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6

Endlich stand er am Bett der Mutter. »Mutter«, flüsterte er in das Dunkel hinein, »Mutter ...!« Er hörte, wie sie sich im Bett aufrichtete.

»Was willst du?« sagte sie.

Onni hob die Stimme. »Mutter, es ist nicht wahr, was ihr glaubt, nichts davon ist wahr! Ich allein weiß es ...«

Die Mutter richtete sich noch mehr auf. »Stehst du hier und quasselst im Traum, oder bist du übergeschnappt? Was ist nicht wahr?«

»Nichts von alledem ist wahr!«

»Na, und was ist es, was du allein weißt?«

»Ja, ich allein weiß es bloß ... und vielleicht Anna. Nur ich weiß, daß es die Russen waren, die Vater umgebracht haben.«

Als er das hervorgestoßen hatte, empfand er plötzlich eine Stille um sich herum, wie nie zuvor in seinem Leben. Auch sein Herz stand einen Augenblick still, ehe es wie ein durchgehendes Pferd zu neuem Galopp ansetzte. Er stand da und rang nach Atem. Die Worte waren so schwer und gewaltig, daß er gleichsam daran erstickte.

Die Mutter aber war aufgesprungen. Sie packte ihn hart an den Schultern. »Herrgott, was sagst du ...«

»Es ist die Wahrheit, was ich sage, Mutter, und alles andere ist falsch. Ich wollte darüber schweigen, so lange ich lebe ... Annas wegen ... aber ...«

»So sprich doch in Gottes Namen! Es war doch ein Sprengunglück, wie ich weiß, der Bohrer ...« Die Mutter begann zu schluchzen und leise vor sich hin zu weinen.

»Ja, alles trug sich so zu, wie wir es gehört haben. Bis auf das, was vorher kam: und das war der Russe, der die Sprengpatrone in Vaters Bohrloch hineingesteckt hatte. Die war gar nicht drin vergessen worden! Du entsinnst dich wohl Mutter, daß Vater in jener Woche allein auf einer Stelle arbeitete ...

So ist das zugegangen, und es war an einem Sonntag, als ich es bemerkte, am Tag, ehe Vater starb. Du erinnerst dich wohl noch an den Soldaten mit den Tatarenaugen, mit dem Anna im vorigen Frühjahr ging. Obwohl sie genau wußte, daß Vater es nicht gern sah und daß er jedesmal schimpfte, wenn er sie beide zusammen sah. Und du weißt wohl auch, Mutter, daß wir alle außer Anna in der Stadt waren, nur Vater und ich kamen zeitiger zurück.

Ich weiß noch, daß ich dann am Bahnhof blieb und mir einen betrunkenen Kerl anguckte, den sie aus dem Zug geschmissen hatten. Vater ging allein hinauf. Wie ich dann auch heim komme und gerade vor unserer Tür stehe, kommt plötzlich dieser Tatarenrusse kopfüber die Treppe heruntergeflogen, daß es nur so kracht. Schade, daß er sich nicht auf den Steinfliesen das Genick gebrochen hat. Er raffte sich auf, fluchte und ballte die Fäuste und machte sich aus dem Staube. Drinnen lag Anna auf dem Bett und heulte in die Kissen. Vater ging in der Stube auf und ab, aber gesagt hat er nicht ein Wort.

.

Später, gegen Abend, ging ich über die Bahn, dort, wo sie schon zweigleisig ist, weißt du. Und gerade als ich zum Steinbruch kam, wo Vater bohrte, tauchten zwei Russen auf, die von dorther kamen. Sonst war kein Mensch in der Nähe. Die beiden machten sofort kehrt, fingen an zu reden und zu pfeifen und verdrückten sich. Aber den einen von ihnen, den werd ich mein Lebtag wieder erkennen; übrigens hinkte er noch von dem Sturz auf der Treppe.

Seit dem Abend habe ich ihn nicht mehr gesehen, und vielleicht ist das ein Glück für ihn. Beizeiten hat sich der Schweinehund aus dem Staube gemacht. Ich verstand nicht gleich, was da im Gange war, und darum kam dann alles so, wie es gekommen ist. Jetzt hinterher aber weiß ich, wie die Patrone in Vaters Bohrloch geraten ist ...«

Er verstummte. Stand nun da und wartete. Mußte nicht etwas Unerhörtes geschehen? Mußte sich nicht alles auf irgendeine geheimnisvolle Weise rings um ihn verwandeln, jetzt wo die Wahrheit an den Tag gekommen war? Konnten denn Dach und Wände, die das alles mit angehört hatten, die alten bleiben? Und die Mutter, was würde sie tun? Wartete er vielleicht, daß sie aufspringen und Licht anzünden und sich nun voll Abscheu von all dem Bisherigen, das so häßlich war, lossagen würde? Würde sie wieder die gleiche werden wie vor Jahren, als er noch klein war und zu ihren Füßen spielte?

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Er wußte: nun war das Schwerste und Bitterste gesagt, das er je in seinem Leben über die Lippen bringen würde. Verschlossen hatte er es in sich getragen, nur damit andere frei und unbeschwert davon blieben. Geduldig war er damit umhergegangen und hatte geschwiegen solange, bis sich die Lüge rings um ihn auftürmte – weil er schwieg. So mußte es denn schließlich doch heraus, und er hatte diese Wahrheit gegen den Feind geschleudert. Wunderlich leer und feierlich war ihm ums Herz, so wie es nur einem Menschen ist, der alles, was seine Brust bedrückte, von sich gewälzt hat. Nun war es nicht mehr da drinnen eingesperrt, sondern braute und brannte und wütete irgendwo draußen im Dunkel ... Es mußte etwas geschehen!

Er stand und wartete – lange. Aber es geschah nichts. Die Dunkelheit füllte die kleine Kammer still wie zuvor, und die Mutter saß noch immer auf dem Bettrand und weinte. Da stieß er hervor: »So, nun ist es gesagt, und ich denke, daß jetzt alles anders wird!«

Er erwartete keine Antwort darauf, aber das Weinen dort im Dunkeln verstummte plötzlich. »Was soll denn anders werden, Onni?«

»Alles, Mutter, alles! Und ich denke, du versprichst mir, daß Annas Russe keinen Fuß mehr über unsere Schwelle setzt.«

»Aber er war es doch gar nicht!« sagte die Mutter, und ihre Stimme klang wieder schrill und scharf. »Das hast du doch selbst gesagt.«

Onni stampfte auf den Boden. »Sie sind alle gleich, allesamt! Russe ist Russe, alles dieselbe Sorte! Und meine Schwester ist eine Russenhure! Und du ...«

»Schweig ...!« fauchte die Mutter. »Scher dich raus hier!«

Onni Kokko stand sekundenlang wie versteinert. Nun geschah doch etwas. Nun war der Bruch da, jetzt platzte der Sack. »Ich geh schon«, sagte er, »ich gehe.« Und er tastete sich hinaus und zog die Kammertür hinter sich zu.

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In der Stube saß Onkel Isak auf der Bettstelle und rauchte. Er war von dem Lärm aufgewacht und hatte die Lampe angezündet. Onni reichte ihm die Hand. »Leb wohl, Onkel Isak!« Dann ging er schnurstracks auf die Tür zu, drehte den Schlüssel herum und war draußen.

Irgend etwas in seinem Tonfall mochte Onkel Isak bewogen haben, in bloßen Unterhosen hinter ihm her auf die Treppe hinaus zu stürzen. Der Schneesturm schlug ihm jedoch ins Gesicht, und so konnte er nur noch einen schwarzen Schatten erkennen, der durch die Gartentür hinausstürmte und in der Richtung auf die Stadt zu verschwand.


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