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12

Zwei Erlebnisse waren es vor all den tausenden, die sich in Martin Opterbergs Seele gruben, deren Bilder er mit sich nahm als Lehre, Mahnung und Maß. Sie machten seine Seele ehrfürchtig, sie erschütterten sein Herz und führten ihn durch ihre Bildkraft dem Höchsten im Leben zu, dem menschlichen Gleichgewicht.

Martin Opterberg meldete sich im Generalstab des Feldheeres beim Ersten Generalquartiermeister. Helm auf und umgeschnallt stand er in dem langen Flur, auf den die Vielheit der Türen mündete, vor dem Zimmer des Generals Ludendorff und wartete. Es war ein Kommen und Gehen von höheren Offizieren, die barhaupt und ohne Degen, wie sie von ihrem Arbeitstisch aufgesprungen waren, herbeieilten, um eine Aufklärung zu geben, einen Befehl entgegen zu nehmen, und dennoch blieb die lautlose Stille, in der man das Summen einer späten Fliege als Geräusch empfand. Hinter dieser Türe arbeitete ein Mann, der schier übermenschliche Bürde trug und sie mit Hergabe des letzten Nervs bewältigte, in dessen Hirn die Millionenheere Deutschlands auf allen Kriegsschauplätzen, die Heere der Verbündeten und die Heere der ganzen feindlichen Welt marschierten und das man dennoch immer neuen Belastungsproben aussetzte, selbst aus der Heimat heraus und in Staats- und Wirtschaftsangelegenheiten.

Das ging Martin Opterberg durch den Sinn, während er vor der geräuschlos auf- und zuklappenden Türe verharrte. War dieser Mann so groß an Geist – oder war Deutschland so klein an Geistern, daß man alle Wünsche und Hoffnungen auf dieses Einen Schultern lud?

Und mit einem Male wechselten die Bilder vor dem seelischen Auge Martin Opterbergs. Er sah die Hunderttausende von Neuen Testamenten in den Händen der Lesenden, er sah die Hunderttausende von Rosenkränzen am Gewehrschloß der Betenden – er schaute die Inbrunst – er hörte ihr Stöhnen im Ohr – und er sah Testamente und Rosenkränze auf den Kehrichthaufen fliegen und vernahm Wutgebrüll und Gotteslästerung.

Das war, als das Schicksalsrad anders herum ging – –

»Herr Hauptmann Opterberg ...«

Martin Opterberg riß sich zu dienstlicher Haltung zusammen. Er trat ein. Die Tür sank geräuschlos hinter ihm ins Schloß.

Ein leeres, dämmeriges Gemach. Ganz hinten am letzten Eckfenster, alles Tageslicht auf sich vereinend, ein Mann am Schreibtisch, groß, stark, mit einem Bauernschädel.

Der Mann erhob sich, durchschritt in Eile das langgestreckte Zimmer und nahm dem Meldenden die Hand vom Helm.

»Hauptmann Opterberg. Ich weiß. Sollen hier ein paar Monate arbeiten, um nicht vorzeitig draufzugehen. Offiziere wie Sie brauchen wir heute nötiger denn je. Führer, denen die Leute blindlings folgen. Herzlich willkommen hier.«

»Allergehorsamsten Dank, Euer Exzellenz.«

»Keine Worte, lieber Opterberg. Der Dank ist auf unserer Seite. Viermal verwundet und immer wieder vornweg, Ihre Leistungen sind mir allesamt bekannt. Sie dürfen stolz darauf sein.«

Martin Opterberg stand unbeweglich. Auge in Auge mit dem überlasteten Mann, der dennoch auch von ihm wußte.

»Nun wollen Sie sich wohl beim Feldmarschall melden? Sie sollen ihn sehen. Der Feldmarschall wünscht es selbst. In einer Stunde beim Mittagessen in seinem Hause. Dort hat er Atempause. Auf Wiedersehen.«

Martin Opterberg spürte den kurzen, festen Druck der Hand. Und während er Kehrt machte, sah er den Überlasteten in Eile durch das Zimmer zurückschreiten. Als er beim Hinaustreten einen Blick zurückwarf, saß der General in seinen Papieren vergraben am Schreibtisch. Und alles Tageslicht lag auf dem mächtigen Bauernschädel.

Nachsinnend betrat Martin Opterberg die Straße. Aber ein Gefühl blieb das stärkste. Er kam von einem Einsamen. Er kam von einem Arbeitsriesen, der in Sekunden denken mußte, handeln, vollbringen, und der seine Worte auf Sekundenkürze zusammendrängen mußte.

Und doch: was hatte der General ihm in den wenigen Augenblicken nicht alles gesagt. Nein, nicht das Lob. »Führer sind nötiger denn je, denen die Leute blindlings folgen.« Also sammelte er sich zum Entscheidungskampf. Zur letzten Schlacht, in der es blindlings voran gehen mußte, sollte Deutschland bestehen ... Und von Hindenburg hatte er gesprochen, dem Feldmarschall. Dies ehrfürchtigstolze »Sie sollen ihn sehen« schwang noch in Martin Opterbergs Seele nach. Mit diesem tiefen Unterton vermochte nur ein Mann zu sprechen, der das Hinaufschauen nicht verlernt hatte. »Dort hat er Atempause.« So spricht ein Mitarbeiter vom Meister.

Und plötzlich rann es Martin Opterberg den Rücken hinab ... Gleich wirst du vor dem Schlachtenmeister stehen, vor dem Ehrwürdigen und Verehrungswürdigen.

Er horchte in sich hinein. Nein, da war keine Spur von Angst. Da war nur Freude, jubelnde Freude.

»Opterberg? Bist du's oder bist du's nicht? Menschenskind, du überrennst ja den Vertreter einer hohen Generalstabsabteilung!«

»Grüters,« sagte Opterberg und hielt an. »Wenn ich dein Hiersein nicht schon von deinem Schwager Tillmann wüßte, hätt' ich dich doch an den funkelnagelneuen Beinkleidern erkannt.«

Grüters beklopfte mit einer Reitgerte die gutsitzenden langen Hosen.

»Du irrst, wenn du damit meinst, daß Kleider Leute machen. Der Generalstab des deutschen Heeres ist verdammt helle, mein Junge, und versteht sich auf die Ausmusterung. Mit Hohltöpfen ist hier nischt zu wollen, aber rein garnischt. Und was führt dich wackeren Feldsoldaten in diese geistige Luftschicht?«

»Nichts als eine einstweilige Versetzung in diesen selben Generalstab.«

»Du– –?« fragte Grüters und starrte den einstigen Verbindungsbruder sprachlos an. »Du machst wohl Witze? Nee – ernsthaft? Wieso denn? Das weißt du nicht? Das ist ja eine rätselhafte Geschichte. Immerhin,« er reichte Opterberg die Hand, »wenn du eine Hilfe nötig hast,– ich stehe dir in meinen knappen Mußestunden gern zur Seite.«

»Verbindlichen Dank, Grüters.«

»Und wo soll's jetzt hin? Komm mit, ich stell' dich beim Mittagessen gleich vor.«

»Leider heute unmöglich, Grüters. Der Feldmarschall hat mich zu Tisch befohlen.«

»Vater Hindenburg? Bist du bei Sinnen? Nu, hör mal, hier gibt's keinen Studentenulk.«

»Es ist so, Grüters, und ich kann's nicht ändern. Befehl ist Befehl. Und General Ludendorff hat ihn mir soeben persönlich ausgesprochen.«

»Bei dem warst du auch? – Ja, was ich sagen wollte,« und Grüters legte seinen Arm in den des Jugendkameraden, »es ist dir doch recht, daß ich dich ein paar Schritte begleite? Ich bin gerade dienstfrei. Habe eine gewaltige Arbeitsleistung hinter mir und eine noch gewaltigere vor mir. Richtig, ich sprach dir noch nicht davon. Aufklärung im Heer. Gegen den Geist, den die grundstürzenden Linksparteien aus der Heimat bis in die vordersten Linien tragen möchten. Das vermag nur ein Mann, der kaiserlich bis in die Knochen ist. Dazu gehört die ganze Wucht und Unerschrockenheit der Überzeugungstreue. Mein Gott, Opterberg, das sind ja Jahre, daß wir unsere Gedanken nicht tauschen konnten. Der ganze Krieg liegt dazwischen. So etwas sollte unter Männern derselben Anschauungsweise nicht vorkommen dürfen. Also wir sind die Alten, Mann.«

Arm in Arm mit Opterberg auf- und abschreitend, plauderte er. Liebenswürdig, ein wenig hochmütig, stets die eigene Person im Auge.

»Jetzt wird's wohl Zeit, daß du zum Feldmarschall hineingehst. Weidmannsheil! Vielleicht freut's ihn, von unserer alten Freundschaft zu vernehmen. Jedenfalls kann's nicht schaden, wenn du mich bei passender Gelegenheit mit einem Wort erwähnst; ich meine die rastlose Aufklärungsarbeit da vorn. Soll ich meine Frau von dir grüßen? Ich schreib' ihr heute.«

Martin Opterberg trat ins Haus. Er behielt den Helm auf und den Degen umgeschnallt.

Der Adjutant kam ihm entgegen, und die Herren nannten ihre Namen.

»Der Herr Feldmarschall läßt bitten, abzulegen. Er nimmt Ihre dienstliche Meldung als geschehen an und ersucht Herrn Hauptmann, sich lediglich als seinen Gast zu fühlen. Bitte in dieses Zimmer.«

Nur wenige Offiziere standen wartend und plaudernd in dem kleinen Empfangszimmer, des Feldmarschalls allernächste Mitarbeiter, soweit sie abkömmlich waren. Der Adjutant stellte den Hauptmann Opterberg vor. Ein paar Namen wurden gemurmelt, ein paar Hände streckten sich aus, und Martin Opterberg fühlte sich auf eine ruhige und selbstverständliche Weise ins Gespräch gezogen. Er war Offizier und Hindenburgs Gast. Das genügte den Herren.

Unwillkürlich reckte sich Martin Opterberg auf. Die Innentür wurde geöffnet, und ein Riese an Wuchs mit einem eckig behauenen Kopf, in dem sich Rune an Rune drängte, graues, kurzgeschorenes Haar über der breitvorgelagerten Faltenstirn, den dicken, eisgrauen Schnurrbart bis über die Mundwinkel vorgezogen, kam, die Hände in den Taschen seiner Litewka vergraben, gemütlich ins Zimmer geschlendert. Der Feldmarschall hatte Atempause.

Kein Zug entging Martin Opterberg in diesem ungewöhnlichen Gesicht. Wie aus einem prachtvollen Marmorblock herausgehauen, ohne erst vorher sorglich in Ton geformt und geglättet gewesen zu sein, so wirkte dieser Kopf. Die Augen waren tief eingelegt. Wie ein Bildhauer wohl, um das Leben zu erhöhen, kostbare Edelsteine in den Marmor senkt. Eines alles verstehenden Herzens Güte spiegelten sie wieder, aber auf ihrem Grunde glomm ein Schein, sichtbar nur dem Forscher, der des Alters spottete und von den Feuerbränden einer Jünglingsseele sprach.

Der Feldmarschall nickte seinen Tischgenossen zu, winkte dem Adjutanten, der zur Vorstellung des Hauptmanns herbeisprang, ab und reichte dem Gast die Hand, die er aus der Litewkatasche zog.

»Der Hauptmann Opterberg wird schon wissen, wer ich bin,« sagte er mit einer knorrigen Baßstimme, die tief aus seinem Körper zu kommen schien, »und ich werde doch wohl wissen, wen ich mir als Gast eingeladen habe. Freue mich. Sie zu sehen, Herr Hauptmann. Ja, mein lieber Kamerad, wär' ich noch in Ihrem Alter, ich möcht' schon lieber mit dem Kolben dreinwettern als jetzt mit dem Federhalter. Was haben Sie studiert?«

»Ingenieurwesen und Volkswirtschaft, Herr Feldmarschall. Ich baue am Niederrhein Schiffe.«

»Ah! ... Viel im Ausland gewesen?«

»Längere Jahre in England und Amerika.«

»Das ist gut. Dann sagen Sie mir doch einmal – Entschuldigung, da meldet die Ordonnanz, daß wir essen können. Ist Ludendorff da? Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt. Dann müssen Sie mir schon gestatten, daß ich Sie zu Ihrem Platze führe. Ich bin nämlich mein eigener Oberhofmarschall.«

Er schob die Hand unter des Gastes Arm und leitete ihn durch die Innentür in das kleine Speisezimmer. Wie ein schlank Studentenfüchslein erschien sich der hochgewachsene Opterberg neben dem breitbrüstigen Riesen.

»Hier sitzen Sie. Neben mir. Hoffentlich haben Sie einen tüchtigen Hunger.«

Die Herren verbeugten sich kurz nach rechts und links und nahmen den Löffel.

Es gab eine dampfende Kartoffelsuppe mit kleingeschnittenem Rindfleisch darin.

»Schmeckt sie so gut wie aus der Feldküche, Herr Hauptmann?«

»Das kann ich wohl sagen.«

»Na, dann darf ich Ihnen wohl einen guten Rat geben. Nehmen Sie noch einen zweiten Teller voll. Es gibt weiter nichts. Höchstens noch einen Eierkuchen.«

Das kam wohlwollend und väterlich. Und während die Teller frisch gefüllt wurden, spürte Martin Opterberg des Feldmarschalls prüfendes Auge.

»Was ich vorhin fragen wollte, Hauptmann Opterberg. Sie waren lange in Amerika. Sie sehen mir nicht danach aus, als ob Sie in einem fremden Land mit geschlossenen Augen leben. Was würde wohl Amerika getan haben, wenn es wie Deutschland gezwungen gewesen wäre, bis auf die Knaben und Greise auf Jahre hinaus fast seine sämtlichen Männer ins Feld zu schicken? Sagen Sie mal Ihre Meinung.«

»Es würde vor allen Dingen jeden Unterschied zwischen Heer und Heimat aufgehoben haben, Herr Feldmarschall.«

»Ich wittere was. Aber erklären Sie sich deutlicher.«

»Amerika würde in der Lage Deutschlands sofort für die Dauer des Krieges jede weitere Kapitalbildung untersagt und jeden Bürger auf Sold gesetzt haben. Keiner hätte den Krieg für sich ausbeuten können, keiner der Daheimgebliebenen einen Pfennig mehr verdienen können als die im Felde Stehenden. Sie hätten ganz einfach in den Fabriken und in der Landwirtschaft ihrer Soldatenpflicht gegenüber dem Vaterland genügen müssen, das sozusagen eine einzige Heeresetappe gebildet hätte.«

Der Feldmarschall legte ihm die schwere Hand auf die Schulter. »Weiter, weiter.«

»Weiter wäre wohl nichts, Herr Feldmarschall. Der Amerikaner treibt Wirklichkeitspolitik und macht Nägel mit Köpfen.«

»Und wir?«

Mit flammenden Augen schaute Martin Opterberg zu, dem greisen Helden auf.

»Ein Wort von Ihnen, Herr Feldmarschall, wenn's sein muß, ein Machtwort –«

Er hielt inne. Eine Röte lief über seine Stirn. »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Feldmarschall, daß ich wagte –«

»Unsinn. In dieser Erholungspause darf jeder reden, wie's ihm ums Herz ist. Das wäre noch schöner.« In den zusammengekniffenen Augen sprühte es auf. »Ja – wenn ich in Berlin etwas zu sagen hätte, was ich aber nicht habe: ich würde Nacht für Nacht eine Streife durch die lustigen Kaffeehäuser und ähnliche Örtlichkeiten veranstalten lassen und alle die feisten Herrlein, die sich dort groß tun, es nicht mit zwei Männern, aber mit zwei Frauenzimmern aufzunehmen, herausholen und am anderen Morgen in die Munitionsfabriken stecken.«

Ein grimmiges Lachen der Verachtung flog um seinen Mund.

»Nicht in das Feldheer. Nicht unter meine Braven. Diese schwammigen Blutegel, die sich am Kriege vollsaugen und, wenn's hart um hart geht, uns mit irrsinnigem Friedensgeheul in den Rücken fallen, um nur ja mit ihrem Raub nicht unter die Räder zu kommen. Dann schimpfen sich diese Kerle ›Pazifisten‹. Achten Sie auf das Fremdwort. Die deutsche Sprache schämt sich, ein Wort dafür herauszurücken.«

Die Teller waren geleert, das Glas Wein ausgetrunken. Ein Zigarrenkistchen machte die Runde, und ein jeder langte zu. Der Feldmarschall tat tiefe Züge. In seinen Augen lag wieder die Vatergüte.

»Es gibt nur eins, mein lieber Hauptmann Opterberg, und das ist die Pflicht. Die Pflicht vor dem Vaterland, vor sich selber und dem Herrgott. Wie die unsere lautet, das sollten wir nachgerade wissen, oder wir müßten diesen unerbittlichen Vernichtungskrieg gegen Deutschland immer noch für eine Kirmeßrauferei halten, die mit einem gefüllten Maßkrug abgebrochen werden kann. Aushalten bis auf den letzten Mann, den letzten Hauch, und lieber in Seligkeit sterben als unselig weiter leben.«

Er stand auf und reckte seine Riesengestalt in den Schultern.

»Wollte doch diese Einsicht Gemeingut des ganzen Heimatvolkes werden. Eine eigene Brotrinde kauen, ist immer noch besser als fremde Peitschenhiebe zum Frühstück. Erfüllen wir unsere Pflicht. Zu nichts anderem sind wir hier. Gesegnete Mahlzeit, meine Herren.«

Er reichte die Linke dem Gast, die Rechte dem General Ludendorff, der eilig und schweigend gegessen hatte. Die Atempause war vorüber. –

Wenige Wochen erst saß Martin Opterberg an seinem schmalen Arbeitstisch, der auf vier fichtenen Füßen stand, als das zweite Erlebnis an ihn herantrat. Der Kaiser, der nach kurzer Abwesenheit im Großen Hauptquartier wieder eingetroffen war, wünschte einen Bericht über die Stimmung im Heere. Seine Umgebung hatte ihm von dem seit kurzem im Generalstab beschäftigten Hauptmann gesprochen, der mit Auszeichnung auf allen Kriegsschauplätzen gekämpft habe und vom Generalfeldmarschall Hindenburg zu einer Mittagsmahlzeit zugezogen worden sei. Der Kaiser ließ den Hauptmann zu sich befehlen.

Es war an einem frühen Wintermorgen, als Martin Opterberg die Einfahrt zu dem Landhause betrat, das den Kaiser und sein Gefolge beherbergte. Ein paar Kraftwagen waren vorgefahren. Der Leibjäger stand harrend am Schlage des ersten.

Die Tür des Hauses öffnete sich. Der Generaladjutant trat heraus, schritt über den knarrenden Kies und nahm die Meldung des Hauptmanns Opterberg entgegen.

»Warten Sie hier. Seine Majestät werden sogleich erscheinen. Sie fahren mit.«

Vier Herren kamen über den Vorhof und traten hinzu. Die Vorstellung wurde rasch vollzogen. Martin Opterberg erfuhr, daß er den Hofmarschall, den Leibarzt, einen Flügeladjutanten und den Hauptmann des kaiserlichen Kraftwagenparks vor sich sah. Die Herren plauderten untereinander von Dingen, die ihm nicht geläufig waren. Er wartete schweigend.

Der Leibjäger reckte das Kinn.

Die Unterhaltung brach ab. Auf der Freitreppe stand der Kaiser.

Er stand in Helm und Mantel, die Hände auf den Degenknauf gestützt, und schaute in die langsam sich hebende Wintersonne. Haar und Schnurrbart schimmerten eisgrau. Das Gesicht war mager und an den Backenknochen eingefallen. Jetzt wandte er die Augen. Sie waren leuchtend wie Knabenaugen.

Martin Opterberg war es, als hatte er einen Betenden gesehen.

Der Generaladjutant eilte hastig zu seinem Herrn. Er erstattete Meldung und winkte mit der Hand Martin Opterberg herbei.

»Der Hauptmann Opterberg, den Euer Majestät zu sehen wünschten.«

Martin Opterberg stand wie aus Bronze, die Hand am Helm.

Des Kaisers Auge lag prüfend auf dem Offizier. Dann streckte er ihm mit einer raschen Bewegung die Hand hin.

»Ich freue mich, Sie zu sehen. Haben sich ja so wild herumgeschlagen, daß kaum noch etwas an Ihnen heil ist. Geht's bald wieder?«

Der Druck der kaiserlichen Rechten war eisern. Die Kraft des verstümmelten linken Armes hatte sich dem rechten mitgeteilt. Martin Opterberg ertrug unbeweglich den Druck.

»Jawohl, Euer Majestät. Ich bin wieder verwendungsfähig.«

»Hinter dem Schreibtisch oder hinter dem Feind her?«

»So Gott will, hinter dem Feind her, Euer Majestät.«

Der Kaiser nickte ihm zu und gab die Hand frei. Über die Schulter zurück befragte er den Generaladjutanten: »Können wir fahren?«

Der Leibjäger bot ihm die Hand zum Einstieg. Der Generaladjutant nahm zur Linken des Kaisers Platz und wies Martin Opterberg den Vordersitz an. Im zweiten Wagen saß das Gefolge, im dritten Jäger und Leibwache. Hinaus glitt es zum Tor und in die winterliche Landschaft hinein.

Des Kaisers Augen gingen lebhaft in die Runde.

»Ob wir nun bald ein anderes Bild zu sehen bekommen?«

»Der Marschall sagt ›ja‹, Euer Majestät.«

»Wenn's Hindenburg sagt, ist es so gut wie geschehen.«

Er atmete tief auf, nahm den Helm ab und ließ sich die Mütze reichen.

»Und Sie wollen wieder mit dabei sein, Hauptmann Opterberg? Können Sie nicht genug kriegen?«

»Wenn der Feind genug hat, kehr' ich gern heim, Euer Majestät.«

»Und diesmal wird er genug kriegen. Er wird, er muß und soll. Es ist alles vorbereitet, glänzend vorbereitet. Diesmal fehlt nichts. Wir werden den Endsieg herbeiführen.«

»Jawohl, Euer Majestät.«

Der Kaiser sprach hastig weiter. Er sprach wie aus einem Drange heraus, eine bestätigende Stimme zu hören. Seine Gesichtszüge zogen sich zusammen. Seine Augen forschten.

›Dieser hier ist der Allereinsamste,‹ dachte Martin Opterberg. ›Während die anderen aus ihrer Einsamkeit Pläne und Taten gewinnen, muß er die seine abwartend in die Landschaft flüchten. Und mit ihr die Verantwortung für die Tugenden und Sünden eines Siebzigmillionenvolkes Vor der ganzen Welt.‹

»Das vierte Kriegsjahr,« sprach der Kaiser lebhaft. »Und Jahr für Jahr hätten sie den Frieden haben können. Nicht doch – erst muß die Welt ganz aus den Fugen gehen. Wenn ich an Rußland denke! Welch ein Zukunftsvolk war's und ist es heut noch mit seinen unermeßlichen Menschen- und Bodenschätzen in all der Unberührtheit. Und Frankreich erst! Es schlägt sich, wie nur ein geborener Soldat sich schlagen kann.« Seine Augen öffneten sich groß und starrten lange ins Weite. Als suchten sie ein Bild und fänden Trümmer. »Das war einmal mein Traum,« sagte er nach einer Weile. »Rußland, Deutschland, Frankreich ein einziger Block. Die drei stärksten und tapfersten Mächte – ein einziger, starrender Fels, an dem sich jede Kriegswoge der Welt im Entstehen hätte brechen müssen. – Die Schildwacht des Erdballs – und darum die heiligste Wacht des Friedenstempels.«

Staunend und ergriffen zugleich hatte Martin Opterberg den Worten des Kaisers gelauscht. Wer so zu träumen, wer so seinen Träumen Worte zu geben vermochte, heute noch, nach der grausamen Wachrüttelung und den rohen Faustschlägen der Umworbenen, der mußte in Wahrheit ein reiner Edelgeist sein oder ein Mensch, an dem alle Wirklichkeiten vorübergeleitet worden waren – und immer noch wurden.

Eine heiße, wehe Liebe entbrannte in ihm zu dem vereinsamten Kronenträger.

Die Morgenfahrt ging weiter. An den schwarzen Wäldern vorüber, über eine weite Hochfläche, die nur verschleierte Fernblicke bot. Der Kaiser schien enttäuscht und kehrte bald zu seinem Gespräch zurück.

»Gut, daß nun die letzte Abrechnung aufgestellt wird. Die Schlußrechnung. In der Heimat fangen sie an, Schwierigkeiten zu machen. Aber in Frankreich machen sie schon längst Schwierigkeiten, und in England soll's auch nicht zart hergehen. Hingegen soll die Stimmung in unserem Heer, vom Chor der ewig Unzufriedenen abgesehen, eine freudig erregte sein. Sie sind ja wohl der beste Augen- und Ohrenzeuge gewesen, Hauptmann Opterberg. Erzählen Sie mal.«

Martin Opterberg riß sich bei dem Anruf zusammen. Der Kaiser hatte eine Frage an ihn gestellt. Und plötzlich ward ihm, als heischte da vor ihm nicht ein kronentragender Mensch eine beistimmende Antwort, als befragte ihn das Vaterland, versinnbildlicht durch ein Fürstenantlitz.

Das Vaterland aber heischte keine höfische Antwort – es heischte die Wahrheit.

»Die Leute sind über menschliches Berechnen hinaus im vierten Jahre im Feld, Euer Majestät. Sie haben trotz der begeisternden Siege viel Hartes und Schweres in der langen Zeit erfahren. Die gelichteten Kameradenreihen, eigene Verwundungen und Krankheiten aller Art, dazu wohl auch trübe Nachrichten von daheim, Tod der Nächsten, Zusammenbruch der Geschäfte. Ich möchte sagen: die freudige Erregung ist mehr die Sehnsucht, bald heimzukommen.«

Der Kaiser sah ihn starr an.

»Das klingt ja fast, als ob da allerhand geheime Machenschaften am Werke wären, den Leuten den Aufschwung zu verleiden?«

»Gewiß, Euer Majestät, auch geheime Machenschaften sind am Werk, obschon sie längst nicht mehr so ganz geheim betrieben werden. Die Sendboten der unzufriedenen Parteien im Reich sitzen schon in jeder Kompanie und halten ihre Winkelversammlungen ab. Wer schimpft und hetzt, hat allzeit den größten Zulauf.«

»Die Sozialisten, Herr Hauptmann? So weit sollte man die schon vorgelassen haben?«

»Euer Majestät, es ist nicht die sozialistische Weltanschauung allein. Es sind zwei gleich starke Strömungen, die im Heere fluten. Die eine ist die sozialistische, die von der großen Völkerversöhnung durch die Gemeinschaftsziele der Arbeiterklassen schwärmt und den Krieg als eine Art Börsenspiel der Geld- und Machtklassen hinstellen möchte. Die andere ist eine wütend judenfeindliche, die die Verlängerung des Krieges, die Anhäufung der Kriegsgewinne durch die überzahlten Heereslieferungen, Bewucherung und Schiebertum daheim, kurz alles, was sie als ihre eigene und die Not des Vaterlandes ansieht, dieser einen Rasse zuschiebt, die doch nur eins vom Hundert der deutschen Bevölkerung ausmacht.«

Der Kaiser schüttelte den Kopf.

»Das geht mir nicht ein. Sozialismus und Antisemitismus sind doch immer entgegengesetzter Natur gewesen.«

»Im Felde denkt man nicht so scharf darüber nach, Euer Majestät. Im Grunde trifft man sich in dem einen Gedanken, möglichst bald nach Hause zu gelangen und klare Bahn zu schaffen.«

»Klare Bahn?«

»Euer Majestät, drei und einhalb Jahr Krieg in ödem Feindesland machen aus Helden Menschen mit menschlichen Gebrechen. Wenn sie in der Schlacht stehen, kämpfen sie um ihr Leben.«

Des Kaisers Blick wurde hart und abweisend.

»Ich denke: um die Ehre des Vaterlandes! – – Mein werter Herr Hauptmann, da stehen mir doch gottlob angenehmere Berichte zur Verfügung als der Ihre.«

Martin Opterberg spürte, wie ihm alles Blut zu Herzen trat.

»Ich fürchte, daß man Euer Majestät falsch unterrichtet hat.« ...

Der Kaiser sah ihn groß an. Dann wendete er den Kopf und sah in die nebelverhangene Landschaft hinaus. Die Maschine des Kraftwagens sang und sauste. Im Wagen fiel kein Wort mehr.

Eine halbe Stunde später, und der Kaiser wies auf ein Wärterhaus am Wege.

»Anhalten.«

Der Generaladjutant gab den Befehl zum Führersitz hinauf. Mit dem kaiserlichen Wagen hielten die anderen. Der Kaiser schritt in das Wärterhaus und wärmte sich den Rücken am Kamin. Er winkte die Herren seines Gefolges zu sich heran und plauderte mit ihnen, während der Leibjäger ein paar belegte Brote und je einen Becher Wein darreichte. Zwei-, dreimal glitten die Augen des Kaisers blitzschnell zu dem Hauptmann hinüber, der still und gesammelt abseits stand und seinen Becher leerte, und musterten das tiefgebräunte Gesicht.

Der Leibjäger begann, die geleerten, Becher einzupacken. Der Kaiser hob den Kopf.

»Der Hauptmann Opterberg bekommt zum zweitenmal eingeschenkt. Er ist vom Rhein.«

Martin Opterberg verbeugte sich und leerte den Becher noch einmal.

Der Kaiser hatte sich für seine Zigarette Feuer geben lassen. Die Herren durften rauchen.

»Wärmen Sie sich weiter. Ich muß draußen ein paar Schritte tun, um die Beine nicht einschlafen zu lassen. Hauptmann Opterberg – Sie können mich begleiten.«

»Zu Befehl, Euer Majestät.«

Langsam ging der Kaiser ein paar Schritte die Landstraße entlang. Wieder flog sein Blick über das zusammengefaßte Gesicht des Hauptmanns.

»Mein lieber Opterberg, hören Sie einmal gut zu, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Damit Sie verstehen, daß ich Sie vorhin nicht kränken wollte –«

»Nein, Euer Majestät ...!«

»– daß ich Sie vorhin nicht kränken wollte durch ein Mißtrauen in Ihre Person, sondern daß ich bei meinem ersten Hineinblicken in die öffentliche Welt ein allgemeines Mißtrauen sozusagen als Weggepäck mitbekam. Weshalb ich's gerade Ihnen erzählen muß, weiß ich nicht. Aber ich tu's.

»Also ich war noch ein Junge und sollte erst im nächsten Jahre öffentlich auf dem Hofball erscheinen. Aber nichtöffentlich zuzuschauen, war mir erlaubt worden. Mein Vater hatte mir seinen ihm sehr innig befreundeten Generaladjutanten als Führer und Erklärer beigegeben. Ich fragte, und er antwortete:

»›General Soundso.‹ – ›Ah, der berühmte Sieger von Siebzig?‹ – ›Na schon. Stoppt ooch die eigene Matratze.‹ Das heißt aus dem Berlinischen übersetzt: er handelt aus selbstsüchtigen Beweggründen.

»›Staatsminister Soundso.‹ – ›Ah, der politische Steuermann?‹ – ›Stoppt ooch, stoppt ooch.‹ ... ›Der Professor Soundso.‹ – ›Ah, der gottbegnadete Maler?‹ – ›Stoppt ooch, stoppt ooch.‹ – Nach wem ich auch in jugendlicher Begeisterung fragte: er stopfte in seine eigene Matratze hinein.«

Der Kaiser warf sein Zigarettenende fort. Seine Blicke tasteten an den nebelverhangenen Fernen.

»Sehen Sie, mein lieber Opterberg, so wurde ich für meine erste Berührung mit der Öffentlichkeit und ihren Menschen vorbereitet. Und nun bitten Sie mir meine Herren heraus. Wir wollen fahren.« – – –

Die Arbeiten im Generalstab des Feldheeres hatten den Punkt erreicht, an dem der Treibriemen auf das Schwungrad aufgelegt werden konnte. Die Regimenter waren durch die Ersatzbataillone aus der Heimat aufgefüllt, Waffen, Munitionslager, Verpflegungswesen, Feldlazarette vervollständigt und auf den leisesten Anruf geregelt. Bei Tag und bei Nacht, unablässig und doch kühl und sicher hatte das Hirn der Generalstabsmänner unter der ungeheueren Spannung gearbeitet.

Martin Opterberg war zum Führer des Pionierbataillons ernannt worden, in dem er vordem eine Kompanie angeführt hatte. Die Verantwortung wuchs, aber auch das Glücksgefühl des Mannes, zu einer größeren Aufgabe berufen zu sein. Er hatte sich von Vorgesetzten und Kameraden im Generalstab verabschiedet und bestieg den Kraftwagen, der ihn in die angewiesene Stellung bringen sollte, als ihm noch ein Brief aus der Heimat zugereicht wurde. Er las ihn während der langen Fahrt und las ihn zu verschiedenen Stunden mit derselben tiefen Heiterkeit des Gemütes.

»Lieber Freund Martin,« schrieb Linde Baumgart, »Deine Drahtnachricht, daß Du als Bataillonsführer an die Front zurückkehrst, ist eingetroffen und hat uns nicht überrascht. Jeder Mann, jede Frau an ihren Platz. Da mußtest Du bei den ersten sein – und bei den vordersten. Denn diesmal geht es nicht um einen neuen Sieg, diesmal geht es um Erfüllung oder Vernichtung. Das ist mir ganz klar und nur den Menschen im Lande nicht, die euch als ihren lebendigen Stacheldraht betrachten, eigenst dazu da, um ihre Geschäftemacherei sorglich zu beschirmen, und nicht etwa schreien, wenn ihr einmal verliert, sondern nur, wenn sie dabei verlieren. Diesem rührend gemeinen Indentaghineinleben steht euer Indentaghineinsterben gegenüber. Du aber sollst unberührt durch beides hindurchschreiten in den kommenden Tag. Dafür bete ich, so gut ich das versteh.

»Weißt Du, Freund Martin, ich betracht's doch schon halt als ein Glück, daß Du aus der Hofluft herausbist. Ich hab' zwar den Hofknix ein gut Dutzendmal versucht, aber das Niederducken liegt mir nicht so als das Hinauflangen, und so will ich Dir lieber zur Begrüßung um den Hals fallen, wenn Du heimkommst, ob's schicklich ist oder nicht.

»Mutter Christianes Regiment auf dem fernen Opterberghof ist wohltuend für Mensch und Tier. Die Leute sagen: sie hat eine glückliche Hand. Aber nein, das ist es nicht. Sie hat den klaren und heiteren Geist, der das Mögliche sieht und mit voller Liebeskraft erfaßt, statt über den eigenen Schatten springen zu wollen. Das gibt ihr dies wunderbare Gefühl der Zulänglichkeit für diese Welt und die Erlaubnis, das Leben trotz allem immer noch schöner zu finden als das Sterben. Sie hat mich Jahre lang in die Schule genommen, und dazumal ließ mich mein höchster Mädchenehrgeiz wünschen: ich möcht' Martin Opterbergs Mutter sein.

»Die Attermanns sind ein wenig heruntergearbeitet, aber es macht ihnen nichts aus. Der Christoph ist zwar nicht mehr felddienstfähig geworden nach dem schweren Schuß, aber auf der Werft steht er seinen Mann für zehn, und Du wirst Deine Freude haben, zu sehen, wie sein unermüdlich fleißiges und unermüdlich gütiges Wesen erstarkend auf Meister und Arbeiter wirkt. Ich hab' nun wieder Kleider angelegt und bin die Werftkanzlei. Schwester Therese sehen wir nur am Abend. Sie bringt dem Vaterland das Opfer ihrer ganzen Person, indem sie ihm aus den blutigen Opfern des Krieges neue Söhne rettet. Die Laute hat sie mir überantwortet und ihre Lieblingslieder. Ich sing' sie ihr, wenn wir zwei Schwestern zusammenhocken, und schaff' ihr Freud'. Denn ohne die Menschenfreud', sagt Schwester Therese, wär' alles Leben und Streben kalt und blind, und die Menschenfreud' macht selbst das kleinste Dasein lebenswert. So hab' ich meinen Posten auf der Werft und daheim und werd' nicht von ihm weichen, es komme, was da will.

»Das alles sollst Du wissen, Freund Martin, damit Du nach Deiner Mutter Art klaren und heiteren Geistes auf Deinen Platz marschierst. Du bist bei uns, und wir sind bei Dir. Da kann uns nichts geschehen. So sei gegrüßt von Deiner Freundin Linde.«

Als Martin Opterberg den Brief zum letzten Male gelesen hatte, fuhr er bei der Division vor. Der Standort seines Bataillons wurde ihm benannt. In selber Stunde noch machte er sich zu Fuß auf den Weg und traf am Abend auf seine alte Kompanie, bei der er sich als Bataillonsführer einrichtete. Hundert rissige und schwielige Hände streckten sich ihm entgegen. Er drückte sie der Reihe nach und fühlte, daß nur Liebe Liebe zeugt.

Kerntruppe war's.

Gelernte Männer und kein unreifes Volk. Schiffer, Handwerker, Meister und Gesellen. Leute vom Rheinstrom, um den es ging.

»Verdammt dicke Luft, Herr Hauptmann.«

»Deshalb hat man uns hierhergeschickt und keine Frauensleut'.«

»Das stimmt wie's As auf der Baßgeig'.« – –

Martin Opterberg stand auf seinem Posten. Nie vergaß er den Tag und die Stunde des über die Erdenmasse nach den Wolken langenden Angriffbeginns. Totenstille – lähmend – hirnzerpressend. Das Springen des Sekundenzeigers. Und auf den nächsten Sprung hin wie die losgelassene Hölle – das Gebrüll von dreitausend deutschen Geschützen, kreischend, fauchend, johlend und rasend, Luft und Leben zerreißend und verschlingend.

»Antreten! Antreten! Zum Sturmangriff!«

Einen Alb stießen die Männer von der Brust. Ein Stöhnen ging durch die Reihen. Erlösung ...

Und wieder hatte die Zeit die Atemlosigkeit des Vormarsches. Atemloser noch. Überstürzender. Alles Denken verwischend. Die Stellung des Feindes! Nehmen – nehmen um jeden Preis! Liegt schon hinter uns. Was jetzt? Die nächste! Und wiederum die nächste! Haben wir ... haben wir. Da setzt sich der Feind! Minenwerfer vor! Ein paar Tonnen Eisen in die Grabennester! Hei, das spritzt! Jagt ihn – jagt ihn! ... Der Atem langt nicht mehr ... Er langt!!

Und er langte durch die Tage, durch die Wochen. Er langte für das wütende Drauflos, für das schäumende Ringen, für das blutige Siegen. Er langte noch für den kurzen, bleiernen Schlaf in den Schlammfeldern und Granatlöchern, Er langte für das stürmende Vorwärts – für das langsame Rückwärts langte er nicht mehr.

Zurück! Wechselndes Schlachtenglück! Eine neue eiserne Linie ziehen ... Neue Kräfte sammeln ...

Neue Kräfte! Zum Teufel waren die alten. Eine neue eiserne Linie! Das ging nun schon vier Jahre fast so.

Finster und keuchend schoben sich die Heeressäulen über das wüste Siegergebiet zurück. Kein Halm, kein Haus. Grinsende Trümmerleere. Flüche knarrten, Verwünschungen. Spottreden sprangen auf und liefen wie giftige Lauge.

»Schämt euch Kerls – Cohns Aktien fallen.«

»Nehmt Rücksicht auf Schiebers – das Pack sitzt in der Sommerfrische.«

»Die Regierung ist laufen gegangen – da sollen wir nicht?«

»Die Juden verkaufen uns mit Haut und Haar!«

»Nicht die Juden: die Junker! Sie fürchten sich.«

»Ob Jud' oder Junker – wartet, wenn wir heimkommen!«

Und die Gegenwogen der Feinde stürmten heran. Amerikas frischgesandtes Millionenheer an der Spitze. Kehrt, und die Wogen aufgefangen! Und die abgehetzten, ausgemergelten Truppen ließen Hader und Spott, wurden noch einmal zu Helden, warfen ihre hageren Körper den vollsaftigen, kraftgenährten Burschen entgegen, flackernden Auges, Schaum vor dem Mund.

»Laßt sie nicht durch! Sie wollen an den Rhein! Hört ihr's – an den Rhein! Hund – du oder ich!«

Schon war das Etappengebiet Kampfgebiet. »Wo bleibt die Verpflegung? Wo sind die Fettwämse? Ausgekratzt ist die Bande! Sie sagt, sie kann's Schießen nicht hören! Aber mit dem Maulwerk klappern kann sie, wenn's eine Schweinerei auszuhecken gibt. Die Vaterlandsverteidiger, die!«

Irgendwoher schrie eine Stimme: »Recht haben sie! Macht's ihnen nach und rettet eure Knochen! Zu Haus ist nötiger, dreinzuschlagen, als hier!« Und ein Brausen ging durch das Heer wie kämpfende Fluten.

Und das Brausen wurde zum Wirbelwind, als die Kunde von Waffenstillstandsverhandlungen durch die Reihen flog. »Jeder Schuß Pulver ist umsonst! Es geht zu End'! Wer sich noch einer Kugel aussetzen wollt', müßt' verrückt im Kopfe sein!«

Da griffen die Franzosen in Massen an. Da kühlten sie ihr Mütchen an den hirnlos Gewordenen, von denen sie vier Jahre lang in hundert Stürmen und Schlachten zusammengehauen worden waren. Da warfen ganze Bataillone, ganze Regimenter die Waffen zu Boden und gingen über, ließen sich wie Herden aus der Schlacht in die Gefangenschaft führen. Leben, leben, leben ...

Martin Opterberg stand mit seinem Bataillon in der kämpfenden Nachhut. Er war mit ihm zu einem wildfeuernden Artillerieregiment geraten. In seinem pulverschwarzen Gesicht glühten die Augen wie Flammen. Mit heiserer Stimme schrie er über den Lärm.

»Schließt euch zusammen, Pioniere! Das wär' der erste Pionier, der überlief'! Gebt's ihnen, Leute! Auch der Franzmann hat nur ein Leben! Zur Hilfe den Braven von der Artillerie!«

Und mit keuchender Brust, mit verbrannten Händen halfen die Pioniere den zusammengeschossenen Artilleristen laden, und feuern, laden und feuern – bis die Nacht kam und sie die Geschütze zurückziehen konnten.

Der Herbst war in den Winter umgeschlagen. Im Novembersturm brach das kaiserliche Deutschland über der Wurzel ab. Das Volk hatte die Regierung in die Hand genommen, und der Kaiser war auf Drängen der ratgebenden Generale über die nahe Grenze nach Holland gefahren. ›Armer Verlassener‹, dachte Martin Opterberg, als die Kunde der sich überstürzenden Geschehnisse verzerrt und begeifert durch die Heerestrümmer lief, ›deine Generale kennen die Seele des Kriegs, aber nicht die Volksseele. Nun erst bist du ganz verlassen ...‹

Unter der Peitsche der Waffenstillstandsbedingungen wälzte sich das Heer dem Rheine zu. Angstgejagt, nicht rechtzeitig mehr über den Strom zu gelangen, in die Freiheit, in die Heimat. Nur die Kampftruppen, die Nachhut, folgten langsam.

Am 10. Dezember des Jahres 1918 setzte Martin Opterberg mit dem Rest seiner Pioniere als die Letzten über den Rhein. Es war unterhalb Düsseldorfs.

Er sprang aus dem Kahn und stand, während die anderen Kähne landeten, mit starrem Weh in den Augen am Ufer des entheiligten Vaterlandsstromes. Die Seinen scharten sich um ihn. Es war ein Abschied.

Ein Trupp jugendlicher Burschen aus der Fabrikgegend stob heran. Sie schrien und fuchtelten mit den Armen.

»Die Kokarden von den Mützen! Die Waffen her! Wird's bald?«

Das war der Heimatgruß.

Ein langer, angetrunkener Bursch sprang den Hauptmann an und griff in seine Achselstücke.

»Herunter mit den Herrenzeichen! Willst du wohl klein werden, du Leuteschinder?«

Martin Opterberg hatte sich von seiner Überraschung erholt. Er hob die Faust und schlug sie dem Angreifer zwischen die Augen, daß er taumelte und sich erbrach. »Reibt ihnen den Hintern mit Pulver ein, sie haben mit dem Gesicht noch keins gerochen!« wüteten die Heimkehrer, schlugen mit den Ruderstangen drein und jagten die Grußbringer in alle Himmelsrichtungen.

»Nun schleicht euch heim, ihr treuen, tapferen Männer, schleicht euch in die Heimat hinein, die todkrank ist,« sagte Martin Opterberg und schüttelte immer wieder die rissigen, borkigen Hände. »Wir sehen uns wieder. Wir sind nicht nur mit dem Mund und im billigen Sonnenschein Kameraden gewesen. Wir gehören fürs Leben zusammen. Eure Wohnorte weiß ich, und ihr wißt den meinen. Grüßt Frau und Kinder von dem Mann, der keinen Dank an euch für groß genug hält.«

Drei Hurras schrien die heiseren Kehlen für ihren Hauptmann in die rheinischen Dezembernebel ...

Im Fußmarsch erreichte Martin Opterberg in später Nacht seinen Wohnort. Schmutzbedeckt, in altem, zerrissenem Soldatenmantel, den Schirm der Mütze in das hagere Gesicht gezogen. Wie ein Nachtwandler ging er an dem eigenen Hause vorüber, das mit geschlossenen Läden im Dunkel lag, und gelangte zum Hause der Attermanns. In einem Zimmer brannte noch ein Licht. Er drückte auf den Knopf der Klingelleitung und sah, wie nach Sekundenstille jäh das Licht im Treppenhaus aufflammte. Dann wurde die Türe aufgerissen, und er schwankte ins Haus.

»Da bin ich, Linde Baumgart.«

Sie stand vor dem Müden, Schmutzbedeckten, in einem weißen Gewand, das sie in der Hast übergeworfen hatte, und alles an ihr atmete die frische Reinheit, die Gesundheit und Schönheit des jugendlichen Weibes.

Jetzt aber schaute sie ihn entgeistert an.

Und er starrte sie an wie eine Erscheinung aus fernen Erinnerungswelten.

Ein Funke sprang in seinem Auge auf, wie im Auge Hungernder und Dürstender, die eine Schale voller Früchte sehen, »Da bin ich, Linde Baumgart,« wiederholte er, trat auf sie zu, griff mit den Händen in ihre Schultern, riß ihren Leib an sich und bedeckte ihr Gesicht mit seinen wilden Küssen. Die Glieder schmerzten sie unter seinem harten Griff.

»Gib mir die Arme frei,« bat sie atemlos.

»Wozu die Arme?«

»Damit ich sie dir um den Hals legen kann, wie ich es dir versprochen hab'. So – so – so ... Nun sei ganz ruhig, Martin Opterberg.«

Ein Aufschluchzen kam von der Treppenstiege. Dort stand Therese Attermann, und Christoph Attermann führte sie mit feuchten Augen dem Heimgekehrten zu.

»Zwei Schwestern heißen dich zur Nacht willkommen, Martin, und ein Bruder. Glücks genug im neuen Deutschland.«

*

 


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