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14

Auch Kapitän Karr hatte die Veränderung bemerkt, die mit dem Jungen vorgegangen war. Der Leutnant, von dem er ihn übernahm, hatte versichert, daß er ein gutartiger und ungewöhnlich tapferer Junge sei, und das hatte sich während der ersten Tage in allem bestätigt. In der letzten Zeit aber war das anders geworden. Nicht nur, daß ihm schon sein Aussehen nicht gefiel – merkwürdig verhärmt und schmutzig war er geworden und wusch sich niemals ohne Befehl –, er zeigte auch deutliche Merkmale von Angst. Offensichtlich hatte ihn das befallen, was man im Krieg den »Koller« nannte. Eigentümlich nur, daß diese Erscheinung bei ihm erst zu einem Zeitpunkt auftrat, an dem andere mit schwächeren Nerven sie im allgemeinen überwunden hatten. Und sonderbar war er auch in allem anderen. Kaum hatte er eine dienstfreie Stunde, so lief er auf einsame Irrfahrten in den Wald. Nicht ein Wort war aus ihm herauszubekommen, und oft flammte in seinen Augen etwas auf, was bedenklich nach Haß aussah.

Dennoch mußte Kapitän Karr sich gestehen, daß er eine Zuneigung für dieses tiefvergrämte Kind hegte, das ihm selbst in so vielem zu ähneln schien. Irgend etwas Besonderes war mit dem Jungen los.

Mitten in all der Hetze hatte er doch ein paar Augenblicke Zeit gefunden, auch darüber nachzudenken, und er war zu der Ansicht gekommen, daß der Junge infolge Überanstrengung an einer seelischen Erschöpfung litt. Verwunderlich war das ja nicht bei diesen verdammten Gewaltmärschen querfeldein und auf unmöglichen Wegen. Stärkere Kerle hatten da schlapp gemacht, und der Kapitän mußte bekennen, daß er selbst nur mit Mühe durchhielt.

Gott sei Dank, daß endlich ein paar Ruhetage in Sicht waren! Er fühlte sich unmenschlich müde; die morgige Atempause kam für seinen Burschen und die anderen in elfter Stunde.

Aber ausgerechnet an diesem kommenden Tage erreichte Kapitän Karr die Nachricht, daß sein einziger und geliebter Bruder in Gefangenschaft geraten war. Was das bedeutete, wußte er: in jedem Fall den Tod, vielleicht vorher noch körperliche Martern. Und diese Hiobsbotschaft traf mit dem Schmerz über einen anderen Schicksalsschlag zusammen, von dem niemand hier oben an der Front wußte, und von dem der Kapitän nie sprach, obschon er zum großen Teil an der Verdüsterung schuld war, die über seinem Wesen lag. Nun brach auch diese geheime Wunde in ihrer ganzen Hoffnungslosigkeit auf. Das eine Unglück rief das andere wieder ins Bewußtsein zurück, und beide beleuchteten einander mit einem Schein von eiskalter Leere.

Es gibt empfindsame Naturen, die dennoch viel ertragen können. Jedes Unglück trifft sie zwar unendlich schwer, aber ihr Inneres ist so weich, daß es unbegrenzt nachgeben kann, bis solchen Menschen die barmherzige Zeit zu Hilfe kommt. Ebenso gibt es harte Naturen, die ungebeugt schwere Prüfungen überstehen – bis zu einer gewissen Grenze. Wächst das Unglück aber darüber hinaus, so geht es mit ihnen wie mit Stahl, der zu stark gehärtet wird.

Kapitän Karr gehörte zu dieser Art, und nun wurde es augenscheinlich, daß er zusammenbrach. Wer ihn sah, begriff auch die Notwendigkeit dafür, daß er die Befehlsgewalt sofort auf seinen Unterführer übertrug.

Tags zuvor war man an einem niedergebrannten Herrenhof vorübergekommen. Unter den rauchenden Trümmern entdeckte jemand eine Grube, die sich als Zugang zu einem tiefen Keller erwies und darum freigelegt wurde. Unter anderem förderte man einen großen Posten Flaschen zutage, und bald wurde es schwierig, Versuche zu einem Saufgelage unter der Mannschaft zu unterdrücken.

In einer verlassenen Waldhütte jedoch ließ Kapitän Karr sich nieder und trank. Als Wächter hatte er einen Freund aus der Jägerzeit in Deutschland mitbekommen. Nun saß er schon die zweite Nacht dort.

Am frühen Nachmittag hatte man ihn sinnlos lächelnd und in völlig betrunkenem Zustande herumgehen sehen. Jetzt spät am Abend aber war es dem Freunde gelungen, ihn zu beruhigen und beinah wieder nüchtern zu bekommen. Er war ein erfahrener Mann, der das erprobte Mittel kannte, den Brand in alkoholisch überreizten Nerven dadurch zu löschen, daß man sie nur mit Champagner begießt. Viel, aber langsam. Deshalb stellte er alle anderen Getränke und die Batterie von Flaschen, die auf dem Tisch und in der Stubenecke aufgebaut stand, beiseite und begann sein Vorgehen mit einer wohlgesetzten Rede: man müsse im launenhaften Wandel des Krieges vor allem darauf bedacht sein, das Beste zu trinken. Der Kapitän wollte erst nicht recht, fügte sich aber schließlich, und das Experiment mit seinem bärenstarken Körper glückte. Er trank und trank und merkte allmählich selbst mit Verwunderung, wie er von Stunde zu Stunde nüchterner wurde.

.

Dieses wüste Treiben war auch Onni Kokko in der kleinen dunklen Seitenkammer, wo er bei offener Tür auf einer Schütte Stroh lag, nicht entgangen. Nur begriff er nichts von dessen Ursache. Vor einigen Stunden war er zur Hütte gekommen, um nachzusehen, ob sein Herr ihn zur Nacht noch benötigte. Da war der Kapitän heulend und mit verquollenem Gesicht in den Hausgang herausgetorkelt, hatte ihm die Arme um den Hals gelegt und ihn geküßt, daß er meinte, er habe ihn mit Feuer angeblasen. »Mein einziger Freund!« gröhlte er, »mein einziger Freund, warum haßt du mich? Ich hab gemerkt, daß du mich haßt ...« Und er küßte ihn abermals. – »Ist es nicht am besten, den Jungen jetzt gehen zu lassen«, hatte der andere Offizier gesagt. Aber da wurde der Kapitän wütend. »Der Junge bleibt hier!« brüllte er. »Er ist mein einziger Freund, aber er haßt mich, und wir werden heute nacht zusammen saufen!« ... Dann hatte er Onni in die Stube hereingezogen und ihm eigenhändig ein Glas mit irgendeinem scheußlich scharfen und gewürzten Getränk eingeflößt, so daß er, im Strammstehen, auf den Absätzen schwankte. – »Setz dich her und sauf und nenn mich Onkel«, hatte er gesagt. Da Onni jedoch in strammer Haltung stehenblieb und der andere Offizier sich wieder einmischte, gab der Kapitän schließlich nach: »Ja so, naja, dann geh und schlaf, mein Kind, aber weggehen soll er nicht von hier, weil ich fühle, daß ... es besser geht, wenn nur der Junge hierbleibt ...« Und der Kapitän legte wieder den Arm um seine Schulter und steuerte mit ihm in die Kammer nebenan, wo er Stroh für das Nachtlager hatte aufschütten lassen. »Schlaf, schlaf, mein Kind«, summte er. »Du sollst mich heut nacht beschützen ... die Tür soll offenbleiben ...«

Erst vor wenigen Stunden war das gewesen. Da war der Kapitän so betrunken, daß Onni, als er sich ins Stroh legte, in seinem wirren Kopf einen Augenblick an die Polizei dachte, die es früher auf der Welt gab. Nun aber schien aller Alkoholnebel aus dem Raum gewichen zu sein. In Onnis eigenem Kopf war es wieder klargeworden, und drinnen am Tisch wurde des Kapitäns Haltung immer aufrechter und schweigsamer. Fast war jetzt sein Kamerad schon lauter als er.

Auf dem Tisch zwischen den beiden Offizieren brannte in einem Flaschenhals ein Licht. Als der Kapitän den Mund der Flamme näherte, um sich eine Zigarette anzuzünden, konnte Onni sehen, daß sich auch sein Gesicht verändert hatte. Das Verquollene darin war fast geschwunden, aber noch nie hatte er so böse und zugleich so traurig ausgesehen wie jetzt. Es schien, als ob er die ganze Zeit auf etwas bisse, was er vergeblich herunterzuschlucken suchte.

Er setzte das Glas hart auf den Tisch.

»Prost!« sagte er. »Du selbst trinkst überhaupt nichts, du Fuchs! Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du alles unter den Tisch gießt – schau dahin, da läuft deine Betrügerei auf dem Boden entlang. Wenn du so weiter machst, können wir nach einer Weile hier baden. Und mich hast du mit so'nem verdammten Hokuspokus wieder nüchtern gemacht. Glaubst du vielleicht, daß mir nüchtern wohler ist als besoffen?«

»Wollen wir uns nicht endlich hinlegen«, schlug der Freund vor. »Wenn das hier so weitergeht ...«

»Das weiße Finnland will trinken », unterbrach der Kapitän. »Und es trinkt bekanntlich auch.«

Dann saß er eine zeitlang schweigend da und betrachtete das Gesicht seines Freundes an der anderen Tischseite. Ein forschender und drängender Ausdruck trat in seine Augen und veranlaßte den anderen, häufiger nach dem Glas zu greifen, um dem unbehaglichen Gefühl zu entgehen. Unvermittelt sagte er dann: »Wie war das eigentlich, hattest du nicht eine Braut, bevor wir nach Deutschland fuhren?«

»Ja, gewiß.«

»Na, hat sie sich bald getröstet? Paar Monate, was? Ich meine, wie lange nach der Abreise hast du den letzten Brief von ihr bekommen?«

»Noch vor einigen Tagen erhielt ich über Schweden einen Brief. Sie wartet da unten in Helsingfors auf mich.«

»Zum Teufel. Dann gehört sie zu den Ausnahmen.«

»Durchaus nicht. Zur Regel, durchaus zur Regel.«

»Na, soviel ich gehört habe, war die Regel etwas anderes.«

»Ich glaube, du machst ein paar Ausnahmefälle zur Regel, oder du denkst dir was zusammen. Die meisten Mädels haben doch ihre drei Jahre gewartet, und das ist für eine Frau verdammt viel.«

Das Gesicht des Kapitäns wurde noch einen Schein trauriger, aber seine Stimme klang seltsam weich, als er jetzt die Hand über den Tisch streckte: »Willst du nicht zugeben, daß deine Braut zu den Ausnahmen gehörte?«

»Na meinetwegen, wie du willst«, erwiderte der Freund und drückte dem Kapitän mit einem Schimmer von Verstehen in den Augen die Hand.

Wieder blieb es eine Weile still, nur das Aufsetzen der Gläser klang eintönig weiter. Dann begann der Kapitän ein Liedchen vor sich hinzusummen:

»Ein Auge ist grau, und ein anderes ist weiß
Und das dritte ist schwarz, und das schwarze ist meins!«

»Mag ja sein«, sagte er, »daß ich das Ganze jetzt zu schwarz sehe. Du wirst mir aber doch das eine zugeben, lieber Freund, daß es nicht gerade so gekommen ist, wie wir es uns erträumt hatten.«

»Was denn ...? Drück dich deutlicher aus; mir scheint, jetzt fange ich an besoffen zu werden.«

Der Kapitän schien nicht zu hören. Er starrte in die Tabakwolken und fuhr mit der gleichen weichen Stimme fort: »Nein, ganz so war es ja nicht ... Weißt du noch, was uns damals in der Zeit der Sklaverei aufrecht hielt, als unsere Menschenwürde mit jedem Monat mehr zusammenschrumpfte? Und später, als wir endlich eine Ahnung wenigstens von dem Eigentlichen bekamen – ich meine, als wir endlich an die deutsche Ostfront durften, um auf den Feind zu treffen, wenn auch auf fremder Erde ... Erinnerst du dich noch, was uns da aufrecht hielt? Der Traum war es, unser armer, großer Traum! Wir hatten ein Volk hinter uns. Wir waren dieses Volkes Sehnsuchtsausdruck, sein verkörperter Wille unter Waffen – ja, so glaubten wir. Da brach die russische Revolution aus, und das Kotzen kam uns an, als wir die ersten Zeitungen aus der Heimat erhielten. Helsingfors buckelt vor Petersburg, erstirbt in untertäniger Dankbarkeit, küßt seinen Errettern die Hände und veranstaltet ihnen zu Ehren Festgelage – pfui Teufel! Und auf einmal merken wir, daß wir nicht einen Deut von Volk hinter uns haben. Wir waren auch kein heiliger Lebenswille mehr, nein – bloß noch ein peinlicher Fehltritt. Und beschwerlich waren wir außerdem, wie alle alten Sünden – Mutter Suomi Suomi = Finnland. wußte, verflucht und zugenäht, nicht, wie sie uns wieder unter ihre Fittiche manövrieren sollte ... Na, allmählich kamen ja schlechtere Zeiten für dieses sogenannte Vaterland und bessere für uns. Wir bekamen ein halbes Volk hinter uns; immerhin etwas. Und das war ein halbes Volk in Not, da taugt man ja schließlich doch noch zum Retter. Da wurde Hurra gebrüllt und am Ufer geheult, als wir kamen. Ich kenne das. Man kann die heiligsten Tränen der Vaterlandsliebe weinen, so daß man selbst fühlt, wie sich die Brust weitet, und trotzdem empfindet man im Unterbewußtsein beispielsweise: nun siehts mit meinen Kapitalsanlagen etwas günstiger aus! Man muß nur das richtige Ohr dafür haben, so weiß man bald, was alle Hurrarufe in der Welt im Grunde wert sind. Man begeistert sich für so verdammt viel hier auf Erden ...

»Ja, da standen wir endlich nach dreijähriger langer Wartezeit mit der Waffe in der Hand an unserer Heimatküste. So weit war der Traum in Erfüllung gegangen. Aber der Rest ... War wirklich dieses elende Abschlachten hier das, wovon wir geträumt hatten? Die eigenen Volksgenossen schießen wir wie Hunde nieder. Und jetzt, wo mein armer Bruder in Gefangenschaft geraten ist, wird er von den eigenen Landsleuten zu Tode gequält! Glaubst du, daß das der Opfertod ist, den er sich da unten in Deutschland in den langen Jahren erträumt hat?«

»Du bist krank«, stellte der Freund in bestimmtem Tonfall fest; »und du darfst das selbst nicht ernst nehmen, was du da in deiner Krankheit faselst. Das geht vorüber, und dann wirst du wieder genau so dreinschlagen können wie früher.«

»Sei dessen nicht so sicher.«

»Zum Teufel!« schrie der Freund. »Wenn dein Bruder von dem roten Gesindel zu Tode mißhandelt wird, wirst du wohl nicht wie ein Pastor die Hände falten und blöken: Geschehe es also, Amen! – Nein, hassen! Hassen!«

Merkwürdig leise und ruhig klang die Antwort des Kapitäns: »Lieber Freund, das ist eben das Unerklärliche, daß ich eigentlich niemand hasse. Man läuft mit seinem Haß und all den quälenden Empfindungen im Herzen herum ... man läuft damit herum, bis man in Stücke geht. Ich weiß, daß ich eine starke und harte Natur bin. Ich bin lange Zeit blindlings in mein Dasein hineingerannt. Aber es gibt da in jedem Leben einen Punkt, einen geheimen Punkt, an dem alles sich auflöst. Es ist gefährlich, auf diesen Punkt zu treffen. Alles wird da so unbeschreiblich gleichgültig, und von Haßgefühlen ist dann keine Rede mehr. Man hat das ganze ekelhafte Spiel durchschaut. Nur ein einziges Wort bleibt für alles übrig, was geschieht: Irrtum! Man hat plötzlich eine tiefere Einsicht gewonnen und ist weise geworden. Aber so wie das Leben nun mal ist, taugt diese Weisheit zu nichts. Sie macht so unendlich müde, daß sie in den Tod mündet ... oder, daß man allem entfliehen möchte, wenn man zufällig noch lebt ... Diesen Punkt gibts in jedem Leben. Die meisten gehen wohl im gleichen Augenblick, wo sie ihn erreichen, zur ewigen Ruhe ein, manche aber stoßen zu früh darauf, und die müssen dann hier oben auf Erden ihren Weg noch ein Stück fortsetzen. Das sind die, von denen man sagt: fertig ...

»Pfui Teufel«, brach er plötzlich ab und goß sein Sektglas auf den Boden, »diese Limonade macht mich sentimental. Ich gehe jetzt zu Kognak über, ich muß wieder besoffen werden.«

*

Mit steigender Verwunderung hatte Onni den Kapitän reden hören, der sonst den ganzen Tag über kaum mehr als das Nötigste sprach. Er verstand diese hintergründigen Worte ja nur zum Teil, aber trotzdem war doch vieles darunter, dessen Sinn auch er begriff. Und besonders die Stimme – die klang so hoffnungslos traurig, die klang wie die einzige Menschenstimme, die er seit langer Zeit gehört hatte. All das stimmte vollkommen mit seiner eigenen Gemütsverfassung überein, aber es tat ihm nicht wohl – im Gegenteil.

Gestern früh hatte er davon reden hören, daß der Kapitän eine Unglücksnachricht erhalten habe; einen Brief, nach dessen Empfang er sich so seltsam benommen hatte, daß er das Kommando abgeben mußte. Da hatte er sich gefreut, oder sich zumindest doch irgendwie hochgestimmt gefühlt. Er glaubte wieder einen Schimmer von Sinn und Gerechtigkeit zu finden, der ihn aufrichtete.

Ein vierzehnjähriger Junge braucht ebenso wie jeder andere Mensch einen festen Punkt in seinem Dasein, um leben zu können. In Onni Kokko waren alle festen und überkommenen Anschauungen an jenem Tag, als das mit Onkel Isak geschah, wie durch einen Erdrutsch verschüttet worden. Keine einzige hatte mehr festen Boden unter sich; nicht eine. Wenn so etwas aber geschieht und man dennoch weiterleben muß, so schafft man sich früher oder später den festen Halt. Oftmals aus dem Nichts heraus, so wie Gottvater die Welt erschuf. Der Selbsterhaltungstrieb arbeitet still und zielbewußt im wildesten Chaos, und es gibt wohl kaum eine Verwirrung, in die er mit der Zeit nicht ein gewisses Maß von Ordnung bringen könnte. – Onni Kokko hatte seinen festen Punkt, oder wenigstens einen Pfad dorthin, bald gefunden. Es war der Haß auf Kapitän Karr. Nicht gerade viel, um ein Leben darauf zu bauen, und es wurde auch danach. Aber dieser Haß war ihm jedenfalls in den letzten Tagen zum Rückgrat geworden, das ihn aufrecht hielt.

Als den Kapitän nun dieser Schicksalsschlag traf, hatte Onni deshalb eine gelinde Strafe darin gesehen, von der er hoffte, daß sie ihre Fortsetzung finden würde. Während er nun drinnen in der Kammer im Stroh lag, hörte er, wie diese Entwicklung weiter verlief. Sie nahm eine ganz andere Richtung, als er es sich gedacht hatte. Daß der Kapitän an etwas Schwerem trug, das begriff er, aber es bereitete ihm nicht die geringste Freude, es tat ihm im Gegenteil leid. Welche Leiden er ihm zugedacht hatte, war ihm selbst nicht ganz klar, jedenfalls solche von ganz anderer Art. Nun merkte er, wie ihm der Kapitän plötzlich auf seltsame Weise nahe gekommen war. Er empfand, daß er selbst ungefähr so gesprochen hätte, wenn er älter gewesen wäre und sich auf solch eine feine Redeweise verstanden hätte. Und er war nahe daran, zu zweifeln, ob ihn der Kapitän wirklich nur in der Rührseligkeit seines Rausches umarmt und seinen einzigen Freund genannt hatte, wie er ursprünglich glaubte.

Der feste Halt begann wieder zu weichen. Wiederum begriff und verstand er nichts von allem! Böse wurde gut, und gut wurde böse; alles kreiste im Hexentanz in seinem Kopf herum. Waren die dunkeln Schwingen zurückgekommen und hatten ihn fortgetragen? – Er lehnte den Kopf rückwärts ins Stroh und schloß die Augen. Ihm war, als würde er in einer weiten schwarzen Leere umhergewirbelt, in deren Mitte es nichts anderes gab als einen kleinen schmerzenden Kopf.

 

Er setzte sich auf. Einen Trost gab es doch. Der Leutnant war zurückgekommen und befand sich in der Nähe. Onni hatte ihn heute aus der Ferne gesehen, obschon er sich nicht an ihn heran getraut hatte. Alles war ja nun so anders geworden, das wußte er, und seine Nähe schien eine unsichtbare Wärme auszusenden, die er bis hierher empfand. Der Leutnant, den er unter den Aufregungen der letzten Woche fast vergessen hatte, war wohl der einzige gute Mensch, den es hier auf Erden noch gab! Vielleicht, daß der helfen konnte? Er konnte ja alles, sein Leutnant.

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Drinnen in der Stube wurden Lärm und Unwesen immer schlimmer. Jetzt war des Kapitäns Freund an der Reihe, zu krakeelen. Er stand auf und fuchtelte mit geballten Fäusten über dem Tisch, so daß die Kerzenflamme auf dem Flaschenhals sich erschreckt auf und niederduckte und alle Gegenstände im Raum zu schwanken schienen.

»Bist du ein Roter geworden?« brüllte er. »Du sagst ja Sachen, für die man dich auf der Stelle an die Wand stellen müßte! Einfach erschießen ...«

»Setz dich hin, beruhige dich und sauf«, sagte der Kapitän.

Aber sein Freund lärmte weiter: »Tag der Freiheit! ... Rache! ... Russenhaß!« gröhlte er. Dann sank er auf dem Stuhl nieder, der unter ihm krachte.

»Ja, ja«, sagte der Kapitän, »all so was. Während ich dich hier mit deinem Russenhaß toben höre, kommt mir etwas in Erinnerung, was ich mit dem alten Loofeldt oben in Vasa erlebte. Er drückte einer Reihe russischer Gefangener die Hand. ›Habt Dank‹, sagte er, ›ohne Kraft habt ihr euch geschlagen, aber ihr rettet unsere Ehre. Danken wollen wir euch, Freunde, daß ihr uns zur Seite gestanden habt. Ein paar Russen unter uns, das wiegt so verdammt gering, aber es bedeutet so viel für uns, daß wir aus tiefer Überzeugung rufen: Hurra, mit Rußland erobern wir Finnland! Vorwärts Jungen! ...‹ Ja, der alte Loofeldt hatte recht. Die Russen sind unsere stärkste Stütze, zumindest gleich hinter den Bankbüchern der Bauern. Wenn du dich nun ein Weilchen ruhig verhältst, so will ich dir erzählen, wie es sich in meinem Leben zum ersten Male zutrug, daß ich einen Russen nicht haßte.

»Es war wohl während des ersten Kriegsjahres, im Herbst. Du entsinnst dich vielleicht noch, daß ein russischer Kreuzer – ich glaube, er hieß Pallada – von den Deutschen draußen vor Helsingfors torpediert wurde und mit Mann und Maus absackte. Die Kunde hiervon verbreitete sich rasch über die Stadt, und wir waren alle miteinander herzlich froh darüber. Vier-, fünfhundert Russen abgesoffen, Hurra! Mein sel… mein Bruder und ich beschlossen, zur Feier des Tages einigen Flaschen den Hals zu brechen, und luden ein paar Freunde zum Punsch ein. Es war schon mitten im Herbst, und wir waren vor längerem von unserem Landhaus am Rande der Schären in die Stadt übergesiedelt. Gerade um die Zeit aber kamen noch einige spiegelklare Spätsommertage, und so beschlossen wir, unser Freudenfest doch draußen zu feiern. Im übrigen war man so auch dem Schauplatz des festlichen Ereignisses näher, und alle waren wir überzeugt, daß man dort am besten in Stimmung kommen würde. Wir nahmen also die Schlüssel zum Landhaus, verfrachteten die Getränke und unsere Freunde ins Motorboot und fuhren los.

Auf der Veranda setzten wir vergnügt unser Punschgelage in Szene. Ein wunderbarer Abend war es, mit durchsichtiger Herbstluft über dem Meer, gelben Birken rings an den Ufern und so. Recht kühl war es außerdem, aber das merkten wir erst später. Wir leerten verschiedene Gläser abwechselnd auf »Pallada« und auf die Deutschen und hielten vaterländische Reden. Noch hatten wir die bunten Lampen nicht angesteckt und noch waren wir nicht dazu übergegangen, die üblichen dummen Geschichten zu erzählen, da bemerken wir ein Motorboot, das brummend am Ufer entlang gefahren kommt und bei der Brücke anlegt. Am Heck wehte die russische Marineflagge, und wir machten uns bereit, als Helden aufzutreten.

Aber es hatte keine Gefahr. Ein einzelner Marinesoldat springt an Land und hebt vorsichtig ein graues Bündel aus dem Boot, das sich später als ein pensionierter russischer Admiral entpuppte. Das gab es damals noch, und der Soldat war wirklich gut zu dem Alten. Da stehen sie nun beide und beratschlagen eine Weile auf der Brücke, und der Admiral weist mit zitternder Hand bald hierhin, bald dorthin aufs Meer hinaus. Dann kommt er auf den Arm des Soldaten gestützt ganz langsam den Sandweg herauf. Unten vor der Veranda bleibt er stehen und salutiert. Achtzig Jahre war er sicher, und ich habe nie in meinem Leben etwas so Hilfloses und zugleich doch so Ehrfurchtgebietendes gesehen. ›Haben die Herren meinen Sohn gesehen?‹ fragt er leise auf Französisch und Deutsch. ›Meine Herren, verzeihen Sie, ich meine die Leiche meines Sohnes ...‹ Und er zeigt zum Meer hinunter. Der Soldat kommt zu uns herauf; er tippt bekümmert mit dem Finger gegen die Stirn und zeigt mit dem Daumen nach hinten auf den Alten. – ›Der Admiral ist nicht richtig im Kopf‹, flüstert er in seinem Rotwelsch, ›bald eine Woche kreuz und quer auf dem Meer herum, nichts essen, nur immer seinen Sohn suchen ...‹ Dann nimmt er den Alten mit der gleichen Behutsamkeit unter den Arm, führt ihn zum Boot hinunter und fährt ab.

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»Das war das erstemal in meinem Leben, daß ich einen Russen nicht gehaßt habe. Weder den Alten noch den Soldaten. Ich hätte dem alten Mann seinen Sohn wiedergegeben, wenn ich es vermocht hätte. Und ich sah meinem sel ... ich sah meinem Bruder und den anderen an, daß sie es auch getan hätten. Ich gestehe auch, daß unser Punschgelage einen Knacks bekommen hatte. Die vaterländische Stimmung kam nicht mehr so richtig in Schwung. Vielleicht hast du nun gemerkt, daß man mitunter nachdenklich werden kann, auch als Patriot ...«

Des Kapitäns Freund war wirklich in Gedanken verfallen, er hing dösend auf seinem Stuhl. »Was hast du da gepredigt?« fragte er und blinzelte mit den Augen.

»Ich erzählte bloß eine Geschichte von Punsch und Russenhaß«, erwiderte der Kapitän und starrte abwesend in die Luft. Wieder herrschte eine Weile Schweigen. Man hörte nur, daß der Kapitän immer aufs neue sein Glas füllte.

Jetzt erklangen Schritte auf der Treppe. Onni Kokko hörte, wie die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat. Zwei Absätze klappten aneinander. »'n Abend«, sagte eine Stimme. Er fuhr zusammen und setzte sich auf. Sehen konnte er den Mann nicht, aber die Stimme kannte er gut: der Leutnant!

»Servus«, gröhlte der betrunkene Freund. Und der Kapitän fügte hinzu: »Setz dich her, sauf und sag Bruder zu mir!«

»Wenn du also erlaubst, Bruder, so werde ich mich weder setzen noch saufen. Ich muß gleich wieder gehen und nach den Posten sehen. Wir haben heute nacht ein paar rote Skiläufer ausgemacht.«

»Da solltest du dich zu denen rüberschleichen, Karr! Weißt du«, der Betrunkene wendete sich zum Leutnant, »der Alte ist Bolschewik geworden.«

Nun mußte der Kognak endlich beim Kapitän gewirkt haben. Er schlug die geballte Faust wie einen Stein auf den Tisch. »Das ist eine Lüge, daß ich Bolschewik bin! Ich bin gar nichts. Alle diese Fragen sind mir widerlich, schlechthin widerlich. Man setzt Himmel und Hölle in Bewegung, man schreit hierhin und dorthin und schlägt sich gegenseitig die Schädel ein – und alles für einen Scheißdreck. Alles Kleinigkeiten! Ich sage Euch, hier geht es um Dinge von ganz anderem Ausmaß. Soziale Reformen und umstürzlerische Pläne, Politik hier und Taktik da – glaubt ihr vielleicht, daß das uns weiterhilft? Mag ja sein, daß man Verschiedenes für den Weg braucht, ebenso wie man Unterhosen wechselt. Macht bloß nicht so viel Theater deswegen. Aber schafft uns eine neue Religion, erlöst unsere armseligen, gequälten Herzen! Das ist der einzige Umsturz, der etwas wert ist. Denn immer ist es dieser arme kranke Lappen in uns, der dabei leiden muß ...«

Ruhiger werdend, fuhr er fort: »Das ist ja eben das Leidige, wir sind doch alle nur kleine Karten in einem alten Spiel, und das ist so abgefeimt gemischt, daß es niemals aufgehen kann. Nehmt doch nur diesen höllischen Krieg. Auf der weißen wie auf der roten Seite nennt man ihn gleicherweise: Freiheitskampf. Ein Idiot muß das sein, der nicht einsieht, daß auf beiden Seiten der gleiche dumme und schöne Ernst hinter dem Wort steckt. Ich rede hier nicht von den roten Schuften in höherer Stellung, sondern von den armen Schafen, die ihr Leben opfern. Es kommt ja nicht darauf an, wofür man sich schlägt, sondern woran man selbst glaubt. Und darum sage ich: Brüder sind wir alle in der gleichen Verdammnis, die Roten wie die Weißen. Alle schlagen wir uns hier auf Erden für ein Phantom, und alle nennen wir es Freiheitskampf. – Wenn ihr aber wissen wollt, was der Freiheitskampf für mich persönlich bedeutet? In erster Linie, daß ich das Wenige, was ich im Leben besaß, verloren habe. Wieso? Wollt ihr wissen, wie ich es auffasse? Angenommen mal, wir gewinnen den Krieg und ziehen eines Tages erschöpft und zerlumpt in Helsingfors ein; das heißt, die von uns, die nicht auf der Strecke geblieben sind. Natürlich gibt es dann eine hurradonnernde Parade, und auf jedem Balkon stehen die fetten Börsenjuden, die plötzlich wie Ratten aus ihren Löchern gekrochen sind. Sie lassen Blumen über uns niederregnen und begrüßen die Wiedereinführung der Sklaverei mit Hurragebrüll, bis sie heiser sind. Finnland, Finnland! schreien sie, hoch lebe das Bauernheer und der Tag der Freiheit! Dann sehen sie auf die Uhr und rennen zur Börse. Hier draußen in den Wäldern aber ... naja.

»Im übrigen«, schloß er, »sind das alles nutzlose Betrachtungen. Laßt uns lieber saufen.«

 

Nun griff der Leutnant das Gespräch auf: »Ich kann nicht einsehen, daß es hier mehr als einen Standpunkt geben kann. Der einzig mögliche ist, daß wir Finnland befreien.«

»Du magst recht haben«, erwiderte der Kapitän langsam, »und ich beneide dich drum. Wenn man aber einmal in Stücke gebrochen ist, dann ist es nicht mehr so leicht, sich wieder zu solcher Einfalt zusammenzukitten. Ich bin müde, und die ganze Schlächterei ekelt mich an. Alles stinkt für mich nach Blut, die ganze Welt stinkt ...«

Es klirrte in der Fensterscheibe auf. Das Licht stürzte um und fiel zischend zu Boden. Ein Knall zerriß die Luft. Auch auf der roten Seite gab es einen Lehtinen.

Onni hörte, wie die Tür aufflog und die Offiziere hinausstürzten. Er riß sein Gewehr hoch – aber nein, wozu? –, er hatte ja mit all dem nichts mehr zu schaffen. Er preßte die Daumen in die Ohren und vergrub sich im Stroh. Trotzdem hörte er, wie eine Kugel zischend die Wand durchschlug; die jagte ihn auf, er kroch auf den Knien in den Hausgang und öffnete spaltbreit die Tür.

Drüben zwischen den Bäumen knatterte es einige Male auf, dann wurde es wieder still. Alles war vorüber. Eine Stimme in der Nähe rief: »Sanitäter, halloo – hierher!« Und nach einer Weile kam ein Arzt.

An der Treppe draußen lag Kapitän Karr rücklings im Schnee. Er hatte einen Herzschuß, da war nichts mehr zu machen. Die Pistole war seiner ausgestreckten rechten Hand entfallen; man untersuchte sie und fand, daß das Magazin fast leer war. Wegen der Dunkelheit und der starken Blutung konnte man nicht feststellen, ob das Loch im Waffenrock vielleicht versengte Ränder aufwies. Zwei Mann hatten Mühe, den riesenhaften Körper auf eine Bahre zu heben, die sich unter dieser Last bog. Dann trugen sie den Toten fort.

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