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2

Eines Abends, wenige Tage später, kam Onni von seinem neuen Dienst in der Stadt heim. Ihm war leicht zumute, und er trug den Kopf hoch. Sein neuer Dienstherr gefiel ihm gut, es gab mehr Lohn und besseres Essen als früher. Es war schon recht, daß die verdammte Rosinenkiste geplatzt war.

Die Bäume am Wegrand dufteten, denn es hatte kurz zuvor geregnet. Bei jedem Windstoß fiel ein glitzernder Tropfenschauer nieder, es war richtig wie ein Feuerwerk. Auch das Lied der Vögel klang so wunderlich neu und hell.

Am Kreuzweg stand Kalle, einen Ellenbogen gegen den Pfosten von Onkel Isaks Gartentür gestützt, und pfiff. Als er Onni erblickte, seinen Waffenbruder aus mancher Keilerei mit den Rörströmschen Jungens im Frühling, zündete er sich lässig eine Zigarette an, schob die Streichholzschachtel in die Westentasche und ging zu einer Marschmelodie über. Er kam Onni langsam entgegengeschlendert und hatte eine wichtige Miene aufgesetzt.

»He, du Tütendreher!«

»Hallo, Kalle!«

»Weißt du was?« Er blies den Rauch durch die Nasenlöcher und hüllte sich in eine dichte Wolke.

»Na?«

Kalle antwortete nicht sogleich. Er unterstrich die Bedeutung seiner Worte durch eine Kunstpause, während der er seine weiten Rowdyhosen mit einer flinken Drehung des Oberkörpers hochhißte. Dann sah er mit Würde auf Onni und sagte langsam: »Bald wird's knallen. Im Ernst.«

.

»Wieso?«

»Ja, siehst du, die Russen wollen einen Mann auf den Thron setzen, der heißt Lenin. Einer von unseren Jungs. Wenn die Sache erst mal klar ist, knallt es auch hier im Lande. Himmelsakra! Wir werden allen Bourgeois den Kragen umdrehn, und dann sind wir es, die im Wagen fahren. Das wird ein Höllenspaß. Ein paar werden wir wohl am Leben lassen, damit sie uns und den Russen die Nachtpötte ausleeren können. Hat dann so'n Kerl wie ich, der Kalle, Lust zu rauchen, dann ruft er bloß: ›He, du verdammter Bankdirektor, komm her und gib Kalle Mäkinen Feuer! Aber 'n bißchen dalli, sonst kriegste 'ne Kugel!‹ – Ja, ja, das wird uns schon schmecken.«

Onni antwortete nicht gleich. Er sah auf Kalles Stiefel hinunter, die unter den unwahrscheinlich weiten Hosenbeinen hervor ihre zerschlissenen Spitzen sehen ließen. Schließlich sagte er: »Woher hast du das alles eigentlich?«

»Von Lauri, meinem Bruder«, erwiderte Kalle lakonisch. – »Der is nich so ein Herrchen. Der hat was los, der verhandelt mit den Russen wegen Waffen für uns.«

Onni spuckte aus. »Immer faselt ihr von Russen und Russen ... Selbst taugt ihr wohl zu nichts?«

»Hölle und Teufel!« schimpfte Kalle los. »Jesses, so'n Großmaul! Ob wir zu was taugen? Aber zum Schießen braucht man Gewehre! Du weißt eben nicht, daß die Herren rüsten, was das Zeug hält – ihre Schlächtergarden! Du willst wohl mit denen gehen, du!«

Er schleuderte die Zigarette heftig gegen den Torpfosten, drehte sich auf dem Absatz um und zog mit flatternden Hosenbeinen ab. Als er am Kreuzweg einbog, steckte er die Hände in die Taschen und rief über die Schulter zurück: »Geh man nach Hause, du Schlächterjunge, und verkriech dich hinter Mutters Schürze!«

Onni raffte einen Stein vom Wege auf. Aber gleich darauf besann er sich, warf ihn gegen den Torpfosten und ging ins Haus. –

Schon im Vorraum hörte er eine fremde eifernde Stimme. Da saß ein unbekannter Mann am Tisch, der schien weder ein Arbeiter noch ein Herr zu sein, sondern so ein Mittelding aus beiden. Gekleidet war er in einen grauen Gummimantel, wie ihn die Verbannten, die aus Sibirien heimkamen, zu tragen pflegten; den Kragen ließ er, trotz der Wärme im Zimmer, hochgeschlagen, nur seine schwarze Schirmmütze hatte er aus der schweißigen Stirn geschoben. Sein Gesicht war mager und fahl, und sein gewaltiger Unterkiefer, der einen hitzigen Redestrom hervormahlte, klappte in den kurzen Pausen widerwärtig auf und nieder. Mit stechendem Ausdruck glitten seine Augen über alles, was im Zimmer war.

Vor ihm auf dem Tisch stand eine Kaffeetasse, die jedesmal hochhüpfte, wenn er die Faust auf die Platte knallte.

»Die Bürgerlichen behaupten, wir haben alles, was wir brauchen. Glaubt denen nicht! Die lügen, die Hunde! Oder habt ihr vielleicht, was ihr braucht?«

Der Agitator machte eine heftige Geste zur Mutter hin, die am Ofen stand und grade eine neue Ladung gemahlenen Kaffee in die Kanne schüttete. Ihre Hand zitterte vor Erregung, und der plötzliche Zuruf machte sie so verwirrt, daß sie bloß ganz dumm herausbrachte: »Nä, nä ...«

»Ihr habt nicht, was ihr zum Leben braucht, das ist klar. Seht doch bloß auf eure Hände, Frau – her mit ihnen, zeigt her! Voller Blasen und Schwielen! Ihr steht am Waschfaß und scheuert wie besessen die Wäsche für das Herrschaftsvolk. Feine Spitzenwäsche, die nach Parfüm und Geld stinkt, und solches Flitterzeug nach der letzten französischen Mode. Aber seht euch bloß vor, daß ihr keinen Faden kaputt reibt bei den Fetzen – sonst könnt ihr vielleicht was erleben! Und laßt bloß mal so'n Bürgerbalg in die Hosen kacken, gleich schickt man euch die Bescherung hin. Aber die feinen Mamas spritzen sich Riechwasser ins Gesicht und legen sich aufs Sofa mit ihrem Schoßhündchen und einem Roman. Und die Hemden von diesen Herren – wie wohlgesegnet weit die immer um den Bauch herum sind! Habt ihr das nicht gemerkt? Wie die Fässer. – Das macht der Punsch, seht ihr, und all das andere fette Zeug, das sie in sich reinstopfen. Und dann kriegt ihr ein paar schmutzige Groschen für eure Plackerei, grad so viel, daß ihr imstande seid, weiter zu waschen für die Herren und eure Kinder zu ebensolchen Sklaven heranzuziehen wie ihr. So ist das ausgerechnet – schlau, seht ihr. Das nennt man dann Demokratie, und Demokratie predigen alle Herren so gern. Weil sie glauben, daß wir uns mit ein paar Redensarten abspeisen lassen, – für sich selbst wissen sie schon die richtigen Mittel und Wege. Aber von Redensarten werden wir nicht satt. Gleiche Brotrationen für alle – jawoll, zum Teufel! Da wird es Geld geben, um die gerechte Verteilung durchzuführen, aber hier sitzen wir jetzt mit leeren Taschen und kauen an unseren Karten. Doch in den Bürgerhäusern, da hamstern sie ihre Weizensäcke und Butterfässer, und die Speisekammern und Vorratsräume werden vom Keller bis unters Dach vollgepfropft. Und so was nennt man dann Demokratie? Wir haben jetzt genug davon, damit kommen wir nicht weiter. Darum rufen wir eine neue Parole aus: Kommunismus! Bolschewismus!«

.

»Wort bleibt Wort,« – murmelte Onkel Isak. »Ein Wort ist nicht besser als das andere. Auf die Sache kommt es an.«

Er hatte sich vom Tisch zurückgezogen und saß in Hemdsärmeln mit seiner Pfeife am Fenster. Unter seinen struppigen Augenbrauen blickte er mißtrauisch auf den redseligen gestikulierenden Agitator. Er war ein wortkarger Mann, der dieses langatmige Geschwafel von den Arbeiterversammlungen her lange kannte und satt hatte. – Das wird nicht besser durch Geschwätz, ob's auf finnisch, schwedisch oder russisch ist!

Aber der Hetzer fuhr zu ihm gewendet fort: »Ihr glaubt vielleicht, das wird durch den Achtstundentag besser? Zum Teufel damit! Besser ... ja gewiß, ein oder zwei Stunden weniger Sklaverei. Aber von der Sklaverei kommt ihr nicht los mit dieser Art Verbesserung. Haben's die Bourgeois nicht verdammt anders: acht Stunden im Kontor sitzen und ein bißchen auf 'nem Stück Papier rechnen und durchs Telefon schwätzen, schön im weichen Polsterstuhl sitzen mit der Zigarre im Maul ... Ist das nicht was andres, sag ich, als acht Stunden mit krummem Rücken an der Drehbank stehen, in so einem Sklavenstall? Und wenn ihr abends verschwitzt und hundemüde heimkommt zu eurem kärglichen Fraß und legt euch mit schmerzendem Rücken auf euer hartes Bett, dann setzen sich die Bürger in ihre weichgepolsterten Autos und fahren zu ihren Sommervergnügungen raus. Da sitzen sie auf ihren Terrassen mit Punsch und Zigarren und feinen Damen und lachen, daß ihnen die Schmerbäuche wackeln, und finden das Leben großartig, so lange man die dumme Arbeiterkanaille hinters Licht führen kann. Nein, ihr kommt mit euren acht Stunden nie da rauf in die Protzenhäuser zu Schweinebraten und weichen Sesseln. Ihr werdet euch nicht mal freier aufrichten können und satter werden und euch besser anziehen können. Ihr bleibt, was ihr seid, und ihr seid Sklaven, die von einem verschlagenen und faulen Herrenpack ausgeplündert werden. Und eure Kinder ...«

»Ich hab ja gar keine Kinder«, fiel ihm Onkel Isak ins Wort.

»Ja so, na ja, das spielt nun keine Rolle, ob gerade ihr welche habt oder nicht. Aber unsere Kinder, die Sklavenkinder, werden nie hochkommen und Menschen werden können, wenn wir es jetzt nicht schaffen. Denn jetzt ist die Zeit da, einmal in tausend Jahren! Es ist unsere Pflicht, nicht zu zaudern und nicht feig zu sein. Unsere Pflicht, sag ich! Der Arbeiter ist erwacht, das Sklavenvolk ist erwacht. Die Herren zittern schon und bewaffnen ihre Schlächtergarden. Aber dafür ist's zu spät – hört ihr, zu spät! Schluß mit der schwarzen Sache, jetzt kommt die rote dran! Die Kapitalisten haben in vier Kriegsjahren die Welt verwüstet, sie haben uns in Hunger und Elend gestürzt. Wir selbst haben unser Blut für ihre schmutzigen Geschäfte hergegeben, unsere vaterlosen Kinder schreien nach Brot, und die Mütter verfluchen den Tag, wo sie sie in diese Welt gesetzt haben, die vom Herrenpack regiert wird. Aber wir brauchen das nicht zu bedauern. So wie es kam, war es richtig. Es war gut, daß diese morsche Welt aus den Fugen ging. Die Herren haben gezeigt, wozu sie taugen. Jetzt sind wir an der Reihe. Das arbeitende Volk, die zerlumpten armen Teufel – früher dachte man kaum daran, daß wir überhaupt existieren. Aber nun sind wir es, die aus dem Abgrund aufsteigen, das Gewehr in der Hand, die rote Fahne voran, und auf dieser Fahne steht geschrieben: ›Nieder mit dem Mörderpack!‹ Die Welt brennt an allen Ecken. Begreift ihr denn nicht, was das bedeutet? Weltbrand, Weltbrand! Das ist das Morgenrot für uns und unsere gerechte Sache. Die heilige Sache des Kommunismus, der aus dem Höllenpfuhl der Bourgeoisie eine bessere Welt erstehen lassen wird!« Zum letztenmal schlug der Hetzapostel seine geballte Faust auf den Tisch. Der Schweiß rann in Strömen über sein bleiches Gesicht, das er mit einem blau-roten Taschentuch wischte. Er schnaufte tief, steckte sich eine neue Zigarette an und reichte der Mutter die Kaffeetasse hin.

Die schenkte ein, aber ihre Hände zitterten jetzt noch heftiger. Sie war rot vor Aufregung und sah aus, als wolle sie über jemand herfallen.

Am Fenster saß Onkel Isak gleichmütig, sog an seiner Pfeife und brummte etwas vor sich hin. Es war nicht gerade ein liebevoller Blick, den ihm die Mutter zuwarf, als sie jetzt sagte: »Jaja, wenn es uns bloß glücken wollte mit unserer Sache. Da gibts ja noch so viele unter unseren Leuten, die das nicht verstehen wollen.«

Der Agitator war mit seiner Kraft sichtlich am Ende. Langsam und beinah schläfrig antwortete er: »Seid nicht bange. Ich hab euch ja schon gesagt, daß auch wir nicht alleinstehen werden. Millionen russische Kameraden werden wir hinter uns haben. Noch haben sie dort bei sich nicht genügend Ordnung geschafft. Bald aber, bald ...«

Onni hatte auf einer Bank an der Tür gesessen. Jetzt wagte er sich zu Onkel Isak vor. In seinem Kopf schwirrten allerlei Gedanken, aber allmählich wurden sie alle von einem einzigen verjagt, der seinen Ursprung im Magen hatte: sollte es denn heute überhaupt kein Abendbrot geben?

Der Hetzer heftete seinen stechenden Blick auf ihn. Dann kam ihm ein Gedanke. Er sog mit einem tiefen Atemzug den Rauch ein, trank seine Tasse leer und wendete sich an die Mutter: »Das ist doch euer Junge. Er ist groß genug, ein Gewehr zu schultern, wenn es einmal gilt. Und ich denke, er wird auch über das eine oder andere abzurechnen haben. Das haben wir ja alle, es ist die jahrhundertelange Schinderei, für die wir quittieren müssen. Aber der Bursche da hat, glaube ich, noch seine persönlichen Gründe, dem Bürgerpack das Fell mit etwas Blei zu spicken ... Sein Vater ist bei einem Sprengunglück zu Tode gekommen, hat seine Mutter mir erzählt. Unglück, ja, so nennt man das, und keiner ist schuld daran, nä, nä, natürlich nicht. Aber hat einer schon mal gehört, daß einer von den Herren bei einem Sprengunglück draufgeht? Antwortet! Hat je einer so was gehört, daß ein einziger Herr auf die Art ums Leben kam? Nein, die hüten sich wohl. Aber wir werden überall an die gefährlichen Plätze gestellt, und dann dürfen wir für die Herren und ihren Mistkram verrecken. Erst leben wir wie die Hunde, und dann sterben wir wie das Schlachtvieh. Und wie gings mit der Familie? Auf die Straße mit ihr, wie üblich! Denkt mal ein bißchen nach über die Sache. Unglück – das macht uns das Bürgerpack weiß! Ich sag euch aber: solch ein Unglück ist nichts anderes, als wenn man von dem Herrenpack abgemurkst wird. – Vergiß das nicht, Junge, deinen Vater haben die Herren ermordet!«

Onni Kokko stand auf. Er ging geradeswegs zur Tür hinaus, und er vergaß seine Mütze von der Bank zu nehmen.

Es hatte von neuem zu regnen begonnen. Eine dunkle Wolke segelte wie ein düsterer Riesenvogel über den Abendhimmel hin und ließ vereinzelte bleischwere Tropfen aus ihren breiten Schwingen fallen. Kein Windhauch war unten auf der Erde zu spüren; dämmernd und reglos standen die Bäume, nur die fallenden Tropfen prasselten im Laubwerk. Und doch zog der Wolkenvogel da oben mitten über den Himmel seine Bahn, und in seinem Gefolge stiegen neue Wolken auf, weit hinten am Horizont. Es dunkelte zusehends, die Schauer kamen häufiger.

Onni irrte planlos umher. Am Kreuzweg war keine Menschenseele zu sehen, auch nicht in der Richtung der Landstraße, dort wo sie sich zwischen den dunklen Häusergruppen verlor. Fern am Bahnhof pfiffen die Züge wie immer und rasselten die Puffer der Waggons aneinander; auf einer Treppe saß ein Hund und heulte, den Kopf gegen die segelnde Wolke gewendet.

Wie gut war das, jetzt niemandem begegnen zu müssen! Wie schön, die großen, kalten Tropfen durchs Haar rinnen zu fühlen!

Er war schon ein weites Stück über den Kreuzweg hinaus, noch immer aber hatte er nur den einen Gedanken: Wenn eins von diesen Dingen gelogen war, so war wohl alles miteinander Lüge ...

›Lüge, Lüge!‹ brauste es in dem fallenden Regen. ›Lüge, Lüge – jedenfalls für mich.‹

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Das eben war es. Jedenfalls für ihn, Onni Kokko. Aber vielleicht nicht für andere. Nicht für Kalle Mäkinen, nicht für die Mutter, vielleicht für keinen seiner Bekannten hier in der ganzen Gegend, nicht einmal für die erbärmlichen Rörströmschen Bengels, diese Hundsfotte ...

Er trug sein Teil allein.

›Allein, allein!‹ brausten die Schauer. Es rann über sein Gesicht. Aber war das nur der Regen – es brannte so wunderlich?

Er wischte sich mit der Handfläche über die Augen. Weinte er? Nein, das tat bloß das Weibervolk. Er, Onni Kokko, er schrie ...

Das erleichterte einen, so durch die rauschenden Schauer zu schreien. Er stellte sich mitten auf die Landstraße, ballte die Fäuste und brüllte, so laut er nur konnte, in die strömende Dämmerung hinaus: »Lüge alles miteinander, verdammte Lüge! Lüge für Onni Kokko, aber nicht für seine Mutter!«

Da stieg ein neuer Gedanke in ihm auf. Der kam wie von selbst da draußen im Regen zu ihm, und mit dem wanderte er weiter: Heute abend muß es heraus, heute abend noch! Ich habe es in mich hineingefressen, und darum bin ich so einsam. Jetzt muß aber die Wahrheit raus, dann soll es gehen, wie es will. Er wendete sich heimwärts.

Kein Mensch draußen auf dem Weg. Aber aus dem Vereinshaus strömte Licht und Tanzmusik. Als er daran vorbei ging, meinte er, der ganze Bau müsse auseinander bersten von all dem Unwesen da drinnen: den lärmenden Blasinstrumenten, dem Gejohl und dem taktgemäßen Gestampf der Stiefel. Schatten huschten hinter den Fensterscheiben vorüber, hinter einigen von ihnen aber saßen die Schatten eng verschlungen, zu zwei und zwei. Man konnte sich nicht leicht täuschen über die Form einer Soldatenmütze oder einer Achselklappe in solch einem Schattenbild. – War einer von diesen Schatten etwa der von Schwester Anna? Man konnte es durch den triefenden Dunst nicht erkennen. –

Onni Kokko öffnete die Tür zu seinem Heim. Auf den ersten Blick sah er, daß der Hetzer fort war. Am Tisch saß die Mutter und las die Zeitung; sie hatte die Lampe angezündet. Onkel Isak saß mit seiner Pfeife genau so da wie zuvor, nur hatte er sich an das andere Fenster verzogen.

Onni ging in triefenden Kleidern geradenwegs auf den Tisch zu.

»Mutter«, sagte er, »Mutter ...«

Doch da sah die Mutter auf, und das Weitere blieb ihm im Halse stecken.

»Warum läufst du draußen im strömenden Regen herum, dummer Bengel? Anstatt auf einen verständigen Menschen zu hören und was zu lernen. Scher dich in die Bodenkammer und suche dir was Trocknes, du pladderst ja hier die ganze Stube voll. Sieh her!«

Schweigend stieg Onni die knarrende Treppe hinauf. Aber er ging nicht in die Kammer, er setzte sich, naß wie er war, auf die oberste Treppenstufe. Hier oben im Dunkeln sah ihn niemand. Er saß und brütete über etwas. Der Regen rieselte so trostlos auf das Schindeldach über seinem Kopf.

»Wirst du Dienstag streiken?« sagte die Stimme der Mutter unten beim Lampenlicht.

Und Onkel Isak antwortete: »Ich weiß noch nicht recht. Ich mag diese ewige Streikerei eigentlich nicht. Ich werd' wohl zur Werkstatt gehen und mich mal umsehen. Ist sie leer, dann ist sie leer, und ich stell' mich dann nicht allein an die Maschine.«

Dann blieb es für eine Weile still, nur die Zeitung knisterte. Schließlich fing die Mutter wieder an: »Ich versteh' nicht, wo Anna in diesem Hundewetter herumrennt.«

Onkel Isaks Stimme klang anders als sonst, als er antwortete: »Jaja, ich hab dir ja gesagt, daß die Sache kein gutes Ende nehmen wird. Du solltest ein Auge auf das Mädel haben. Mir paßt diese nächtliche Rumtreiberei mit dem Russen nicht. Jede und jede Nacht dieselbe Geschichte. Eines schönen Tages haben wir so ein uneheliches Balg in der Stube, wirst schon sehen. So'n schwarzwolliger Kosakenjunge, für den wir uns schämen müssen.«

Jetzt wurde Mutter böse. – »Bitte, Isak, reiz mich nicht! Du weißt genau so gut wie ich, daß er kein Kosak ist. Der Mann sieht proper aus, und ich hab dir ja gesagt, daß sie mit Ringen gehen. Die Russen sind unsere Freunde, und der Tag wird schon noch kommen, wo auch du ihnen dankbar bist. Der Ihrige ist übrigens so was wie Feldwebel, und man weiß nicht, wozu er's noch bringen kann. Ich denke eben weiter, siehst du.«

»Aber Russ' bleibt Russ'«, sagte Onkel Isak.

Nun verschwand der Lampenschein. Die Mutter ging in die Kammer und schlug die Tür hinter sich zu. Man ging zu Bett.

»Onni, komm und leg dich! Und auf dem Tisch steht was zu essen!« Onkel Isak war es, der da unten aus dem Dunkel heraufrief.

Onni blieb aber noch eine Weile sitzen und wartete unter dem tonlosen Rieseln, das vom Dach her zu ihm drang. Dann zog er seine nassen Kleider aus, breitete sie auf den Dachboden und tastete sich im Hemd hinunter.

Onkel Isak schlief. Auf den Zehenspitzen ging Onni bis zur Kammertür und lauschte. Die Mutter schlief auch. Behutsam öffnete er die Tür und schob sich hinein. Da stieß sein nacktes Bein gegen Annas Bettstelle, und er blieb stehen. Er stand und starrte auf ihr leeres Bett; vom Fenster her fiel ein schwacher, trostlos grauer Schein darüber.

Nein, er konnte es einfach nicht sagen!

Er schlich sich wieder hinaus und schloß die Tür. Eine Weile saß er auf seiner Bettkante, dann hustete er laut, erst einmal, dann lauter noch ein zweites Mal. Endlich drehte sich Onkel Isak um und murmelte etwas.

Da trat Onni Kokko an sein Bett heran, suchte im Dunkeln nach seiner Hand und drückte sie seltsam hart.

»Gute Nacht, Onkel«, sagte er leise.


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