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10. Um Tod und Leben

Dick Dabny hatte kaum das Wort »Schlangenbiß« gehört, als er auch schon in seine Tasche griff. »Meine Buschmedizin!« rief er. »Die Indianerkräuter!« Er zog das Kästchen heraus, das ihm Miauis rote Brüder als unfehlbares Mittel zum Abschied gegeben hatten. Prieto griff schnell nach den Kräutern. Im Nu hatte der alte Gaucho die blaugrünen Stengel Carrey zwischen die Lippen geschoben. »Ich kenne diese Fälle,« sagte er. »Die Ärzte wollen nichts davon wissen, aber mancher Kranke, dessen Fall für verzweifelt galt, wurde durch Indianerkräuter gerettet.«

»Natürlich, man darf nicht zu skeptisch sein,« sagte Dick Dabny. »Wie einen Schatz drückte uns die Deputation das Kästchen in die Hand.« Kenyon hegte wenig Hoffnung. Da er aber sah, daß hier nichts mehr zu verlieren war, so mochte immerhin der Versuch mit den Kräutern gemacht werden. Carrey hatte gierig darnach gegriffen.

»Wie furchtbar, wenn er jetzt sterben müßte!« sagte Kenyon. Er brachte es nicht übers Herz, den Kranken mit einer einzigen der vielen Fragen zu quälen, die ihm seit Wochen und Monaten keine Ruhe ließen. Hart vorm Ziel schien sich noch einmal alles gegen ihn verschworen zu haben. Dick Dabny war weniger feinfühlig. »Nach dem Versteck sollten wir immerhin fragen,« sagte er. »Der Mann hat ja selbst gesagt, er sei bei ungetrübtem Bewußtsein. Leider kann ich nicht Französisch.«

»Warten wir!« sagte Kenyon. »Und dann muß hier noch Duponne stecken.«

Doch Prieto schüttelte den Kopf. »Längst im Freien! Dieser Keller hat verschiedene Ausgänge. Ich hörte, wie er sich mit hastigen Schritten entfernte.«

Arizanas und Bento brachten die Bestätigung. Sie hatten Duponne hundert Schritt unterhalb der Steintrümmer über das freie Feld eilen sehen. Er war zu dem Indianerlager gerannt, von dessen Rundfeuer noch immer gelber Rauch qualmend emporstieg.

»Dann wird's nicht lange dauern,« sagte Dick Dabny, »und er kommt mit den Kannibalen, zu denen er sich aufgemacht hat, zurück. Diesem noblen Charakter ist nachgerade alles zuzutrauen – auch ein Angriff auf diesen Klosterkeller. Er hat weder ›danke!‹ gesagt dafür, daß wir ihn verbunden und hierher gebracht haben, noch hat er sich um seinen langjährigen Mithöhlenbewohner gekümmert, obwohl er sehen mußte, wie es um den alten Vollbart stand. Nein, er hat ihn noch in letzter Minute hart angelassen, hat ihm gedroht, er solle nichts verraten. Um was anderes kann sich's handeln als um das Vermögen meines Bruders? Dieser Monsieur Carrey ist, wenn alles stimmt, was wir gehört haben, geradezu der Hüter des Schatzes gewesen. Was ist natürlicher, als daß wir ihn fragen?«

»Kommen Sie!« sagte Kenyon leise und führte Dabny ein Stück zurück. »Carrey schläft. Daß ihm Schweiß auf der Stirn steht, darf als günstiges Zeichen angesehen werden. Vor allem hat er nicht wieder geblutet. Bei derartigen Schlangenbissen stellen sich nicht nur Blutungen aus Nase und Ohren, sondern auch solche aus Augen und Mund ein. Ich kann es wohl glauben, daß die Eingeborenen die seltsame Wirkung gewisser Drogen kennen, die uns Weißen unbekannt sind. Diese Kenntnisse mögen sich seit Generationen vererbt haben und geheimgehalten werden. Hoffen wir, daß diese Buschmedizin aus der großen Apotheke des Urwalds ein solches Wundermittel ist!«

»Und wohin soll die Reise gehen?« fragte Dick Dabny. Er hätte sich am liebsten sofort daran gemacht, die ganze Höhle nach einem Versteck abzusuchen. Aber Kenyon riet, fürs erste lieber einmal Lebensmittel zu suchen, deren Carrey nicht übermäßig viel in seinem weltfernen Schlupfwinkel angehäuft hatte. Was man an hartem Casava, an jener Art Brot aus der Maniokwurzel, und an Charqui – gedörrtem Fleisch unbekannter Herkunft – fand, genügte notdürftig, um eine einzige Comida herzurichten, über welche die Tekunas mit Heißhunger herfielen. Es machte ihrer Gesinnung Ehre, daß sie dabei Leoncito nicht vergaßen, der hilflos unweit der Mauer hockte, nachdem er einen Versuch, sich auf allen vieren an seine Stammesgenossen heranzuarbeiten, vor Schmerzen aufgegeben hatte.

Carrey hatte sich wunderbar erholt, die Indianerkräuter hatten ihn gerettet. Als Kenyon, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, sich ihm näherte, versuchte er sich aufzurichten. Er war dazu noch zu schwach, aber das Sprechen machte ihm keine Mühe mehr. »Wie soll ich Ihnen danken, meine Herren?« sagte er. »Ich war schon vom Tode gezeichnet. Fatalistisch sah ich das Ende herannahen. Da kamen Sie – und nun bin ich gerettet!«

»Schonen Sie sich, Carrey! Sie wissen nicht, wer wir sind?«

»Ich weiß es, weiß es von Duponne, der kurz vor Ihnen kam. Und wenn er mir's nicht zugeschrien hätte, – so hätte ich es gesehen, wie es Duponne gesehen hat, als er vorige Nacht mit Ihnen in einer Hütte schlief.«

»Wie das?« fragte Kenyon erstaunt.

»An der sprechenden Ähnlichkeit! An der Ähnlichkeit mit dem gelehrten Herrn, der hier vor vielen Monaten Einkehr hielt und am Fieber starb – Mister Edward Kenyon ...«

»Hier – am Fieber gestorben?« Harald Kenyon zuckte schmerzlich zusammen. Er preßte den Kopf zwischen seine Fäuste. »Ist es – die Wahrheit, Carrey?«

Der Bärtige nickte ernst. »Er verfiel in Fieber an dem Morgen, als er nach Loreto aufbrechen wollte. Es steckte wohl schon in ihm, denn er war schon lange in fieberverseuchter Gegend herumgezogen, als er uns hier fand. Verlor auch gleich die Besinnung und starb in der zweiten Nacht. Können seine Instrumente noch sehen, die hier in der Höhle liegen. Aber Sie müssen sich eilen.«

»Und der Begleiter meines Bruders? Erlag auch er dem Fieber?«

»Starb,« antwortete Carrey. »Hab' ihn nicht sterben sehen. Habe den Professor begraben. In der Quebrada santa – so hieß die Schlucht bei dem Eremiten, der vor uns hier wohnte. Ist aber recht wenig heilig. Sie kennen die Gallinazos, Herr – die schwarzen Kahlköpfe?«

»Aasgeier?« rief Kenyon entsetzt.

Der Bärtige nickte. »Machen reinen Tisch, die Chulos (andere Bezeichnung für die Geier, die im Volksmund auch Galembo heißen). Und die Quebrada ist tief.«

Da wußte Kenyon genug. Diese unersättlichen Raubvögel stürzten sich auf jeden Leichnam. Er hatte aus Carreys Worten aber auch herausgehört, daß es mit dem natürlichen Tode Samuel Dabnys nicht seine Richtigkeit hatte. Er sagte es Carrey auf den Kopf zu: »An dem Begleiter meines Bruders ist ein Verbrechen begangen worden. Er besaß Edelsteine von hohem Wert. Wir wissen, daß die kostbaren Steine in Ihrer Hand sind, Carrey. Ihr Gefährte Duponne handelte mit Diamanten, die er von Ihnen hatte. Ist Duponne der Mörder?«

Carrey ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Sie sollen alles haben,« antwortete er ausweichend. »Wenn ich aufstehen kann, werde ich mit Ihnen von hier fortgehen. Sie werden nicht lange warten.«

»Reden Sie von den Marubos, zu denen Duponne geeilt ist?«

Carrey nickte. »Es sind ihrer fast hundert Köpfe. Sie sind feige, aber einmal werden sie kommen.«

»Wir fürchten uns nicht,« sagte Kenyon. »Aber warum wollen Sie uns das Versteck nicht zeigen? Warum zeigten Sie es nicht Duponne?«

»Es wäre mein Tod gewesen. Ich konnte auch nicht mit ihm fliehen. Man hätte uns ergriffen. Ich wußte, daß Sie kommen würden.«

Kenyon suchte nach einem Zusammenhang in den stoßweise hervorgebrachten Worten. »Sie schickten,« sagte er, »Duponne fort, um Pässe zu holen, dann wollten Sie mit ihm fliehen, nicht wahr?«

Die gequält herauskommende Antwort lautete: »Ich wollte Zeit gewinnen. Duponne sollte alte Pässe abstempeln oder erneuern lassen. Ich dachte, daß er nicht wiederkomme.«

»Damit geben Sie zu, daß Sie – Sie, Carrey! – in den alleinigen Besitz des Raubes kommen wollten.«

»Nicht so, Herr! Ich wollte, daß mir Duponne nicht länger an der Gurgel saß. Ich habe viel gelitten.«

»Da ist so manches, was ich nicht verstehe, auch wenn ich Ihnen jedes Wort glauben wollte. Warum nennen Sie uns nicht das Versteck des Schatzes?«

»Er ist nicht hier – – Duponne weiß das nicht.« Carrey versuchte sich aufzurichten, aber er war noch zu schwach. Kraftlos sank er auf seine Matte zurück.

Als Kenyon das, was er mit Mühe aus Carrey herausbekommen hatte, Dabny und Prieto übersetzte, begegnete er einem ungläubigen Lächeln. »Das mit dem gemeinen Mord an meinem armen Bruder, das mag wahr sein,« sagte Dick Dabny. »Alles andere halte ich für aufgelegten Schwindel. Diese beiden Waldmenschen sind einander würdig, wenn sie sich auch gelegentlich in den Haaren liegen. Keiner hat dem andern den Alleinbesitz der geraubten Diamanten gegönnt. Das ist des Rätsels ganze Lösung. Ich jedenfalls setze nicht einen Fuß aus diesem Keller, bevor ich nicht mein Erbteil angetreten habe!«

»Das gar nicht hier liegen soll!« sagte Kenyon scharf. »Um der toten Schätze willen wollen Sie nicht nur Ihr Leben, sondern auch das der uns anvertrauten Leute aufs Spiel setzen?«

»Soweit wird es nicht kommen. Sie hörten ja, daß diese Marubos ein ganz feiges Gesindel sind. Noch haben wir unsre guten Flinten. Knien Sie dem Vollbart ordentlich auf den Pelz! Drohen Sie ihm, dann wird er die Sprache schon wiedergewinnen.«

Kenyons Blick fiel auf Bento. Der Knabe hatte fieberische Augen. Auch die Tekunas waren hart mitgenommen. Die Verpflegung war zu dürftig gewesen. Die Marubos hatten, wenn sie zum Angriff vorgingen, ein leichtes Spiel. Wie lange Carreys hinfälliger Zustand sie noch zwingen werde, hier zu bleiben, war nicht abzusehen. Und insoweit mußte Kenyon seinem Landsmann Dick Dabny recht geben: es war unbedingt nötig, daß hier an Ort und Stelle noch alles aufgeklärt wurde, was über das traurige Schicksal der beiden Männer, an deren Tod nicht mehr zu zweifeln war, irgendwie Kunde geben konnte. Die Instrumente mußten geholt, die hinterlassenen Reichtümer Samuel Dabnys, über dessen Ende noch Dunkel herrschte, ans Licht gebracht werden. Umsonst war der große Aufwand der Reise aufgebracht, wenn sie dieser Kartause den Rücken kehrten, von der sie nichts gesehen hatten als elende Reste und einen kranken Mitschuldigen Duponnes, und in die, kaum daß man abgezogen war, die wilden Horden unter Duponnes Führung hereinbrechen und das Unterste zu oberst kehren würden. Duponne auf der gierigen Suche, nach den Schätzen zu fahnden, die nach Carreys Worten nicht einmal in dieser Höhle waren, würde die letzten Spuren tilgen, die noch an die teuren Vermißten erinnerten.

Plötzlich sagte er anderen Sinnes: »Gut, ich bleibe! Bleibe, bis Carrey sein Geständnis vervollständigt hat. Aber einer muß zurück.«

»Daran wollte ich erinnern,« sagte Prieto. »Ich werde reiten.«

»Das wollen Sie tun? Auf dem angestrengten Klepper? Er wird unterwegs zusammenbrechen.«

»Dann soll es mir nicht darauf ankommen, zu Fuß Hilfe herbeizuholen. Man kann mir dann an den Stiefeln die Spuren von ein paar Reisetagen mehr ansehen – das ist alles.«

Bevor er das Pferd sattelte, empfahl er noch, Leoncito nicht aus den Augen zu lassen. – »Unbesorgt!« antwortete Kenyon. »Den Burschen nehmen wir in die Höhle. Es ist nötig, daß er uns die verschiedenen Ausgänge zeigt, die aus dem Fuchsbau ins Freie führen.«

Doch als Prieto in den Wald eingebogen war und Kenyon sich nach Leoncito umsehen wollte, kam ihm Bento, obwohl sich der Junge kaum auf den Beinen halten konnte, mit der Nachricht entgegen, daß der Marubo verschwunden sei. Sein Platz an der Mauer war leer.

Kenyon suchte mit dem Fernglas die Lichtung ab und entdeckte den Indianer, der sich nur kriechend fortbewegen konnte, unschwer neben einem Busch, der etwa auf halbem Wege zu dem Lager der Marubos lag. »Der Zähigkeit dieses Burschen,« sagte er zu Dick Dabny, »kann man seine Anerkennung nicht versagen.«

»Eine undankbare Brut. Läßt sich tragen und füttern, und nachdem er für zwei gegessen hat, geht er zum Feinde über. Na, aus der Schule kann er nicht viel plaudern. Daß wir keine Eßvorräte haben, das weiß Duponne längst, der die Augen hell gehalten hat, als er bei uns in der Hütte lag. Wenn die roten Teufel geduldig sind, dann brauchen sie nur zu warten, bis uns der Hunger mürbe gemacht hat. Nun, ich will den Teufel nicht an die Wand malen.«

Nach Verlauf von einer Stunde hatte Dabny ein paar Papageien geschossen. Dann kam die Dunkelheit. Das Nachtmahl war noch karger als die Comida. Die letzten Bissen Casava wurden brüderlich geteilt. Als Kenyon die Tekunas an den Stengeln eines Kaktus kauen sah, stand es bei ihm fest, daß er die ermatteten Leute nicht mit nächtlichem Wachdienst quälen durfte. Er wachte abwechselnd mit Dick Dabny. Die Hoffnung, daß Carrey noch vor Tagesende zu sich kommen werde, war eitel gewesen; der Bärtige war in tiefen Schlaf verfallen, aus dem ihn nichts erwecken konnte.

»Wir wären auch nicht weit mit ihm gekommen,« meinte Dabny. »Überall höre ich es in den Sträuchern knacken. Ich bin überzeugt, die roten Freunde Duponnes haben unsere Rückzugsstraße besetzt.«

»Sie wären uns auch auf den Fersen gewesen, wenn wir uns zum Aufbruch entschlossen hätten,« sagte Kenyon. »Duponne wird niemals dulden, daß die Diamanten Beine bekommen; er wähnt sie in dieser Höhle und liegt auf der Lauer.«

»Damit wollen Sie sagen, daß wir unter keinen Umständen unbehelligt aus den Katakomben wieder hinausgelangen? Eine schöne Aussicht, besonders, wenn man damit rechnen muß, daß Prieto den roten Spitzbuben in die Arme läuft.«

»Das wird er nicht; dazu ist sein Vorsprung zu groß. Die Marubos haben nicht ein einziges Pferd.«

»Morgen, sobald es hell wird,« sagte Dabny nach einer Weile, »will ich mich an die Schlucht da drüben heranschleichen. Es sitzen Aasgeier dort. Heute war kein Büchsenlicht mehr.«

Kenyon unterdrückte einen schmerzlichen Seufzer. In jener Schlucht mochte vielleicht auch der Bruder Dick Dabnys geendet haben. Carreys Worte hatten darauf hingedeutet, aber Kenyon hatte Dabny noch nichts davon gesagt.

»Es sind Guacharos,« fuhr Dick ahnungslos fort, »genau solch freundliche Tierchen, wie sie damals unter mir lärmten, als mich Itchi und Sin Fo übers Geländer geworfen hatten. Nicht fett, aber gefräßig, und besser, wir verzehren sie, als sie uns. Nun, Sie reden nicht, Kenyon? Wollen Sie schlafen?«

Kenyon hatte sich fester in seine Decke gehüllt. Er schüttelte den Kopf. Er schlief auch nicht. Die ganze Nacht wachte er. Die Tekunas ächzten, ihre Totumas lagen geleert am Boden. Von den Marubos selbst war nichts zu sehen, nur ihr Feuer wurde die ganze Nacht unterhalten.

Sie machten sich dafür umso unliebsamer bemerkbar, als beim ersten Frührotschein Dick Dabny, die Flinte im Arm, seinen Pirschgang antreten und gleichzeitig die Tekunas in der Nähe ein Sumpfloch oder eine Pfütze suchen wollten, um Wasser herbeizuschaffen. Sie hatten kaum den Eingang zu den Kellern der Kartause verlassen, als ein halbes Dutzend Pfeile vor ihnen niederschwirrte.

»Da haben wir's!« sagte Dick Dabny, der sich gleich den andern ebenso schnell wieder zurückzog, wie er ans Licht gekrochen war. »Das nennt man Sperrfeuer!«

Seine Vermutung, daß die Marubos die Nacht dazu benutzt hatten, die Trümmer der Kartause im nahen Umkreis abzusperren, hatte sich als richtig erwiesen.

Mit Arizanas versuchte Dick Dabny dann durch den rückwärtigen Ausgang der Höhle, den gestern Duponne benutzt hatte, und der nachtsüber mit einer Steinplatte von innen verrammelt worden war, das Freie zu gewinnen. Aber auch hier lauerte, keine vier Schritt weit vor der Öffnung, ein kriegerisch bemalter Marubo. Mit einem einzigen Satz war Dick Dabny neben ihm, und ehe der erschrockene Wilde, der bis dahin an einem Grashalm gekaut hatte, auch nur einen Laut von sich geben konnte, saß ihm auch schon Dick Dabnys gut verpaßter Boxerhaken in der Seite. Er überschlug sich und blieb liegen, worauf ihm Dick die Totuma Wasser abnahm und mit ihr und der Wurflanze des, wie er sagte, für zwanzig Minuten ins Traumland geschickten Jünglings in den Keller zurückkehrte.

Leider ließen sich keine weiteren Breschen auf dieselbe schlagfertige Art in die Kette der Angreifer legen. Die Umzingelung war vollkommen. Der naheliegende Gedanke, sich durch einen Ausfall die Freiheit zu erkämpfen, mußte als aussichtslos verworfen werden. Duponne hatte eine zehnfache Übermacht in der Hand, und den wenigen Gewehren und Revolvern hatten sie Giftpfeile entgegenzusetzen.

Carrey war erwacht und so weit gekräftigt, daß er sich erheben konnte. Er wehrte ab, als Kenyon ihn stützen wollte. Seine erste Frage lautete: »Weiß Duponne, daß ich lebe?«

Kenyon verneinte und fügte hinzu: »Wir sind umzingelt.«

Carrey nickte, ohne Überraschung zu zeigen. »Ich sagte, sie würden kommen.«

In diesem Augenblick stürzte Arizanas ganz verstört auf Kenyon zu und rief: »Die Marubos schleppen Zweige herbei! Viel dürre Zweige!«

»Ausräucherung!« Dick Dabnys Miene wurde nun doch ernst. »Da hilft kein Boxen mehr. Kenyon, ich beschwöre Sie, reden Sie dem alten Sünder Carrey ins Gewissen! Er soll die Steine herausgeben. Ich werde dann mit diesem Scheusal Duponne unterhandeln.«

»Brächten Sie es übers Herz, die Schätze zu opfern, Dabny?«

»Sehen Sie einen anderen Ausweg? Mit dem Hunger und Durst hätte ich's zur Not aufgenommen – bis Entsatz kommt. Aber bei lebendigem Leibe ausgeräuchert werden, das zwingt zu schnellem Entschlusse.«

»Der ist nötig,« sagte Kenyon. »Wir haben nicht an uns selbst zu denken. Sehen Sie Bento, sehen Sie unsere Gefährten an, Dabny! Alle tragen sie den gleichen Ausdruck des Hungers. Können Sie das mit ansehen und an Ihre Diamanten denken?«

»Ich tue es, halten Sie mich für schlecht? Aber ich sehe ein, daß Sie recht haben. Ich will opfern, was ich opfern muß.«

»Das ist schon ein Wort, Dabny. Aber man kann als Lösegeld nur das bieten, was man besitzt. Carrey sagt, daß er die Steine nicht in diesem Keller versteckt hat.«

»Dann in einem Nebenraum, in einem der vielen Gewölbe. Bringen Sie ihn endlich zum Geständnis, Kenyon! Lange fackeln die roten Teufel nicht.«

Kenyon beugte sich zu Carrey. Er sagte ihm, daß Dabny entschlossen sei, sich den freien Abzug zu erkaufen. Nur die Edelsteine müsse er vorher haben, dann wolle er mit Duponne verhandeln.

»Das ist unmöglich,« antwortete Carrey. »Aber nehmen Sie dies hier« – und er nestelte an seinem Hemd, aus dessen Innenseite er ein Stück Papier herauszog. Dabei zerriß das mürbe Leinen, und eine Narbe kam zum Vorschein. Eine seltsame Narbe, in der Kenyon betroffen ein untrügliches Kennzeichen erkannte. »Lesen Sie!« sagte Carrey. »Prägen Sie sich die Zeichnung genau ein. Sie werden Sie in ihren Strumpf stecken – für den Fall, daß Duponne Sie einer genauen Durchsuchung unterwirft. Aber er wird nicht die Sohle Ihres Fußes untersuchen. Es ist nur für alle Fälle! Nun, warum sehen Sie sich die Zeichnung nicht an? Es ist die Hütte – das vorn ist die Hütte, – in der Duponne Sie vor zwei Nächten erkannt hat. Und dann der Barrigudabaum ... die genaue Schrittzahl ...«

Kenyon blickte nicht mehr auf die eingebrannte Narbe, in der er jenes Zeichen erkannt hatte, das den französischen Sträflingen von Guyana und der Teufelsinsel eingebrannt wird. Er wußte nun, daß er in Carrey einen entflohenen Sträfling vor sich hatte. Und dem sollte er ein Wort glauben, sollte er trauen? Trotzdem betrachtete er die Zeichnung genau. Er begriff, aber er wußte noch nicht, was Carrey vorhatte.

Carrey las das Mißtrauen auf Kenyons Gesicht. Er sagte: »Sie haben mir das Leben gerettet, Sie und Ihr Freund. Ich will versuchen, das Ihre zu retten.«

»Sie?«

»Kommen Sie! Ich werde mit Duponne reden. Aber verstecken Sie das Papier!«

»Was wollen Sie ihm sagen? Was wollen Sie tun?«

»Sie werden es hören.«

Kopfschüttelnd steckte Kenyon das Papier fort. Dabny war ungeduldig geworden. »Das sieht ganz so aus, als wolle dieser Carrey mit Ihnen hinausspazieren. Glauben Sie nicht, daß das nur eine Falle ist?«

»Ich glaube es nicht,« sagte Kenyon ernst.

Als sich Carrey an der Pforte des Gemäuers zeigte, gab es keine geringe Aufregung. Die Indianer, mit dem Heranschleppen von dürrem Holz beschäftigt, warfen sich, wo sie gingen und standen, flach auf die Erde; aber auch am Waldrand entstand ein bewegtes Hin und Her, denn Carreys Tod mochte als Gewißheit gegolten haben. Man sah, wie drüben zwischen den Stämmen zweier Araukarien, wo die roten Krieger zusammenliefen, Duponne aufsprang und die Hand vor die Augen legte. Carrey winkte und ging an seinem Stock ohne Übereilung auf die Stelle zu. Kenyon und Dabny verfolgten vom Ausgang der Höhle aus jede seiner Bewegungen und sahen, wie Duponne ihm entgegentrat und ihn dann am Arm ins Gebüsch zog.

Dann verging eine Viertelstunde qualvollen Wartens für die inmitten der alten Kartause Eingeschlossenen. Aber Dick Dabnys Vermutung, daß man lange warten könne, bis sich Carrey wieder blicken lasse, war grundlos. Nach Verlauf der Viertelstunde trat er wieder aus den Büschen heraus und kam langsam, mehr noch als zuvor auf seinen knorrigen Stock gestützt, wieder heran. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, als ob er auf etwas warte. Die Sonne ließ ihn größer erscheinen, und er glich jetzt wirklich ganz einem alten Einsiedler, der sich müde von der Jahre Last auf weltfernem Pfad hinausschleppt. Dann kamen rechts und links von ihm je zwei wild aussehende Gesellen aus dem Gebüsch, aber sie waren nicht mit Lanzen und Bogen bewehrt, sondern trugen Vorräte und Totumas in den Händen. Wortlos setzten sie die kostbaren Gaben vor dem Tore ins Gras.

Kenyon drückte Carrey, als er wieder neben ihm in der Höhle stand, die Hand. »Das grenzt an ein Wunder! Nun Sie Duponne hierzu bewegen konnten, weiß ich, daß Ihr Weg nicht umsonst war. Wir werden Ihnen nichts vergessen, Carrey!«

In die vom Durst und Hunger Gepeinigten kam lachendes Leben. Ihre Gesichter bekamen wieder Farbe. Auch Dick Dabny war gerührt. »Nicht zu hastig! Nicht zu hastig!« mahnte er Bento, dem er über das braune Haar strich. Wasser, Dörrfleisch, Früchte – alles, was die Darbenden sich im Fiebertraume ersehnt hatten, lag vor ihnen.

Carreys Atem ging schwer. »Ich habe es durchgesetzt,« sagte er. »Sie können abziehen! Duponne wird jeden von Ihnen durchsuchen, dann ist Ihr Weg frei.«

»Und Sie, Carrey?« fragte Kenyon. »Sie kommen mit?«

Der Bärtige schüttelte den Kopf. »Ich werde Duponne das Versteck des Schatzes zeigen.«

»Hier? Hier in der Höhle?«

Carrey ging über die Frage hinweg. »Sie hätten seine hungrige Gier sehen sollen! Er wollte nicht, daß Sie freikommen, sagte, Ihr Leben sei verwirkt. Doch ich erinnerte ihn daran, daß das Geheimnis des Schatzes mein Geheimnis bleibe, wenn er Sie nicht am Leben lasse. Er weiß, daß es ihm nicht gelingen wird, ohne mich das Versteck zu finden. Da hilft kein Ausräuchern, kein monatelanges Suchen. Ich habe versprochen, ihm nach Ihrem Abzug den geheimen Platz zu zeigen, wo der Schatz verborgen ist.«

»Das ist alles? Darauf ging er ein?«

Carrey schüttelte den Kopf. »Nicht alles. Bis er den Schatz in Händen hat, wird er Sie bewachen lassen. Viele der Krieger werden Ihnen folgen. Ein Zeichen Duponnes, und die Leute, die er Ihnen verstohlen nachschickt, werden sich auf Sie werfen. Aber Sie haben Gewehre, und die Marubos sind feige. Sie werden auf der Hut sein, und Sie haben bis dahin einen Vorsprung.«

Kenyon faßte sich mit der Hand an die Stirn. »Carrey!« rief er. »Es geht um Ihr Leben! Sie – Sie wollen sich opfern!«

Aber Carrey sagte nichts mehr, er drängte nur zur Eile. Er führte Kenyon und Dabny zu dem Fleck, wo ein paar Bücher und die Meßinstrumente lagen, die einst Professor Edward Kenyon gehört hatten. Er lud sie auf. Dick Dabny stand dabei mit geballten Fäusten. »Ich werde es den Gaunern heimzahlen!« Dann lud er seinen Browning. Er mußte Kenyon, der sich noch immer nicht von Carreys Seite rührte, mit Gewalt zum Ausgang drängen.

Die Sonne brannte unnachsichtlich auf die trümmerbesäte Waldlichtung und glänzte flimmernd zwischen den Felsen, als der kleine Trupp sich in Bewegung setzte. Duponnes Leute geboten ihm halt. Sie waren alle mit Wurflanzen bewaffnet. Höhnisch grinsend hockte Leoncito im Grase. Die Leibesvisitation begann und verlief ergebnislos. Man wußte, was Duponne suchte.

Duponne selbst hatte sich abseits gehalten. Erst als er sah, daß die Schätze nicht aus dem Versteck weggetragen waren, gab er den weiteren Befehl, den Weißen die Waffen und den Hund abzunehmen. Das war ein harter Schlag, und er verstieß offenbar gegen die Abmachungen, die Carrey mit Duponne getroffen hatte. Kenyon und Dabny erhoben erregt Widerspruch, aber Duponne wandte ihnen, ohne sie einer Antwort zu würdigen, den Rücken. Es blieb dabei. Bento heulte, als ihm Kaiman genommen wurde, und Dabny warf zähneknirschend Flinte und Browning ins Gras. Dann ließ man sie stehen. Duponne war mit schnellen Sätzen am Eingang der Höhle. Kenyon hörte ihn noch brüllen: »Wo ist das Pferd?« Dann zog ihn Carrey in das Innere.

»Nur fort!« rief Kenyon. »Nur erst fort!«

Als sie den Wald erreichten, war der erste, der ihnen nachgerannt kam, Miquelinos Kaiman. Bento schloß ihn in die Arme und jubelte. Das Tier hatte sich glücklich losgerissen.

»Eine ganz verteufelte Lage!« ächzte Dick Dabny. »Wenn jetzt kein Wunder geschieht ...« Er kam nicht weiter. »Hallo, was ist das?« Wie angewurzelt blieb er stehen. Und nicht er allein; das bewies ihm, daß ihn keine Sinnestäuschung foppte ... ein fernes Summen war in der Luft ... ein Surren!

Über Kenyons Gesicht ging ein Leuchten. »Das Flugzeug!« rief er.

Im Nu hatten alle das unverhoffte Glück begriffen. »Child! Child mit seinem Marryatdecker!«

Immer näher klang das gewaltige Flügelrauschen. Die Marubos standen wie erstarrt am Waldrand. Als Sekunden später das Flugzeug keine hundert Meter über der Lichtung auftauchte, stoben sie schreiend Hals über Kopf nach allen Richtungen auseinander. Einer, mit zwei Gewehren beladen, lief Dick Dabny geradeswegs in die Arme. Er bekam eine Maulschelle, daß ihm Hören und Sehen verging und er sich buchstäblich hinsetzte.

»Bitte, behalten Sie Platz, alter Knabe!« sagte Dick Dabny und nahm ihm die Flinten ab. Die eine reichte er Kenyon, der dem Flieger winkte und winkte. Professor Child hatte schon den Motor abgestellt. Jetzt setzte er zum Gleitflug an – er ging tiefer – berührte den Boden und rollte, keine dreißig Schritt von Kenyon entfernt landend, auf den Platz der alten Kartause zu.

Hierhin, wo der Apparat zitternd stehen blieb, stürzte Kenyon dem Aussteigenden entgegen. Aber nur ein Gruß, ein Händedruck, dann jagte er, von Dabny und den Tekunas gefolgt, weiter. Mit Geschrei und Hieben stürzten von der andern Seite Arizanas und der Rest der Leute auf die Höhle zu. Duponne, völlig überrumpelt, sprang mit einem Satz auf und versuchte, an Kenyon vorbeizukommen. Im selben Augenblick saß ihm Kaiman schon an der Kehle. Dick Dabny boxte erst den Hund zur Seite und warf mit einem Hieb Duponne zu Boden. Hier blieb dieser röchelnd liegen.

Erst jetzt fand sich Zeit, Professor Child mit der Frage zu bestürmen, wie er es möglich gemacht habe, als Retter in der Not zu kommen, und ihn in fliegenden Worten über das, was hier geschehen, aufzuklären.

Lincoln Child lachte. »Da bin ich ja wahrhaftig wie der › Deus ex machina‹ gekommen, wie der Retter, den die alten Tragödiendichter, wenn die Wirrnis und Not aufs höchste gestiegen war, mit Hilfe von Maschinen herbeischweben ließen. Aber das Wunder liegt nur darin, daß ich im richtigen Augenblick hier landen konnte. Auf die Fahrt hat mich unser alter Bekannter aus Nauta, Ihr Freund Miquelino Coelho, geschickt.«

»Miquelino? Der von uns so schmerzlich Vermißte!«

Professor Child nickte. »Der arme Freund hat sich die Seele aus dem Leib gesorgt um Sie. Mitten in einem Gewitter wurde er mit seinem Begleiter, dem peruanischen Cholo, an einem Bach von einem Jaguar angefallen. Er mußte mit dem Wetter um die Wette reiten, um Ihre Tiere mit den Vorräten zu retten. Eins der Packtiere hat der Jaguar zerrissen, mit den andern ist Miquelino Coelho nach verzweifeltem Umherirren mitten in der Nacht in Loreto angekommen. Er hatte Weg und Steg verloren und mußte die Spur buchstäblich von vorn aufnehmen, um Ihnen wieder folgen zu können. Ich denke, er wird nicht lange auf sich warten lassen.«

Dick Dabny hatte die Taschen des am Boden liegenden Duponne einer Untersuchung unterzogen. Er hatte die Pässe gefunden, die sich Duponne in Balsapuerto besorgt hatte, einen ungeschliffenen Diamanten, der sicherlich derselbe war, der schon in der Posada »Los Pajaritos« ein blutiges Streitobjekt gebildet hatte, und eine Summe peruanisches Papiergeld und kleine Münzen. »Der Geldschrank ist also noch nicht erbrochen. Nun hat Monsieur Carrey das Wort.«

»Dieser Carrey,« sagte Kenyon, während Dick Dabny dafür sorgte, daß Duponne mit festen Stricken gefesselt wurde, »darf in Ihnen, lieber Professor, in noch höherem Maße seinen Lebensretter sehen als wir anderen, die wir waffenlos, nachdrängenden Marubos als billige Beute, in den Wald getrieben wurden.«

»Dieser bärtige Mann? Dieser Einsiedler? Ja, was habe ich denn diesem kläglichen Menschen nützen können?«

»Dieser ›klägliche Mensch‹,« sagte Kenyon, »war bereit, sich für uns zu opfern.«

»Ich verstehe nicht ...«

»Gegen das Versprechen, daß er Duponne das Versteck des kostbaren Schatzes Samuel Dabnys zeigen wollte, erwirkte er uns freien Abzug und damit die letzte Möglichkeit, unser Leben in Sicherheit zu bringen, nachdem uns Duponne durch die Marubos hier ausräuchern wollte.«

»Und dazu ist es nicht gekommen! Sie wollen sagen, er wollte nur versuchen, uns einen Vorsprung zu verschaffen?« mischte sich Dick Dabny in das Gespräch.

»Es konnte nicht dazu kommen,« antwortete Kenyon, »weil sich der Schatz gar nicht mehr hier befindet. Er liegt unter einem Baum im Wald vergraben – und morgen werden wir ihn heben.«

»Ist das Ihr Ernst, Kenyon?« rief Dick Dabny erregt. »Er wollte Duponne tatsächlich nur hinters Licht führen? Der Schatz wirklich nicht hier? Ha! Dann – dann, – wenn Duponne merkte, daß er hintergangen war, – dann, meinen Sie, wäre Carrey ...«

»... von Duponne totgeschlagen worden! Das meine ich in der Tat,« antwortete Kenyon ernst. »Es ist als sicher anzunehmen, daß sich Duponne in der ersten maßlosen Wut auf seinen ehemaligen Genossen gestürzt und ihn erschlagen hätte. Und Carrey wußte das selbst.«

»Wenn das wahr ist, wenn sich die Diamanten wirklich unter dem Baume finden,« sagte Dick Dabny, »dann ist dieser Carrey geradezu ein Heiliger.«

»Das ist er bestimmt nie gewesen,« Kenyon lächelte, »aber der Hüter des Schatzes – gleichviel, ob selbstlos oder in eigennütziger Absicht. Nun, was gibt's?«

Diesmal war es Bento, der mit einer Meldung herbeieilte: »Es kommen Indianer, viele Indianer, Herr! Der ganze Waldrand ...«

»Und da lachst du?« Dick Dabny hatte den Krimstecher an die Augen gerissen. »Das Geschäft ist richtig!« Nun lachte auch er. »Da drüben kommt unser wackerer Don Prieto mit einer Hundertschaft Tekunas angerückt! Und Arizonas und unsre roten Fährtensucher führen vor der Front einen Freudentanz auf. Sie konnten nicht gelegener kommen. Endlich werden wir eine Nacht ruhig schlafen können!«

Prieto wurde mit aufrichtiger Freude bewillkommt. Er war unterwegs auf einen Trupp Tekunas gestoßen, mit dem sich der lange Ambiza mit seinen Leuten vereinigt hatte, und, die Gefahr nicht unterschätzend, in der er seine Freunde in der Kartause wußte, war es ihm ein leichtes gewesen, die Tekunas zum Vormarsch gegen ihre Todfeinde, die Marubos, zu bewegen.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit säuberten diese roten Ankömmlinge die Lichtung in weitem Umkreise so gründlich von Duponnes Freunden, daß sich kein Marubo mehr blicken ließ. Was ihnen unter die Hände kam, wurde niedergemacht, und dieses Los teilte auch Leoncito, den die mit Arizanas wasserholenden Tekunas erschlagen und der Kleider und Schuhe beraubt in einer Wasserlache fanden.

Unter Führung des schweigsamen Carrey wurde am nächsten Morgen der Marsch nach der Waldhütte angetreten. Nicht nur Dick Dabny – alle Anwesenden waren der Spannung und Erwartung voll. Das letzte Mißtrauen schwand, als Carrey ohne Zögern auf einen fast zwei Meter im Durchmesser messenden Barrigudabaum zuschritt und das Grabscheit in den dichtbewachsenen Boden stieß. Schon nach den ersten Stichen nahm er die Hände zu Hilfe und brachte einen ledernen Beutel zum Vorschein. Stumm reichte er ihn Dick Dabny. Auf ein ausgebreitetes Tuch ward der Inhalt ausgeschüttet. Es waren ungeschliffene Diamanten, die den Wert eines Kapitals darstellten, das ihr eigen zu nennen, sich in Dick Dabnys Vaterstadt nur wenige rühmen durften.

Dieser ansehnliche Schatz rechtfertigte die begeisterte Schilderung, die Samuel Dabny – kurz bevor er den kostbaren, leichterworbenen Besitz mit seinem Leben bezahlen mußte – in seinem letzten Briefe an den Bruder davon gemacht hatte.

»Ich wußte ja, daß ich ihn finden würde,« sagte Dick Dabny, »und wenn ich den ganzen amazonischen Urwald hätte um- und umgraben müssen!«

»Das ist eine kleine Übertreibung,« sagte Kenyon, aber er drückte dem glückstrahlenden Erben die Hand. »Möge dieser Schatz Ihnen mehr Glück bringen als Ihrem Bruder, Dick Dabny!«

»Danke, danke! Ich werde mir die redlichste Mühe geben,« lautete die Antwort, die wieder einmal der ganze echte Dick Dabny war.

Dann klang Hufschlag, und zur freudigen Überraschung aller tauchten auf dem Pfad zur Hütte, mit lautem Gebell von Kaiman empfangen, Miquelino und Huallatingo auf. Besonders der Hund war so aufgeregt, seinen Herrn wiederzusehen, daß Miquelino zuerst kaum zu Worte kam, und als er anfing, von seinen Erlebnissen zu berichten, brach er mitten im Satze ab und wurde leichenblaß.

Starren Blickes ging er auf Carrey zu, und als ihm Kenyon erstaunt folgte, sah er, daß Carrey, der bisher kein Wort gesprochen hatte, am ganzen Leibe zitterte und die Hände vors Gesicht schlug.

»Was ist? Um Himmels willen, was haben Sie, Miquelino?« fragte Kenyon.

»Ich habe,« antwortete Miquelino, »den Menschen gefunden, den ich suchte. Auf den ersten Blick habe ich ihn erkannt. Dieser Mann« – und er zeigte auf Carrey – »hat mein Leben zerstört!« Mit hastigen Worten erzählte Miquelino von jenem Tage in Rio de Janeiro, an dem ihm vor sechs Jahren ein Franzose in einer Hafenschenke goldene Berge versprochen hatte – Duponne –, und wie ihn dann Duponne und ein zweiter Bursche vorm Hafenamt niedergeschlagen hatten. Der Angreifer war kein andrer gewesen als dieser Mann!

»Dieser Mann heißt Carrey,« sagte Kenyon und führte Miquelino beiseite. »Alles, was Sie sagen, mag seine Richtigkeit haben. Das geht schon daraus hervor, daß auch Carrey Sie gleich wiedererkannt hat. Wahrscheinlich hat er abseits von Ihnen in der Schenke des sauberen Paolo Passanha gesessen, von der Sie eben erzählten, und Zeit gehabt, sich Ihr Gesicht einzuprägen. Sein Verhalten, als Sie auf ihn zugingen, kommt geradezu einem Geständnis gleich. Er wird es uns hoffentlich nicht vorenthalten. Aber,« fuhr Kenyon fort, »dieser Carrey, der ehedem ein französischer Sträfling war, ehe er mit Duponne in die Einsamkeit dieses Waldes flüchtete, weiß, was Gewissensbisse sind. Er hat uns unter Einsetzung des Lebens aus Duponnes Schurkenhand befreit. Reden Sie mit ihm, und wenn er reumütig und geständig ist, so wird er nicht weniger bereit sein, Ihnen bei der Aufklärung Ihrer Unschuld und der Wiederherstellung Ihrer Ehre behilflich zu sein, als er uns beigestanden hat.«

Das Verhör, dem Kenyon beiwohnte, und bei dem er den Dolmetscher spielen mußte, da Carrey sein bißchen Portugiesisch und Miquelino Coelho sein Französisch vergessen hatte, bestätigte alles, was Miquelino berichtet hatte. Carrey gestand, daß er vor sieben Jahren, zugleich mit Duponne, aus der Strafkolonie in Französisch-Guyana entflohen und auf einem Schmugglerschiff nach Rio gelangt sei, wo er sich des schweren Raubüberfalls an Miquelino schuldig bekennen müsse. Das Geld war zerronnen; elend und verfolgt, hatten die beiden Sträflinge nach langem Umherirren bei einem Einsiedler Unterkunft gefunden. Als der Greis gestorben war, waren sie in der Höhle von › Santa Catalina‹ geblieben.

Kenyon hatte aufmerksam zugehört. »Über das alles wollen wir ein Protokoll aufnehmen,« sagte er, als Carrey geendet hatte. »Eins von Ihnen, dem ich in Don Miquelinos Namen für Ihr freimütiges Geständnis danke, und eins von Duponne, und wir werden mit unsern Unterschriften zu dem Protokoll stehen.«

»Was haben Sie hier eigentlich für Mordgeschichten?« fragte Dick Dabny. »Kommen Sie lieber zu einem guten Frühstück! Ärgern wir uns nicht länger über Duponne! Er ruht als postfertig verschnürtes Paket in der Kartause, so daß ihn die Landjäger nur abzuholen brauchen. Und Carrey? Was machen wir mit ihm, he?«

Miquelino sagte: »Er hat sich erboten, mich nach Rio zu begleiten, wo er für mich zeugen will. Aber zu dieser Reife fehlt mir alles.«

»Sie wollen sagen, die gute Gesellschaft? Reifen Sie in meiner! Ich mache einen Abstecher über Rio de Janeiro, das sich die schönste Stadt der Welt zu sein rühmt. Der Geschichte will ich mal auf den Zahn fühlen. Na, und Sie und Ihr Kronzeuge sind meine Gäste. Meine Mittel erlauben mir das. Sie erlauben mir nur nicht, auch noch ein so unruhiges Subjekt wie diesen Duponne mitzunehmen. Ich denke, Ihren zweiten Kronzeugen lassen wir per Schub Nachkommen – rechts und links je einen handfesten Polizisten als Ehrenwache. Der Mann hat das um uns verdient.«

»Ist das Ihr Ernst, Mister Dabny? Dann bin ich aller Sorgen ledig!« jubelte Miquelino.

»Mein blutiger Ernst!« Dick Dabny streckte dem glücklichen Miquelino die Hand hin, in die der bisherige Hafenmeister von San Antonio, vor dem jetzt wieder die goldene Welt seiner Hoffnungen und feiner Sehnsucht lag, freudig einschlug.

Kenyon versprach, sich des alten Carrey anzunehmen. Er legte ihm von den guten Bissen vor, mit denen die Tafel – das auf den Boden gebreitete Tuch – endlich wieder bedeckt werden konnte, da die Tragtiere zur Stelle waren. Mister Dabny vermißte nur schmerzlich seine »Reiseapotheke«. Sie hatte sich, zugleich mit seinen Lackstiefeln, in der Carga des Maulesels befunden, den der Jaguar zerrissen hatte, und Miquelino und Huallatingo waren nicht imstande gewesen, die Fracht zu bergen.

Aber er gab sich zufrieden und meinte: »Soll mich nicht wundern, wenn wir nächstens hören, daß einer einem betrunkenen Jaguar begegnet ist, der den Urwald in Lackstiefeln durchquert!«

»Böse Beispiele verderben gute Sitten,« neckte Kenyon den Freund.

»Kenyon, Sie sind der reine Professor,« antwortete Dick Dabny. »Sie hätten sich wahrlich nicht erst noch die gelehrten Herren von der Universität zu verschreiben brauchen.«

»Das ist richtig,« rief Professor Child. »Ich vermag nur zu wiederholen, Mister Kenyon hat uns beinahe nichts übrig gelassen. Meine Kollegen Peacock und Salkon werden große Augen machen.«

»Das werden sie,« sagte Kenyon, »wie jeder, der in diesen Urwald eindringt, dessen große grüne, noch nicht eroberte Mauer an Geheimnisvollem und Wunderbarem so reich und noch immer Curupira untertan ist, dem amazonischen Curupira, der gut und böse ist, Freund oder Feind, verschwenderisch oder grausam, dankbar und ein großer Rächer – Curupira, der wie dieser Wald selbst ist, der neckt und verwirrt, Schätze gibt, hundertfach Nahrung und tausendfach Tod.«


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