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1. Der Mann, der es eilig hatte

Als Harald Kenyon, auf der Kante des Gebirges angelangt, seinem Maultiertreiber die Zügel zuwarf und aus dem Sattel stieg, geschah es wie auf einen Zauberschlag, daß sich die Nebel, die alle Schluchten gefüllt hatten und an die Sierraabhänge anwehten, in Durchsichtigkeit auflösten und den Blick in eine sanfte, lichte Weite freigaben.

Tief abwärts, weithin breitete sich am Fuße des Gebirges, das sich vom untersten Felsentor des Maranhão, dem Pongo de Manseriche, südwärts nach Balsapuerto zieht, die ungeheure bewaldete Ebene mit dem blauglühenden Band des Riesenstromes von Amazonien, des Giganten unter den Strömen der Erde. Zum ersten Male sah Harald Kenyon den Fluß, der sein Ziel war. Der Fluß und jene große grüne Mauer, die sich endlos an seinen Ufern dehnte, weit hinaus über den Grenzsaum Perus, einem uferlosen Meere gleich, einem undurchdringlichen, geheimnistiefen, das bis zum fernsten Horizont wogte und rauschte – dieses Riesenstromes Ufer und dieser dichte Urwald würden den landfremden Mann nun wochen- und mondelang festhalten. Denn Harald Kenyon war gekommen, diesen Ufern ein Geheimnis zu entreißen. Ob es glückte, ob er und die Helfer, die ihm ein wohlgesinntes Schicksal bescheren sollte, und denen er sozusagen als Quartiermacher vorausgeeilt war, eines Tages unverrichteter Dinge, oder ob sie überhaupt wohlbehalten wieder umkehren würden – das stand in eines Höheren Hand.

Dieses Reich der Wälder und Kamps, die der Naturforscher Hyläa, das Waldland, getauft hat, gab kein Geheimnis freiwillig preis. In seiner unergründlichen Wildnis hatte es auch Harald Kenyons Bruder festgehalten, den außerordentlichen Professor Edward Kenyon, der fast drei Jahre lang seinen geographischen und ethnographischen Studien längs des Amazonas nachgegangen – und nicht zurückgekehrt war. Seit sechzehn Monaten, seit dem Augenblick, in dem er der Stanford Leland-Universität in Palo Alto (San Franzisko) die Nachricht hatte zukommen lassen, daß er zur Heimreise rüste und in wenigen Tagen die peruanische Grenze zu erreichen hoffe, von wo aus er in Iquitos zu einer amerikanischen Gummisammlerkolonne stoßen werde, seit jenem Augenblick fehlte jedes Lebenszeichen von ihm.

Die in dem Briefe erwähnte Gummisammlerkolonne, mit deren Leiter Professor Edward Kenyon wenige Wochen zuvor in einem Seringal westlich des brasilianischen Santa Cruz-Amazonas zusammengetroffen war, hatte den Forscher vergeblich in Iquitos erwartet. Weder in dieser Niederlassung noch in den weiter nach der brasilianischen Grenze zu gelegenen Ortschaften hatte sich seine Spur gefunden, obwohl sich die Universität von Palo Alto und Harald Kenyon keine Nachforschung hatten verdrießen lassen. In den Wäldern, in denen die Axt der Seringueiros – der in den Kautschukwäldern, den Seringaës, beschäftigten Arbeiter – schallte, endete die Spur. Sie lag begraben hinter der grünen Mauer, deren Ausläufer sich an den Fuß des Gebirges heranzogen, und deren Ende sich in der blauen Lichtflut der Ferne verlor.

Nie war sich Harald Kenyon seines schier aussichtslosen Vorhabens mehr bewußt geworden als in dem Augenblick, wo sich aus dem zerreißenden Nebel die endlose Weite vor ihm auftat. Unerobert, unbezwungen dehnten sich diese undurchdringlichen Riesenwaldungen. Mochte der Mensch sich rühmen, daß heutzutage vor seinem flinken, zähen Auto und seinen verbesserten Flugmaschinen kein offenes Stückchen Erde, gleichviel ob Wüste oder Pol, und kein Himmel sicher war – dieser Urwald bewachte und barg noch hartnäckig seine Geheimnisse und Wunder. Zoll für Zoll nur ließ er sich seine Heimlichkeiten abtrotzen; lang und schwer würde der Kampf sein, zu dem der Mensch auszog, in diesem Riesen die Natur zu bezwingen. Bis einmal der Tag kommen würde ...

Steinschlag klang aus der Tiefe heraus. Menschen, Zerstörer und Eroberer, waren an der Arbeit. Ein Trupp Indianer, Männer und Frauen, in schweren baumwollenen Gewändern, mit Strohhüten und schwarzen Mützen, arbeitete sich mit Hacke und Spaten unter Aufsicht einiger Beamten die Quebrada herauf. Wegbereiter, Straßenbauer waren es.

»Tucale,« sagte Huallatingo, der Maultiertreiber. Er war ein Mestizenabkömmling, ein Cholo, und er sah, obwohl er genug indianisches Blut in den Adern hatte, etwas hochmütig auf die buntgescheckte Gesellschaft der Erdarbeiter herab.

»Fleißige Leute!« sagte Harald Kenyon.

»Nicht freiwillig,« lautete die Antwort des Arrieros. »Macht Mühe, sie zusammenzutreiben. Geht den Rio Morona zwei Tagereisen hinauf, Herr, und Ihr findet sie noch völlig wild und fast nackt. Gute Bogenschützen, die Tucale da oben, aber tückisches Gelichter. In Barranca – oh, es ist kein Jahr her – da erzählte sich die ganze Gegend, daß sie zwei Weiße niedergeschossen hatten. Zwei, die keine Cholos zu ihrem Schutze mitgenommen hatten. Sie hatten Steinnüsse sammeln wollen, die Fremden, aber sie waren nicht weit den Rio Morona hinaufgekommen, als man sie tot am Ufer fand, von vielen gefiederten Pfeilen durchbohrt.«

Harald Kenyon war an die Mordgeschichten seines Begleiters gewöhnt. Seit Balsapuerto, wo er den Mann mit der Mula gemietet hatte, um sich von ihm über den Hang der Kordilleren nach San Antonio geleiten zu lassen, war kein Morgen vergangen, an dem ihm Huallatingo nicht mindestens zwei bis vier Weiße vorgesetzt hätte, die in Schluchten oder Büschen von kriegerischen Indianern niedergemetzelt worden sein sollten, nur weil sie keinen wegkundigen Arriero bei sich gehabt hatten.

Es verging noch eine Viertelstunde, bis die tief eingeschnittene Schlucht erreicht war, in der die Leute arbeiteten. Wie auf Kommando ließen alle bis zum Jüngsten ihre Spitzhacken und Spaten ruhen, als sie Harald Kenyon und seinen Begleiter die wenig wegsame Kehre herunterkommen sahen. Man hörte die Aufseher schimpfen, aber ohne Erfolg. Die Tucaleleute glotzten den Fremden wie ein Wunder an.

»Da habt Ihr Eure fleißigen Leute, Herr,« sagte Huallatingo. »Vor jedem Affen sperren sie stundenlang Maul und Nase auf.«

»Na, erlaube mal ...« wollte Kenyon aufbegehren, um den Cholo zu belehren, daß er mit seinen Vergleichen etwas vorsichtiger sein müsse, aber zwei Aufseher, beide mit schwarzem Haar, Bart und Brauen und ledergelben, scharf hervortretenden Gesichtszügen, stellten sich ihm in den Weg und lüfteten ihre mächtigen Panamahüte. Kenyon glaubte, Brüder vor sich zu haben, so ähnlich sahen sie einander, und im Laufe der Unterhaltung stellte es sich heraus, daß seine Vermutung richtig war.

Es waren wirklich Weiße, im Lande geboren, aber noch nicht lange in der Sierra. Sie hätten es Kenyon, der sich nicht erst seit gestern in den Kordillerenstaaten aufhielt und sich eine gute Volkskenntnis angeeignet hatte, nicht erst zu sagen brauchen. Die Bewohner der Sierra gelten für wortkarg und verschlossen; im Gegensatz zu diesen Serranos standen von jeher die lebhafteren Küstenbewohner. Als solche Costeños bekannten sich die beiden, die gewandt Englisch sprachen. Sie waren beide zu gleicher Zeit, erzählten sie, krank geworden und von den Ärzten aus dem subtropischen »Wüstenklima« der Küste für ein paar Jahre in die Höhenluft der Sierra verbannt worden. Oh, sie seien durchaus nicht mehr schwach auf der Brust, sie fühlten sich so wohl, daß sie Bäume ausraufen möchten, aber ihre Sehnsucht stehe danach, aus dieser Verbannung fortzukommen.

»Sie wissen, Gentleman, unter welch trägem Volk wir hier hausen. Zu Tode muß man sich ärgern über diese roten Heiden. Sie sehen selbst, was für ein Pack das ist, und der schnurrige Herr, der vor einer Stunde auf demselben Weg wie Sie die Quebrada herabgeritten kam, hat so unrecht nicht. Er meinte, wir sollten fleißig die Nilpferdpeitsche gebrauchen, oder wenn wir keine hätten, das spanische Rohr. Er hat im Bogen ausgespuckt, als er unsere Indianer sah.«

»Muß ein freundlicher Mensch gewesen sein,« sagte Harald Kenyon.

»Vor allem eine verrückte Schraube,« antwortete der andere Bruder. »Er kam wie Sie auf einer Mula, aber von zwei Chinesen gefolgt, die er in Cajamarca für seine Expedition angeheuert hat. Er sagte, er traue keinem Indianer über den Weg. Hatte es außerdem verdammt eilig und beherzigte unsere Warnung nicht, den direkten Abstieg zum Maranhão zu meiden. Der Pfad ist mit wüstem Geröll bedeckt, und über die Brücke bei der Roten Quebrada möchte ich, da sie lange nicht ausgebessert worden ist, keine Ziege jagen. Möglich, daß Sie den Mann unterwegs auflesen. Sie wählen doch die Fortsetzung der Kehre, auf der Sie kamen, obwohl es einen Umweg von zwei Stunden bedeutet?«

»Ich habe Zeit. Man sagte mir, daß ich auf dem Weg nach San Antonio mehrere Ranchos finden werde.«

»Sie sind nicht zu verfehlen. Doch es sind weder Ventas – Schenken – noch Posadas; wie man uns sagte, nur Schafhürden, die leerstehen, wenn ihre Besitzer mit den Herden auf der Weide bleiben. Nun, Sie sind gut verproviantiert.«

»Bis San Antonio wird es uns an nichts fehlen.«

»Wenn Sie Ihre Geschäfte in San Antonio erledigt haben, werden Sie zurückreisen?«

Kenyon schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nach Iquitos. Ich will die Spur eines Vermißten suchen.«

»Ein weiter Weg, Gentleman. Aber – merkwürdig! – auch der Landsmann von Ihnen, der hier durchkam, will nach Iquitos und von da aus eine Spur aufnehmen. Das war alles, was wir aus ihm herausbekamen. Sie verstehen, unsereins liest keine Zeitung, lebt immer in dieser einsamen Bergwelt; das läßt einen neugierig erscheinen.«

Harald Kenyon lächelte verständnisinnig. Was an ihm lag, so wollte er gern die Neugier der so weit hinter den letzten Pfiff der Lokomotive verschlagenen Hinterwäldler befriedigen. »Ich suche die Spur meines Bruders,« sagte er auf Spanisch, »der mir so ähnlich sah, wie Sie sich ähnlich sind, Caballeros. Nichts blieb unversucht, wochenlang haben wir mit den Funkenstationen in Iquitos und Cruzeira gesprochen und in allen großen Zeitungen Perus und Brasiliens einen Aufruf erlassen. Jetzt bin ich selbst gekommen. Schritt vor Schritt will ich den langen Weg gehen, und wohl hundertmal oder mehr werde ich unterwegs die Frage stellen müssen, die ich an Sie richte: ›Haben Sie einen Fremden getroffen, der mir ähnlich sieht?‹ – Dieses und Ähnliches werde ich überall zu fragen und wohl ebensooft ein Kopfschütteln als Antwort zu gewärtigen haben. Aussichtslos mag manchem mein Unterfangen vorkommen.«

Die beiden Peruaner schwiegen, denn im stillen mochten sie Kenyon recht geben, aber ihre Höflichkeit, das Erbteil ihrer kastilischen Vorfahren, ließ sie dann sagen, daß durchaus nichts aussichtslos sei, und sie hatten auch gleich ein halbes Dutzend Beispiele zur Hand, wo lange für vermißt Gegoltene wieder aufgetaucht seien, nachdem längst die letzte Hoffnung begraben worden sei. Kenyon schied von den freundlichen Costeños, nachdem er seinen letzten Vorrat an Zigaretten brüderlich mit ihnen geteilt hatte, von ihren besten Wünschen begleitet. Die beiden brachten ihn selbst noch bis zur nächsten Wegbiegung und versicherten ihm, daß sein Besuch ihnen die liebste Erinnerung des Jahres bleiben werde. Lange noch konnte der Scheidende sie sehen, wie sie auf einer kahlen Felsklippe standen und ihm mit ihren breitrandigen Hüten einen Abschiedsgruß nachwinkten.

Huallatingo hatte aus ein paar aufgefangenen Gesprächsbrocken zum ersten Male etwas von den weiteren Reiseplänen seines weißen Herrn gehört. Ganz im Gegensatz zu den beiden Peruanern erklärte er: »Hört auf meinen Rat, o Herr, begebt Euch nicht in eine Gefahr, aus der es kein Entrinnen gibt! Wen der Wald verschluckt hat, den gibt er nicht wieder heraus.«

»Fängst du schon wieder zu unken an?« rief Kenyon nicht eben freundlich. »Kein Mensch zwingt dich, mit mir weiter als bis nach San Antonio zu gehen. Den ferneren Weg laß meine Sorge sein!«

Doch der Arriero hatte nur ein Achselzucken. »Die Señores, die sich meinen Ratschlägen gefügt haben, sind immer gut gefahren. Ihr mögt vieles gesehen haben, aber Ihr kennt nicht diesen Wald von Amazonien. Schon bis San Antonio ist es ein beschwerliches Stück, und wir können von Glück reden, wenn uns unterwegs nichts Schlimmeres bevorsteht als das furchtbare Gewitter, in dem mich gestern um Haaresbreite ein Araribabaum erschlagen hätte. Schon bis San Antonio ist es nicht geheuer – um wieviel mehr in den schwarzen Wäldern, die kein Ende nehmen. Wenn Euch keine Anakonda anfällt, kann Euch ein Puma zerreißen. Wenn Euch kein Puma frißt, kann einer der wilden Urarinas oder Cocamas aus dem Dickicht brechen. Tausend Füße hat das Verderben, das Curupira aussendet gegen die Unberufenen, die ihren Fuß in seinen Wald setzen.«

»Ich kenne keinen Herrn Curupira und wünsche nicht seine Bekanntschaft zu machen.«

»Ihr sucht sie ja gerade, Herr! Wie wollt Ihr die Spur des weißen Mannes ohne ihn finden? Alle sind ihm untertan ... Mae d'Agua, die große Mutter der Wasser, Jurupary, der nachts an deinem Lager steht, wenn du die Lichter löschest, Maty-Taperé, der entsetzliche Zwerg, der lahm ist und wie ein heiserer Inambu schreit.«

»Von was für entzückenden Wesen redest du eigentlich?« unterbrach Kenyon den plötzlich so schwatzhaften Cholo.

»Curupira,« antwortete Huallatingo ganz ernsthaft, während er seine Bröselpfeife, deren Rand durch den langen Gebrauch ganz zerfressen war, bedächtig in Brand setzte, »Curupira ist der mächtige Geist des indianischen Waldes. Es ist schwer, nicht an ihn zu glauben, auch wenn man kein Indianer ist. Er ist groß wie ein tausendjähriger Baum und hat nur ein Auge. Mitten in der Stirn hat er die Augenbraue. Wehe Euch, wenn er Euch seine blauen Zähne weist!«

»Aha, also ein Waldgeist! Hast du schon einmal seine Bekanntschaft gemacht?« fragte Kenyon.

Der Mestizenabkömmling schüttelte den Kopf. »Selten,« sagte er, »zeigt Curupira sein wahres Gesicht. Gewöhnlich erscheint er dem Wanderer in verzauberter Gestalt. Ihr seht eine schöne Frau, Ihr folgt ihr – und schon sinkt Ihr in die Tiefe, oder Ihr gleitet in das trügerische Pflanzendickicht über den Sümpfen, das die Igarapés umgibt, die schmalen Bootpfade im Waldgestrüpp. Oder ein andermal ...« Huallatingo zuckte zusammen und schlug ein Kreuz. Ein Schrei – ein Schrei, der in ein Brüllen ausklang, hatte die Stille zerrissen. Unwillkürlich zog Harald Kenyon sein Maultier, das die Ohren steif aufrichtete, am Zügel. Es stand sofort.

»Woher kam der Schrei?« Gespannt lauschend, richtete sich Kenyon im Sattel auf. Doch alles blieb still. Nur ein Specht pochte in der Nähe, und leuchtende Schmetterlinge flatterten über das Rankengewirr des sich durch rote Felsen windenden Bergpfads. Der Schrei wiederholte sich nicht, und Huallatingo hatte sich soweit gefaßt, daß er flüsterte: »Schrie wie ein richtiger Mensch ...«

»Was sonst!«

»Curupira! Ihr seht, man braucht nur von ihm zu sprechen, schon weiß er sich zu melden. Er warnt, er verwirrt die Sinne.«

»Aber das ist ja Unsinn!« unterbrach ihn Kenyon und trieb seine Mula vorwärts. Er wußte nur soviel, daß der Schrei aus der Tiefe gekommen war; ob rechts oder links des Weges, das war nicht zu unterscheiden gewesen. Aber jedenfalls gab es kein Besinnen, dem Rufe nachzugehen. Der Cholo warnte umsonst: »Vorsicht! Langsam, Herr – daß uns Curupira nicht ungnädig wird. Er hat gewarnt! Heute hat er wie ein Mensch geschrien, ein andermal faucht er wie ein Jaguar, oder er zischt als Schlange. Auch mit zwei Köpfen zeigt er sich.«

»Kein Wort mehr!« Jetzt hatte Kenyon das Gespräch ernstlich satt. Da unten rang vielleicht einer mit dem Tode, und dieser braune Narr kramte Gespenstergeschichten aus, wie sie allenfalls eine indianische Mutter ihren roten Rangen abends am Lagerfeuer erzählte. » Adelante! Vorwärts!« kommandierte er. Er sah allerdings bald ein, daß er zu Fuß schneller vorwärts kommen konnte, denn der Maulesel geriet bei dem steilen Gefälle des tonigen und vom letzten Gewitter her noch schlüpfrigen Weges ins Rutschen und konnte kaum mit dem Arriero Schritt halten. So sprang Kenyon ab und eilte dem Tier und seinem Führer, so gut es ging, voraus, indem er sich mit den Händen an dem blattlosen Gestrüpp, das den Pfad an der einen Seite säumte, festhielt und zugleich weiterziehen ließ. Zur Linken gähnte die Quebrada. Über die Felstrümmer, die hier fast senkrecht zu Tale strebten, toste ein Gießbach. Dort unten mochte die Brücke liegen, von der die beiden Peruaner gesprochen hatten.

Auch der eingeschlagene Weg, der sich immer abschüssiger in engen Schlangenlinien abwärts wand, führte über eine Brücke, aber sie war wie von der Natur gewachsen, so fest war sie durch beim Sturz in die Tiefe festgepreßte Felsblöcke gebildet. Kenyon wollte eben seinen Fuß darübersetzen, als er von einer der hochragenden Wände einen Stein niederpoltern sah; als er hinaufblickte, gab es ihm einen Ruck, und er glaubte im ersten Augenblick, eine Sinnestäuschung äffe ihn. Denn da oben über dem Hang zeigten sich – zwei Köpfe, zwei grinsende Fratzen!

Kenyon, der gewiß keine Furcht kannte, fühlte, wie ihm das Blut durch die Schläfen brauste. Er hielt die Hand vor die Augen, um dann abermals in die Höhe zu blicken. Die beiden Gesichter waren noch immer da – unbeweglich, aber grinsend –, über ihn wegsehend, sie konnten ihn wohl auch nicht sehen. Jetzt erkannte er, daß es gelbe Gesichter waren – Chinesenfratzen. Da brach sich der Spuk für Kenyon. Hatten die Peruaner nicht vor einer Stunde von zwei chinesischen Kulis gesprochen, die mit dem Fremden, der es so eilig gehabt hatte, die untere Straße ins Flußtal geritten sein sollten? Nur Huallatingos Faseleien von dem Waldgeist, der sich mit zwei Köpfen den Eindringlingen in sein Reich entgegenstelle, hatten ihn einen Augenblick betroffen gemacht. Nun er die Chinesen gewahr wurde, brachte er sie in schneller Gedankenverbindung mit dem Schrei, der ihm noch in den Ohren klang, in Zusammenhang. Wo war der Herr, wenn die gelben Peones da oben hinaufgeeilt waren? Hielten die beiden Burschen nicht vorsichtig Umschau? Etwas konnte da nicht stimmen!

Er drückte sich dichter hinter den über die Brücke hängenden Busch und gab dem mit der Mula näher kommenden Cholo einen Wink, sich still an ihn heranzuziehen. Huallatingo verstand nicht recht, aber er gehorchte. Währenddessen spähten die beiden Chinesen da oben weiter aus. Der eine richtete sich auf; sie schienen mit ihrer Erkundung zufrieden, und es war offenbar, daß sie weder Kenyon noch seinen Treiber bisher entdeckt hatten. Die aufragende Felswand hatte sie den lauernden Blicken da oben entzogen.

»Warte! Gib keinen Ton von dir!« flüsterte Kenyon. Im Nu war er über der Brücke und entdeckte am jenseitigen Hang eine Art Fußpfad. Den mußten die beiden Chinesen hinaufgeklommen sein, und wenn er den selbst hinanstieg, kam er ihnen gerade in den Rücken.

Seine Befürchtung, daß hier etwas nicht in Ordnung war, wurde verstärkt, als er an einem Baum ein vollbepacktes Maultier angebunden sah. Das konnte nur das Tier des Mannes sein, der nirgends zu sehen war. Er hatte noch nicht drei Schritte gemacht, als die beiden Chinesen gleichzeitig herumfuhren und bei seinem Anblick so jäh zusammenzuckten, daß ihnen das böse Gewissen von der Stirn zu lesen war.

Doch nur eine Sekunde standen sie wie erstarrt, dann wechselten sie ein Wort und kamen in hastigen Sprüngen den Abhang herunter. Der eine hielt krampfhaft ein Jackett unter den Arm gepreßt, das zweifellos keinem Chinesen gehörte. Wie verabredet, würdigten sie Kenyon nicht eines Blickes, sondern kletterten sofort auf den Maulesel, und so gedachten sie, einer hinter dem andern hockend, auf und davon zu gehen.

Aber mit harter Faust hielt Harald Kenyon im gleichen Augenblick auch schon die Mula an der Halfter. »Stopp! Wohin soll die Reise gehen? Wo haben Sie Ihren Herrn gelassen?«

Statt aller Antwort grinsten die Gelben, und ihr Achselzucken sollte wohl sagen, daß sie ebensowenig Englisch verstünden wie der Fremde Chinesisch. Der Vordere machte gleichzeitig eine Handbewegung nach der Halfter.

»Nun, wird's bald? Ich warte auf Antwort. Wo ist Ihr Herr?« wiederholte Kenyon, die Hand des Chinesen zurückschlagend.

» Damn!« entfuhr es dem Kuli, und damit hatte er sich verraten.

»Etwas Englisch versteht ihr Bürschchen also doch! Also nun heraus mit der Sprache!« rief Kenyon. Er fand auch jetzt taube Ohren. Die Burschen gaben ein paar unverständliche Laute von sich, grinsten zwischendurch und schienen sich durch einen Rippenstoß zu verständigen, wie sie entwischen wollten.

Allein Kenyon war nicht die kleinste Bewegung entgangen, auch nicht die sich lautlos verschiebende Hand des hinteren Reiters, die nicht etwa in die eigene, sondern in die Tasche des vor ihm Hockenden tastete. Er dachte: Das nächste, was die Gelben auf dich niedersausen lassen, ist ein Gertenhieb oder ein Dolchmesser. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Maulesel wurde mit seiner Hinterhand plötzlich derart herumgeworfen, daß er Kenyon einen Augenblick aus dem Gleichgewicht brachte, und blitzschnell zuckte über ihm eine funkelnde Klinge. Sie stieß ins Leere. Kenyon hatte nichts anderes erwartet und sich flink durch einen Seitensprung gerettet. Die Halfter hatte er dabei freilich loslassen müssen, aber dafür hatte er auch schon mit einem fabelhaft schnellen Griff den Revolver gezogen.

»Hände hoch!«

Das Grinsen auf den Kulifratzen war erloschen. Erschreckt warfen sie die Arme in die Höhe.

»'runter vom Klepper!« Den Dolch schlug Kenyon mit der linken Hand zur Erde. Immer mit der rechten Hand zielend, ließ er die beiden Chinesen absteigen. Dann mußten sie sofort wieder die Arme hoch nehmen. Sie verstanden plötzlich jedes Wort. »Unserm Herrn ist ein Unglück zugestoßen. Wir wissen nichts weiter!« stieß der eine heraus.

Kenyon aber wußte genug. Er rief seinen Arriero. Huallatingo hatte inzwischen Zeit gehabt, sich von seinem Entsetzen zu erholen. Er sah zwei leibhaftige Chinesen. So sahen keine bösen Walddämonen aus. Chinesen war er niemals grün gewesen.

»Es sind Spitzbuben schlimmster Sorte,« klärte ihn Kenyon auf. »Ich fürchte, sie haben heimtückisch ihren Herrn niedergestochen und sich dann aus dem Staube gemacht.«

Der Cholo bekreuzte sich vor Grausen. Er bekam den Revolver, und laut genug, daß es die zwei Chinesen, die noch immer regungslos mit erhobenen Händen dastanden, hören konnten, den Befehl, die beiden beim leisesten Versuch, sich zu rühren, über den Haufen zu schießen. Huallatingo mußte den Befehl wiederholen. Er zeigte sich beherzter, als Kenyon es von ihm erwartet hatte; nur das Schießeisen hielt er möglichst verdreht sich weit vom Leibe ab. Da er aber hinter den Kulis stand, die ihn nicht sehen konnten, fiel das nicht ins Gewicht. Um ganz sicher zu gehen, band Kenyon die beiden Gelben noch rasch mit ihren Zöpfen zusammen. Der Rest ihrer Haare stand ihnen kreuzweis zu Berge.

»Weißer Señor Unglück zugestoßen. Wir unschuldig!« jammerte der eine.

»Ruhe! Sonst schießt's!« war Kenyons Antwort. Dann eilte er den Hang hinunter. Die Hufe des Maulesels zeigten ihm den Weg. Er führte geradeswegs nach der Schlucht. Hier bildeten die Eselshufe und die Sandaleneindrücke der Kulis ein wüstes Durcheinander. Eine Stiefelspur fehlte merkwürdigerweise.

Sie haben ihn in die Tiefe geschleudert, dachte Kenyon. Da entdeckte er, mitten in einer etwas tiefer liegenden Pfütze, einen braunen Schnürstiefel, und am Rande des Abhangs einen zweiten. Daß die Chinesen ihrem Opfer vor der Tat die Stiefel ausgezogen hatten, wollte ihm nicht in den Kopf. Im selben Augenblick zuckte er zusammen; ihm war es, als habe jemand gestöhnt.

»Hallo!« rief er. »Ist hier jemand?«

»Wenigstens hängt hier einer,« antwortete zu seinem maßlosen Erstaunen eine Stimme. Kenyon beugte sich über den dichten Baccharisstrauch und glaubte, als er die Zweige auseinanderschlug, seinen Augen nicht trauen zu können: an dem wagrecht über die Schlucht hinausragenden knorrigen Strunk eines Erlenbaumes hing hier, krebsrot im Gesicht, ein Mann, das eine Bein in der sogenannten Kniewelle um den Ast gebogen, den er mit beiden Händen umkrampft hatte. Unter ihm gähnte der dunkle Felsenspalt.

»Keine angenehme Lage,« setzte der Mann hinzu, ehe Kenyon über einen Ausruf des Staunens hinausgekommen war. »Auf die Dauer selbst für einen Turner etwas anstrengend. Hoffentlich haben Sie einen Lasso, mit dem Sie mir unter die Arme greifen können.«

Über solche Kaltblütigkeit war Kenyon sprachlos. Er riß sich seinen Ledergürtel vom Leibe und zog die Riemen aus seinen Gamaschen. Ein paar fest angezogene Knoten gaben schnell eine Schlinge, die er dem zwischen Himmel und Erde Schwebenden über den Kopf werfen konnte.

»Ausgezeichnet!« lobte der merkwürdige Mann. »Nun, bitte, ganz langsam und gediegen ziehen ... ah ... uff ... sehen Sie wohl!« Nun war er schon mit dem Oberkörper hoch gekommen. Er saß noch mit eingeschlagenem Knie auf dem Ast, als er auch schon zu schimpfen anfing. »Solch eine gemeine Bande von Buschkleppern! Diese gelben Schufte! Und das ausgerechnet mir, der ich mit jeder Minute geizen muß!«

»Kommen Sie nur erst einmal heraus!« drängte Kenyon; er war in größter Sorge, daß der Baumstrunk noch in letzter Sekunde brechen könne. Dabei sah er mit Befremden, daß der Gerettete Stiefel an den Füßen trug ... sehr seltsame, aber doch Stiefel. Er überlegte, wem die andern gehören sollten.

Der Mann mit dem krebsroten, bartlosen Gesicht hatte sich herangehangelt, Kenyon konnte ihn vollends heraufziehen. Noch auf dem Bauche liegend, stieß der Errettete sämtliche Schimpfwörter hervor, die ihm zur Verfügung standen. Dann spuckte er sich in die mit dicken Striemen bedeckten Handflächen und sagte: »Ich vergaß, mich vorzustellen, Gentleman ... ich heiße Dick Dabny, und Sie dürfen mir glauben, daß ich mich durchaus nicht freiwillig an das Reck gehangen habe. Ich turne für mein Leben gern, aber ich bin Ihnen zu unauslöschlichem Dank verpflichtet, daß Sie meinen Kniewellen ein Ende gemacht haben. Schurken, Mörder, heimtückische Bestien haben mich überfallen, als ich hier absaß und den Rock abwarf, weil mich eine Feuerameise in die große Zehe gezwickt hatte. Gerade wechsle ich die Stiefel, da spüre ich einen knalligen Rippentriller, drehe mich um und um –, und bevor ich richtig aufschreien kann, kugle ich schon in die Tiefe. Die Mörder sind natürlich entwischt. Sie sollen nicht weit kommen, und wenn ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen muß ...«

»Denke, daß Sie das nicht nötig haben.« Kenyon stellte sich vor. »Ich hörte Ihren Schrei. Gleich darauf sichtete ich Ihre gelben Schufte ...«

»Und haben sie gestellt? Und mein Zebra dazu?«

»Wenn Sie damit Ihre Mula meinen, Mister Dabny, alle drei!«

»Das grenzt ans Wunderbare! Wie haben Sie das angestellt?«

»Wunderbarer ist doch, denke ich, Ihre Rettung ...«

»Oh, das sah schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war. Ich bekam den Ast zu fassen, und etwas weiter unten starrten noch ein paar andere aus der Mauer. Ich wäre etappenweise zu den Aasgeiern – Guacharos schreibt sich, glaub' ich, das Federvieh, das da unten in der Tiefe nistet – abwärts jongliert. Aber schlimmer als die Aussicht, von Stockwerk zu Stockwerk zu purzeln, war mir der Gedanke, daß die gelben Halunken mit meiner Brieftasche, meinem Esel und allem, was ich auf der Fahrt brauche, schon über alle Berge sind. Können sie auch wirklich nicht ausreißen?«

»Ein wenig habe ich sie zusammengekoppelt, und im übrigen paßt mein Arriero auf.«

»Dann ist es gut!« Dick Dabny hob die gelben Stiefel auf. Er selbst trug Lackstiefel an den Füßen. Als er den zweiten angezogen hatte, war das meuchlerische Attentat erfolgt. »Sind die Burschen weit gekommen?«

»Nur einige fünfzig Schritt noch. Sie werden Augen machen, denn sicher sind sie der Meinung, daß Sie in der Tiefe zerschellt liegen.«

»Ein Gefallen, den ich ihnen nicht getan habe. Nun – meine Rache soll süß sein!« Dick Dabny streifte sich die Hemdärmel hoch.

»Was beabsichtigen Sie zu tun?« fragte Kenyon.

»Ich werde meinem Beruf nachgehen. Nun, Sie werden gleich sehen. Wirklich Tatsache, da stehen die beiden lieben Jungen! Na, warte, die madigen Melonen sollen an Dick Dabnys Kinnhaken lange zu kauen haben!«

Wie zwei rechte Jammergestalten standen die Kulis da. Zu feige, sich umzudrehen, – wobei sie wahrscheinlich gesehen haben würden, daß Huallatingo noch immer angst- und schmerzvoll sich den Revolver weit vom Leibe hielt –, waren sie noch mucksmäuschenstill, und die erhobenen Arme wackelten merklich. Dick Dabny schrie: »He!«, und durch die gelben Sünder ging es wie ein elektrischer Schlag; ihre bezopften Köpfe schlugen laut gegeneinander. Die wohlbekannte Donnerstimme des weißen Señors, den sie zu tiefst unter den lotrecht abstürzenden Felswänden schon eine Beute der Guacharos wähnten, wirkte auf sie wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Sogar die Arme sanken ihnen herab. Im nächsten Augenblick trennte ein kurzer Hieb von Dick Dabnys Hand das Zopfknäuel, daß sie in die Knie sanken, und als sie sich schlotternd wieder erheben wollten, sprang er erst gegen den einen und dann gegen den anderen nicht anders an wie eine wütende Bulldogge, das heißt, jeder bekam einen so gehörigen Haken heruntergehauen, daß er sofort knockout geschlagen war.

»Lektion eins!« sagte Dick Dabny und brachte seine Ärmel in Ordnung, dann zog er den blauen Rock an, befühlte mit Genugtuung die Stelle, wo seine Brieftasche steckte, und meinte zu Kenyon, vor dessen Augen sich das Strafgericht so blitzschnell vollzogen hatte: »Ich bin nämlich Boxer.«

»Ich sehe es!«

»Itchi und Sin Fo, oder wie diese infamen Schlitzaugen heißen, die ich mir in Cajamarca auf den Hals geladen habe, werden jetzt zwanzig Minuten lang kein Glied rühren. Ich habe die Wirkung meines neuen Hakens genau auf die Sekunde ausprobiert. Diese zwanzig Minuten, aber auch nicht eine länger, werde ich noch warten. Dann muß ich unbedingt weiter. Ich habe es gewaltig eilig.«

»Ich denke, wir haben denselben Weg, Mister Dabny ...«

»Natürlich! Bergab. Es braucht nur nicht so geschwind zu gehen, wie mich diese gelben Vampire hinunterbefördern wollten.«

»Wie kamen Sie auf den Gedanken, sich Chinesen zu mieten statt Eingeborene?« fragte Kenyon, während Mister Dabny daran ging, seinem braven Maulesel die ganze Last abzunehmen und auf den Boden zu legen.

»Weil ich bis vor einer Stunde der Meinung war, daß die Indianer die nichtswürdigsten Burschen unter der Sonne sind. Leider habe ich, wie Figura zeigt, gemerkt, daß die Chinesen keinen Deut besser sind.«

»Haben Sie so schlimme Erfahrungen mit Indianern gemacht?«

»Ich nicht, aber mein Bruder Samuel. Deswegen bin ich hier. Ich suche ihn. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß er mit seinen Reichtümern einer habgierigen Indianerhorde zum Opfer gefallen ist. Na, ich erzähle Ihnen das später. Ich habe es, wie gesagt, rasend eilig, nach Iquitos zu kommen. Und Sie, Mister Kenyon?«

»Ihr Ziel ist auch das meine, und, merkwürdig genug, auch ich suche meinen Bruder, der aus Amazonien nicht zurückkehrte.«

»Da haben wir's!« rief Dick Dabny. »Die ganze Gegend scheint von Räubern zu wimmeln. Besaß Ihr Bruder auch Diamanten? – Nicht? Was sonst?«

»Viel irdische Schätze waren bei ihm nicht zu holen.«

»Dann haben die Rothäute welche bei ihm vermutet. Mein Bruder Samuel hatte Diamanten. Ich bin nicht der Mann, der gutwillig solchen Sack Diamanten fahren läßt, und wenn ich den ganzen Amazonas durch ein Sieb laufen lassen und den letzten Busch und Baum um- und umdrehen müßte.«

»Kalkuliere, daß Ihnen das etwas schwer fallen würde.«

»Zugegeben. Es wird auch nicht so weit kommen. Ich habe natürlich einen bestimmten Fleck im Auge, wo ich einhaken kann. Mein Bruder Samuel war ein gewissenhafter Junge. Ich besitze ziemlich bestimmte schriftliche Aufzeichnungen von ihm, wo er sich zuletzt aufgehalten hat. Na, das Indianerdorf kann sich gratulieren! Und nun, denke ich, ist es Zeit, daß wir die Kulis wecken. Sagte ich's nicht? Genau neunzehn und eine halbe Minute, und Master Sin Fo schlägt seine Taubenäuglein auf.«

Gleich darauf regte sich auch Itchi. Die beiden wurden von Dick Dabny vollends ermuntert. »Antreten!« kommandierte er. »Zugepackt!« Und er wies auf die dem Maulesel abgenommene Carga. Die Last wanderte auf die Schultern der Gelben. »Das werden sie jetzt ganz brav tragen,« erläuterte Dabny. »Sie sollen ihren Buckel fühlen und an den Weg denken.«

Als man aufgesessen war und die beiden Chinesen schwerbepackt den Zug eröffnet hatten, ließ Dick Dabny noch einmal halten. Angesichts der Stelle, wo er in hängender Pein eine so fürchterliche Viertelstunde verbracht hatte, begann seine Wut wieder zu rauchen. Die Chinesen mußten ihre Alpargatas ausziehen, die Dick Dabny in hohem Bogen in die Schlucht warf. »Das ist Lektion zwei,« meinte er, »daß diese honetten Jünglinge barfuß laufen. Chinesenfüße pflegen empfindlich zu sein.«

Kenyon widersprach nicht; an dem todeswürdigen Verbrechen gemessen, das die Gelben geplant hatten, war ihre Strafe noch glimpflich genug. Dabny trieb die unter der Last Dahinwankenden nicht eben freundlich zur Eile.

Trotzdem kam man nur langsam vorwärts, denn der Pfad unterhalb der natürlichen Brücke war oft nichts anderes als das, was die Eingeborenen Camellones – Maultierstufen – nennen. Zudem war die Straße mit glatten Steinen besät, was den sicheren Gang der beschlagenen Maultiere wesentlich beeinträchtigte, und mehr wie einmal vom Wasser überrieselt. Dann wieder drängten sich, das Fortkommen noch mehr behindernd, die struppigen Äste der Bäume bis dicht über den Pfad, und stellenweise hörte der Weg überhaupt auf. Die Maultiere kamen ins Rutschen, dann wieder zögerten sie, weiter zu schreiten, tasteten nervös mit den Vorderfüßen umher und wichen erst unter den harten Schlägen, mit denen Dick Dabny und Kenyon ihren Hals bearbeiteten, von der Stelle.

Erst nach Stunden mühseligen Abstieges und nach dem Durchwaten eines wildschäumenden Flusses begann der Weg im ganzen stetig und allmählich abzufallen, zog sich aber mehr in die Länge, als Kenyon aus seiner Karte gefolgert hatte.

Dick Dabny gähnte. »Wo bleiben denn die vertrackten Schafhütten,« fragte er, »von denen die quittegelben Peruaner da oben sprachen?«

»Geduld! Dort – wenn ich mich nicht täusche – steht ein kleiner Rancho.«

»Wahrhaftig!« sagte Dabny, und auch Huallatingo sah das kleine rote Haus am Rande des Waldes, der sich unter ihnen dehnte. Es leuchtete in der Sonne.

Aber noch während die Reisenden sich des Anblicks der ersehnten Rast freuten, geschah etwas Wundersames. Kenyon rieb sich die Augen, Dick Dabny stieß einen Fluch aus, und Huallatingo flüsterte, ein Kreuz schlagend: »Curupira!«

Das rote Häuschen, von allen noch eben gesichtet, war plötzlich wie weggeblasen!

»Da hört doch die Weltgeschichte auf!« Dick Dabny schraubte und putzte an seinem Fernglas. »Verstehen Sie diesen Humbug?«

Kenyons Staunen hatte sich gelegt. »In der Tat, ein Humbug,« sagte er. »Ich habe vor ein paar Tagen etwas Ähnliches erlebt. Was wir da eben sahen, war eine Gesichtstäuschung, eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana. So etwas kommt in den Anden nicht selten vor, weil sich die Bergketten durch sehr verschiedene Temperaturstufen erheben.«

»Ist das Ihr Ernst? Ein Spuk? Ein Zerrbild?«

»Ein Spiegelbild. Was wir hier durch die Luft gespiegelt sahen, werden wir bald wirklich vor uns haben. Der ersehnte Rancho hat sich uns durch diese Fata Morgana angekündigt, denn der Spiegelung liegt immer etwas Wirkliches und Ähnliches zugrunde.«

»Na, das ist ja, um sich auf den Kopf zu stellen?«

»Nicht nötig, Mister Dabny, das besorgt ja eben das Spiegelbild. Sputen wir uns, und bald wird uns ein zweiter roter Rancho, der keine Luftspiegelung ist, durch seinen wirklichen Anblick überraschen.«

Dick Dabny knurrte noch etwas vor sich hin, und nur Huallatingo war nicht von dem Rätsel der Natur zu überzeugen; er wiederholte: »Curupira verwirrt unsere Sinne!«

Doch dann behielt Harald Kenyon recht: Als der letzte Abstieg hinter ihnen lag, erblickten sie vor dem Wald, der das ganze Tal füllte, ein rotes Backsteinhäuschen. Ein meilenweit rotgefärbter Himmel stand über den Baumkronen. Der Sonnenuntergang war nahe.

Dick Dabny erklärte, er habe allmählich das Vergnügen verloren, den beiden Kulis zuzusehen. Anfangs hatte er ihre Wehleidigkeit, mit der sie, unter der Maultierlast stöhnend, einherwankten, für Heuchelei gehalten. Aber nun krochen sie wirklich jämmerlich dahin.

»Mögen sie sehen, wo sie bleiben,« sagte er. »Wenn der Schafstall da vorn leer steht, dann sind sie ohnehin zwanzig Meilen vom nächsten Anzeichen von Zivilisation entfernt, worunter ich eine Kneipe am Wege verstehe. Geld dürfte auch nicht in ihrer Tasche klimpern, da ich ihnen keinen Vorschuß gegeben habe. Und daß ich sie jetzt nicht den Schimmer eines Peso sehen lasse, ist nach dem Vorfall da oben wohl recht und billig.«

»Also wollen Sie sie laufen lassen?«

Mister Dabny nickte. »Ich will sie nicht mehr vor Augen haben, und bis San Antonio ist es noch weit. Natürlich hätten sie es redlich verdient, daß man ihnen eine bastene Schnur um die Kehlen schnürt. Ich kann somit zu Lektion drei schreiten.«

»Und worin soll die bestehen?« fragte Kenyon stirnrunzelnd.

»Nur noch in einer Kleinigkeit. Ich werde ihnen noch die Zöpfe abschneiden. Es tut nicht weh, aber für einen Chinamann ist es ein Verlust, der das Ansehen des Betroffenen unter seinen Landsleuten arg herabmindert.«

Die Maßregel wurde von Mister Dabny eigenhändig vollstreckt, und dann bekam die Mula wieder die Carga aufgepackt. Kenyon war es jetzt, der zur Eile drängte. Mister Dabny kam, stieg in den Sattel und sagte: »Sie sind kahl! Dahinten können Sie die Burschen noch watscheln sehen. Ich bin überzeugt, sie werden noch ihren späten Enkelkindern von meiner hinreißenden Liebenswürdigkeit erzählen, denn so leichten Kaufes kommen sie nicht ein zweites Mal davon.«

Damit nahm er die beiden langen Zöpfe und warf sie in das nächste Wasserloch, um das sich, die Schnäbel tiefsinnig gesenkt, ein halbes Dutzend groteske Vögel aus der Familie der Tujujú malerisch gruppiert hatte.


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