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11

Das Werk war vollbeschäftigt. Um die Kräfte zu keiner Stunde feiern zu lassen, war auf Christoph Attermanns Betreiben eine Werft für Umbauten und Ausbesserungen angegliedert worden, die von den rheinischen Reedern stark in Anspruch genommen wurde. Da gab es Arbeit in Fülle, und die Meister und Gesellen bis zum letzten Lehrjungen fragten längst nicht mehr nach der Länge des Arbeitstages, sondern spornten sich fröhlich an, denn jeder Schlag des Hammers und jeder Feilenstrich erhöhte ihren Anteil am Gewinn und brachte ihnen die Arbeit ihrer Hände näher.

Um die Osterzeit versammelten Martin Opterberg und Christoph Attermann die Vertrauensmänner des Werkes in ihrem gesonderten Arbeitsraum. Die Männer saßen um den großen Zeichentisch und blickten mit erwartungsvollen Augen auf Martin Opterberg, der sich erhoben hatte.

»Liebe Mitarbeiter,« sagte er und entfaltete vor sich eine Anzahl von Papierbogen, »die Stunde, in der uns der Lohn für unser gemeinsames Schaffen winkt und die ich euch zugesagt hatte als Dank für eure treue Mithilfe und darüber hinaus als Staffel zu einer, will's Gott, bald immer mehr sich steigernden Lebenshaltung, ist zum erstenmal gekommen. Der Jahresabschluß liegt fertig vor. Hier ist er. Wir haben unter uns lediglich mit dem Reingewinn zu tun, den ich in zwei Hälften teile. Die eine Hälfte weise ich meinen Mitarbeitern zu als besondere Gewinnzulage zu ihren Arbeitslöhnen. Unsere Werft ist noch zu jung, und wir stehen erst am Anfang. Aber wenn wir so fleißig weiterschaffen und vor allem so vertrauensvoll Hand in Hand marschieren, daß jeder im anderen seinen Freund und Helfer sieht, werden wir nicht nur das Werk auf die gewollte Höhe bringen, sondern auch jede einzelne Familie. Ich bitte Sie, den Jahresabschluß einzusehen.«

Der Wortführer der Vertrauensmänner nahm die Papiere entgegen.

»Weil Sie's der Ordnung wegen wünschen, Herr Doktor Opterberg,« sagte er. »Nötig war's nicht gewesen. Erstens, weil's Ihr freier Wille ist, und zweitens, weil wir Ihnen ohne was Schriftliches aufs Wort glauben. Wenn Sie gestatten, Herr Doktor Opterberg: das ist ja gerad der springende Punkt: daß Sie an unsere Arbeitsfreudigkeit glauben und uns als freie Männer am Werk schaffen lassen, und daß wir an Ihr soziales Empfinden und Ihr Gerechtigkeitsgefühl glauben, das nur freie Männer sehen will. Das ist uns eine mächtige Freude, Herr Doktor Opterberg, und Sie können's am Singen und Witzereißen hören, wenn Sie über, den Werftplatz gehen. Das finden Sie nicht so leicht wieder. Und ob der Abschluß nun mal hart und nun mal weich, mal fett und mal mager ausfällt: Herr Doktor Opterberg, es ist Verlaß aufeinander, und darauf könnten Sie das Abendmahl auf katholisch und auf evangelisch nehmen, lassen Ihnen die Werksangestellten sagen. Unseren besten Dank, Herr Doktor Opterberg.« –

Im Juni kehrte Martin Opterberg von einer längeren Auslandsreise zurück. Er kam am Abend und begab sich sofort in das Attermannsche Haus. Christoph Attermann befand sich auf der Werft, und Therese war an ein Krankenbett gerufen worden. So setzte er sich zu den Kindern, ließ sein Patenkind Linde auf den Knien reiten und den kleinen Christian mit seinem Besuchshut Kreisel spielen, bis die junge Doktorin als erste heimkehrte. Sie stand in der Tür und schaute ihm zu.

»Grüß Gott, Martin!«

»Ah, sieh da! Grüß Gott, Therese! Fröhlich schaust du drein, und die Kinder sind vergnügt wie die Heuschrecken. Willst du mir nicht eins ablassen von deinem Reichtum?«

»Eins ist zu wenig, und zwei kann ich nicht missen. Wär' ich du, Martin, so schafft' ich mir selber den Segen herein.«

»Ja,« meinte er, hob das aufjauchzende Kind hoch zur Zimmerdecke und setzte das strampelnde in seinem Rollstühlchen nieder, »wenn der Storch die kleinen Kinder noch aus dem Wiesenteich fischte und durch den Schornstein fallen ließ'. So billig tut er's nicht mehr.«

»Ich mein', der Martin Opterberg wird's nicht so billig tun.«

Martin Opterberg sah die Jugendfreundin an. »Fühlst du mir den Puls, Theresel?«

»Ja, Martin. Weil mir gar so viel an dir gelegen ist.«

»Nur an mir? Das lohnte nicht.«

»Es lohnte mir sogar ein zweites Menschenkind, an dem mir gelegen wäre.«

Christoph Attermann kam heim. Mit lauter Freude begrüßte er den Bruder und Freund. Dann schaute er ihm prüfend in die Augen.

»Du warst nicht mehr auf die Werft hinaus? Aber das Abendessen wird dir nicht geschenkt. Nachher mögen wir uns bis in die Nacht besprechen.«

»Du kannst teilnehmen, Therese,« sagte Martin Opterberg, als sie sich vom Abendtisch erhoben und ins Arbeitszimmer hinübergingen. »Die Frau soll immerdar klar sehen wie der Mann. Und ein Spielzeug hast du nie sein mögen.«

»Nein, Martin, Ich halt's mit dem Verantwortungsgefühl.«

»Erzähl,« bat Christoph Attermann, als sie in den rohrgeflochtenen Sesseln niedersaßen. »Es ist wie eine plötzliche Windstille im geschäftlichen Leben, und ich schätz', du hast das Wetterglas draußen nicht aus dem Aug' gelassen.«

»Du hast recht empfunden, Christoph. Vor der Tür steht der Krieg.«

Sie schwiegen, alle drei, blickten mit zusammengezogenen Brauen in den Schoß und hoben die Köpfe.

»Du wirst es nicht bei dem einen Wort belassen wollen, Martin.«

Martin Opterberg ließ den Blick zum Fenster hinauswandern.

»Ihr möchtet hören: ein glücklicher Krieg oder ein unglücklicher Krieg.« ... Sein Blick kehrte zurück, sammelte sich und wurde hart. »Und ich mein', wir sollten diese Frage gar nicht erst stellen, wir sollten aufstehen, das ganze Land wie eine einzige Eidgenossenschaft, keine andere Partei im Kopf als ›Deutschland‹ und keine andere Religion im Herzen als wiederum ›Deutschland‹. Denn es wird nicht um Zepter und Kronen, nicht um Gewinn und Verlust gehen, es wird ganz einfach um dieses Deutschland gehen, das erwürgt werden soll, um die hungrigen Wölfe zu füttern. Darüber muß sich der letzte Mann, die letzte Frau im Lande klar sein.«

Therese Attermann sah ihn an.

»Sag mir, warum gerade Deutschland ...?«

»Ich könnte dir antworten, Therese: es ist sein Geschick von altersher. Weil es die schlechtesten Grenzen in Europa hat. Weil es um Lebens- oder Sterbenswillen immer gezwungen war, das Schwert locker zu halten. Weil es seit der Völkerwanderung von den Fremdstämmen überflutet wurde und ihm jeder Krieg, den es bis auf den heutigen Tag um Zurückgewinnung von Licht, Luft und Raum führen mußte, als ein unerhörter Frevel ausgelegt wurde. Ach, Therese, es wären noch viele ›weil‹ anzubringen, und Deutschland als Kriegsschauplatz aller Völker und aller Jahrhunderte bestätigt, was ich sage. Aber sein Geschick hat Zuletzt ein jeder in der Hand, um es zu wandeln.«

Und wir haben es gewandelt, als wir das neue deutsche Reich schufen,« sagte Christoph Attermann.

»Ja, da haben wir es äußerlich gewandelt. Nicht innerlich. Alle unsere aufgestauten Kräfte haben wir losgelassen, als wir endlich eine Macht geworden waren, und wie eine frische Sturzflut ging es über die dürrgewordene Welt. Es war weiß Gott ein herzerfreuender Anblick, als das Teutonentum auf dem Platz erschien und auf allen Märkten der Erde Bewegung in die Massen brachte. Der Erfolg war unser, wär' unser gewesen, hätten wir ihn nur ein klein wenig anders auszumünzen verstanden als nur in Geld, Geld und wieder Geld. Es kann etwas wunderbares sein um das Geldverdienen, wenn man das gewonnene immer wieder ausstreut wie Regen auf die durstende Flur, wie Sonne auf den hungernden Acker. Werben muß es um Glück und Schönheit und Freude, um die Fortentwicklung des ganzen Volkes diesseits und jenseits der Meere und um die Hochachtung und den Dank der fremden Völker. Wir aber haben mehr oder minder das Geld nur hereingeholt, um es nach Urgroßmutterweise in den Strumpf zu stecken und den Strumpf fest zuzubinden und uns großspurig darauf zu setzen: ›Seht, was für ein Kerl bin ich‹ Das Deutschtum schreien wir in alle Welt hinaus, aber für das Deutschtum in aller Welt haben wir keinen Groschen, und unsere Reichsboten rufen Zetermordio, wenn ein klarblickender Vernunftmensch Summen dafür einzustellen wünscht wie für Kohlenstationen und Kolonien, und erschweren den Auslanddeutschen sogar die Reichszugehörigkeit, statt sie stolz und stark zu machen. Seht, dieses unser Emporkömmlingstum, das wir so wenig veredlen, macht uns verhaßt bei Freund und Feind. Unser deutsches Wesen ist krank daran geworden. Es ist unser schlimmster Feind in der Welt und daheim.«

Die Drei saßen eine Weile schweigend. Sie schauten der Wahrheit ernst ins Gesicht.

»Und nun glaubst du, die Wetter ziehen sich zusammen und der Krieg steht vor der Tür?« fragte Christoph Attermann.

»Die Zeichen sind untrüglich,« entgegnete Martin Opterberg. »Das Ausland gibt keine Auftrage mehr herein, noch nimmt es Bestellungen entgegen. Dafür besteht es auf beschleunigter Zahlung der noch offenen Posten. Es handelt offensichtlich nach Weisungen von oben. Nur für den deutschen Geschäftsmann gibt es keine Weisungen. Nur Wiegenlieder.«

»Was schlägst du für die Werft vor, Martin? Verkleinern?«

»Vergrößern!« rief Martin Opterberg und sprang vom Stuhl auf. »Vergrößern, so lang es noch Zeit ist. Das letzte Geld hineinstecken, um sie auszudehnen, soweit wir kaufen können. Theresel, schau mich nicht so entsetzt an, als hieltst du mich leibhaftig für einen Börsenspieler. Ein guter Haushalter denkt über den Tag hinaus, wenn von seinem Tun und Lassen das Schicksal von Hunderten von Angestellten, von Hunderten von Familien abhängig ist. Ich will Vorsorge treffen, daß sie, mag's gerad oder schräg gehen, eine Scholle zum Hausen vorfinden und eine Arbeitsstätte, auf der sie schaffen können. Im Straßendreck gibt's keine Wiedergeburt.«

»Martin,« warf Christoph Attermann ein, »die vergrößerte Werft wird vergrößerte Betriebskosten fordern. Woher die Summen nehmen, wenn wir alles ins Gelände stecken?«

»Woher? Nun, so gib acht. Während eines Krieges wird die Werft ruhen, so gut wie ruhen. Unsere Leute werden ins Feld müssen, wie wir ins Feld müssen. Bis auf die alten. Die Verbleibenden führen Umbauten und Ausbesserungsarbeiten an fremden Schiffen aus. Der Frachtdampfer aber, den wir auf eigene Rechnung bauen, bleibt liegen, bleibt als unser Grundstock liegen. Ob wir ihn nach Kriegsende verkaufen oder selber damit auf Fahrt gehen – er wird uns bessere Betriebskosten hereinbringen als die Papierscheine, die nach jedem Krieg eine Entwertung finden. Wir aber erhalten Hunderten von Menschen den Zukunftglauben und die Lebensfreude.«

Therese Attermann trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Weshalb hast du mich vorhin verkannt, Martin, wo du doch weißt, daß wir eins sind?«

»Weil ich gerad dies Wort von dir hören wollt', Therese. Ich hab' zuweilen eine kleine Sehnsucht nach so einem lieben Frauenwort.«

Christoph Attermann aber saß bereits über dem Geländeplan, maß und rechnete. Wie Zahnräder packten seine und Martin Opterbergs Gedanken ineinander und wurden Ausführung. Das war seit der Bubenzeit, das war Frau Christianes Blut und Erziehung und nie anders geworden.

Am nächsten Morgen zogen sie die Vertrauensmänner und alten Meister heran. Es war die größte Stunde der jungen Werft, in der die Richtlinien festgelegt wurden für Krieg und Frieden, die Anteile der Führer und Mannen, die Arbeitsbedingungen für die Daheimbleibenden und die Lebensbedingungen für die Familien derer, die zu den Fahnen gerufen wurden.

Die Männer standen schweratmend und weiß vor Erregung.

»Herr Doktor Opterberg – und Sie, Herr Attermann - Sie können einem das Sterben leicht machen für das Vaterland – aber das Leben noch leichter. Sie schmeißen nicht mit Redensarten um sich vom Volk der Brüder – Sie machen uns zu Brüdern – und nun spüren wir erst recht das Vaterlandsband – Herrgottnochmal!«

»Der Vertrag ist getätigt,« sagte Martin Opterberg. »Aber ihr sollt erst darüber sprechen, wenn wir ins Feld müssen, damit uns keine geschäftlichen Schwierigkeiten erwachsen.«

Da traten sie einzeln vor und reichten ihm und Christoph Attermann die Hand. Dann gingen sie mit langen, wiegenden Schritten an ihre Arbeit.

In selber Woche noch wurden die Gelände der Werft um das Doppelte vergrößert. Man schüttelte den Kopf über den Narren Opterberg, der sich in so schwierigen Zeitläufen zu Ankäufen entschloß, statt das Seine beisammen zu halten, und gab das Brachland billig.

Am Sonntag traf unangemeldet Frau Christiane ein. Sie brachte Linde Baumgart mit, und die Frauen standen in ihren Reisekleidern am Frühstückstisch, als Martin Opterberg das Zimmer betrat.

»Mutter –!« sagte er nur. Aber er sagte es knabenfroh.

Frau Christiane nahm hastig seinen Kopf und drückte ihn an ihre Brust.

»Bub – mein Bub. Es geht auf den Abschied. Ich hab's all' die Tag' gespürt. Da mußt' ich her, und das Lindele mit. Und nun nimm auch sie in den Arm. Wir Frauen können's alle beid' vertragen.«

»Mutter –,« wiederholte Martin Opterberg nur. Und dann nahm er das Mädchen in den Arm und wußte nicht: war es sein Blut, das in ihm aufsprang und in seinem Ohre sang, oder war es das ihre?

»Wann wird es sein, Bub?«

»Ich denk', schon in Tagen.«

»Dann muß ich morgen wieder heim auf den Hof. Ein jedes an seinen Platz. Und die Linde kann den Verbindungsoffizier machen.«

»Ich werd' die Attermanns herüberrufen, Mutter.«

Christoph und Therese Attermann kamen eilig auf den Fernsprechanruf herbei. Die Schwestern traten sich mit zuckenden Lippen entgegen. Ihre Augen waren feucht. »Du – Du!« stießen sie hervor und hielten sich in den Armen.

»Ihr beide sollt ja gar nicht Abschied nehmen,« sagte Frau Christiane, und ein Lächeln glitt um ihren Mund. »Die Buben gilt's, ihr Mädchen.«

Keine Minute dieses Tages waren die fünf Menschen voneinander getrennt. Bis in die Nacht hinein saßen sie beieinander und besprachen die Pflichten, die einem jeden erwuchsen. Auf Therese Attermann fiel das schwerere Teil. Wenn die benachbarten Ärzte einberufen wurden, mußte sich ihre ärztliche Tätigkeit verdoppeln und verdreifachen. Dazu würde sie dem Namen nach als Geschäftsführerin der Werft bestellt werden. Dort und im Hause sollte die Schwester helfend eingreifen.

»Auf dem Opterberghof ist es nicht anders als hier und im ganzen Land,« setzte Frau Christiane hinzu. »Das Aufgebot geht an die Frauen wie an die Männer. Ich werd' die Arbeit schaffen, wie ihr sie schaffen werdet, ihr Mädchen. Wenn unsere Buben heimkehren, wollen wir uns nicht schämen müssen, als wären wir Frauensleut' nur zum Vergnügen auf der Welt.«

*

Wo war dieser stille, dieser liebesstarke, dieser ruheausgießende Abend? Hundertmal griff Martin Opterberg, griff Christoph Attermann nach der flatternden Erinnerung, um ein Fetzchen davon auf die fieberhaft pochende Stirn, auf das schwerarbeitende Herz zu legen. Ein Befehl – eine Meldung – fort war sie – nur die Gegenwart bestand – nur die Aufgabe dicht vor den Augen, dicht vor den Fäusten – vorwärts – vorwärts! Gab es überhaupt noch eine Zeitrechnung? Hatte es jemals eine Zeit gegeben, die vor dieser lag, die sich auffraß wie Vater Kronos seine Kinder? Würde es jemals eine andere geben als diese atemlos schlingende, der Tage, Wochen und Monate wie Körner im Wirbelsturm waren? Durch einen Fluß Frankreichs arbeitete sich Martin Opterberg mit seiner Pionierkompanie. Hinein in das Feuer, hinauf auf die Ufer, Stützpunkte, Stützpunkte für den Brückenschlag, auf den Zehntausende harrten! Durch die Drahtverhaue eines belgischen Forts glitt Christoph Attermann mit den scherenbewaffneten Seinen. Hinein in die Stacheln, hindurch durch das Blut. Bahn frei, Bahn frei für die stürmenden Brüder! Spracht ihr nicht von Frankreich? Spracht ihr nicht von Belgien? Wo habt ihr euren Verstand gelassen, ihr Vorwärtstaumelnden? Das sind russische Sümpfe, in denen ihr bis an die Achseln steckt, um in den schwappenden, schnappenden Brei kettenrasselnde Pfosten einzurammen für schwimmende Maschinengewehrnester, Rußland? Mensch, du karrst wohl deine Briefsachen mit der vorsintflutlichen Thurn- und Taxischen Postkutsche herum? Die Kompanie Opterberg zeigt den Österreichern in den Karpathen, wie man durch ein paar vorgetragene Sprengminen Massenhimmelfahrten veranstalten kann, und die Kompanie Attermann besorgt's den Serben oder jagt zur Stund' mit Türken und Bulgaren im Lande Mazedonien herum. Vorwärts – vorwärts! Vielleicht triffst du einen alten Juden, der den Opterberg und den Attermann schon in Palästina ankommen sah!

Wenn die Pflegebrüder, oft durch Meilen voneinander getrennt, naß, schmutzstarrend und verwildert irgendwo bei blutiger Arbeit waren, irgendwo im dumpfen Unterstand lagen, war ihnen nicht, als erlebten sie ein Märchen, war ihnen nur, als klängen die Töne des Vorlebens wie unfaßbare, unbegreifliche Kindermärchen an ihr Ohr. Hatte es in Wirklichkeit eine Frau Christiane, eine Therese Attermann und die andere gegeben, die ihr so ähnlich sah wie aus lachender Mädchenzeit? Wann war das gewesen? Wo konnte das gewesen sein? Ha – jetzt. Dort sind sie. Hier, dicht am Herzen, an den Lippen. – Was ist? Was willst du, Mann? Der Feind? Der – Feind –? Auf, Pioniere! Pioniere, auf! In den Graben! Über die Brustwehr! Laßt die Minen flattern! Schmeißt ihnen die Handgranaten an die Schädel! Haut sie mit dem Schanzzeug heraus! Drauf, Jungens, drauf und dem Hauptmann nach! Ah, du Hund – du oder ich ...

Erst hatte Martin Opterberg, hatte Christoph Attermann, hatten die Tausende, die Millionen von Männern geglaubt, nur während des Vormarsches, der Schlachten, der Verfolgungen jagte die Zeit. Im Grabenkrieg war es nicht anders. Nicht doch. Sie jagte nicht. Aber sie kaute und malmte die Stunden unterschiedslos eine hinter der anderen, schluckte sie, nahm ein Maul voll neuer, kaute, malmte, schluckte, unterschiedslos ... Da ließ man das Nachrechnen, und es war eine Woche, ein Monat, ein Jahr, und hätte gestern und vorgestern sein können, morgen oder übermorgen.

Auf einem Grabengang zuckte es Martin Opterberg durch den Sinn, und er nahm den Gedanken mit, während er die Stellung besichtigte. Wirklich –? Waren das schon zwei Jahre seit dem letzten friedlichen Tag daheim? Seit jenem stillen, liebesstarken, ruheausgießenden Abend? Da standen die Jünglinge und Männer, zerlumpt, verschmutzt, mit den Heldenaugen im hagergewordenen Gesicht, und taten ihre Pflicht, taten sie in diesen verfluchten Maulwurfsgängen und Erdlöchern hundertmal mehr noch als im frischen Drauflossturm tollkühnen Vormarsches, obschon die Begeisterung zu allen Teufeln gegangen war in dieser Menschenunwürdigkeit. Aber das eiserne Bewußtsein hielt sie aufrecht: du oder ich! Bei wenigen war es mehr noch als der dumpfe, tierische Grimm: Hund, du hast mir das Leben versaut. Erst kommst du!

Martin Opterberg tastete sich an seinem Gedanken Schritt für Schritt zurück. Zwei Jahre weit. Da zogen diese Jünglinge und Männer, stark und vollwangig, in strahlendem Waffenkleid über den Rhein, den sie in brausendem Gesang zu schirmen schwuren, und sie stürmten mit begeistertem Gesang in die unbekannte Schlacht, in das unbekannte Grauen, in all das Unbekannte auf Schritt und Tritt. Und als es ihnen mälig bekannt geworden war, da taten es plötzlich die wilden Lieder nicht mehr allein, da griffen die Menschen über sich und tasteten und suchten nach dem Göttlichen, dem sie sich blindlings anvertrauen konnten in Leibes- und Seelennot. Und ein Protestant kramte aus seinem Tornister ein Neues Testament hervor und begann darin zu blättern, und gleich waren es Hunderte, waren es Tausende von Büchern Reih' auf, Reih' ab in aller Händen, und des stillen Lesens war kein Ende. Und ein Katholik zog seinen Rosenkranz aus dem Brustlatz und hing ihn griffbereit an sein Gewehrschloß, und gleich war es ein ganzer Rosengarten Reih' auf, Reih' ab, und der stummen Zwiesprach' war kein Ende. Martin Opterberg sah das Bild, er sah es auf dem Marsch bei Tag und am Lagerfeuer in der Nacht, und er sah die gewaltige Glaubenswoge noch durch die unterirdischen Gräben der ersten Stellungskämpfe ziehen, sah das Testament auf der Brustwehr und den Rosenkranz am Bajonett. »Gott, Gott!« hatte es durch die Gräben gerauscht und »Jesus, Maria!« Und die Granaten kamen angeheult und schlugen einen Trupp frisch angekommener Knaben zu Knochensplittern, ein Minenwerfer krachte nieder und stopfte zerfetzten Familienvätern hastend die Erde ihres eigenen Grabes in den Hals, eine giftverseuchte Gaswolke walzte sich heran und erstickte wahllos Jung und Alt. Und kein Heldentum half und kein Gebet. Gott ließ das feige Würgen zu, und kein Heiland hob sichtbarlich die Hände und keine Schmerzensmutter. Aber die wundersüchtigen Menschen hoben die Hände und zerwühlten ihr Haar und zerkratzten ihr Angesicht, bis der Firnis des Christentums heruntersprang und das alte Heidentum zum Vorschein kam, das Heidentum, das seine Götzen schmähte und prügelte, wenn sie keine Wunder taten. Martin Opterberg hatte sich an seinen Gedanken zurückgetastet bis zu dem Tag, an dem die Rosenkränze und Neuen Testamente wie ein Kehrichthaufen in den Gräben lagen und ein Raunen lief und blieb und schwoll: Es gibt keinen Herrgott. Verdammtes Ammenmärchen.

Und wenn es keinen Herrgott gab – wer hatte die Gewalt? Wer hatte sie auf Erden?

Ein Einzelner? Eine Handvoll Gekrönter oder Besternter?

Wer vollzog sie im Feld? Die Führer? Die Masse vollzog sie, die Masse, und sie würde sie einst weiter vollziehen, vom Gespensterglauben erlöst, auf eigene Faust, einst, einst ...

Damals hatte es begonnen, in den Tagen des grausigen Sterbens, das in seiner platten Gemeinheit den Gläubigen traf wie den Ungläubigen, den Helden wie den Feigling, als schlüge eine riesengroße Fliegenklatsche alles zu Brei. Damals hatte es begonnen, und als es begonnen hatte, war es schon überall, in der Kreidechampagne und in den Pripetsümpfen, in den Karpathenschluchten und über den Balkan hin.

Noch schwebte und knisterte es. Noch war das Deutschbewußtsein: Du oder ich! das Mannesbewußtsein und Pflichtenbewußtsein das stärkere.

Trotz aller Sendboten, die heimlich durch die Reihen schlichen ...

Martin Opterberg brach die Gedankenreihe ab. Zum zweitenmal machte er den Grabengang. Diesmal von Mann zu Mann. Und er sah ihnen in die tiefliegenden Augen, in die ausgemergelten Gesichter, und sah ihnen durch die schmutzsteifen, zerflickten Röcke in die heimwehkranken Herzen, die nach der Liebe ihrer Weiber schrien und nach den wildwachsenden Kindern bangten. Und sah über alle ihre stummen Qualen hoch hinaus ihr Heldentum.

Er streckte dem ersten die Hände hin. Eine rissige, borkige Faust, durch das Kriegshandwerk ungeschlacht geworden wie eine Bärentatze, senkte sich hinein. Er streckte sie dem zweiten, dem dritten hin. Sie krochen aus den Erdlöchern und drängten sich mit leuchtenden Augen um ihn. Ein bißchen Liebe, und die Seelen waren gewonnen. Ein bißchen von der Liebe, mit der sie selbst einstmals hinausgezogen waren in die zeitlosen Jahre.

»Es läßt sich immer noch ertragen, Herr Hauptmann.«

»Herr Hauptmann beißen ja auch die Zähne zusammen und schonen sich am allerwenigsten.«

»Herr Hauptmann, wir schaffen 's.«

Liebe! Liebe! Je größer die Not, desto größer die Liebessorge! Väter mußten die Führer sein, Väter und Brüder in eins, dann waren sie die geborenen Vorgesetzten. Aber die meisten der väterlichen Führer, die ihren Schlaf opferten für ein paar Schlummerstunden ihrer Anvertrauten und ihr Leben wagten für das Leben ihrer Kinder, waren weggeschossen, und die Jungen, die an ihrer Stelle den Befehl führten, befahlen allzuoft den anderen und nicht sich selbst. Der Neid sprang auf, und mit dem Neid die üble Nachrede. Die nagte an dem Ansehen und fütterte die Unwilligkeit.

Zweimal hatte Martin Opterberg einen Brustschuß bekommen und war nach sechs Wochen wieder auf den Beinen und bei seiner Kompanie. Beim drittenmal hatte es schwere Brandwunden gesetzt, als seine Leute beim nächtlichen Minenbohren auf eine feindliche Gegenmine gestoßen waren und er sich mit den bloßen Händen auf die sprühende Zündschnur geworfen hatte. Das viertemal traf's ihn am stärksten. Ein Granatsplitter fuhr ihm in den Schenkel, und die breite, eitrige Fleischwunde hielt ihn lange im Lazarett zurück. Hier, im Lazarett der Etappe, traf er nach längerer Trennung Christoph Attermann wieder.

Sie lagen in der Abteilung für Offiziere und sorgten, daß sie im selben Gelaß Bett an Bett kamen.

»Wo hat's dich, Christophel?«

»Bauchschuß. Hört sich grauenhafter an, als es ist. Meine braven Leut' haben sich auf meine Arme und Beine niedergehockt, daß ich mich nicht herumwerfen und verbluten konnt'. Und nicht einen Schluck zu trinken und keine Krume zu essen haben sie zugelassen. Das hatten sie einmal vom Stabsarzt vernommen. Zwei Tag' und zwei Nächte haben sie in der Mordschlacht bei mir gehockt und acht auf mich gegeben. Als ich in einer Zeltbahn ins Lazarett getragen wurde, sagte der Generaloberarzt: ›Gerettet durch Ihre Leute‹!«

»Liebe erzeugt Liebe, Christoph. Du brauchst mir rein gar nichts mehr zu erzählen.«

Täglich flatterte ein Brieflein aus der Heimat ins Krankenzimmer. Therese Attermann schrieb voll tiefer Mütterlichkeit, Der Generaloberarzt hatte der jungen Kollegin einen ausführlichen Bericht über die Art der Verwundung und die fortschreitende Heilung erstattet und die Ärztin in ihr vollkommen beruhigen können. So waren ihre Briefe allein von der tiefinnerlichen Zärtlichkeit getragen, die ihrem Wesen eigen war.

»Ich hab' dich lieb, seit ich es dir das erstemal sagte, und so weißt du es für alle Zeiten.«

Martin Opterberg las den Satz, reichte den Brief mit einem Händedruck dem Freunde zurück und lag ganz still.

»Martin –«

»Ja, Christoph?«

»Ich muß dir ein Geständnis ablegen, Martin. Heut', da wir wie zwei matte Fliegen auf der Decke liegen, läßt es sich leichter sagen und anhören. Ich habe einmal einen furchtbaren Zorn auf dich gehabt, Martin. Das war, als du mich der – der Sabine Barthelmeß wegen ins Rheingau kommen ließest. Damals meint' ich, ich müßt' mich zeitlebens von dir trennen, und ich fuhr zum Theresel und bot ihr meine Hand, um sie über das, was du tatst, so hinauszuheben, daß es nicht an sie konnte. Und dann kam es ganz anders. Als sie mein Weib geworden war, Martin, da wurd' ich erst gewahr, was für einen großen, übergroßen, ganz unverdienten Schatz ich gehoben hatte, und wie dieser Schatz nur deshalb so überreich geworden war, weil er sich immer nur für dich veredelt und fast ein Dutzend Jahr' lang Zins und Zinseszins hinzugenommen hatte. Schau, Martin, damals wurd's mir klar, daß du im Unglück gehandelt hattest und nicht in der Untreue, und daß ich, wie schon früher, so jetzt, auf deinem Erbe saß und so voll tiefer Dankbarkeit gegen mein glückhaft Geschick zu sein hätt', daß ich es durch nichts wettmachen könnte als durch brüderliche Liebe.«

»Schweig, Christoph. Es ist gut so und besser.«

»Laß mich nur reden. Es tut mir wohl, und ich möcht', daß es dir wohl tät'. Einmal war's nah an mich herangetreten, dir eine Arbeit abzunehmen, wie sie nur ein Bruder abzunehmen vermag, der schweigend versteht und schweigend handelt. Aber für mein schwerfälliges Blut ging alles zu rasch, und du hattest das Urteil schon in der Tasche, eh' ich mich von der geschehenen Tat erholt hatte. Schau, Martin, damals hätt' ich mein halb Leben drum gegeben, wenn ich das schleimige Krötenzeug in deinem Haus an deiner Statt hätt' unter die Peitsche nehmen können.«

Martin Opterberg lag ganz still. Aber an den unregelmäßigen Atemzügen hörte der Bruder, wie es in ihm würgte.

»Martin, es mußte einmal ausgesprochen werden. Es läg' sonst immer wie Leichen zwischen uns.«

»Leichen? Das nennst du Leichen? Scheintote sind's, Christoph, die zu jeder Zeit die Augen aufschlagen und mich angrinsen können, und jedes neue Glück, das ich mir schaffen möcht', hämisch begeifern und hinterrücks aushöhnen können. Ah, Christoph, das gibt mir keine Ruh' im Leben und im Sterben, daß ich das Gesindel nicht niedergeschlagen und ausgelöscht hab' für mich und alle Menschen, die ich liebe.«

»Martin, das ist überreizt, das ist übertrieben ...«

»Möglich. Wenn man jahrelang mutterseelenallein da draußen im Dreck gelegen hat, arbeitet die Phantasie. Da hab' ich mir oft ausgemalt: Gott geb' die beiden zum zweiten Mal als Verbrecher vor meine Klinge. Damit ich sauber würd'.«

Da schwieg auch Christoph Attermann. Und er suchte in seinem Hirn und suchte nach einem anderen Bild.

»Das Lindele hat dir geschrieben. Darf ich wissen, was?«

»Hier, lies.«

»Es strengt mich zu sehr an. Erzähl mir lieber.«

Ungern kam Martin Opterberg dem Wunsche nach. Nur stockend berichtete er zu Anfang. Dann aber nahm's ihn selber gefangen, und er wurde wärmer und redete sich zum Schluß in eine große Freudigkeit hinein. »Sie schreibt von der Werft, und daß das Werk sich aus sich selbst unterhält durch die Fülle von Ausbesserungsarbeiten an Schiffen rheinauf und rheinab. Und daß die alten Meister und grauköpfigen Arbeiter wie die Jünglinge zimmern, hämmern und nieten, und daß von den Werksfamilien, deren Männer im Felde stehen und weiter den Lohn beziehen, die Frauen und Kinder in Hos' und Schurz mitschaffen auf dem Werftplatz, um den anderen das Brot nicht zu schmälern, und wie sie selber, die Linde, unter den Frauen mittät' in Hos' und Schurz, wenn's gerad keine Schreibarbeit gäb', um nicht wie ein Dämchen hintanzustehen.«

»Das muß sie köstlich kleiden, Martin. Denn sie ist wie ein Tännlein so schön und grad gewachsen.«

Martin Opterberg lachte vor sich hin. Das war kein krankes Lachen. Es kam aus der Gesundung und verlangte nach der Gesundheit. »Schwestern sind's und einander ähnlich, wie selten zwei. Du mußt es drum wissen, Christoph. Aber auch von der anderen Schwester schreibt sie und hebt das Theresel in den höchsten Himmel: Sprechstunde, Krankenbesuche landaus, landein auf dem Motorrad, Ersatzlazarett, wiederum Sprechstunde, Lazarett, Krankenbesuche und Geburtshilfen bis spät in die Nacht, und vier Stunden Schlaf, wenn's hoch kommt.«

Christoph Attermann lag mit seligen Augen. Er wußte ja das alles und wußte viel mehr. Dreimal war er auf Urlaub daheim gewesen und hatte in Haus und Werk nach dem Rechten gesehen, sehen wollen – denn die Frauen hatten schon um alles gesorgt.

»Unsere Frauen,« sagte er. »Man möcht' sie ein Jahr lang abbusseln, wenn sie stillhielten.«

»Und die Mutter hält den Opterberghof im Schwung, Christoph. Die Hälfte an Arbeitskräften und das Doppelte an Leistungen. Ich sah sie im Herbst mit der Sense in der Ernte. Arme wie Mannesarme, und die Waden, sagt sie, seien schon gar nicht zum ansehen. Die Sechzigjährige ist wie eine Hünin an Leib und Seele.«

»Willst du nicht auch einmal an den Niederrhein, Martin?«

»Später. Heut ist die Verteilung schon die rechte. Der eine zu Frau und Kindern, der andere zur Mutter.«

»Und die Linde?« wollte Christoph Attermann fragen. Aber er unterdrückte es und fingerte einen Marsch auf die Bettspreize.

Als sie ihre ersten Gehversuche machten, wurde ein Infanterieoffizier eingeliefert, dem die rechte Hand über dem Gelenk weggeschossen war. In dem blassen, mit Schlägernarben geschmückten Gesicht erkannten sie ihren alten Verbindungsbruder Broich, aus Freiburger Tagen, den Freund und Wandergefährten, der von der Juristerei zur Düsseldorfer Industrie übergegangen war, um schneller seiner geliebten Hilde Falkenroth Gatte und Betreuer sein zu können. Nun lag der Wackere als Einhänder im Verband, und die Freunde saßen manche Stunde an seinem Bett.

»Fürs Ersatzbataillon reicht's noch,« sagte Broich in seiner knappen, soldatischen Art. »Ich kann den Säbel in die Linke nehmen, wenn ich den Nachschub daheim einexerzier'.«

»Wie geht's Frau und Kindern?«

»Erträglich. Sie leben von meiner Hauptmannslöhnung, Die Stelle konnte auf so lange Jahre nicht für mich offen gehalten werden.«

Kein Wort der Klage. Nichts als Vaterlandspflicht. –

Martin Opterberg und Christoph Attermann humpelten am Stock durch den Etappenort. »Er ist mir von den Freunden immer der liebste gewesen, der Broich,« begann Christoph Attermann nach einer Weile des Wanderns. »Er hat bei eiserner Willenskraft die innere, die seelische Vornehmheit, die nicht angelernt werden kann und nicht vom Wetter abhängig ist. Da kann's noch so hageldicht kommen, der Broich bleibt ohne einen Groschen der wahre Edelmann.«

Und dann mußten sie beide aus vollem Halse lachen.

Sie waren, ohne es zu wollen, bis zum Etappenstabskasino gewandert und hatten, da es die Stunde der Mahlzeit war, in aller Unschuld des Frontsoldaten angefragt, ob sie mithalten könnten. Ernst und verweisend waren sie in ihren zerschabten und verblichenen Röcken vom Verpflegungsoffizier gemustert worden.

»Darf ich ganz gehorsamst fragen, von wem die Herren eingeladen sind?«

»Wir kommen aus allereigenstem Antrieb. Unsere Nase lud uns ein und unser Magen.«

»Bitte ganz gehorsamst: zweite Straße links, Speiseanstalt für durchreisende Offiziere. Hier speist der Etappenstab.« Da lachten die beiden, daß ihnen alle im Mord und Brand der Schlachten erworbenen Ehrenkreuze auf Brust und Herzgrube tanzten.

»Dürfte ich ganz gehorsamst um eine Ihrer abgelegten schönen Hosen bitten?« fragte Martin Opterberg mit einer tiefen Verneigung, und all die alten Schlägernarben funkelten vor Vergnügen in seinem Gesicht.

»Und ich ganz gehorsamst um ein Paar Ihrer schönen Lackschuhe?« fügte mit derselben tiefen Verneigung Christoph Attermann hinzu, und auf der Wetterseite auch seines Gesichtes glühten die purpurnen Ehrenröslein vor Lust.

»Martin, Martin,« klagte er, als sie vergnüglich weiterpilgerten, »ich fürchte, ich fürchte, wir sind in den Augen dieses Cid Kampeador der Etappenstabsküche zu höchst gemeinen Kriegsknechten herabgesunken. Dieser Rittmeister zu Fuß hielt uns für Schnorranten, die die Aufschrift über dieser seinen Krippe nicht lesen können: ›Nur für Herrschaften!‹«

»Drei Jahre Krieg, Christoph! Drei Jahre nur unter Männern. Und noch dazu in der Etappe, in der nicht der tägliche Sturm der Geschehnisse die Kameradschaften auf Tod und Leben vereinigt. Da tritt der Naturtrieb zutage. Eifersucht, Neid –«

»Futterneid, Martin. Man soll ihnen nicht in den Kochtopf gucken.«

»Geh, schäm dich, Christophel. Der Herr Rittmeister wünschten nur gehorsamst aus eitel Herzensgüte dir nicht das Wasser im Maule zusammenlaufen zu lassen. Und seine ›Speiseanstalt für durchreisende Offiziere‹ mag vollends der Teufel holen. Ich halt's mit der Gulaschkanone. Da dampft eine auf dem Platz. Mein Gott, diese zusammengewürfelte Gesellschaft stellt ein ›Armierungsbataillon‹ dar. Können wir mithalten, Mann?«

»Aber selbstverständlich, Herr Hauptmann.«

»Mal zwei Kochgeschirre her. Was gibt's Gutes heuer?«

»Erbsen mit Frankfurter Wurst. Aber nicht mit den Sporen klirren, Herr Hauptmann.«

»Hottehü?«

»Ich will nix gesagt haben. Aber es fehlt ein Gaul.«

»Na, wenn schon. Bei unseren germanischen Voreltern war's der vornehmste Festtagsbraten.«

Ein Armierungssoldat schob sich heran. Unrasiert, mit durchlöcherten Schuhen, die schirmlose Mütze tief im Gesicht.

Als er vor den beiden Hauptleuten stand, nahm er mit einem Ruck stramme Haltung an.

»Tillmann! Tillmann! Alter Fuchsmajor! Kunstgelehrter! Heran an die Brust!«

Und der Unrasierte fiel den beiden schluchzend um den Hals.

»Na, na ... Keine nasse Rührung, Alter. Gibt's eine Kneipe hier am Ort? Bring uns zu deinem Häuptling. Wir bitten dich los für heute.«

Ein grauhaariger Offiziersstellvertreter meldete sich. Das Bataillon hatte Rasttag bis morgen. Der Armierungssoldat Tillmann war für den Rest des Tages beurlaubt.

Irgendwo stöberten sie eine Kneipe und einen französischen Landwein auf. »Dein Wohl, Tillmann. Unter Freunden schmeckt's wie Nektar. Und nun spinn dein Garn herunter, Armierungssoldat.«

Der Kunstgelehrte knirschte mit den Zähnen.

»Sprecht das Wort nicht aus. Es bringt mich um den Verstand. Als ich mich vor zwanzig Jahren als Einjährig-Freiwilliger meldete, wurde ich nicht angenommen. Zu schwach auf der Brust oder zu platt auf den Füßen. Der Teufel mag's wissen. Damals hätt' ich mit Begeisterung gedient. Und siebzehn Jahre später, bei Kriegsausbruch, war die Brust apollinisch und die Füße aphrodisisch, und ich bildete mit vierhundert anderen ausgesiebten Ungedienten ein feines Armierungsbataillon. Ein Schießeisen vertraute man uns nicht an, aber eine dauerhafte Schippe und, als Beförderung, eine Hacke. So schippen wir Gräben und karren den Dreck. Zieh nicht deine Stirn in Falten, Opterberg. Ich weiß, daß geschippt und gekarrt werden muß und eine Soldatenehre gleich der anderen ist. Aber muß man just uns Schreibmenschen vom Dorfschreiber bis zum Universitätsprofessor unter die Schipper stecken, die keine sechs Hackenschläge hintereinander tun können, ohne die nächste Viertelstunde zu verschnaufen? Gut, ich seh's deinem Gesicht an, du meinst, das lernt sich. Was sich aber nicht lernt, Freund und Hauptmann, das ist die Herabsetzung in die unterste Rangstufe und das Verfluchtsein, drin zu bleiben! Der gemeinste Frontsoldat, der gemeinste Etappensoldat kann sich durch seine Tüchtigkeit heraufarbeiten. Die jüngsten Dorfschulmeister laufen als Leutnants herum. Aber selbst für den größten Geistesriesen gibt's im Armierungsbataillon keine Beförderung. Wir haben vor dem grünsten Jungen stramm zu stehen. Wir sind wie eine Maultierherde, ohne anderen Zukunftglauben, als daß wir stumpfsinnig unter Stumpfsinnigen abgerackert werden. Und eines Tages haben wir uns angepaßt, die einen aus Gewohnheit, die anderen durch Überredung, die dritten in ohnmächtigem Grimm, und die Heeresleitung wundert sich, woher die vielen Sozialisten kommen.«

»Wer über eine Sache schimpfen will,« sagte Martin Opterberg, »muß eine bessere an ihre Stelle zu setzen haben.«

»Ist das so schwer? Liegt das so weltenweit ab? Schau dich einmal um, Freund. In den Berliner Kriegsgesellschaften sitzen die Unabkömmlichen zu Tausenden, junge, wohlgenährte, hochgestiegene Männer. Aber man sagt, das sei eine geschlossene Religionsgemeinschaft, wie früher die Gescherten. Und wenn schon. Könnte man die Herrschaften, die sich drei Jahre gemästet haben, nicht einmal gründlich auskämmen und gegen uns austauschen? Die Schippe werden sie so gut halten können, wie wir die Feder. Ah, es ist ein Haß in uns auf diese feiste Drückebergerbande, der einmal furchtbar zum Ausbruch kommen wird. Weiter! Weiter! Fragt die alten, krummen Arbeiter bei uns. Die Arbeiterjugend steckt man mit einem Majorsgehalt in die Munitionsfabriken, und die Alten dürfen für eine Groschenlöhnung schippen. Ist für die Alten dort kein Platz? Wär' nicht von vornherein dort ihr Platz gewesen? Wenn die Jungen aus den Fabriken und dem Großgeldverdienen herausgezogen und in die Feldregimenter gesteckt werden, pfeifen sie auf den Dienst für eine Erbsensuppe und verseuchen mit ihren Aufwiegelungen die Kompanien. Alsdann: Prosit.«

Er stürzte funkelnden Auges den Wein herunter und schlug die Mütze auf den Tisch.

»Haltung, Tillmann. Von meinem ehemaligen Fuchsmajor verlang' ich mehr Haltung. Es ist leider Gott's manches richtig, was du sagst, wenn auch durch erklärlichen Zorn verzerrt. Aber bedenk, Mann, die ganze Welt ist uns über den Kopf gekommen, und so sind uns mancherlei Dinge in der Eile auch über den Kopf gewachsen.«

»Wen's trifft, der hat's, Opterberg. Und der hört von allem nur das Nein.«

»Tillmann,« sagte Christoph Attermann begütigend, »was macht die schöne Klarenbachin, dein liebreich Gemahl? Ich weihe ihr dies Glas.«

»Tu's nicht!« fuhr der Grimmige auf und fiel ihm in den Arm. »Sie ist imstand und verwandelt dir aus der Entfernung den Wein in Rattengift. Als ich mit meinem Feldkrätzchen auf dem Kopf das eine und einzige Mal auf Urlaub kam, wollt' mich dies Götterweib in der Gesindestube essen lassen. Mein Schwager aber, der Grüters, der als Hauptmann dem Generalstab des Feldheeres zugeteilt ist, breite, weithinleuchtende Streifen, fast wie ein echter Generalstäbler, an den Hosen trägt und in Volksaufklärung arbeitet, durfte mit ihr in offenem Landauer durch die Straßen Düsseldorfs spazieren fahren.«

Er trank die Flasche leer und stand auf. »Gehabt euch wohl. Ein ander Mal. Ich muß an die Luft.«

Martin Opterberg und Christoph Attermann schauten ihm nach.

»Drei Jahre, Martin. Es muß zu End' gehen. Es ist die höchste Zeit.«

»Christoph,« sagte Martin Opterberg, »daß wir's trotz dem und alledem so lange ausgehalten haben, das zeigt doch erst, welch eine unverwüstliche Urkraft in unserem deutschen Volke liegt. Hier die richtige Erziehung mit der rechten Liebe angesetzt, und wir sind das erste Volk der Welt. Jetzt müssen wir durch die Vorschule ...«

Ein paar Wochen darauf ging Christoph Attermann mit einem längeren Erholungsurlaub in die Heimat ab. Martin Opterberg wurde, bis zur Wiederverwendbarkeit in der Front, zur Dienstleistung in den Generalstab des Feldheeres befohlen.

»Sag den Frauen, Christoph, nun käm' ich auch bald. Es drängt alles zur letzten Entscheidung. Und vergiß nicht: Wie's auch kommt – wir sind in der Vorschule.«

*

 


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