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12

Kapitän Karr tobte: »Das fehlte uns noch, daß wir dies hier als Extraarbeit für die Nacht kriegten! Zwei Stunden schon macht uns diese verfluchte Bude zu schaffen, und jetzt fängt es an, dunkel zu werden.«

Er trat in der Kälte von einem Bein aufs andere und schlug die Füße gegeneinander, daß die Schäfte knallten. Dann nahm er seinen Feldstecher wieder hoch und beobachtete zwischen den Bäumen hindurch. Unverändert stand der Hof dort hinten. Aus den hohlen schwarzen Fensteröffnungen fielen die Schüsse mit gleicher Regelmäßigkeit wie zuvor, und schon konnte man in der zunehmenden Dämmerung ihr Aufblitzen erkennen. Im übrigen war alles gleichermaßen geheimnisvoll und verbarrikadiert und keine Bewegung drinnen im Haus. Nur auf dem Hofplatz wälzten sich ein paar Verwundete, hier und da reckte sich ein Arm hoch, und eine wild gewordene Kuh hatte sich im Stall losgerissen und rannte zwischen der Treppe und dem Brunnen hin und her. Unablässig hin und her. Irgendwelche Besserungen in der Gefechtslage waren nicht festzustellen. Aus dem Waldrand rings um den Platz knallte es schläfrig und planlos wie bisher, und die Leute, die bis zum Viehstall vorgedrungen waren, lagen müde und ratlos da und duckten sich in den Schutz seines hohen steinernen Unterbaus. Kaum schob einer die Gewehrmündung heraus, so fegte schon ein Geschoßhagel um die Hausecke.

»Schlagt doch die Düngerluke ein«, schrie Kapitän Karr einem Unteroffizier zu. »Laßt die Leute in den Stall kriechen, dann kommen sie näher heran. Dort sind keine Roten. Und beeilt euch, zum Teufel, wir müssen hier endlich fertig werden!«

»Verfluchte Schweinerei das!« wendete er sich zu einem Fähnrich, der neben ihm stand. »Mannschaft und Pferde sind zum Umfallen müde wie die Säcke, wir müßten Schlaf haben, wenn wir morgen früh weiterkommen sollen. Statt dessen sind wir mit der Artillerie hier mitten in der Einöde festgefahren und da sitzen wir nun. Alles wegen dieser vermaledeiten Bude da drüben! Und wenn wir wirklich in diesem Gelände ein paar Kanonen in Stellung kriegen, was nützt das? Schießen wir die Dreckbude in Brand und räuchern sie aus, dann haben wir selbst kein Nachtquartier. Satansbrut ...«

Es war so eine Art von altmodischen, massiven Donnerbüchsen, die Kapitän Karr diesen Kummer bereiteten. Er hatte Befehl bekommen, sein Artilleriekommando auf kürzestem Wege durch ein fast unbewohntes Gebiet zu den wichtigen Stellungen im Südosten zu führen. Ohne Aufenthalt hatte man in vierundzwanzig Stunden dieses unwegsame Gelände überwunden, in dem sich die schweren Geschütze festfuhren und die Pferde bis aufs Blut gepeitscht werden mußten. Nun aber, kaum einen halben Tagesmarsch vom Ziel entfernt, waren die Kräfte auch zu Ende. Und gerade jetzt traf man auf unerwarteten Widerstand in diesem Einödbezirk, der gar nicht zum Kampfgebiet gehörte, und von dessen Bevölkerung man eher hätte annehmen können, daß sie weiß als daß sie rot sei, soweit man überhaupt von Bevölkerung sprechen konnte. Man stieß auf drei kugelspeiende Höfe, und das waren ausgerechnet die, die man zum Nachtquartier ausersehen hatte. Die roten Besatzungen darin waren schwach, aber zäh. Während man mit den beiden ersten ziemlich rasch fertig wurde, stockte es beim dritten. Dies Bauernhaus war ein gewaltiger, langgestreckter Kasten; groß wie eine Schule und von blockhausartigem, starkem Bau. Das Geheimnis seiner Widerstandskraft aber steckte in den verdammten alten Riesenöfen, die es außer in der großen Wohnstube auch in allen anderen Räumen nahe beim Fenster zu geben schien. Auf denen hatten sich die Roten eingenistet und schossen nun aus dem Dunkeln durch die zerbrochenen Fensterscheiben, selbst unsichtbar und für Schüsse unerreichbar. Ein paar Versuche, die verbarrikadierte Tür mit Handgranaten zu sprengen, waren gescheitert: die Angreifer kamen nur einige Schritte weit auf den Hofplatz und fielen.

Nun fing aber der Stall an, quer über den Hof weg Kugeln zu speien. Einigen Männern war es gelungen, einzudringen und in die Düngerluke ein Maschinengewehr zu postieren.

Endlich schob sich eine Stange mit einem weißen Fetzen aus einem der Fenster, das Schießen wurde schwächer und hörte allmählich auf. So still wurde es plötzlich, daß man hörte, wie drüben das schwere Türschloß knarrte, als von innen eine Hand den Schlüssel umdrehte. Nur die irre Kuh, die am Brunnen stand und mit weißlichen Augen in die Luft starrte, brüllte in kurzen Abständen, und vom Hofplatz stieg ein schwaches Wimmern auf.

Die Tür wurde ein wenig geöffnet, aber zögernd und ohne daß jemand sichtbar wurde. Kapitän Karr sandte einen Unterhändler vor. – Schon hatte der Mann fast die Treppe erreicht, da krachte ein Schuß aus dem Hausgang, und er stürzte vornüber in den Schnee. Die Tür schlug wieder zu, und die Stange mit dem weißen Lappen wurde eingezogen.

Kapitän Karr ballte die Fäuste. »Bringt die Gefangenen vom Nachbarhof her! Wir setzen unsere Leute nicht mehr aufs Spiel.«

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Onni Kokko hatte heute keinen glücklichen Tag. Es war keine richtige Fahrt in den gelben Schaftstiefeln, und gegen seine Gewohnheit und sonstige Art hatte er sich nicht einmal wie die anderen Draufgänger an der Attacke auf den Kuhstall beteiligt. Er lag ein Stück vom Kapitän entfernt, ganz verborgen am Waldrand. Von Zeit zu Zeit sandte er aufs Geratewohl einen Schuß in eine der schwarzen Fensterhöhlen, die wie bösartige Augen aus der weißlich-grauen Schneedämmerung herüber starrten. Am liebsten gerade dann, wenn es im Dunkel aufblitzte, mit sicherem Korn auf den rötlichen Schein. Jedoch merkte er bald, daß er immer zu spät kam. Der Blitz war schon erloschen, und nur das beunruhigende schwarze Loch gähnte ihm entgegen. Außerdem war die Entfernung von hier zu weit, das wußte er genau.

Nachdem der Unterhändler feige niedergeschossen worden war, wurde das Feuer der Weißen wieder heftiger, und vom Viehstall her setzte ein zweites Maschinengewehr mit wütendem Rattern ein. Auch Onni schoß schneller, aber nur, weil alle anderen es taten. Er spürte selbst, daß er heute keine richtige Unternehmungslust hatte. Müde und zerschlagen war er wie die anderen, aber das allein war es nicht – es steckte etwas Besonderes dahinter. Der Schatten im Fenster, vor einigen Tagen, der ihm die Hand gelähmt hatte – es schien, als ob er gerade jetzt wieder aufgetaucht sei. Er sah ihn nirgends, aber er fühlte ihn überall um sich; er huschte im Zwielicht um den Hof und erfüllte die Luft rings um ihn mit einem Angstgefühl. Er segelte wie ein unheimlicher dunkler Vogel über den Wald, stand reglos neben ihm und sah auf ihn nieder. Ließ er sich jetzt herab ... setzte er sich auf seinen Rücken und schlug ihm die Krallen ins Genick? ... Was wollte er, woher kam dieser Alpdruck? Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und dennoch rann ihm unaufhörlich der Schweiß von der Stirn. Immer stärker befiel ihn diese Angst und drückte ihn förmlich zu Boden. Er war furchtsam heute, zum zweitenmal, seit er ein Gewehr trug. Oder war er krank? Mit Mühe zwang er sich, ein paar armselige, unsichere Schüsse abzugeben.

Irgendwas Teuflisches war dort drüben im Spiel, bei dem grauen Licht und den starren schwarzen Fensterlöchern – als ob diese Fenster allesamt nur auf ihn stierten, als ob sie ihm etwas anhaben wollten! Er hatte Furcht vor ihnen. Und die Schüsse von dort klangen so seltsam düster und rätselvoll, als ob sie ihm etwas zuraunen wollten.

Jetzt brachte man die Gefangenen vom Nachbarhof. Sie wurden am Waldrand in einer Reihe aufgestellt, und der Kapitän stellte sich mit der Pistole in der Hand vor sie hin. »Wer nicht gehorcht, wird niedergeknallt!« erklärte er vorweg.

Dann wendete er sich an den ersten im Glied. Es war ein langer, zerlumpter Arbeiter, so ein grämlicher, dürrer Kerl mit einem Gesicht, in dem nichts als eine gelbsüchtige, vergrämte Müdigkeit stand. – Merkwürdig, woran erinnert er mich bloß? dachte Onni.

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»Ihr werdet die Tür dort mit einer Handgranate einschmeißen«, befahl der Kapitän. »Geht Ihr?«

Der Arbeiter erwiderte kein Wort. Er tat so, als hätte er gar nichts gehört, sah nur zu Boden und seufzte.

»Geht Ihr?« schrie der Kapitän.

Wieder kam keine Antwort. Erst als der Schuß krachte, entfuhr ihm ein heiserer Laut, der wie »Jesus« klang. Der Kapitän stieg über die Leiche weg zum nächsten Gefangenen.

»Na – geht Ihr?« fragte er mit dumpfer Stimme und hob die Pistole.

»Ich helfe keinem Schlächter«, antwortete der Gefangene. Kapitän Karr schoß ihn nieder.

Erst der dritte war willig. Ein untersetzter, gutgebauter Mann – scheinbar ein Führer – in hellem Zeug. Er war vor Schreck kreidebleich im Gesicht. »Ich gehe, ich gehe ...« sagte er.

»Vergeßt aber ja nicht, daß Ihr zehn Gewehrläufe im Rücken habt, und bei der geringsten Drehung nach rückwärts seid Ihr eine Leiche. Es lohnt sich also nicht, die Handgranaten gegen uns zu werfen. – Der Feldwebel soll ihn ausrüsten! Aber fix.«

Der Mann wurde im Laufschritt zum Stall gebracht, bekam vom Feldwebel seine Anweisungen und außerdem zwei schwere Handgranaten in die Hand. Mit schlotternden Knien kam er hinter der Hausecke vor, aber schon nach den ersten Schritten fiel er unter den Kugeln seiner eigenen Leute.

Der vierte mußte wieder niedergeschossen werden. Der fünfte war ein Rowdy mit breiten Kiefern und frechem Aussehen – sonderbar, auch er schien Onni an irgend etwas zu erinnern.

»Es lebe die Revolution!« schrie er und spuckte dem Kapitän ins Gesicht. Wieder knallte der Schuß.

Die Reihe begann zusammenzuschmelzen. Der Sechste aber gehorchte wieder, und es glückte ihm, die Tür anzusplittern. Leider warf er aus zu weitem Abstand, und die Granate krepierte vor der Treppe. Dann wurde auch er von den eigenen abgeschossen, und der Widerstand dauerte fort.

Die beiden nächsten mußte der Kapitän, der nun schon das dritte Magazin in die Pistole schob, wieder umlegen. Der Folgende, ein alter Mann, sagte: »Ich versteh so wenig von solchem Bombenwerfen, aber wenn der Herr meint, dann kann ich ja hinüber gehen und mit ihnen reden.«

»Gut«, sagte der Kapitän, »geh hin und sag ihnen, wenn sie sich nicht binnen zehn Minuten ergeben haben, lasse ich sie mit Artillerie in Klump schießen. Oder frag, ob sie lieber ein paar Brandbomben ins Dach haben und wie Läuse ausgeräuchert werden wollen. Zehn Minuten!«

 

Der Mann ging. Mit erhobenen Armen und gestikulierend wanderte er Schritt für Schritt über den Hofplan. »Ich bin ein Roter, ich bin ein Roter!« brüllte er.

Ohne niedergeschossen zu werden, erreichte er das eine Fenster und richtete seinen Auftrag aus. Eine Weile stand er da und wartete; wieder wurde es vollkommen still rings um den Hof. Dann wurde ihm von drinnen etwas zugerufen, und er kehrte zurück.

»Sie wollen sich ergeben«, sagte er.

In der Tat mußten die Roten am Ende ihrer Kräfte sein. Dumpf aufpolternd kam ein Gewehr nach dem anderen aus dem Fenster geflogen, und einige Kerle taumelten wie betrunken auf die Treppe heraus. Kaum konnten sie noch die Hände hochheben; ein erbarmungswürdiges Bild – schmutzig, stumpf und zerbrochen.

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Onni Kokkos Angstgefühl wuchs, sein Herz schlug immer wilder, während er auf die Tür starrte, aus der die Gefangenen kamen. Da waren schon zwei: Piilonen und Hellman – würden noch mehr dabei sein?

Nun kam ein neuer Haufe herausgetorkelt ... nein, von denen kannte er niemand! Es schien keiner mehr hinterher zu kommen. War nun Schluß? War nun wirklich Schluß damit?

Er lief über den Hofplatz und drängte sich an einigen Soldaten vorbei in die Tür. In der Vorstube stolperte er über einen toten Körper, der mit dem Kopf an der Schwelle lag. Kalle Mäkinen war es. Er lag auf dem Gesicht, den Mund in einer Blutlache, als ob er daraus getrunken hätte. Mit einem häßlichen Grinsen, wie wenn es Branntwein sei, und sein Gesicht sah haargenau aus wie an jenem Morgen bei der Scheune. Sicher hatte er den Parlamentär niedergeschossen.

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»Sind nun alle raus?« rief irgendwo eine Stimme. Und eine andere antwortete: »Hier liegen noch einige Tote und Verwundete auf den Öfen. Und oben auf dem Boden stecken noch so'n paar alte Kerle, die keine Puste mehr haben, runter zu kommen. He, eilt euch, ihr da oben!«

»Jetzt wird es geschehen!« durchzuckte es Onni. Er brauchte nur auf die Füße des ersten Mannes zu blicken, der da die Bodentreppe herabtaumelte, und er wußte: das war Onkel Isak.

Einen Augenblick stützte er sich gegen den Türpfosten, um nicht zu fallen. Dann rannte er durch die Tür hinaus und fort über den Hof ...

»Stop! Wohin läufst du denn so wild?« Der Kapitän rief ihn an. »Spar lieber deine Kräfte, denn du als Jüngster sollst heut nacht Gefangenenwache haben. Mit dem Erschießen ists heute abend doch zu spät; jetzt wird geschlafen.«

Onni trat ganz dicht an ihn heran. »Nein, Herr Kapitän, nein!« sagte er verzweifelt, »ich will sie nicht bewachen. Nicht diesmal!«

»Befehl ist Befehl, damit basta«, antwortete der Kapitän kurz. »Aber da du heute so jämmerlich dran bist, kannst du mit ihnen im Haus sitzen und brauchst nicht draußen zu frieren. Hier nahebei an der alten Baracke bleibt ein Außenposten. Vergiß aber nicht, drinnen Licht brennen zu lassen, damit du nicht überrumpelt wirst. Der Fähnrich wird später nachsehen. Marsch ab und gute Nacht!«

Es war schon dunkel. Eine kalte sternklare Nacht zog über dem stillen Waldhof herauf. Überall beeilte man sich, zur Ruhe zu kommen; die Gebäude wurden ausgekehrt, eine Verbandstelle eingerichtet, man stellte Wachtposten aus und legte eine Telephonleitung zum Nachbargehöft. Endlich fuhr auch die letzte Kanone auf den Hofplatz ein. Die Pferde wurden ausgeschirrt. Und dann wurde es still.

Draußen am Brunnen stand Onni Kokko. Er war im Begriff, seinen Posten zu beziehen, aber einen Augenblick noch lehnte er den Arm gegen den eiskalten Zugbalken und legte den Kopf darauf. Nein, dachte er, Finnland hat nicht so große Wälder. Man trifft sich doch ...


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