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7. Blitze über dem Amazonas

Sie fuhren den Rest des Nachmittags und blieben die halbe Nacht auf dem Wasser. Eine leichte Brise schwellte das Segel. Am gestirnten Himmel leuchtete der Mond und übergoß den scheinbar lauter rauschenden Strom mit seiner schimmernden Lichtfülle. Die riesige Ebene des Amazonas schien sich im Unermeßlichen zu verlieren wie ein Meer, in dem träumende Inseln lagen. Wie weiße Schlangen krochen die Wellen über ihren Saum. Starr und schwarz hoben sich auf ihnen die Schattenrisse der Bäume in die Tropennacht. Rings schlief die ganze Welt, nur auf der Lancha wachten alle, und Miquelino beobachtete gespannt den Himmel.

Gegen Mitternacht ballten sich im Osten, über dem Rande des endlosen Wassers, rasch, in kurzen Abständen, ein paar Wolkenklumpen zusammen, die zusehends wuchsen.

»Wird der Wind sie vertreiben?« fragte Kenyon.

»Wen? Die Krokodile?« fragte Mister Dabny dagegen. »Wissen Sie – immer, wenn das Wasser so blasig aufquillt, da steckt solche infame Bestie die Nase aus dem Fahrwasser. Unheimlich! Die Tiere haben doch unten genug zu fressen, da weiß ich nicht, was sie an der Oberfläche zu suchen haben.«

»Es scheint ein Gewitter in der Luft zu liegen. Ich sprach von den Wolken,« antwortete Kenyon. »Wenn der Wind sie nicht verjagt ...«

»Die Schwüle ist heimtückisch,« sagte Miquelino. »Auch ich beobachte die Kaimane. Wenn sie nachts so unruhig sind, gibt es Gewitter.«

»Ach, wegen der paar Wölkchen,« meinte Dick Dabny. Doch als er den Kopf wendete, schwieg er betroffen. Fast in Minutenschnelle hatte sich der ganze östliche Himmel mit einer finsteren Wolkenwand umzogen. Dann wuchs diese schwarze Wand wie ein mächtiger, wulstiger Baum über den Mond hinweg, und nun wurde alles ringsherum schwarz und bleich. Die rote Laterne am Bug schien plötzlich das einzige Licht im Umkreis von hundert Meilen brausenden Wassers und nachtdunklen Landes zu sein.

Miquelinos Kommandoworte ließen die Ruderer die Lancha aus der Fahrtrichtung dem südlichen Ufer zusteuern. Ein greller Blitz fuhr nieder und ließ sekundenlang das ganze Wasser aufflammen. Er erhellte die Flußbreite und machte die Insassen des Bootes erschauern. Mit einem starken Ruck, bei dem die Bordlaterne zertrümmert erlosch, wurde das Schiff emporgehoben. Der Blitz zeigte jedem Hunderte von Kaimanköpfen, die in unmittelbarer Nachbarschaft der Lancha aus der Flut hervorragten. Eine ganze Herde der gräßlichen Untiere war mit einem Schlage aufgetaucht.

Ein krachender, knatternder Donnerschlag begleitete den Blitzstrahl, dem gleich ein zweiter folgte. Und wieder schwankte die Lancha heftig empor, und wieder sah jeder die zahllosen Kaimannasen aus den gurgelnden Wellen emporragen.

»Ein Baumstamm!« schrie Miquelino Coelho, denn er mußte schreien, um sich verständlich zu machen. »Wir sind auf einen dieser treibenden Stämme geraten!«

Minutenlang lag die Lancha still, das Geäst des Urwaldstammes, in den sie sich verfangen hatte, streifte die Köpfe und Rücken der sich schnell Duckenden. Gleichzeitig begann, vom Wind gestoßen, ein warmer Regen mit fingerdicken Strähnen ins Boot zu schlagen.

»Zu spät!« knirschte Miquelino. »Ich hoffte, das Ufer zu erreichen, aber nun muß es so gehen.«

»Was haben Sie vor?« fragte Kenyon und griff sich, gleichzeitig von einem Blitz geblendet und von einem der noch belaubten Äste des die Lancha umklammernden Baumes gestreift, mit der Hand nach den Augen.

Es dauerte eine Weile, bis sich Miquelino inmitten des prasselnden Regens verständlich machen konnte. Er rief: »Wir müssen versuchen, die Insel zu gewinnen.«

Kenyon sah nichts von einer Insel, die Miquelinos scharfes Auge weit voraus erspäht hatte. Zwar zuckte Blitz auf Blitz, und jeder tauchte sekundenlang den ganzen aufgeregten Fluß in gelbliches oder bläuliches Licht, aber der Regen stürzte wie eine Dusche vom Firmament, daß das Wasser allen nur so über die Augen rann. Sie waren bis auf die Haut durchnäßt, keiner, der einen trockenen Faden am Leibe hatte.

»Ganz gleich, wohin! Nur heraus aus dieser Massenproduktion von Krokodilen!« brüllte Dick Dabny, reichlich heiser, aber noch immer der Alte. Erst als er fühlte, daß ihm das Wasser bis an die Knie stieg, knurrte er: »Jetzt wird's ungemütlich. Jetzt ist unsre Arche richtig leck geworden!« Miquelino trieb die Indianer an und griff selbst zu einem Ruder. Die anderen verstanden nun, daß man mit höchster Eile vorwärts rudern müsse. Die Flußinsel, von der Miquelino gesprochen hatte, sah auch Dabny nicht.

»Erst stößt man sich förmlich die Nase an ihnen ein,« schimpfte er, »und wenn man sie braucht, ist keine da.«

»Sehen Sie Miquelinos Gesicht an!« sagte Kenyon, als wieder eine Folge von Blitzen in einer Pause des Regens, der gleichsam seinen Atem anhielt, niederging. »So verstört habe ich ihn noch nie gesehen.«

Der starke Mann keuchte, unermüdlich schrie er auf die Rudernden ein. Dann wieder rief er zu den andern: »Schöpft! Schöpft das Wasser aus dem Boot! Nur jetzt kein Ermatten!«

Da fühlten es alle, daß sie um ihr Leben kämpften. Wohl trennten sie von der Insel, deren niedere Wälder sich beim Flammenschein des Gewitters jetzt gespenstisch vom Himmel abhoben, nur wenige Meter ... vielleicht waren es sechzig oder weniger, und ein halbes Dutzend Ruderschläge hätten bei ruhiger Flut genügt, die Lancha nach dem Eiland hinüberschießen zu lassen. Doch was jetzt um die Planken mit gierigen Zungen leckte und brandete, das war nicht mehr der Solimões, den sie kannten, und der in majestätischer Ruhe dahingeflossen war, – was sie von dem ersehnten Ziel trennte, war eine ungebändigte, in allen Tiefen aufgepeitschte, schaumgequirlte Flut, die wie ein Ungeheuer mit dem Donner um die Wette brüllte. Die Lancha war voll Wasser, das nicht nur über Bord hereingeworfen ward, sondern gierig von unten hereingekrochen kam. Das Boot war leck geworden, als es mit dem treibenden Riesen des Urwalds zusammengerammt war. Von Sekunde zu Sekunde stieg das Wasser im Boot. Und neben dem Boot lauerten die gefräßigen Ungeheuer auf ihre Beute. Wen die Strömung nicht mit sich fortriß, daß er ertrank, den würde der Kaiman in die Tiefe zerren und zwischen seinem mörderischen Gebiß zermalmen.

Unter Aufbietung ihrer letzten Kraft peitschten die Indianer das Wasser mit den Rudern, mit dem Mut der Verzweiflung schaufelten alle anderen mit ihren Hüten und Händen das Wasser über Bord. Der junge Bento lag mit dem Kopf im Wasser. Er war blau im Gesicht, als er wieder auftauchte, aber er hatte ein Heldenstück vollbracht: er hatte sein wollenes Hemd in die Öffnung gezwängt, durch die von unten das Wasser hereindrang. Miquelino Coelho schloß ihn in die Arme, als er es wahrnahm. Keiner hatte das Leck entdecken können, der Knabe hatte seinen schlanken Leib unter die Bank gepreßt und es gefunden. Vielleicht sollte dies ausschlaggebend für die Rettung sein. Ohne Bentos Geistesgegenwart und Geschicklichkeit hätte der Solimões wahrscheinlich das Boot mit allem, was in ihm um sein Leben rang, in seinen unersättlichen Schlund verschlungen, bevor das rettende Ufer mit den letzten Ruderschlägen erreicht war.

Es glich ohnedies einem Wunder, daß schließlich die Landung glückte. Mit einem heftigen Stoß fuhr der Kiel auf ein Gewirr von Stämmen, die ein Strudel vor der Insel zusammengetrieben hatte. Über diese Stämme konnten die Ermatteten wie auf schwankender Brücke den Rand der Insel gewinnen und schließlich die Lancha an Land ziehen.

»Gerettet!« Miquelino Coelho schlang die Kette des Bootes um einen Baumstamm. »Unser Leben hing an einem Faden. Ich habe schon manches Gewitter sich plötzlich entladen sehen, aber mit solcher Geschwindigkeit ging noch keines auf mich nieder. Hier sind wir fürs erste geborgen ...«

Ein Schrei unterbrach ihn. Dick Dabny hatte ihn ausgestoßen. Er war buchstäblich auf allen Vieren an Land gekrochen und wollte eben seinem Nebenmann, in dem er Kenyon vermutete, ein »Gott sei Dank!« zurufen, als er inne ward, daß dieser »Nebenmann« – nein! daß sich keine zwei Meter neben ihm und genau wie er auf allen Vieren ein greulicher Kaiman den Strand hinaufschob!

Als das Untier mit offenen Kinnladen auf ihn losfuhr, warf er sich mit einem Aufschrei auf die Seite, und in diesem Augenblick stürzte glücklicherweise Prieto, der den Scheinwerferapparat trug, herbei und schleuderte den Apparat dem Tier in den Rachen. Bento Araúyo riß das Gewehr an die Backe, aber der Schuß versagte. Doch Prieto hatte wenigstens Zeit gewonnen, Mister Dabny zurückzureißen, und inzwischen gelang es Kenyon, mit einem Spillspaken auf den Kaiman einzuschlagen.

Huallatingo, am ganzen Leibe zitternd, reichte Prieto eine Axt hin, und der hatte sie kaum an sich gerissen, als er sie auch schon mit wuchtigem, wohlgezieltem Hieb in die Kinnlade des Kaimans niedersausen ließ. Sie blieb dem Tiere im Rachen stecken, ohne daß es sich davon befreien konnte. Blutend fuhr es mitsamt der Axt in die Fluten zurück.

Dick Dabny konnte seinem Schöpfer danken, daß er mit dem Schrecken davongekommen war, aber der saß ihm bekanntlich nie lange in den Gliedern. Er drückte Prieto herzhaft die Hand. »Eine famose Klinge, die Sie da schlagen, Don Prieto! Ich werde Ihnen das nie vergessen. Ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen schon am Cahuapanas sagte: Sie hat uns geradezu der Himmel geschickt, und mit Ihnen kann man ganz Amazonien in die Schranken fordern. Wahrhaftig, da beniese ich es bereits!«

Das Gewitter hatte sich ausgetobt, auch der Regen ließ nach, doch es blieb noch bodenlose Finsternis auf der Insel zurück, und die Geretteten hatten keine Möglichkeit, ein Feuer anzuzünden. Nur die elektrischen Taschenlaternen, für die Kenyon genug Ersatzbatterien an Bord hatte, halfen ein wenig aus und ermöglichten es, abseits vom Ufer mit Hilfe einiger schlanker Palmenstämme, der Ruderstangen und der Segelleinwand ein Zelt aufzuschlagen, in dem man sich wenigstens vor dem Getier unbelästigt wußte und notdürftig vor dem Winde geschützt war. Dieser Wind, der an allen Wipfeln riß, schien seine größte Heftigkeit erst nach dem Gewitter entfalten zu wollen, wenn er auch vorher schon dazu beigetragen hatte, daß die Lancha nur unter Aufbietung aller Kräfte auf die rettende Insel hatte zuhalten können.

»Das Schlimmste haben wir überstanden,« stellte Miquelino Coelho fest, als alle, zwar naß wie die Wasserratten, aber sonst unversehrt inmitten des Zeltes hockten. Am Eingang hatte der Hund sich niedergelegt. Nichts fehlte, nur der Scheinwerferapparat hatte den Zusammenprall mit dem Krokodil etwas übelgenommen und lag verbeult in der Ecke.

»Das Boot ist sicher angezurrt, aber wann wir es wieder flott bekommen, das ist die Frage. Ein paar Stunden werden wir dran zu kalfatern haben.«

»Auf das Wohl Ihres Jungen!« rief Dick Dabny und reichte Bento Araúyo eine seiner Flaschen zum ersten Labetrunk. Wenigstens in seine »Giftapotheke« war kein Amazonenstrom hineingeflossen, wie er mit Befriedigung feststellte. »Unser blinder Passagier von San Antonio soll leben! Three cheers – drei Hurras – für unsern Jüngsten! Das schönste Hemd, das ich im Koffer habe, soll der Junge bekommen.«

»Dennoch hat uns dieses Wetter einen recht bösen Strich durch unsre Rechnung gemacht,« sagte Miquelino nach einer Weile. »Duponne bekommt seinen Vorsprung.«

»Abwarten!« meinte Dick Dabny. »Wer sagt uns, daß nicht auch der ›José Pombo‹ bei dem Unwetter hat beidrehen müssen? Dann sagten Sie doch, daß wir zusehen wollten, unterwegs einen Dampfer zu erwischen, der Dampf hinter den ›José Pombo‹ hermacht, nicht wahr?«

»Das hoffte ich allerdings, aber erst müssen wir von dieser Insel herunter sein. Zunächst haben wir alle Ursache, uns dieses rettenden Eilands zu freuen. Ich weiß, daß es in früheren Jahren oft gänzlich überflutet wurde und zur Zeit der jährlichen Hochflut höchstens mit den Wipfeln aus dem Wasser ragt.«

»Also hatten wir Glück im Unglück. Nässer hätten wir freilich nicht gut werden können, als wir so schon waren, aber es ist immer erfreulich, wenn einem der Boden nicht ganz unter den Füßen weggezogen wird. Das nächste Gewitter erwarten wir wohl nicht in der Strommitte, wo die Krokodile herdenweise ihr muntres Spiel treiben?«

»Eine Fahrt am Ufer während eines Unwetters ist nicht gefahrloser, Mister Dabny. Die Ufer sind stellenweise unterwaschen, ohne daß die Zeit der Hochflut ihr Zerstörungswerk beendet hat. Aber ein Unwetter wie dieses genügt oft, um das unterhöhlte Erdreich ins Rutschen zu bringen. Die großen Bäume neigen sich dann und stürzen unter donnerähnlichem Getöse ins Wasser, wobei schon manches Fahrzeug, das am Ufer Schutz suchte, verschüttet wurde. Daß auch in dieser Nacht Erdmassen zusammengesunken sind, beweisen uns die gewaltigen Stämme, die in der Strömung treiben, und deren einem wir unser Leck im Boot verdanken.«

Endlich verging auch diese unfreundliche Nacht und machte einem lichten Morgen Platz. Am Himmel, der über Amazonien so schnell sein Gesicht wechselt, lockte zwischen jagenden Wolken das erste Blau des jungen Tages. In den Büschen und Zweigen der Insel begann es zu rascheln und zu huschen. Auf den höchsten Wipfeln krächzten Araras, und Zigeunerhühner suchten fluchtartig das Weite, als die Männer das Zelt verließen. Unter lautem Flügelklatschen und Schnabelknacken machte sich ein prächtig gefärbter Vogel bemerkbar, den die Eingeborenen » Ariramba do matto« nannten, ein Angehöriger der sogenannten Galbuliden, der goldschillernde Jacamerops aureus, und ferner ganze Scharen schöner azurblauer Vögel, die Azulão genannt werden. An dieser gefiederten Gesellschaft war der Schrecken der Gewitternacht spurlos vorübergegangen. Mit äußerst lebhaftem Geschrei strich die beschwingte Schar um die Wipfel und nahm ihren Nahrungsflug auf. Die Insel schien ein bevorzugter Nistplatz zu sein und war mit vielen niederen Fruchtbäumen bestanden, deren erbsengroße Früchte von einer Anzahl kleiner Vogelarten, von denen jede einzelne das Sammlerherz eines Ornithologen hätte lachen lassen, mit Vorliebe vertilgt zu werden schienen.

Die Kaimane waren verschwunden. Miquelino meinte, daß sie erst mit der höher kommenden Sonne die Flußinsel aufsuchen würden, und bis dahin wollte er längst mit der Ausbesserung der Lancha fertig sein. Die Arbeit nahm jedoch mehr Zeit in Anspruch, als man gedacht hatte – nicht zuletzt deswegen, weil die einzige Axt mit dem angriffslustigen Kaiman in die braune Tiefe versunken und an ihre Wiederherbeischaffung natürlich nicht zu denken war.

Aber vereinter Arbeit gelang es schließlich, auch mit einfachsten Mitteln den Schaden zu beheben, und als die neunte Stunde anbrach, konnte der alte Kurs wieder aufgenommen werden. Der Wind stand günstig, und die Lancha machte gute Fahrt. Je mehr sie sich der Einmündung des Huallaga (sprich Ualjága) näherte, umso belebter wurde der Verkehr am südlichen Ufer und zwischen den Inseln. Der Strand lag hellglänzend da, von hohen Palmen überragt, ein Bild tropischer Fruchtbarkeit. Einzelne Hütten schimmerten durch das Waldgrün. Pirogen mit Mattensegeln kreuzten zwischen den vielen schwimmenden Stämmen, die das starke Gewitter zugleich mit Grasinseln und Buschwerk längs der Küste angetrieben hatte. Die Insassen der Einbäume fischten. Indianische Frauen wuschen am Ufer, genau wie es die Frauen von San Antonio gemacht hatten. Trotzdem lag hier kein geschlossenes Dorf, sondern, wie Miquelino im Gespräch mit einem alten Fischer erfuhr, eine verfallene Tabakpflanzung. Von der Pflanzung war nichts mehr zu sehen, der Urwald hatte wieder Besitz von dem ehemals bebauten Ort ergriffen. Nur ein paar Hütten waren geblieben.

»Der Alte hat mir gesagt, daß seine Stammesbrüder in die Seringaës, die Gummiwälder, gezogen seien, wo sie mehr verdienen als hier. Der Besitzer ist verarmt. Man hat das oft erlebt. Viele brachte die Aufhebung der Sklaverei an den Rand des Ruins, da sie dadurch mit einem Schlage ihrer sämtlichen Arbeitskräfte beraubt wurden. Dann machte es das immer mehr steigende Gummifieber auch den Wohlhabenderen unter ihnen, die in der Lage gewesen wären, mit bezahlten Arbeitskräften zu arbeiten, unmöglich, sich solche zu verschaffen, da – wie es hier geschehen ist – alles nach den Gummiwäldern zog, wo bei weniger Arbeit ein reichlicherer Verdienst zu finden war.« Er schloß: »Viele Hoffnungen begräbt der Urwald. Große Ansiedlungen sind zerfallen.«

Kenyon nickte. »Sie wollen damit sagen, daß die Gummiwälder dem Plantagenbau schweren Abbruch getan haben?«

Miquelino nickte. »Je weiter Sie den Fluß hinunterkommen, umso mehr zeigt es sich. Auf weiten Strecken haben fast nur noch die Seringaës Bedeutung. Sie haben alle Arbeitskräfte aufgesogen, und ihre Besitzer sind reich geworden, während die andern Farmen zugrunde gingen. Des einen Brot, des andern Tod.«

Gegen Mittag war die Stelle erreicht, wo der Huallaga seine gelben Fluten mit dem noch trüberen Wasser des Maranhão vereint.

»Eine furchtbare Wassermasse!« rief Dick Dabny überrascht, als die Lancha von der Strömung erfaßt wurde. »Dieser Huallaga ist ja ein Riesenkind!«

»Das will ich meinen,« sagte Kenyon. »Dafür stellt er aber auch den zweiten Quellfluß des Amazonas dar. Und bei Nauta folgt der Ucayali als dritter im Bunde, gewaltiger noch als der Huallaga, so daß er lange Zeit als der eigentliche Hauptstrom galt und dem Maranhão an Wassermasse wenigstens gleichkommt, während er ihn an Länge des Laufes sogar übertrifft.«

»Und mit diesen beiden niedlichen Riesenkindern ist es ja nicht getan. Wieviel, sagten Sie neulich, schließt der Amazonas in seine Arme?«

»Im ganzen über zweihundert, lieber Dabny; zweihundert Nebenflüsse, darunter rund einhundert schiffbare und siebzehn ersten Ranges. Allerdings verteilen sich diese mächtigen Wasserbringer auf die stattliche Strecke von 5340 Kilometer. Das ist die Gesamtlänge des ganzen Stromlaufs, aber nach unten abgerundet, denn die Krümmungen sind dabei nicht einmal mitgerechnet.«

»Ein nettes Waschbecken! Zahlen, um seekrank zu werden! Sagen Sie, Don Miquelino, diese zweite Nacht werden Sie uns doch nicht wieder auf einer Krokodilinsel Hütten bauen lassen?«

»Wir haben guten Wind und keine dreißig Seemeilen mehr bis Fontivera. Auch werden wir gleich erfahren, wie weit uns der Salzdampfer voraus ist. Lassen Sie uns nur erst den Huallaga hinter uns haben! Da drüben schaukelt eine ganze Fischerflottille. Ein Segler ist auch dabei, liegt vertäut.«

Sie hielten auf die Fahrzeuge zu. Aber die Strömung war stark und versetzte die Lancha in die Mitte des Flusses. Wohl eine viertel Stunde arbeiteten die Ruderer dagegen an. Dann waren sie außerhalb der Strömung des nordwärts abdrängenden Huallaga und schwammen mit dem Strom. Nun kamen sie schnell in Rufweite zu den Pirogen. Auch eine Brigg lag hier. Köpfe tauchten über der Reling auf. Kenyon las »Mary Patton«. Sofort rief er auf Englisch: »Habt Ihr den ›José Pombo‹ gesichtet?«

Ebenso schnell kam die Antwort auf Englisch: »Schwimmt stromab! Ihr kommt zwei Stunden zu spät. Hat hier gestoppt, Gentlemen!«

»Also ist sie, wie vorauszusehen, hier schon durch,« sagte Kenyon und schlug vor, bei der englischen Brigg beizudrehen und nähere Erkundigungen einzuziehen. Es stellte sich heraus, daß nur zwei Matrosen an Bord waren. Die Brigg hatte Whisky gebracht und sollte nach Yurimaguas, um Farbstoffe einzunehmen. Die beiden Matrosen waren fixe Jungen, die die Augen aufgehabt hatten. Es bedurfte nur einer oberflächlichen Beschreibung seitens Kenyons, um den einen sofort sagen zu lassen: »Die Männer, die Sie suchen, Gentlemen, sind auf dem Dampfer. Keiner hat ihn hier verlassen. Nur ein paar Ballen sind abgeworfen worden. Wir haben die zwei genau beobachten können, den Weißen, dessen Gesicht von Pockennarben entstellt war, und den Indianer; denn sie standen ganz allein auf der Back. Waren wohl die einzigen Passagiere.«

Kenyon übersetzte Miquelino Coelho, was er gehört hatte. Er fügte hinzu: »Soll ich noch mehr fragen?«

»Danke, das genügt.« Miquelino hatte zur Karte gegriffen. »Vor zwei Stunden hier durchgekommen? Dann schwimmt der Radkasten jetzt zwischen Farinari und San Pedro. Dort bleibt er zur Nacht liegen, um Holz einzunehmen. Ich kenne seine Gewohnheiten. Wenn wir Glück haben, holen wir ihn dort ein. Schaffen könnten wir die Strecke bis zum Abend.«

»Dann müssen wir den ›José Pombo‹ ja auch bestimmt einholen.«

Miquelino zuckte mit den Schultern. »Nicht bestimmt. Mitunter, wenn er Eilgüter geladen hat, nimmt er auch noch mitten in der Nacht den Kurs wieder auf. Dann könnten wir nochmals das Nachsehen haben. Nun, auf jeden Fall wird sich bis Nauta guter Rat finden. Zudem stoßen wir dann überall auf zuverlässige Leute, wie diese englischen Matrosen welche sind. Wir sind nicht mehr auf Angaben von Indios angewiesen.«

Der Wind stand noch immer günstig, und bald schwamm die Lancha wieder im verbreiterten Strombett, lange Strecken dahingetragen unter dem sich nun wieder in seiner schönsten klaren Bläue über dem Strombecken wölbenden Himmel. Aber, wie immer bei diesem Riesenfluß, hemmten bald wieder Inseln den Blick und die Eile, oft war es nur ein dünner, grauer Strich, eine Playa, eine Sandbank, auf der schwarze oder scharlachfarbene Flamingos einherstolzierten, dann wieder eine langgestreckte Insel, die einem schwimmenden Park glich, oder eine aus Bäumen und Schlingpflanzen bestehende Mururé, die in großem Bogen umsteuert sein wollte, um nicht mit unter dem Wasser treibendem Geäst zusammenzustoßen.

Pirogen und Segler belebten die schimmernde Fläche und kündeten die Nähe der am südlichen Ufer gelegenen Indianerdörfer Fontivera und Parinari an. Der Strom, nordwärts durch den Rio Huallaga abgedrängt, schob sich, die mächtige Ebene von Sacramento umschließend, näher an den Äquator heran. Auf dem Nordufer erschienen die Häuser der alten Mission San Pedro. Hier lag der alte »Manaos«, der, wie Miquelino Coelho richtig vorausgesehen, noch immer nicht seine Kaffeeladung an Bord gebracht hatte. Die Fazendeiros hatten zu ihrer Entschuldigung angegeben, daß die häufigen Gewitter der letzten Zeit die Zufuhren aus dem Innern unmöglich gemacht hätten. Der Kapitän schimpfte, er könne gewiß noch eine Woche warten, bis die Fracht anlange, aber so viel Kaffee habe er schon verstaut, daß er sich erlauben dürfe, den Hafenmeister von San Antonio samt seinen Gästen zu einem Glas Kaffee mit einem Trago (einem Rum) an Bord zu bitten.

Bevor Miquelino die Einladung annahm, erkundigte er sich nach dem »José Pombo« und erklärte auch Kapitän Martins, vor dem er kein Geheimnis zu haben brauchte, was ihn aus San Antonio hierhergeführt habe.

»Was, der Schmuggler, dem euer Araúyo damals den Tatzenhieb mit dem Säbel versetzt hat? Dem seid ihr auf den Hacken? Den müßt ihr unbedingt fangen, Kinder! Der hat ja einen ganzen Stamm diebischer Rothäute zum Schmuggeln angelernt. Ist das nicht so? In Barranca hat man mir's berichtet. Die roten Teufel machen seitdem den ganzen Solimões unsicher. Irgendwo bei Loreto im Walde müssen sie ihren Schlupfwinkel haben. Eine ganze Räuberbande soll sich da niedergelassen haben.«

»Da wissen Sie mehr als wir,« antwortete Miquelino Coelho. »Wir wissen nur von zweien, die allerdings mit allen Salben geschmiert sein müssen – zwei Weißen, von denen der eine Duponne genannt wird. Jetzt reist er freilich auf einen andern Paß, und wenn wir ihn nicht bald fassen, entwischt er uns über die Grenze. Er scheint auch am Tode zweier Fremder schuldig zu sein. Die Leute – ein Forscher und ein Kaufmann – sind stromab, stromauf gesucht worden, und jetzt haben die Brüder der Vermißten die Suche aufgenommen. Mit ihnen bin ich hier.«

Kapitän Martins schlug mit der Hand auf die Reling. »Besinne mich! Natürlich besinne ich mich! Heißen Kenyon und ... und – warten Sie mal ...«

»Professor Edward Kenyon und Samuel Dabny.«

»Stimmt! Vor ein paar Monaten haben sie mich auf dem Büro des Alkalden in Iquitos nach Strich und Faden verhört, ob ich nichts von den beiden vermißten Yankees wüßte. Konnte leider nichts angeben. Nun sind also die Verwandten hier und wollen den Urwald absuchen? Welch ein trostloses Beginnen!«

»Vielleicht doch nicht so aussichtslos, wie Sie meinen, Herr Kapitän. Ich sagte ja, daß zweifellos der sogenannte Duponne seine Hand im Spiel hat. Dann wissen wir von einer Kartause im Bogen von Tabatinga: dahin führt die Spur. Sie ist vielleicht gleichzeitig der Schlupfwinkel, von dem Sie eben sprachen.«

»Alle Wetter!« Kapitän Martins zwirbelte seinen hellblonden Knebelbart. »Sie bleiben die Nacht hier! Bitten Sie Ihre Herren zu mir herüber, Don Miquelino! Wie? Weshalb der ›José Pombo‹ hier nicht den üblichen Nachtaufenthalt genommen hat? Kann's Ihnen nicht sagen. Eine gute Stunde hat er hier verschnauft, dann ist er wieder losgestampft. Es ist ausgeschlossen, daß Sie ihn vor Nauta einholen. Aber wenn der Schmuggler wirklich auf dem Schiff ist, kann er Euch nicht entkommen. Ich kenne den Kapitän, auf den alten Loja ist Verlaß.«

»Wie meinen Sie das?«

Kapitän Martins lächelte: »Nichts einfacher als das! Ich habe eine kleine Wunderkiste an Bord, und eine ähnliche hat Kapitän Loja auf dem ›José Pombo‹. Holen Sie Ihre Leute, und wir lassen ein drahtloses Telegramm los!«

Miquelino Coelho klatschte in die Hände. »Gewonnen!« rief er entzückt. »Wer konnte das ahnen, daß Sie einen solchen Apparat an Bord des ›Manaos‹ haben, und der ›José Pombo‹ auch!«

»Wir beide. Sie sehen, langsam kommt doch die Kultur in unser Hinterland, über das Sie immer so jammern.«

Miquelino hatte plötzlich nichts Eiligeres zu tun, als Kenyon auf den »Manaos« zu holen. Dick Dabny und alle anderen folgten. »Es sieht ganz so aus,« sagte Dabny zu Prieto, »als ob Sennor Coelho den Alten herumgekriegt hat, daß er uns weiterfährt. Ich wäre nicht böse.«

Er war auch nicht böse, sondern sehr zufrieden, als er hörte, daß auf dem »Manaos« Nachtquartier genommen werden sollte. Hinter einem Neger, der auf einem Tablett duftenden Kaffee brachte, erschien Kenyon mit blitzenden Augen. Genau wie vorher Miquelino, rief er: »Gewonnen! Jetzt werden wir leichte Arbeit haben.«

»Also dampfen wir mit voller Fahrt hinterher?«

»Nein, wir funken! Daß uns der Gedanke auch nicht eher kam! Seit acht Tagen hat der ›Manaos‹ erst Bordtelegraphie. Welch ein Glück für uns!«

»Wundervoll!« rief Dick Dabny und goß sich schnell einen zweiten Rum in den aromatisch duftenden schwarzen Kaffee. »Das konnte der alten Kiste von außen kein Mensch ansehen.«

Es gab noch einen kleinen Kriegsrat darüber, was zu telegraphieren sei. Duponne durfte weder verhaftet noch kopfscheu gemacht werden. Dann blieb er, wie man sich das schon früher gesagt hatte, verstockt, der Weg zu seinem Schlupfwinkel würde nicht aus ihm herauszubringen sein. Man einigte sich, daß Kapitän Martins dem »José Pombo« ein drahtloses Telegramm nachschickte, das folgenden Wortlaut hatte: »Der gefährliche Schmuggler Duponne befindet sich in Begleitung eines Marubos Leoncito an Bord des ›José Pombo‹. Sie werden ersucht, ihn nicht zu verhaften, aber jeden seiner Schritte bei Ankunft in Nauta beobachten zu lassen. Beide sind im Besitz gefälschter Pässe, angeblich auf die Namen Edward Kenyon und Samuel Dabny lautend. Lancha mit Miquelino Coelho folgt und meldet sich bei Kapitän Loja.«

Eine Stunde später, als alle in der langentbehrten Behaglichkeit des »Manaos« auf dem Hinterdeck bei der Comida saßen, brachte der Bordtelegraphist dem Kapitän Martins das drahtlose Antworttelegramm. »Gesuchter Mann mit Begleiter an Bord. Lasse ihn, wie gewünscht, bei Ankunft morgen in Nauta unauffällig beobachten. Kapitän Loja.«

Als Kapitän Martins den Funkstreifen Kenyon über den Tisch hinüberreichte, sagte er: »Ich denke, nun werden Sie gut schlafen, meine Herren.«

»Wie in Abrahams Schoß!« sagte Dick Dabny und stieß zum soundsovielten Male mit dem Kapitän an.

Miquelino Coelho holte ihn trotzdem früh aus der Kabine. Gegen fünf Uhr setzte die Lancha ihren Weg fort. An langen Sandbänken ging es vorüber, meistens hart am nördlichen Flußufer hin. Am Einfluß des Rio Chambyra tauchte die kleine Station Vaca Marina auf, nördlich deren sich die Nomadengebiete der Urarinas von denen der Cocamas-Indianer scheiden. Später gelangte die Lancha, einige fünfzig Seemeilen vor Nauta, an die Mündung des Rio Tigre oder Piquene, der gleich dem Pastaza in langem, reißendem Lauf vom Abhang der Anden Ekuadors dem Amazonas zuströmt, und dann kam Nauta selbst in Sicht.

Vor hundert Jahren auf der höchsten Stelle eines Ufervorsprungs an der linken Seite des Stromes entstanden, war es jahrzehntelang der bedeutendste Ort des eigentlichen Maranhão und durch die Nähe des zehn Kilometer unterhalb einmündenden Rio Ucayali, des dritten Quellarms des Amazonas, sicher auch zum Hauptort berufen gewesen.

»Auch hier ist der Glanz dahin,« sagte Miquelino. »Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts war Nauta vom Indianerdorf zur Handelsniederlassung emporgewachsen, die es zu dreitausend Einwohnern gebracht hatte. Das wollte für die damalige Zeit etwas sagen. Europäer kamen und legten Pflanzungen und Faktoreien an. Heute hausen in Nauta keine dreihundert Bewohner, die genau so armselig leben wie die Leute von San Antonio.«

»Und ist an diesem traurigen Rückgang des Wohlstands auch wieder der Cauchero schuld?«

Miquelino schüttelte den Kopf. »Nicht allein. Hier war es der Fluß selbst, der den Wandel brachte. Unsere Indios würden sagen: Mae d'Agua, die große Wassermutter, war neidisch auf die Schätze, die der Mensch ans Land zog, sie nahm ihnen, was sie ihr entrissen hatten. Sie ließ die große Fahrtrinne versanden, der Ucayali half ihr dabei, er verlegte den Flußlauf nach Süden, und infolge dieser Veränderungen im Flusse wurden die großen brasilianischen Dampfer, die in erster Linie den Aufschwung Nautas bewirkt hatten, an der Landung verhindert. Dafür ward Iquitos der Haupthandelsplatz, zugleich der Hauptstapelplatz für den Kautschukreichtum seiner benachbarten Wälder. Neben Iquitos sind alle übrigen Orte des Departamento Loreto ohne Bedeutung.«

»Dann wäre es ein Ort, wo Sie wohnen möchten, Don Miquelino, der Sie Ihr großes Rio nie vergessen können?«

»Mein Ziel ist größer als Iquitos, und ich glaube, ich bin auf dem rechten Wege.« Leiser setzte er hinzu: »Ich bin ein Suchender wie Sie, Mister Kenyon. Wir suchen beide Wahrheit und Gewißheit. Mehr lassen Sie mich heute nicht sagen!« Er wandte sich ab, und Kenyon blickte ihm überrascht nach.

Kurz, nachdem der vor Nauta ankernde »José Pombo« gesichtet wurde, legte Miquelino an. Um kein Aufsehen zu erregen, machte er sich, wie es durch Funkspruch verabredet war, allein auf den Weg zu Kapitän Loja. Die ermattete Mannschaft der Lancha sollte sich unterdessen am Lande gütlich tun. Es fand sich eine von Kreolen bewohnte Hütte mit der nötigen Kochgelegenheit in nächster Nähe, wo die Leute alles fanden, was sie brauchten. Die Vorsicht gebot nur, daß sich niemand im Orte selbst sehen ließ. Die von Miquelino ausgesuchte Mannschaft hatte noch nie zu Ärgernissen Anlaß gegeben. Jeder einzelne war willig und gutes Mutes gewesen, allerdings hatte auch jeder immer gefühlt, wie für ihn gesorgt wurde. Auch war, worauf der Indianer erfahrungsgemäß recht viel Wert legt, keiner übergangen worden, wenn einer Flasche aus Mister Dabnys »Giftapotheke« der Hals umgedreht wurde. Miquelino kannte die Leidenschaft seiner roten Helfer und hatte stets daran erinnert, daß jeder seine Ration bekam. Daß jetzt einer dem Befehl, den Lagerplatz nicht zu verlassen, ungehorsam sein sollte, war nicht anzunehmen.

Dennoch erschien nach einiger Zeit, als schon schwarze Nacht den Uferhang deckte, Huallatingo bei Kenyon mit der Meldung, daß zwei der indianischen Ruderer auf und davon gegangen seien. Kenyon zog die Brauen hoch und verständigte sich dann rasch mit Dick Dabny, Bento und Prieto.

»Ihr besinnt Euch, Herr,« sagte Huallatingo, daß ich Euch immer vor den Leuten gewarnt habe. Sie werden Euch großen Schaden bringen. Sie werden alles dem Marubo Leoncito verraten.«

»Dazu müßten sie erst einmal etwas wissen,« sagte Prieto.

»Und reden können!« rief Bento der Jüngere. Die anderen sahen sich überrascht um. Bento war sonst nicht vorlaut. Jetzt bekam er von seinem Vater einen Verweis, aber der Junge lachte. »Deotoro und Zeca können nicht reden, sondern nur lallen, und sie haben nur Mister Dabny Schaden gebracht.«

Dick Dabny griff nach seiner Brieftasche und seinem Brustbeutel. »Da bin ich ja gespannt, was sie mir entführt haben sollen.«

»Ich werde sie Euch zeigen,« sagte Bentos Ältester und wies auf einen Waldpfad, vor dessen Eingang zwei hohe Säulenkakteen standen. Neben ihnen scharrte sein unzertrennlicher Begleiter Kaiman. Nun verstanden alle: der Junge hatte auf eigene Faust Jagd auf die Vermißten gemacht, denn er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, den Hund als Fährtensucher zu erproben. Im hellen Mondschein lagen die beiden Indianer auf einem umgestürzten Termitenhaufen; jeder von ihnen hatte eine Flasche im Arm. Sie lallten auch nicht mehr, sie waren eingeschlafen.

Dick Dabny nahm die Flaschen auf und erkannte, daß Deotoro und Zeca bei seiner Reiseapotheke eine Anleihe gemacht hatten. »Das ist starker Tabak – nämlich zweiundsiebzigprozentiger Rum. Die Herren riechen es wohl? Man braucht auch wirklich nicht die Nase eines Spürhundes zu haben. Der ganze Urwald duftet nach meinem Feuerwasser. Warum fragen einen die Leute auch nicht, wenn sie sich vergiften wollen!«

»Ist das Ihr ganzer Zorn über die Dieberei?«

»Ach, Sie wundern sich, lieber Kenyon, daß ich nicht meinen neuen Haken schlage wie damals bei den beiden Goldjungen Itchi und Sin Fo? Das ist hier nicht nötig. Die Bürschchen sind ohnehin schon knockout. Dieser Rum ist ohne Wasserzugabe untrinkbar. Eine halbe Flasche genügt zur Alkoholvergiftung. Sie haben ihren Lohn dahin. Ein Glück, daß Bento sie gefunden hat. Die Termiten würden sie sonst bis auf die Knochen präpariert haben, ohne daß sie aufgewacht wären.«

Er sorgte selbst dafür, daß die Schläfer, die schon ganz steif waren, in die Hütte gebracht und mit starkem Kaffee behandelt wurden. Kenyon nickte ihm freundlich zu. Immer mehr erkannte er, daß unter Dick Dabnys rauher Schale ein warmes Herz schlug.

»Entlassen werden wir die Brüder freilich müssen ...«

»Wir werden alle Ruderer heimschicken,« ließ sich in diesem Augenblick Miquelino Coelhos Stimme hören.

»Alle Ruderer? Verstehe ich Sie recht?«

Miquelino nickte. »Hören Sie zuvor eine gute Nachricht! Kapitän Loja hat mehr gehalten, als uns der alte Martins von seiner Geschicklichkeit versprach. Er hat sich seinen eigenen Vers darauf gemacht, warum er Duponne und Leoncito wohl beobachten, aber nicht festnehmen sollte. Er empfing mich gleich mit den Worten: ›Sie können Ihren Schmugglern bis zur Grenze nachlaufen. Ich habe sie umsonst mit den schönsten Worten auf dem ›José Pombo‹ festzuhalten gesucht und ihnen klargemacht, wie schön sie bei mir verpflegt würden, wenn sie bis Loreto an Bord blieben. Doch dieser Duponne wollte nicht, er hatte die bessere Schiffsverbindung im Kopfe, wußte genau, daß der 'Rodrigues Alves' zwei Tage vor mir in Loreto einläuft, und auf den ist er heute nachmittag mit seinem Indianer übergesiedelt. Er schwimmt seit sechs Uhr, und Kapitän Nilo bekam gleichzeitig mit den beiden dunklen Ehrenmännern Ihren Funkspruch an Bord. Sie selbst können mit mir nach Iquitos gehen, wo ich einen Tag festmache. In Loreto können Sie dann die Verfolgung der Schmuggler mit Leichtigkeit aufnehmen.‹ – Ich denke, wir nehmen Kapitän Lojas Vorschlag an.«

»Aber, bester Miquelino Coelho, dann kommen wir doch, wie Sie selbst sagen, erst zwei Tage später als Duponne in Loreto an! Ich verstehe nicht, wie Sie sich einreden lassen konnten, daß das Aufnehmen der Spur dann ein leichtes sei.«

Coelho lächelte verschmitzt. »Einer allerdings – einer von uns, meine Herren, muß dafür Sorge tragen, daß diese Spur nicht verloren geht.«

»Schön gesagt! Da müßte der Betreffende ja geradezu fliegen können.«

»Stimmt, Mister Dabny! Und etwas anderes soll er auch nicht tun. Hören Sie die schöne Gelegenheit, die Kapitän Loja für uns ausfindig gemacht hat: in Nauta ist heute mittag ein Ausländer im Flugzeug gelandet. Der ganze Ort spricht von nichts anderem als von diesem Ereignis. Als der große Vogel niederging, ist die halbe Bevölkerung schreiend in die Wälder geflohen – genau wie die Indianer vor siebzig Jahren entsetzt davonrannten, als sie der Lärm des ersten Amazonasdampfers erschreckte. Diesen Flieger habe ich bereits gesprochen, und er kann den Augenblick nicht erwarten, wo er Sie, Mister Kenyon, begrüßen darf!«

»Mich? Der Flieger? Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

»Vielleicht doch, wenn Sie hören, daß der Flieger aus Iquitos kommt und Professor Lincoln Child heißt ...«

»Lincoln Child?« Kenyon legte in freudiger Erregung seine Hände auf Miquelinos Schultern. »Aber das ist ja einer der Herren der Hilfsexpedition, die von der Stanford Leland-Universität ausgerüstet ist, und mit denen ich in Iquitos zusammentreffen will! Nach meiner Berechnung können die Herren noch lange nicht in Iquitos sein.«

»Na, der geflügelte Professor scheint jedenfalls da zu sein,« meinte Dick Dabny. »Mit Gespenstern wird sich unser braver Señor Coelho nicht unterhalten haben. Eilen Sie, Kenyon!«

»Gewiß. Ich suche ihn sofort auf ...«

»Nicht nötig!« rief da eine hellklingende Stimme hinter ihm. »Willkommen, Mister Harald Kenyon! Ich hatte Sie ebensowenig so rasch am Amazonas zu treffen gehofft, wie Sie mich!« Professor Child war Miquelino Coelho auf dem Fuße gefolgt, und nun war das verschmitzte Lächeln Coelhos vollends verständlich. Die Überraschung war in der Tat beiderseitig. Vor allem wußte Kenyon noch nichts davon, daß die Expedition mit einem Flugzeug ausgerüstet war. Nun war es erklärlich, daß Professor Child über Erwarten schnell am Solimões eingetroffen war. Er war den Riesenlauf des Stromes von der Mündungsinsel Mexiana aus aufwärts geflogen und hatte die mehr als dreitausendachthundert Kilometer vom Delta bis zur brasilianischen Westgrenze bei Tabatinga mit einer in der Geschichte des Flugwesens beispiellosen Schnelligkeit zurückgelegt. In diese glänzende Leistung teilte er sich mit dem Berufsflieger, denn Professor Child, der geborene Sportsmann, hatte sich nicht daran genügen lassen, den Beobachter zu spielen, sondern weite Strecken der ungeheuren Fahrt das prächtige Flugzeug selbst gesteuert. Am eigentlichen Ausgangspunkt der Expedition, in Iquitos, angelangt, wo die andern Teilnehmer erst etwa in einer Woche erwartet wurden, hatte er heute einen Erkundungsflug nach Nauta unternommen, um auf gut Glück auf eine Nachricht von Harald Kenyon zu stoßen. Größer als die Überraschung, diesen hier tatsächlich zu finden, war aber sein Erstaunen, als er nun von Kenyon erfahren sollte, in welch wunderbarer Weise durch eine Reihe glücklicher Zufälligkeiten von ihm und seinen Begleitern bereits ein schwerer Teil der Aufgabe gelöst war.

»Sie haben uns beinahe nichts übriggelassen, alles haben Sie, der einzelne, herausgefunden,« rief er, förmlich benommen von dem Gehörten. »So oft mein Blick auf den dunklen Wald fiel, der unter mir wie ein uferloses Meer von Horizont zu Horizont wogte, überkam mich der bange Gedanke, daß es ein Ding der Unmöglichkeit sei, sich durch dieses Labyrinth zu dem erhofften Ziel durchzuschlagen. Sie aber, lieber Kenyon, drücken der Expedition gleichsam ein Knäuel in die Hand, wie es Ariadne dem Theseus reichte, daß er sich aus den grausamen Wirrsalen des Labyrinths herausfinden konnte.«

»Kommen Sie!« flüsterte Dick Dabny, Miquelino am Arm fassend. »Kaum ist einer der Herren Professoren eingetroffen, da beginnt auch schon der Geschichtsunterricht. Wenn der Mann mich examiniert und nach dem alten Theseus fragt – ich bin glatt erschlagen.«

Damit zog er Miquelino ins Freie. Es gab ja jetzt viel zu erledigen. Bento Araúyo sollte am nächsten Tage mit den Ruderern auf der Lancha nach San Antonio zurückkehren. Bis auf einen, bis auf den Mann, der im Flugzeug die Verfolgung Duponnes aufnahm, sollten alle anderen auf den »José Pombo« übersiedeln. Als Ausgangspunkt für die Expedition hatte sich von selbst Loreto ergeben. Dorthin wollte Professor Child seine Kollegen lenken, die auf dem Wege nach Iquitos waren. Kenyon erklärte, sein Platz sei natürlich im Flugzeug. Miquelino hatte nichts anderes erwartet. Professor Child wollte den Marryat-Decker selbst steuern, und der Berufspilot sollte mit Miquelino, Mister Dabny, Prieto und Huallatingo auf dem Salzdampfer folgen.

»Das wäre für heute alles, was anzuordnen ist,« meinte Miquelino und begab sich noch einmal zu den beiden Indianern, die noch immer wie leblos in der Hütte lagen. Da merkte er, daß ihm jemand gefolgt war; als er sich umdrehte, stand Bentos Ältester hinter ihm. »Ich muß Euch sprechen, Don Miquelino,« sagte der Junge. »Ihr habt etwas Wichtiges vergessen –«

»Was? Du bist ja ganz erregt. Was soll ich denn vergessen haben?«

»Kaiman, Don Miquelino! Wie wollt Ihr den Mann, den Ihr sucht, finden, wenn Ihr nicht den Hund und mich mitnehmt?«

»Natürlich begleitet mich der Hund. Aber du?« Und Miquelino lachte. »Davon wird dein Vater, der nach San Antonio zurückkehrt, schwerlich etwas wissen wollen. Oder willst du wieder einmal den blinden Passagier spielen?«

»Ich habe Kaiman angelernt. Ihr könnt es nicht ohne mich unternehmen, die Fährte zu suchen.«

»Hoho, reichlich selbstbewußt! Hören Sie sich den Knirps an, Mister Dabny, was sagen Sie dazu?«

»Gefällt mir. Forsche Jungen kann man immer gebrauchen. Ich werde ein gutes Wort für ihn einlegen.« Das tat Dick Dabny. Er sagte zu Bento, dem Vater: »Ich brauche einen zuverlässigen Wächter für meine Apotheke, und ich werde meine Hand über ihn halten. Wenn Ihnen ein Mann das sagt, der über meine Handschuhnummer verfügt, so wissen Sie Bento junior gut aufgehoben. Und sehen Sie Ihren Jungen an – der Jüngste, nicht der Geringste. Daß er mit einem hübschen Taschengeld wieder nach San Antonio kommt, das lassen Sie gleichfalls meine Sorge sein.«

Bento Araúyo war schon so gut wie gewonnen. »Schließlich besser, er geht mit Ihnen, als daß er mir die Ohren vollheult.«

»Gemacht!« sagte Dick Dabny. »Nach San Antonio kommt man, um mit Miquelino Coelho zu reden, immer noch früh genug. Und nun vorwärts, Junge, meinen Rucksack auf den Salzdampfer getragen!«

Bento junior machte einen Freudensprung, laut belfernd fuhr Kaiman hinter ihm her.


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