentucky zu bevölkern galt, und die Geschichte von Ohio und Indiana, das zähe und blutige Ringen der weißen mit der indianischen Rasse, ist nicht zuletzt mit deutschem Blut geschrieben, ohne Lied und Heldenbuch. Aber Cincinnati, die blühende Stadt, gibt Kunde von deutschem Fleiß, deutscher Ausdauer, dem, der zu hören versteht. Nach dem Mississippi, nach dem Missouri schweift der Blick. In Texas war es ein Abenteuer, aber in Missouri war es deutsches Pioniertum, und es blieb nicht nur in St. Louis, der rasch aufwachsenden Stadt, der es eine Reihe von Geistesgrößen schenkte, es zog Schritt für Schritt durch den Staat, und wenn es weiter zog, blieben lachende Städte, freundliche Dörfer zurück. Staat für Staat, Territorium für Territorium zeigt den Weg, den deutscher Wagemut gegangen ist, und an den großen Seen wuchsen die Riesenstädte Chicago, Milwaukee, Cleveland wie deutsche Hochburgen auf. Noch aber war nicht die Hälfte der heutigen Union erschlossen, noch lag der weite wilde Westen brach mit seinen gewaltigen Schätzen unter und über der Erde, als man das Jahr 1849 schrieb. Da ertönte der anfeuernde Ruf: » Go West, young man!« Männer brauchte man, Männer in des Wortes kühnster Bedeutung, die die Gefahren der Felsengebirge verlachten, die Hinterlist des Steppenmeeres für einen Quark erachteten, die mit ihren Ochsenkarren Wochen und Monate und wieder Monate durch unbekannte Wildnisse irrten, nur Gott über sich und die geladene Büchse unterm Arm. Männer brauchte man. Und die Deutschen waren an der Front. Stählern und nicht klein zu kriegen. Urbar wurde das Land unter ihren Fäusten, und die Berge gaben ihrem rastlosen Fleiß die Edelmetalle her. Colorado und Nevada erzählen davon, Dakota, Wyoming, Idaho, Montana, Neu-Mexiko und Arizona. Und sie erzählten bald in allen Mundarten Deutschlands. Weiter ging es, in die heutigen Pacificstaaten hinein. Was waren den deutschen Unverzagten Strapazen, was Berge und reißende Ströme, Frost und Regen, Fieber und Moskitos. Wie eine Goldader zog sich das Deutschtum durch Oregon und das spätere Washington, und für Kalifornien wurde es ein größerer Segen, als dem Lande selbst der Goldreichtum seiner Erde zu bescheren vermochte.«

Ernst Wegherr schöpfte Atem. Die Zuhörerschaft saß wie gebannt. Aller Augen hingen an seinen Lippen, die von der Tatkraft der Väter zu berichten wußten, wie von einem Heldenlied. Und der Redner fuhr fort:

»Nur in großen Zügen kann ich Ihnen heute die Durchquerung Amerikas durch die Deutschen schildern. Die Stunde, die meinem Vortrag gesetzt ist, ist kurz. Und doch wünschte ich, daß sie mehr vermöchte, als nur die Freude an der Vergangenheit in Ihnen zu erregen, daß sie die Freude an der Zukunft in Ihnen entfachen könnte. Karl Schurz, der ein so großer Amerikaner wurde, weil er ein so starker Deutscher blieb, führte die ›Geschichtsblätter›, Bilder und Mitteilungen aus dem Leben der Deutschen in Amerika, folgendermaßen ein: ›Friedrich Kapp sagt in der Einleitung zu seiner Geschichte der Deutschen im Staate Neuyork: ›In den für die Eroberung des neuen Weltteils geführten Kämpfen stellten die Romanen die Offiziere ohne Heer, von den Germanen dagegen die Engländer ein Heer mit Offizieren, die Deutschen endlich ein Heer ohne Offiziere›. Dies ist, so führt Karl Schurz aus, besonders was die Deutschen angeht, durchaus zutreffend. Sie wanderten nach Amerika und ließen sich hier nieder als bloße Ansiedler ohne hohe obrigkeitliche Führung. Sie wurden Bestandteile bereits bestehender Gemeinwesen, in welchen eine überwiegende Bevölkerung anderer Nationalität in politischer und gesellschaftlicher Beziehung die Führerrolle spielte. Sie hatten nicht, wie die ›Heere mit Offizieren‹ ihre amtlichen Geschichtsschreiber, welche über ihr Tun und Treiben regelmäßig Bericht erstatteten. Mit dem alten Vaterlande hatten sie den politischen Zusammenhang verloren, und das dort gehegte Interesse an ihren Schicksalen war daher ein persönliches oder Familieninteresse, aber kein nationales. Überdies wurden sie durch den Unterschied der Sprache, der sie in dem neuen Gemeinwesen von der tonangebenden Nationalität trennte, vielfach isoliert und nicht selten in die ungünstige Stellung eines fremdartigen Elementes gedrängt. All diese Umstände wirkten zusammen, um die deutsche Bevölkerung in der von der leitenden Nationalität geschriebenen Geschichte des amerikanischen Volkes einer etwas nebensächlichen, stiefmütterlichen Behandlung verfallen zu lassen›. Und Karl Schurz begrüßt freudig die Aufgabe, dem deutschen Blut in Amerika seinen rechtmäßigen Platz in der Entwicklungsgeschichte des Landes zu sichern.

Das sind Worte, denen ich, denen wir alle aus deutschem Herzen zustimmen, mehr als das, denen wir Folge leisten müssen in ihrem letzten Anruf. Denn es handelt sich hier nicht um geringfügige Tropfen deutschen Blutes im amerikanischen Riesenleib, sondern um eine Macht, die, in Zahlen von Millionen ausgedrückt, der Zahl der Angloamerikaner die Wage hält und die aller anderen Völkerschaften weit übertrifft. Trotzdem bestehen die Worte von Karl Schurz zu Recht. Wie lange noch, liegt in Ihrer Hand.

Lassen Sie uns über die Schlachtfelder gehen, die die Geschichte dieses Landes bilden. Als Washington zur Unabhängigkeit vom englischen Joche rief, sammelten sich die Deutschen zu ganzen Regimentern unter den Fahnen. Als der Bruderkrieg ausbrach zwischen Nord und Süd, kämpften die Deutschen des Landes zu Tausenden und aber Tausenden für Menschenrecht und Freiheit. Die großen Namen der Angloamerikaner sind unvergänglich eingetragen im Buche der Geschichte. Die der Deutschen wurden vergessen, der große Organisator Steuben nur nebenbei genannt. Denn damals mangelte es den Deutschen in Amerika wie in der alten Heimat noch an Selbstbewußtsein, und sie vergaßen sich selbst. Was damals aber ein verzeihlicher Fehler war, wäre heute eine unverzeihliche Sünde! Wir im alten Deutschland wissen, wer wir sind, wir im neuen Amerika werden es nicht minder wissen.

Denn das deutsche Blut legt nicht nur die Pflicht auf, als Pioniere der Arbeit in der Welt voranzueilen, es legt die größere Pflicht auf, der geschaffenen Zivilisation den Stempel der Kultur zu geben. Nur freie, aufrechte und unerschrockene Männer vermögen es, die über die Kirchturmspitze der Gemeinde hinausblicken in das werte Land, in das Gebärungsfieber der Zukunft hinein. Unermeßliches hat diese große Republik geleistet aus allen Gebieten der Landwirtschaft, der Industrie und der fast unerschöpflichen Technik. Längst hat sie die Staaten Europas eingeholt oder überflügelt. Hier rollt das Rad unaufhaltsam weiter. Was also wird sie Neues schaffen? Was wird sie zu all den Errungenschaften mit gebieterischer Notwendigkeit hinzufügen müssen, um ein wahrhaft eigenes, nur sich gehörendes Amerika zu werden? Die amerikanische Kultur.

Das ist der Zukunft Kern, um den die Nebel ringen. Der Zusammenstrom der Völker in diesem Lande vermöchte in Jahrzehnten die gefährlichste Klippe seines Geschicks zu werden, wird nicht die alles beherrschende Kultur als Schutzwall ausgerichtet. Diese Kultur aber kann zum Heil des Landes nur aus der Rasse geboren werden, die die Tatkraft und Intelligenz des Landes verkörpert, aus der germanischen. Nicht aus einem der Familienglieder. Erst dann wird die Neue Welt einer Kultur zugeführt werden, wie sie noch nie geherrscht hat, wenn die ganze germanische Familie, Engländer, Niederländer, Skandinavier, Deutsche und wieder Deutsche, eines Atems geworden sind.

Das ist die große Aufgabe, die mitzulösen Sie berufen sind.

Und der Weg dahin? Der Weg für die Deutschen? Heben Sie das Haupt! Heben Sie das Haupt hoch, wie es der auf sein Blut stolze Angloamerikaner tut! Lernen Sie und lehren Sie! Lernen Sie von ihm die Zähigkeit, mit der man Pläne nicht nur aufstellt, sondern durchführt, lehren Sie ihn Ehrfurcht nicht nur vor Ihrem Wollen und Können, sondern vor Ihrem Vollbringen. Nicht hier einmal, nicht dort einmal. Nein, hier und überall! Sammeln Sie sich unter einer gemeinsamen Fahne, und Sie werden staunen, wie weit Ihre Macht reicht, wie unbezwinglich Sie sind! Bisher gaben Sie Ihre Stimme ab, jetzt ist die Zeit, selber mitzureden, mitzuhandeln und zu fordern in der Bestimmung der Politik und des Gesellschaftslebens. Und das gesamte Amerikanertum wird aufhorchen, und die Besten von ihnen werden, wenn sie gesammelt, stark und stolz bleiben, den Weg zu Ihnen finden! Das ist der Anteil an der großen Sendung des Deutschtums, der Ihnen auferlegt ist, und den Sie einst in der Gesetzgebung dieses Landes zum Ausdruck bringen werden, Sie, die amerikanischen Bürger deutschen Geblüts, zu Ihrem und der neuen Heimat Heil, und nicht minder zum Heil des alten, unvergeßlichen Vaterlandes.

Damit es mit demselben Stolz, den Ihr Euch geschaffen habt, sagen kann in frohen und ernsten Tagen: Drüben überm Meer wohnen unsere amerikanischen Brüder.

Das sei ein Gruß. Und das walte Gott!« –

Mit leuchtenden Augen, hoch aufgereckt, stand Wegherr und blickte über die Versammlung hinaus.

Es war wie Kirchenstille. Stöhnende Atemzüge rangen sich heraus. Dann vermißten die Menschen die mutige, klingende Stimme und blickten auf. Und plötzlich war's wie das Brausen des Meeres, über das der Sturm hinfährt, ein wildes Gewoge von Menschen, die von den Stühlen sprangen, schrien und tosenden Beifall klatschten. Eine Gestalt schwang sich auf das Podium. Es war Frank Willart. Und vor allem Volk schlang er den Arm um Wegherr und rief in die Massen hinein:

»Habt Ihr ihn gehört? Habt Ihr die Hoffnung der alten und der neuen Heimat aus seinem Munde gehört? Wollen wir zeigen, daß deutsches Blut in uns steckt? Siegerblut, das keinen Teufel fürchtet?«

Wie Peitschenhiebe flogen die Sätze. Und die Begeisterung wurde zum Taumel und Freudenrausch.

»Hat noch einer der Anwesenden eine Anfrage zu stellen?«

»Hier! Hier!«

Nur langsam trat die Ruhe ein.

Ein alter Geistlicher hatte sich erhoben. Das feingeformte Gesicht lächelte unter der massigen Stirn.

»Nur wenige Worte, meine Verehrten. Soeben hat uns unser Redner, dem unsere Herzen zugeflogen sind, gelehrt, wie wir Deutschamerikaner das Leben bejahen sollen. Der erste Lebensbejaher aber war Christus. Schon auf der Hochzeit zu Kana verwandelte er Wasser in Wein. Wenn wir nun die Lebensbejahung, die Doktor Wegherr aus Deutschland uns verkündet hat, von Stund an zum Merkmal des Deutschamerikaners erheben wollen, damit selbst, wenn es Untergehen hieße, unsere Grabschrift laute: ›Die Sterbenden – die Sieger!›, so möchte ich doch die Auffassung vom Leben auch auf eine kleine Tafelfreude ausgedehnt sehen und Herrn Doktor Wegherr fragen, ob wir nicht mit ihm zusammen bleiben dürfen, um ein fröhliches Bankett mit ihm zu begehen.«

Ein fröhliches Gelächter durchbrauste die Luft. Der Humor hatte den Bann gebrochen.

»Herr Doktor Wegherr ist ganz Ihrer Meinung,« rief Willart in den Saal, und ein Jubel war die Antwort.

»Wer wünscht noch eine Frage zu stellen?«

Ein pennsylvanischer Farmer erhob sich.

»Wenn duht der Doktor widderkomme? 'sch kann bald sei!«

»Er wird wiederkommen. Kommt nur vorher ihr

Noch ein Dritter stand auf. Ein frisch eingewanderter Kaufmann.

»Ich wollte nur sagen: wenn man hier herüberkommt, so hat man doch einfach sein altes Volkstum abzustreifen und Amerikaner zu sein.«

Da erhob sich schräg vor dem Sprechenden die lange, hagere Gestalt des Barons von Dachsberg. »Pardon!« rief er zu Willart hinüber und winkte mit der Hand. »Mit Verlaub, Doktor Wegherr.« Und wandte sich mit durchdringender Stimme dem letzten Sprecher zu:

»Mein Herr, wir sind uns persönlich nicht bekannt, und darum möchte ich, um uns nicht zu nahe zu treten, ein Gleichnis aus dem Tierreich wählen. Wenn also ein Esel, oder sagen wir höflicher ein Maulesel, aus Deutschland herüberkommt, wird er dann gleich zum amerikanischen Mustang? Nee, mein Lieber, er bleibt ein Esel. Wenn aber ein Rassehengst von drüben sich hier ansiedelt, so heißt es noch bei seinen amerikanischen Kindern: Söhne und Töchter des deutschen Vollbluts so und so! Ist das verständlich ausgedrückt? Danke. – Meine Damen und Herren: ein dreifach Hurra für das deutsche Vollblut Ernst Wegherr! Hurra – hurra – hurra!«

Als Wegherr sich endlich Bahn zu brechen vermochte, fand er das Fräulein van Weert nicht mehr vor.


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