Johann Gottfried Herder
Journal meiner Reise im Jahr 1769
Johann Gottfried Herder

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Auf die Dogmatik müste ein anderes Werkchen folgen, wie die Christliche Religion jetzt zu lehren sey. Hiezu viel Data, wo der gemeine Unterricht Schwächen, Irrthümer, Mißbildungen gibt; wo er unnütz ist in Geheimnißen und Dunkelheiten von Abstraktionen: wo er was zu denken scheint und nichts zu denken gibt, in der ganzen Orientalischen Seite: wo er gar verderbl[ich] werden kann, in manchen Pflichten der Ewigkeit, der Unnützlichkeit guter Werke u. s. w. wo er veraltet und unvollkommen ist, wo ihm also aus unser Zeit zugesetzt werden muß – Hiezu immer Data, so kurz, so einfältig, daß nichts mehr und minder werde, als ein Catechismus der Christlichen Menschheit für unsre Zeit.

Die geistliche Beredsamkeit ist lange ein Lieblingsplan meiner Seele gewesen; aber wie wenig habe ich noch Materialien gesammlet. Ein grosser Theil davon kommt ins grosse Werk, daß man nehmlich nicht wie Propheten, Psalmisten, Apostel predigen müsse; und zweitens wie die verschiednen Geschichten und Stellen der Offenbarung KanzelMaterien seyn können. – – Das übrige des Werks von den Kirchenvätern z. E. Chrysostomus an, über Luther, und die neuern Engl[änder], Franz[osen] und Deutschen muß allein abgehandelt werden.

Christliche Kirchengeschichte – was blos ein Christ vom Zustande der Kirche aus jedem Jahrhundert wissen muß. o welch ein ander Werk – als Schröck! – Um alles das auszuführen, um davon wahre Begriffe auch nur für mich zu bekommen, was habe ich da zu studiren! Und um das zu studiren, was wie ich glaube, kein andrer für mich thun kann, so ists Geist der Zeit und Känntniß der Menschlichen Seele! Eine Deutsche Bibel und eine Bibel nach dem Grundtexte und Poli Commentar sind mir dazu Hauptstücke: alsdenn die Englischen Uebersetzer, die Jüdischen Paraphrasten, Richard Simon, Michaelis, u. s. w. o grosses Werk!

Und geschrieben muß es werden! ohne System, als blos im Gange der Wahrheit! ohne übertriebnen Schmuck, als blos Data, nach Datis! Viel Beweise, Proben, Wahrscheinlichkeiten! Schlag auf Schlag! Adel, Größe und Unbewußtheit der Größe, wie Oßian, und Moses! Edle Erhobenheit über kleine Wiedersprüche und Kabalen der Zeit, wie für die Ewigkeit geschrieben! Sprache an den gesunden Verstand und das Menschliche Herz wie Pascal und Roußeau, wo er nicht Paradox und Enthusiast ist! Viel Materie, und in Form Simplicität! Kein Esprit der Franzosen, der Montesquieu so verunziert: keine Enthusiasterei! die Sprache der Wahrheit für alle Welt! insonderheit für die Nachwelt! = = Grosses Werk empfange meine Wünsche! meinen Eidschwur! meine Bestrebung!

Ich komme auf meine Deutsche zurück, die viel denken und nichts denken, und nichts ist von zwei Seiten betrachtet, unwahrer und wahrer als der Satz. Unwahrer; der Erfinder der Luftpumpe, des Pulvers, des Laufs der Sterne, der Infinitesimalrechnung etc. der Kupferstecherkunst sind Deutsche: und also die Guerike, Keplers, Schwarze, Leibnitze, Dürers u. s. w. aber gegen wenige Erfindungen welche Menge von Systemen! In der Theologie, und haben wir eine Erklärung der Bibel? Haben wir Polos, Locke, Bensone u. s. w. In der Juristerei und Historie – da sind wir als Sammler, einzig. In der Medicin reichen unsre wahren Bemerker an die Burhave und Sydenhams? In der Philosophie endl[ich]. Wie vieles ist bei Wolf System, Zuschnitt, Form, Methode! Eine Probe ist die Aesthetik: wie viel scheinen wir gedacht zu haben! wie wenig denken wir!

Ich habe z. E. etwas über die Aesthetik gearbeitet, und glaube, wahrhaftig neu zu seyn; aber in wie wenigem? In dem Satze, Gesicht sieht nur Flächen, Gefühl tastet nur Formen: der Satz aber ist durch Optik und Geometrie schon bekannt und es wäre Unglück, wenn er nicht schon bewiesen wäre. Blos die Anwendung bliebe mir also: Malerei ist nur fürs Auge, Bildhauerei fürs Gefühl: eine Entdeckung, die noch immer arm ist, und wenn sie zusehr ausgedehnt ist, lächerliche Folgen geben kann wie wir jetzt sind, da wir Gesicht für Gefühl gebrauchen, und zu gebrauchen gewohnt sind. Also sei dieser Satz blos Wegweiser zu mehrern Erfahrungen, über Gesicht und Gefühl! ich muß ein Blinder und Fühlender werden, um die Philosophie dieses Sinnes zu erforschen! ich glaube, dabei schon auf einigen neuen Wegen zu seyn: laßet uns sehen!

Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl s. Collektaneenbuch hinten unt[er] d[en] Alten Schwäb[ischen] Poes[ien.] Bl. 3.

  1. Illusion der Statue vom Fleische:
  2. Illusion der Statue vom Geiste:
  3. Vom Schönen durchs Gefühl (hint[er] Baumg[arten] Aesth.)
  4. Von der Philosophie des Gefühls überhaupt (neu Pap[ier] K)
    1. Sprache, die ein Blinder erfunden
    2. seine Welt s[eine] Kosmol[ogie]
    3. die Erinner[ung] seines Ichs, wie es sich ins Univers[um] geoffenb[art] h[at], s[eine] Psychol[ogie] u. Kosm[ologie]
    4. s[eine] Ideen von Raum, Z[ei]t, Kr[aft] s[eine] Ontologie
    5.     "         "     von Unsterbl[ichkeit] d[er] Seele, Θ, Welt, Religion Theol[ogie] Nat[ur].

Das ist ein Plan, den ich schon entworfen, der aber noch sehr zu beleben ist, durch die Gesellschaft und das Studium der Blinden und Stummen, und Tauben! Diderot kann Vorbild seyn, Versuche zu machen, nicht aber blos auf seine Versuche zu bauen und darüber zu systematisiren! Ein Werk von der Art kann die erste Psychologie werden, und da aus dieser alle Wißenschaften folgen, mithin eine Philosophie oder Encyklopädie zu diesen allen. Vorzüglich aber will ich der Sucht der Deutschen wiederstehen, aus Nominalerklärungen alles herzuleiten, was folgt und nicht folgen kann.

Italiener sind die feinsten und erfindsamsten; für die mitlern Zeiten ists wahrhaftig wahr. Ihre Komödie lebt: ihre Heldengedichte sind Originale: in ihnen ist Kunst geschaffen: Galilei und Tartini, Machiavell, und Boccaz, Ariost und Taßo, Petrarch und die Politiane, Columb und Vespuc[ci], der Erfinder der Ferngläser und des Kompaßes – alles Italiener! der ganze Französische Parnaß ist aus Spanien und Italien gestohlen: in beiden Ländern lebt mehr wahre Natur, Genie, Schöpfung. Die Italien. und Franz. Komödie, Ariost und La Fontaine, Taßo und Voltaire, die Italien. und Franz. Musik, Petrarch und die Franz. Liebesdicht[er] – welcher Unterschied! O daß ich Italien kennte, mich in ihre Natur setzen, und sie fühlen, und mich in sie verwandeln könnte!

Ich habe in Nantes die neue Voyage d'Italie gelesen und zu excerpiren angefangen. Welche Anstalten die gewesen sind und zum Theil noch sind – ich habe darauf gedacht, manche von ihnen in meiner Republik nachzuahmen! Wie viel ist da zu sehen, was ich durchaus nicht gesehen habe! Insonderheit lebende Natur. Alsdenn über sie ein Bild liefern, was Frankreich und Europa von ihnen genutzt! Was sie unter den Römern und mittlern Zeiten gethan, geleistet!

Ich wurde in N[antes] mit einem jungen Schweden, Koch, bekannt – durch die Klotzische Bibliothek! so muß sich selbst das Pasquillhafte oft zu Zwecken finden! Wer hätte mir sagen sollen, daß dies Buch dienen würde, um mich in Nantes bekannt zu machen: hätte ich aber verlohren, wenn ich nicht bekannt geworden wäre?

Dieser junge Mensch hatte vielen Geschmack am Wahren, Guten, und Würklich Schönen! Ich hab es oft bei ihm gesehen, daß sein Auge und sein Geist mehr für das Richtige geschaffen war, als meines; daß er in Allem ein gewisses Gefühl von Realität hatte, das ihn nicht mit Hypothesen sätigte; daß er nicht aus Büchern Sachen lernen wollte, die auf Erfahrung und Praxis beruhen, sondern zur That schritt. Zeichnen, Geometrie, wahre Mathematik, Physik, Algebra, Augenschein der Kunst – werde ichs nie lernen, und immer die Akademie der Wißenschaften nur aus Fontenelle kennen? Womit habe ichs in meinem vergangnen Zustande verdient, daß ich nur bestimmt bin, Schatten zu sehen, statt würkliche Dinge mir zu erfühlen? Ich geniesse wenig, d. i. zu viel, im Uebermaas und also ohne Geschmack: der Sinn des Gefühls und die Welt der Wollüste – ich habe sie nicht genossen: ich sehe, empfinde in der Ferne, hindere mir selbst den Genuß durch unzeitige Präsumption, und d[urch] Schwäche und Blödigkeit im Augenblick selbst. In der Freundschaft und Gesellschaft: zum Voraus unzeitige Furcht oder übergroße fremde Erwartung, von denen jene mich im Eintritt hindert, diese mich immer trügt, und zum Narren macht. Ueberall also eine aufgeschwellte Einbildungskr[aft] z[um] Voraus, die vom Wahren abirrt, und den Genuß tödtet, ihn matt und schläfrig macht, und mir nur nachher wieder fühlen läßt, daß ich ihn nicht genossen, daß er matt und schläfrig gewesen. So selbst in der Liebe: die immer Platonisch, in der Abwesenheit mehr als in der Gegenwart, in Furcht und Hoffnung mehr, als im Genuß, in Abstraktionen, in Seelenbegriffen mehr, als in Realitäten empfindet. So bei der Lectüre wie walle ich auf, ein Buch zu lesen, es zu haben; und wie sinke ich nieder, wenn ichs lese, wenn ichs habe. Wie viel auch selbst der besten Autoren habe ich durchgelesen, blos der Wahrheit ihrer Känntniße wegen, in der Illusion ihres Systems, in der Fortreißung ihres Ganzen, blos des Inhalts wegen, ohne Niedersinken, und Ermatten[,] so lese ich, so entwerfe ich, so arbeite ich, so reise ich, so schreibe ich, so bin ich in Allem!

Empfindungen der Art haben mich, wie Walter Shandy, auf die Ideen gebracht, ein Werk über die Jugend und Veraltung Menschlicher Seelen zu erdenken, wo ich theils aus meiner traurigen Erfahrung, theils aus Beispielen andrer Seelen, die ich zu kennen Gelegenheit gehabt, einer solchen Veraltung zuvorzukommen, und sich seiner Jugend recht zu erfreuen und sie recht zu gemessen lehre. Der Plan entstand mir schon in Riga, in traurigen Tagen, wo die Organisation meiner Seele gleichsam gelähmt, das Triebrad der äußeren Empfindungen stille stand, und sie in ihr trauriges Ich eingeschlossen, die muntere Sehnsucht verlohren hatte, sich Ideen und Vergnügungen und Vollkommenheiten zu sammlen. Da ging ich umher, dumm, und Gedankenlos, und stumpf, und unthätig, sprach zum Lachen etc. nahm hundert Bücher, um hundert von ihnen wegzuwerfen, und doch nichts zu wißen. Hier fiel mir der ehrliche Swift ein, der über den alten elenden grauen Mann, den er im Spiegel sahe, die Achseln zuckte, und zum Gegensatz schilderte sich mir die junge fröliche Welt des Plato und Sokrates vor, wie sie unter Scherz und Spiel ihre Seelen und Körper übeten, und bildeten, und schlank, stark, und vest machten, wie schöne Oelbäume am Rande der Quelle. Der alte und immer junge Monta[i]gne fiel mir ein, der sich immer zu verjüngen wuste im Alter und ich stand da, stutzig, betäubt und alt in meiner Jugend. Die Begriffe samleten sich: es sollte eine Abhandlung in die Königsberg. Zeitungen werden und wurde nicht, wie viel andre Plane meines Lebens. In der Unthätigkeit von Nantes brachte mich die Umarbeitung der Kritisch[en] Wälder, die Bekanntschaft mit diesem Jünglinge, der so sehr auf das Wesen hinzueilte, und am meisten das Gefühl des Leeren, Reelllosen in mir, wieder auf die Gedanken. So wie es aber immer mein Fehler ist, nie recht an Materie, sondern immer zugleich an Form denken zu müssen; so ward ein Riß daraus, zu dem der Abt Clement die muntre Jugend seines Styls hergeben sollte. Der Plan ward lange umhergewälzt, und es ging ihm also, wie bei allen Umwälzungen; zuerst werden sie grösser; nachher reiben sie sich ab. Einen Abend gab ich meinem Schwedischen Jünglinge davon Ideen, die ihn bezauberten, die ihn entzückten: das Gespräch gab Feuer; der Ausdruck gab Bestimmtheit der Gedanken: werde ich jetzt, in der frostigen, unbequemen Stellung, da ich sitze, noch einige Funken von dem fühlen, was mich so oft durchwallte, wenn ich der Unthätigkeit und der Vernichtung der B.– – -schen Gesellschaft entrann:


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