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11

An einem windigen Abend in der Dämmerung trat der Skiläufer Lehtinen auf Kapitän Karr zu und nahm stramme Haltung an: »Herr Kapitän«, sagte er, »wir werden heute nacht Schneesturm bekommen, und ich will mit Handgranaten nach vorn. Aber die Sache ist die, daß ich einen Helfer brauche, der sie mir zureicht; irgendeinen flinken kleinen Burschen. Wie Herr Kapitän vielleicht gehört hat, ließ sich mein voriger Begleiter abfangen und wurde zu Tode gequält, der verdammte dumme Bock ...«

»Ihr braucht also ein neues Schlachtopfer, Lehtinen, damit Ihr selbst entwischen könnt. – Stimmt's?«

Empört fuhr Lehtinen auf. »Oho!« sagte er und blitzte den Kapitän wütend an.

»Beruhigt Euch, Lehtinen, ich fragte ja bloß. Fahrt fort!«

Aber Lehtinen lockerte seine stramme Haltung, stellte sich herausfordernd breitbeinig hin und stemmte die Hände in die Seiten. »Ich meine, daß Herr Kapitän so etwas dem Skiläufer Lehtinen nicht zu sagen brauchte, einem Mann, der in ganz Tavastland bekannt und geachtet ist!«

»Das ist ja allerhand! Aber fahrt fort.«

»Ja«, fuhr der Skiläufer fort und stellte die Füße wieder etwas näher zusammen, »ja, Herr Kapitän mag nun glauben, was er will, aber es ist so, wie ich sage. Als ich Mitte der Woche vorn war, konnte ich nur halbe Arbeit tun, weil ich allein war. Denn gerade als es um die Wurscht ging, war's Schluß mit den Handgranaten. Ich habe da diesen Onni Kokko im Auge. Der Bursche wird dazu taugen.«

»Ist 'ne freiwillige Sache«, wendete der Kapitän ein.

»Ich hab' ihn schon gefragt, und er will mitmachen.«

»Ich will ihn aber nicht gern verlieren.«

»Nein, Herr Kapitän, in solchem Schneegestöber wie heute nacht wird's leicht sein, auszubüchsen. Und wenn's glückt, dann werden wohl die Roten drüben morgen früh verflucht schlechte Laune haben. Ich hab' mich genau unterrichtet, wie's da vorn aussieht ...« Lehtinen trat einen Schritt näher und flüsterte einige Worte.

Das Gesicht des Kapitäns hellte sich auf, und er reichte ihm die Hand. »Na, auf Wiedersehen, Lehtinen, und – viel Glück!«

Onni Kokko übte sich eine Weile im Werfen mit einer unscharfen Handgranate, und Lehtinen gab ihm mit väterlicher Umsicht den nötigen Schliff. Dann bekam er ein weißes Schneehemd an, eine Pistole in die Tasche, ein langes Dolchmesser an die Seite, und im Gürtel baumelten sechs Handgranaten. Selten hatte er sich so bewaffnet gefühlt wie heute.

Es dunkelte bereits unter dem heraufziehenden schweren Unwetter, das einen undurchdringlichen Wirbel von Schneeflocken mit sich führte. Lehtinen wartete jedoch noch eine geraume Weile.

»Wir wollen ihnen Zeit lassen, sich in aller Gemütsruhe aufs Ohr zu hauen. Noch sind die Wachtposten nicht richtig eingeschneit und eingefroren. Und das Wetterchen hier hält an.«

Erst gegen Mitternacht schnallten sie die Skier an und liefen los. Der Schnee trieb in schweren Massen über das Feld. Sie hatten Rückenwind, und allmählich legte sich ihnen eine feuchte Schneelast über Nacken und Schultern. Die Skier glitten nicht, es war, als ob man in einem uferlosen weißen Meer vorwärts wate, das um die Füße brandete. Onni fühlte, wie ihm der Schweiß salzig in den Mund rann.

Vorsichtig gleitend fuhren sie jetzt einen Hang nieder und hielten unten an einem Ufer. Hier patrouillierten in der Dunkelheit die vordersten Wachtposten der Weißen wie lebende Schneemänner auf und ab. Mit krummem Buckel, das Gewehr im Arm und die Hände in den Ärmeln vergraben.

»Ist da Lehtinen?« rief einer von ihnen. Und als sie heran waren, sagte der Mann: »Bei uns ist durchgesagt worden, daß zwei von den Unseren übersetzen werden, und die Losung für heut nacht ist ›Lehtinen‹.«

»Wissen wir. – Aber wie steht's mit den roten Posten?«

»Dort, seht selbst« – antwortete der Wachtsoldat und deutete auf den See hinaus.

Fern aus dem dichten brauenden Dunkel herüber drang, wie durch einen Sack gedämpft, ein schwacher Lichtschein. Er schrumpfte zusehends zusammen, wurde klein wie eine Schneelaterne und verschwand. Plötzlich jedoch leuchtete er wieder auf, groß und klar, so daß sich das Schneetreiben in dunklen Strichen vor ihm abzeichnete. Das war genau gegenüber am anderen Ufer.

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»Aha«, sagte Lehtinen, »fassen die Burschen die Sache so auf. Aber wie in Teufels Namen kriegen die Feuer bei solchem Wetter?«

»Sicher gießen sie alle Augenblicke Petroleum über das Holz«, meinte der Wachtposten.

»Ach so. Na, wenn's da drüben so gemütlich zugeht, können wir uns, glaub ich, ruhig quer über den See wagen. Hallo, Kokko, Bombenmaxe – also los!« Sie nahmen Richtung über das Eis und hielten auf den Feuerschein zu. Jetzt hatten sie Seitenwind, und das eine Ohr füllte sich mit Schnee, der peitschend gegen die Wange trieb. Der Feuerschein vor ihnen verglomm und flammte in bestimmten Zwischenräumen wieder auf.

»Mir müssen uns davor hüten, ihrem Wachtfeuer zu nah zu kommen«, sagte Lehtinen. »Man weiß ja nicht, wieviel Petroleum die geräubert haben, um es drüber zu gießen. – Übrigens, merk dir eins: wenn wir unser Ding gedreht haben und es gilt, auf eigene Faust den Heimweg zu finden, dann ist das über den Schnee hier kein guter Rückweg. Wenn sich das Schneegestöber legt und der Mond herauskommt, stehst du nämlich hier wie auf Pastors gutem Silbertablett. Schlag dich lieber dort an der Dorfseite seitlich in den Wald und halt dich nah am Strand, dann findest du dich schon heim. Denk auch ja nicht, daß man einfach davontoben soll, bis die Skier brechen. Ist viel gescheiter, sich Zeit zu lassen und erst mal umzuschauen. Man kann wie eine kleine Waldmaus hinter einen Stein schlüpfen und die roten Hunde in ihrer Hatz vorbeirennen lassen.«

Jetzt näherten sie sich dem Ufer der Roten. Schon blinkten kleine, dunstige Lichtpunkte vor ihnen schräg oben in der Luft, aber dann wurden sie wieder von einem dichten Schneewirbel verschluckt. Es waren landeinwärts Lichter vom Dorf. Das Wachtfeuer hatten sie nun ganz zur Rechten. Als es wieder einmal mit ungewöhnlicher Helligkeit aufflammte, konnte man schwarze Gestalten erkennen, die sich, wie auf einem Bild in den Indianerbüchern, um das Feuer bewegten. Einige fuchtelten herum und bewegten schlagend die Arme, um sich zu wärmen, andere klopften sich den Schnee von den Kleidern. Ein ziemlicher Haufen war es; offenbar hatte sich die ganze Postenkette dort versammelt.

Lehtinen blieb stehen und fühlte nach seiner Pistole. Dann glitt er, scharf nach vorn spähend, auf seinen Skiern langsam weiter landeinwärts. Onni folgte seiner Spur. Nichts war zu sehen noch zu hören; nur das eintönige Brausen des Windes und das Summen der wirbelnden Schneemassen. Plötzlich schlug von vorn das Rauschen von Uferbäumen an ihr Ohr, und unter einem aufheulenden Windstoß glitten sie zwischen die Steine hinein. Die Skier unterm Arm, erklommen sie den Steilhang und verschwanden im Wald.

Kurze Zeit später tauchten sie wieder auf und fuhren geduckt ein Stück an einem Zaun entlang, wendeten und krochen durch ein lichtes Kiefernwäldchen. Sie hatten den Dorfrand erreicht.

»Nun wollen wir erst mal Umschau halten«, sagte Lehtinen.

Es wäre stockdunkel gewesen, wenn nicht ein schwacher grauer Schein hätte ahnen lassen, daß hoch oben der Mond am Himmel stand. Und doch lag alles so dunkel und in unbestimmten Umrissen da wie auf dem Grund eines tiefen, trüben Stromes. Der Wind rauschte schwer durch die Kronen der Föhren, und unaufhörlich trieb dick und grau der Flockenschleier an den Augen vorbei. Das Licht, das an einzelnen Stellen aus den Fenstern der Gehöfte fiel, wurde schon ein paar Meter weit von ihm verschluckt.

Einen Steinwurf weit vor ihnen war eine Häusergruppe; man sah die erleuchteten Fenster, und aus mehreren Schornsteinen wirbelten schnell verlöschende Funken und dicker Rauch hoch, der über das Kiefernwäldchen hintrieb und sie in der Nase beizte. Wüstes Geschrei drang ab und zu mit den Rauchschwaden herüber; man schlief dort auf dem Hof noch nicht. Zwischen die Rufe und Lachsalven aber mischten sich abgerissene Töne eines Psalmes.

»Fangen die Roten nun auch an, Psalmen zu singen?« fragte Onni.

»Nein, das müssen gefangene Bauern sein.«

»Wollen wir sie denn nicht befreien?«

»Das wäre doch vergebliche Mühe, die würden in jedem Fall von der Wache erschossen. Wir haben wichtigere Sachen vor.«

»Wohin wollen wir denn eigentlich?«

»Zum Stab natürlich. Sieh dort rechts die großen Fenster. Komm!«

Sie strichen dicht an den Nebengebäuden des Gehöftes vorbei. Durch die schwarze Balkenwand drangen die singenden Stimmen schwach und schleppend, aber ruhig wie in der Kirche:

»Ein' feste Burg ist unser Gott,
Ein' gute Wehr und Waffen,
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns jetzt hat betroffen ...«

Sie schlugen einen Bogen um ein Feld, krochen einen Hügel hinauf und schlichen sich in den schmalen Gang zwischen zwei Hofgebäuden hinein. Hier war es vollständig dunkel; nur die Öffnung zum Hofplatz hin stand wie ein helles Fenster, durch das ab und zu der Schnee hereinstob.

»Die Skier lassen wir hier«, flüsterte Lehtinen. »Dieser Hof ist das Stabsquartier.«

Im gleichen Augenblick packte er Onni hart am Arm. – Am anderen Ende des schwarzen Ganges rührte sich etwas. Dort wurde auf einmal ein Schneehaufen lebendig. Arme, Beine und ein Gewehr kamen daraus zum Vorschein. Dann hörte man ein betrunkenes Lallen, das der Wind sogleich verwehte. Das war einer, der sich auf einen Stein gesetzt hatte und eingeschneit war.

»Ein Russe«, flüsterte Lehtinen, »und stinkbesoffen ist er. Der muß stummgemacht werden.« Er zog sein Messer und begann vorwärtszukriechen, aber gleich darauf stieß er gegen Onni Kokkos Stiefelabsätze – der Bengel war ihm zuvorgekommen. Er versuchte ihn am Bein zu erwischen und zurückzuziehen, aber vergebens, die Stiefel vor ihm hatten gute Fahrt. Lehtinen schluckte einen Fluch herunter und blieb liegen.

Das Messer zwischen den Zähnen, schob Onni sich in dem schwarzen Gang vor. – Merkwürdig, wie das alles heute einer Indianergeschichte gleicht, dachte er, während er kroch. Wie hieß die doch gleich? – Nein, er kam nicht mehr drauf. Er entsann sich bloß, daß in dem Buch ein Schurke seinen wohlverdienten Lohn erhielt. Quer durch den ganzen Wilden Westen suchte ihn der Rächer, und schließlich bekam er ihn unter die Fäuste und stürzte ihn in einen Abgrund. Und hat Amerika nicht noch viel größere Wälder als Finnland?

Das ging ihm durch den Sinn, während er geschmeidig wie eine Katze auf den betrunkenen Russen zukroch. Weiter hinten im Gang lag Lehtinen und wartete. Würde er seine Sache richtig machen? Würde der Russe noch einen Schrei ausstoßen können? – Jetzt mußte er bald an ihm sein ...

Da entstand eine Bewegung an der Öffnung, und wie ein leiser Schnarchton kam es herüber. Das war alles, und man hörte nur noch den Schneesturm heulen. – Onni Kokko brachte vorsichtig den toten Körper angeschleppt.

»Du bist zu hitzig am Freßnapf, kleiner Kampfhahn! Aber geschickt hast du's gemacht, und es war schlau, daß du ihn hier ins Dunkel gezogen hast. Ist er auch wirklich tot?«

Onni machte nicht halt, sondern schleppte den gefallenen Russen durch den Gang bis zur anderen Seite hinaus, wo der graue Schein von der Anhöhe auf ihn fiel. Dort beugte er sich über den Toten.

Lehtinen schlich eiligst hinterher. »Was zum Teufel sind das für Sachen? Warum liegst du hier und besiehst ihn von allen Seiten?«

Onni antwortete nicht. Lehtinen hörte nur, wie er tief und bekümmert aufseufzte.

»Jetzt wirds Zeit, daß wir uns dranmachen«, flüsterte der Skiläufer. »Du bekommst drei von den Handgranaten, und ich nehm' die übrigen. Wirst du's fertigkriegen, die alle nacheinander zu schmeißen? – am besten in verschiedene Fenster.«

»Ja«, sagte Onni.

»Aber nur in die erleuchteten, verstehst du!«

»Ja.«

»Nachher schleichst du auf diesem Weg heraus und kriechst bis zu der Hütte gleich linkerhand. Da stehen keine Wachtposten, und sie ist voll von rotem Gesindel. Aber gnade dir Gott, wenn du früher wirfst als ich! Erst, wenn ich rufe. Du weißt, was ich immer rufe?«

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»Ja«, sagte Onni.

»Also – alles klar. Das große Haus mit dem Stab übernehme ich. Und dann augenblicklich hierher zu den Skiern. Ollreit sagt der Engländer.«

Lehtinen verschwand im Dunkel zwischen den Hauswänden. –

Wenige Minuten später lag Onni Kokko auf seinem Platz, drei Handgranaten vor sich im Schnee. Die Längswand des Gebäudes zeigte ins offene Gelände, und da patrouillierte in diesem Wetter niemand. Drinnen war es ziemlich still und friedlich. Vereinzelte Stimmen ertönten, und mitunter schlug eine Tür. Die roten Soldaten schienen zu schlafen. Nur zwei Fenster waren erleuchtet, und aus ihnen fielen zwei breite kurze Lichtkegel, in denen die Schneeflocken wirbelten und tanzten. Onni lag da und starrte auf das eine Fenster. Ein Schatten war darin aufgetaucht.

Da knallte ein Pistolenschuß – Lehtinen schoß einen Wachtposten nieder. Gleich darauf eine dröhnende Stimme: Hier ist Lehtinen!

Man hörte das Klirren von splitterndem Glas – vier dumpfe Detonationen hintereinander, gefolgt von dem Krachen brechender Hölzer. Dann nochmals zwei Detonationen, und zum Schluß eine allein, ganz in der Nähe.

Onni Kokko hatte die Handgranaten gepackt und war aufgesprungen. Er tat einige schnelle Schritte auf die Hauswand zu. Aber dann blieb er eine Sekunde regungslos stehen, und ohne abzuziehen und zu werfen, wendete er sich um, hängte die Handgranaten in den Gürtel und lief zu den Skiern. – Lehtinen war schon fort. Onni stieß die Stöcke in den Boden und sauste in wilder Fahrt den Hang hinunter in den Wald. Hinter ihm im Dorf erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm. Es schien, als ob alle Höfe plötzlich auseinander geborsten wären und aufgeschreckte Menschen daraus hervorquöllen, die schrien und um sich schossen. Die ganze Häusergruppe stand im Nu in Flammen, es prasselte an allen Ecken. Darüberhin aber fuhr heulend der Schneesturm.

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Onni hielt einen Augenblick inne und sah sich keuchend zwischen den Bäumen um. War nicht hier in der Nähe das Kiefernwäldchen und der Hof mit den gefangenen Bauern? – Ja, jetzt knatterte in der Ferne eine Salve. Ganz schwach klang es, es mußte im Haus sein, und er begriff, was das zu bedeuten hatte. Man erschoß die Gefangenen.

»Ich hätte doch werfen sollen!« sagte er laut vor sich hin. Aber die Hand hatte ja nicht gewollt ... Er arbeitete sich weiter durch die Schneewehen hindurch, und der Schweiß rann ihm salzig in die Mundwinkel.

*

Heller Tag war es schon, und die Sonne begann ihre Bahn über den windstillen Himmel zu ziehen, als der Skiläufer Lehtinen aus dem Quartier des Kapitäns trat. Er hatte drinnen das Ergebnis der Nacht gemeldet und sah stolz und zufrieden aus. – Im gleichen Augenblick kam Onni Kokko auf den Hof gewankt. Er hielt einen abgebrochenen Ski in der Hand und sah aus, als ob er monatelang krank gelegen hätte.

»Nanu, du lebst ja!« rief Lehtinen. »Warum hast du denn deine Handgranaten nicht geschmissen, Dummkopf?«

»Ich wagte es nicht«, sagte Onni.

»Wagte nicht? – Haha! Du wagst alles.«

»Nein, ich wagte es nicht. Ich hatte doch vergessen, wie man es macht.«

 

Er wankte weiter, trat in eine Unterkunft und warf sich aufs Stroh. Immerzu sah er dasselbe Bild vor sich: das Fenster mit dem Lichtkegel, und mitten in dem dunstigen Schein einen Schatten. Nein, er wußte nichts von dem Schatten; nicht, wem er gehörte, und nicht, was er von ihm wollte. Und dennoch war etwas an diesem Schatten gewesen, was seine Hand gelähmt hatte.

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