Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

»Ich glaube, wir sind allein«, rief der Leutnant. »Duck dich zu Boden, wir bekommen Verstärkung!«

Sie waren tatsächlich allein. Auf dem sanft abfallenden Kirchenhügel lagen sie als Spitze eines Keils von reglosen Körpern, die alle das Gewehr im Arm und den Kopf in die gleiche Richtung gestreckt hielten. Dieser Keil war unter Hurra den Hügel hinauf und gegen die Kirche angestürmt, aber vom feindlichen Feuer, das ihm aus der Kirche und der sie umgebenden grauen Steinmauer entgegenschlug, zum Stehen gebracht worden. Wieviele noch fähig waren, von neuem aufzuspringen und zu stürmen, ließ sich schwer sagen, denn alle lagen am Boden. Der höllische Spektakel in der Luft machte es unmöglich, sich weiter als bis zum nächsten Nachbarn zu verständigen, und der antwortete vielleicht nicht einmal.

Es ging um einen der letzten Orte im Außenbezirk der Stadt, aber dieser Ort forderte das meiste Blut. Von Haus zu Haus, durch eingeschlagene Bretterzäune und in ein wüstes Wirrwarr hinein waren sie verbissen vorgestoßen. Bisweilen verstrickten sie sich in einem Knäuel abgerissener Telephondrähte oder stolperten über irgendeine herabhängende Lichtleitung und stürzten längelang in den Dreck, der heute von besonders klebriger Art zu sein schien. Das Getümmel auf den Höfen war unbeschreiblich; es knallte aus allen Richtungen, und durch den Kampflärm drang mitunter der heisere Todesschrei von Pferden.

Mitten in diesem Hexensabbat stand oben auf ihrem Hügel die Kirche aus roten Ziegeln, von einer Steinmauer umgeben. Sie war vom Feinde stark besetzt. Die Nachmittagssonne, die auf einer ihrer Langseiten lag, beschien nur hängende Glassplitter im Oberteil der gewölbten Fenster, unter den zerbrochenen Glasstücken aber stachen schwarze Mündungen hervor, die einen Lichtring um sich trugen. Lange Zeit war es im Umkreis der Kirche ruhig gewesen, nun sollte sie an die Reihe kommen.

War der Leutnant noch am Leben? Onni wendete ängstlich den Kopf.

Ja, er lebte. »Lieg still, rühr dich nicht!« schrie er herüber. Onni drückte sich wieder fest an den Boden, über sie hinweg fegten die Geschoßgarben durch die Luft, da sie aber in einer kleinen Senke lagen, waren sie gedeckt. Wenn nur keiner auf den Gedanken kam, vom Kirchendach oder vom Turm herunter zu schießen? ... Er blickte vorsichtig hinauf. Eine Turmluke stand wirklich offen, und irgendetwas schaute dort heraus, wies aber in andere Richtung. Vor allen Dingen kam es jetzt darauf an, still wie ein Toter zu liegen, bis die Verstärkungen heran waren. Wo blieben die nur so lange?

Er stellte fest, daß er mit den Beinen im Schnee, mit dem Oberkörper jedoch auf bloßer Erde lag. Sie feuchtete so lauwarm die Brust; und war es nicht Sonnenschein, der ihm so merkwürdig den Rücken wärmte? Die Wange hatte er auf ein Büschel rauhes, überjähriges Gras gelegt; ob wohl noch ein grüner Halm drinsteckte? Er rieb in sich versunken die Haut daran. Wie lange das doch her war ...

Im vorigen Herbst bei der Scheune von Lindström, ging es ihm durch den Sinn, da lag ich das letztemal auf bloßer Erde. Eine scheußliche Geschichte war's, aber Spielerei ist es heute schließlich auch nicht. Gut jedenfalls, daß ich damals davonkam. Heute gehts vielleicht schief, aber dann ist es doch so besser. Nur eine Sache ist dumm. Wenns mich heute erwischt und sie mich hinterher auflesen, muß ich mich eigentlich schämen. Die Strümpfe gingen schon auf den ersten Märschen zum Teufel, und von meinem Hemd ist auch nicht mehr viel übrig. Was wird der Leutnant sagen, wenn er dann kommt und mich so sieht? Wenn sie mir bloß nicht die Uniform ausziehen ...

Wo blieb nur die Verstärkung?

Onni sah wieder in die Höhe. Oben in der Turmluke bewegte sich etwas, der Gewehrlauf schwenkte und die Mündung zeigte nun hier herüber. Sollten sie womöglich doch noch einen Patronengurt hier in die Leichen hineinpfeffern, um ganz sicher zu gehen?

Im gleichen Augenblick brach unten am Hügel ein vielstimmiger Hurraschrei los. Das war der neue Sturmkeil. Einer und der andere von den Liegenden fiel mit ein, während die Kugeln von beiden Seiten zu zischen begannen.

Der Leutnant war schon aufgesprungen, Onni griff nach seinem Gewehr und rannte hinterdrein. Gegen die Kirche hinauf scholl es – Hurra!

Aber mitten im Sprung erblickte er etwas. Dort hinter der Steinmauer ... Die Sonne funkelte gerade darauf. Ein kleiner weißer Ring, der gewissermaßen wuchs. Und mitten in dem Ring ein rundes schwarzes Loch ... wie ein Auge. Nun starrte es direkt auf den Leutnant, jetzt würde es geschehen ...

Die braunen Schaftstiefel stürmten in verzweifelter Hast die Anhöhe hinauf. Niemals zuvor hatten sie solche Fahrt. Aber sie erreichten ihr Ziel. Schreiend und fuchtelnd drängte er sich am Leutnant vorbei!

»Laßt mich! Laßt mich!« schrie er.

Nur ein Gedanke beherrschte ihn, sein Körper mußte vorwärts und am Leutnant vorbei; weshalb, wußte er kaum. Es zwang ihn vorwärts und er rannte unmittelbar auf das schwarze Auge da in dem Lichtring zu. Nun hatte er es fast erreicht ...

Da brannte ihm plötzlich etwas im Kopf. Er taumelte zu Boden, in die Grasbüschel hinein, und versank in einem wesenlosen Dunkel.

Eine Weile blieb er bewußtlos. Dann war ihm, als würde er langsam und schaukelnd aus einer unergründlichen Tiefe, in die er gefallen war, heraufgehoben. Irgendetwas klang in seinen Ohren ... nun erkannte er es: das waren ja die Steinbohrer.

Möchte doch wissen, dachte er, wo Vater heute eigentlich bohrt? Er öffnete die Augen, um nachzuschauen, aber er sah nichts. Ein einziges Dunkel hüllte ihn ein; es schaukelte hin und her. Und nun kam mitten hindurch etwas wie ein feuriger Funke. Der surrte und surrte um ihn herum, war gelb und rot, und nun war er schon drinnen in seinem Kopf. Dort brannte er, brannte wie Feuer. Er begriff, was das war, und sagte: »Verdammte Wespen!«

Dann verschwand der Funke, und es kam wieder die Dunkelheit; er verlor das Bewußtsein.

Darum konnte er auch nicht sehen, daß einige Schritte hinter ihm der Leutnant, von einer Kugel durchbohrt, sterbend im feuchten Gras lag.

.


 << zurück