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13

Eine trüb blinzelnde Lampe mit geschwärztem Metallfuß stand mitten auf dem Fußboden, denn einen Tisch gab es nicht. Durch ihr staubblindes Glas streute sie ein unsicheres Licht über die breiten halbvermorschten Dielenbretter. Einige Meter weiter tastete ihr Schein an die Wände, huschte schwach an den Balken hinauf und verlosch im Halbdunkel unter dem Dach. Mitunter zuckte sie mit leisem Knistern auf, als ob eine Motte hineinflöge, aber es war der Luftzug von unten aus den Dielenritzen. Die Flamme duckte sich und drohte zu verlöschen, flackerte ein paarmal hin und her und erhob sich wieder zu hellerem Schein. Nun wurden auch die Gefangenen sichtbar, die wie eine dunkle zusammengepreßte Masse den größten Teil des Fußbodens bedeckten.

Alle schliefen sie den traumlosen Schlaf der Erschöpfung, so wie man nur schläft, wenn einem alles gleichgültig geworden ist. Wenn man nichts mehr sehen und hören, nicht mehr empfinden und von nichts mehr wissen will – nur noch sich hinwerfen und allem entfliehen. Der ganze Raum war von schweren Atemzügen erfüllt. Auch einige Leichtverwundete hatten sich zu den anderen auf den Boden gelegt und schliefen. Manchmal bewegten sie sich, stöhnten im Fieber auf und tasteten nach ihren schmutzigen Verbandlappen, dann schliefen sie weiter.

Draußen rings um die alte Baracke war es ganz still. Vereinzelte große Sterne sahen schwach und gebrochen durch die zwei niedrigen Fenster herein, deren Glas blaugrün vor dem Nachtdunkel stand.

Ein einziger von den Gefangenen schlief nicht. Er saß hinten in einer Ecke aufrecht am Boden und hatte den Rücken gegen die Wand gelehnt. Um einen Arm trug er eine Binde, durch die Blut sickerte; sein abgezehrtes Gesicht schien in Falten versunken, und seine Augen starrten fiebergroß und unentwegt über die Verwüstung hin auf die Tür.

An der Tür saß Onni Kokko auf einem Stuhl, das Gewehr über die Knie gelegt, so daß die Bajonettspitze in den Raum zeigte, die Ellbogen stützte er auf den schweren Kolben. Eingefallen und bleich waren seine Züge, und er stierte hoffnungsleer in die Lampe, als suchte er irgendeinen Ausweg, und wußte doch, daß es keinen gab.

Die beiden Augen in der Dunkelheit dort drüben brannten auf ihm wie geschmolzenes Blei. Bis ans Ende der Welt hätte er laufen mögen, um ihnen zu entfliehen, und dennoch wagte er keinen Fuß zu rühren, wagte nicht den Kopf zu wenden und den Blick von der Lampe zu lassen. Unbeweglich saß er und ließ alles mit sich geschehen. Er sah nichts außer dem hellen Lichtkreis der Lampe und mitten drin eine kleine unruhige Flamme, die sich um den Docht schmiegte, mitunter aufflackerte und wieder zu erlöschen drohte. Und immerzu spürte er die beiden Augen auf sich ruhen und im Gesicht brennen. Aus der dunkeln Ecke dort kamen sie: es war, wie wenn zwei Quellen von siedendem Pech aus schwarzen Löchern heraufbrodelten und in einem glühenden Streifen quer über den Fußboden auf ihn zuflossen. Nun glitten sie über seine Wangen, tasteten sich höher, jetzt gruben sie sich von der Seite in seine Augen ... Er fror und schwitzte vor Angst. Trotzdem saß er regungslos und wehrte sich nicht. Er konnte nicht anders.

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Wie gern hätte er gesprochen und erklärt und sich gerechtfertigt! Sicher hatte die Mutter nichts gesagt, das wußte er. Denn dann hätten diese Augen nicht so auf ihn geblickt; dann wäre er ihnen hier überhaupt nicht begegnet, und all das Schreckliche wäre nicht geschehen. Hatte er denn etwas Böses getan? Er litt so tief, daß er bereit war, jede noch so unwahrscheinliche Schuld auf sich zu nehmen, nur um einen Sinn in alledem finden zu können; nur um an irgendeine Wurzel packen zu können und zu sagen: hier habe ich es, daraus ist all das Elend entstanden. Wie hätte das sein Herz erleichtert! Aber er konnte sich nicht von dem lossagen, was ihm das Teuerste war. Trug er nicht auf diesem Weg das Bild seines Vaters im Herzen, obschon er nie hätte ahnen können, daß ihn der Weg hierher führen würde? Nein, er konnte keine Schuld in sich finden. Er begriff nichts mehr, nur, daß es furchtbar war, wie es jetzt gekommen war.

All das hätte er gern gesagt. Und er hätte sich Onkel Isak zu Füßen werfen und ihn um Verzeihung bitten mögen für irgend etwas, was er gar nicht getan hatte, und hätte von einem barmherzigen Gott sprechen wollen, an den er nicht glaubte. Aber er fühlte, daß er sich nicht rühren und kein Wort herausbringen konnte, und außerdem wußte er, daß es für das alles zu spät war. Onkel Isak hätte nur den Kopf fortgedreht, das stand in seinen Augen.

 

Das Licht der Lampe wurde immer schwächer. Die Flamme verkroch sich in den Docht und begann mit einem kurzatmigen gelblichen Zucken zu verschwinden. Das Öl ging auf die Neige.

Onni grübelte weiter. »Einen einzigen Menschen gab es zu Hause, an den ich glaubte. Und nun sitzen wir wieder in einer Stube beisammen, aber es ist bei Gott nicht lustig ... Einen einzigen gab es, mit dem ich sprechen konnte; und nun kann ich auch mit ihm nicht mehr reden ...« Er saß da und sah zu, wie das Lampenlicht allmählich verlosch, und mit ihm schien auch jeder Lebenssinn zu erlöschen.

Nun flackerte die Flamme ein letztes Mal auf und erstarb. Er machte keine Bewegung, um die Lampe aus der Ölkanne neu zu füllen, die neben ihm stand. Das Dunkel kam wie eine Erlösung über ihn, und er hoffte, daß die Augen es nicht mehr durchdringen und nicht mehr auf ihm würden brennen können. Eine Weile saß er unbeweglich, dann aber merkte er zu seiner Verzweiflung, daß das Sternenlicht von draußen viel heller herein schien, als er geglaubt hatte, wo nun alles andere Licht erloschen war.

Langsam wendete er den Kopf. – Nein, die Augen waren noch da. Noch unheimlicher leuchteten sie in dem bleichen Schein, noch schwärzer schienen die Augenhöhlen. Wie zwei ausgebrannte graue Feuerstätten glomm es dort unter Leid und Flüchen. Wie erloschen waren sie und leuchteten dennoch.

Er drehte den Kopf so hastig fort, als habe er eine Ohrfeige bekommen, diese Bewegung schien ihm aber zu Bewußtsein zu bringen, daß er nicht gelähmt war. Er raffte sich auf, nahm sein Gewehr und tastete sich in den Hausgang hinaus. Behutsam öffnete er die Tür und trat auf die Treppe.

Mit Frost und Sternenlicht schlug ihm die klare Nacht entgegen, er holte tief Atem. Beruhigend strich die Kälte um seinen Körper, der vom Angstschweiß heiß und feucht war. Er hätte weit hinaus in die weiße Nacht fliehen mögen, um sich irgendwo unter Schnee und Sternen zu verbergen und an nichts mehr zu denken. –

 

Da sah er zu seinen Füßen den anderen Wachtposten. Auf der untersten Treppenstufe saß der und schlief. Sein Kopf war tief in den großen Schafpelz gesunken, und er schien nicht die Absicht zu haben, so bald wieder aufzuwachen.

»Schläfst du?« fragte Onni leise. Und als er keine Antwort erhielt, wiederholte er lauter ein zweites und drittes Mal: »Schläfst du?«

Es kam keine Antwort. Aber kaum waren die Worte heraus, da empfand er plötzlich vor sich die Frage: Warum tu ich das? Natürlich müßte ich ihn wecken. Was will ich denn eigentlich?

Langsam ging er wieder hinein, doch ließ er die Tür ein wenig geöffnet. Er setzte sich auf seinen Stuhl, und nur die Augen irrten durch das Dunkel zum Hausgang, zu dem hellen Spalt in der Tür. Wirr und taumelig wurde ihm im Kopf. Unklare Gedanken drängten sich herauf, wurden geboren und erstickten einander, bevor ein einziger zum Entschluß reifen konnte. Nur eins wußte er, daß er gern sein Leben hingegeben hätte, um Onkel Isak damit zu retten.

Hatte er etwas gesagt, hatte er gerufen? Er saß wie im Fieberwahn, und begriff nichts. Es schien, als klänge ihm etwas in den Ohren nach wie das Echo seiner eigenen Stimme. Oder hatte er sich getäuscht.

Er fuhr zusammen. Aus der Ecke dort hinten erhob sich eine Stimme, die klang, als käme sie aus dem Grabe ... »Wenn du mich bitten willst, zu fliehen, kannst du dir die Mühe sparen. So ... so, Onni, also das ist aus dir geworden ... Und dein Vater war so ein ehrenhafter Mann ...«

Stille. – Einer der Gefangenen bewegte sich, schrammte mit den Stiefelabsätzen über den Boden und wimmerte im Schlaf. Ein anderer brummte etwas, spuckte aus und stieß einen unterdrückten Fluch hervor; dann war es wieder ruhig.

Onni empfand, daß jetzt der einzige Augenblick gekommen war, zu sprechen und sich zu verantworten. Dennoch brachte er kein Wort über die Lippen. Die Augen dort in der Ecke versengten all die armseligen Worte, nach denen er suchte. Es war, als ob sie schon im voraus alle kannten und nur antworteten: Du kannst das ruhig bleiben lassen, mir hilft es doch nicht mehr. Ich verfluche dich!

Lange Zeit verstrich. Er wußte, daß er nichts tun konnte, sondern alles geschehen lassen mußte. Mühsam erhob er sich, ging hinaus und weckte den Posten. Dann kehrte er zurück, schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf seinen alten Platz.

Stunde um Stunde verrann.

Onni Kokko saß reglos auf seinem Platz bei der Tür, das Gewehr auf den Knien, die Ellbogen auf dem schweren Kolben. Er fühlte, wie die Augen unablässig auf ihm ruhten und ihn bis zum Angstschweiß peinigten, hielt aber sein Gesicht fortgewendet gegen die Wand.

*

Endlich begannen die Sterne zu verblassen, langsam zog die Morgendämmerung herauf. Auf dem Hof draußen erwachten Stimmen und Schritte, kurze Befehle ertönten, Tritte auf den Treppen, und vom Nachbarhof kam rasselnd ein Geschütz hereingefahren. Kurze Zeit darauf öffnete der Fähnrich die Tür. Hinter ihm kam der Kapitän selbst mit eiligen Schritten. Er sah wie gewöhnlich düster und verbissen aus.

Ein Teil der Gefangenen schlief weiter. Die anderen setzten sich hoch und blickten stumpf und finster auf die Jägeruniformen Die grüne deutsche Jägeruniform, die die finnländischen Freiwilligen im Preußischen Jägerbataillon 27 trugen, das im Lockstedter Lager ausgebildet wurde..

»Aufstehen!« kommandierte der Kapitän und stampfte mit dem Fuß.

Die Gefangenen erhoben sich träg. Einige gähnten, reckten sich und kratzten sich am Kopf. Kapitän Karr stellte ein kurzes Verhör mit ihnen an, bei dem nichts außer ein paar wertlosen Aussagen und einigen gegenseitigen Beschuldigungen zutage kam. Darauf verkündete er das Todesurteil.

Ein unwilliges Murren erhob sich im Haufen. Irgendwelche Anzeichen von stärkerer Gemütsbewegung machten sich kaum bemerkbar; die meisten blieben mit gesenktem Kopf stehen und stierten stumpf unter ihrem wirren Haar hervor. Nur einer irgendwo im Haufen begann zu heulen und zu jammern.

»Einer von den Verwundeten wird freigelassen«, fuhr der Kapitän fort, und seine Augen suchten im Haufen.

Onni Kokko war nahe daran, aufzuschreien, denn der Kapitän zeigte auf Onkel Isak.

»Der alte Schuft da ist richtig«, sagte er. »Ich sehe, Ihr habt ein ordentliches Ding am Arm verpaßt gekriegt. Ihr bekommt einen Ausweis von mir und könnt auf die rote Seite hinüberlaufen. Grüßt die da drüben und bestellt, daß wir jedesmal, wenn einer unserer Unterhändler abgeschossen wird, sofort das ganze Rudel an die Wand stellen. Jeder bürgt für den anderen.«

Onkel Isak räusperte sich. »Ich denke nicht dran, irgendwohin überzulaufen«, sagte er.

»Wie Ihr wollt«, meinte der Kapitän.

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Onni stürzte auf den Hof hinaus, hockte sich auf den Brunnenrand und weinte.

Bald hernach hörte man ein schweres langsames Getrampel von Schritten. Es entfernte sich in der Richtung gegen den Viehstall und erstickte im Schnee. »Halt!« scholl ein Kommando herüber.

Er sah hoch. Die Artillerie war dabei, anzuspannen, und der Hof war voll von Leuten mit marschfertigem Gepäck. Hinter dem Stall jedoch, an dem hohen Steinfundament, standen die Gefangenen und warteten. Einige Soldaten begannen sie aufzustellen. In der Mitte des Gliedes sah man Onkel Isak.

»Freiwillige – fünfzehn Mann!« rief der Kapitän in den Hof.

Eine Stimme nahe beim Brunnen sagte: »Na, Onni, willst du nicht mitmachen beim Erschießen?«

Onni aber hörte nicht mehr, er rannte auf den Wald zu, tauchte zwischen den schneeverhängten Bäumen unter und verschwand. Er lief um sein Leben. Er wußte nicht, wohin, er wollte nur fort ... fort, um nichts zu sehen und zu hören. Er stieß sich an den Stämmen und stolperte über Wurzeln, riesige Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Er hielt nicht an, er mußte entkommen – weit, weit hinein in die stille weiße Welt. Als aber das Knattern einer Salve vom Hof herüber rollte, brach er zusammen.

Einige Soldaten hatten ihn beobachtet. Einer von ihnen folgte der Spur und fand ihn auf. Er hatte den Kopf in den Schnee vergraben und schrie. – Der Soldat nahm sich seiner an und brachte ihn mit Mühe zur abrückenden Truppe zurück. Niemand versuchte, ihn auszufragen. Man erlebte so viel in diesen Zeiten, und mehr als einer war plötzlich seltsam geworden.

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