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6. Auf frischer Fährte

Vielleicht war es das Aufheulen des Hundes, das gleichzeitig Kenyon und den jungen Bento aus dem Schlaf auffahren ließ. Jedenfalls war Bento sofort auf den Beinen. Er huschte zur Hütte hinaus und hatte, draußen im Dunkel angelangt, gerade noch Zeit, zur Seite zu springen, denn er sah zwei Gestalten den Weg herablaufen, auf die ganz die Beschreibung paßte, die sein Vater von den erwarteten Fremden gemacht hatte, von denen der eine ein landfremder Schmuggler und der andre ein jüngerer Indianer sein sollte.

Er hatte sich kaum hinter den Stamm eines Cajubaumes geschlichen, der seiner schlanken Knabengestalt hinreichend Deckung gegen Sicht bot, als die beiden Fremden, wenige Schritte von ihm entfernt, plötzlich im Laufen innehielten. Der Grund, weshalb sie sich duckten, war klar erkennbar; denn eben trat Kenyon aus der Hütte. Er rief: »Hallo, Benko! Wo bist du?«

Wohlweislich hütete sich der Junge, einen Laut von sich zu geben. Er war davon überzeugt, daß gleich Miquelino aus dem Dickicht hervorbrechen und dem Fremden mit dem Revolver in der Hand halt gebieten werde. Sicher war es eine Kriegslist des Hafenmeisters, daß er die Männer an sich vorbeigelassen hatte. Vielleicht wollte er von hinten gegen sie einen Schlag führen, wenn sie unten den Posten bei der Lancha in die Arme rannten. Ähnlich hatte sein Vater sich verhalten wollen.

Aber der Hafenmeister Miquelino Coelho kam nicht, und die Schritte Mister Kenyons entfernten sich. Dafür waren die Fremden stehen geblieben. Ihre Gestalten hoben sich, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatten, groß und deutlich von den naßglänzenden Büschen ab.

»Ein Weißer! Er wird Lärm schlagen,« hörte Bento den Jüngeren sagen, dessen indianischer Typ unverkennbar war.

»Nicht so bald. Miaui wird rasch handeln. Tote reden nicht.«

»Und wir? Was tun wir?«

»Was der Alte riet; gar nicht erst versuchen, eins der Boote flott zu machen, uns gar nicht zeigen, Leoncito! Eine halbe Legua stromab liegt eine Piroge, wie du hörtest. Ich kenne die Bucht.«

»Wer war das, der hier vorbeikam?«

»Weiß nicht. Einer der vier Weißen, die sich der Hafenmeister, wie wir von Miaui hörten, mitgebracht hat. Nun, die Hauptsache ist: Der Bursche da oben hat sein Teil. Er steht nicht wieder auf, und die andern können umkehren. Er war der einzige, der mich kannte. Hab's damals sofort gewußt, als er mich in Antonio stellte.«

»Mußtest du ihn niederschlagen?«

»Glied um Glied, Leoncito! Wenn dir einer ein paar Finger abschneiden läßt, wirst du ihn nicht mit Handschuhen anfassen. Solch' günstige Gelegenheit kommt nicht ein zweites Mal. Nun schnell! Jetzt haben wir freien Weg.«

Bentos Herz klopfte, als sollte es zerspringen. Kaum hatten sich die Fremden, die Malocas umgehend, auf den Weg gemacht, als er, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, hinter Kenyon hereilte. Er erreichte ihn atemlos und verstört an der Stelle, an der er eine Stunde zuvor mit seinem Vater den Wachposten bezogen hatte.

»Nirgends kann ich Miquelino Coelho sehen,« rief Kenyon. »Bist du ihm begegnet?«

»Sie haben ihn erschlagen!« stieß Bento hervor. »Ich hörte es von den beiden Schuften. Sie sahen mich nicht. Sie sind dicht an uns vorbei. Miquelino Coelho muß hier liegen, Herr!«

Harald Kenyon glaubte nicht recht zu hören. »Bist du noch im Traume?« fragte er und nahm erst jetzt das ganz entsetzte Gesicht des Jungen wahr. Da faßte er ihn an beiden Schultern. »Wie kannst du so etwas Furchtbares sagen, Kind!«

Bento zitterte vor Aufregung. Erst kamen nur verworrene Worte von seinen Lippen. Aber schließlich begriff Kenyon den Zusammenhang. Jedes Wort traf ihn wie ein Keulenschlag. Es war unmöglich, daß sich der Knabe etwas Derartiges aus den Fingern sog. Namen und Geschehnisse stimmten nur allzu genau ... der Name Leoncito –, der Duponnes indianischer Begleiter war, – die Erwähnung des nächtlichen Abenteuers in San Antonio, bei dem Duponne seinen Säbelhieb über die Hand bekommen hatte, alles das war in keinem Knabengehirn zu erfinden. Etwas Schreckliches mußte sich in der kurzen Zeit abgespielt haben, in der Miquelino Coelho hier einsam dem gefährlichen Burschen aufgelauert hatte!

Wer aber war Miaui? Wer der Alte, der offenbar Verrat geübt hatte? Wo war die Spur Miquelinos und seines wachsamen Hundes zu suchen? Ringsum in Finsternis lagen die Hütten der Indianer, die ihre friedsame Gesinnung in jeder Weise bezeugt hatten. Sie zu wecken, schien Kenyon das Wichtigste, und schon hatte er seine Trillerpfeife zwischen den Lippen. Ihr Pfiff gellte durch den Wald, zweimal, dreimal, und dann trommelte er mit der Faust an die nächste Hütte. Da sich nichts regte, stieß er die Tür auf und taumelte, als er seinen elektrischen Leuchtstab vor sich hielt, im ersten Moment erschrocken zurück. Am Boden lag Miquelino, und neben ihm kniete ein Indianer, der einen unheimlichen Eindruck machte und sich damit abmühte, den Körper Miquelinos nach der Mitte der Hütte zu schleifen.

Jeder Muskel, jede Sehne in Kenyon war gestrafft, als er vorsprang und den Alten bei den Armen packte, daß die Knochen knackten. Der alte Mann sank förmlich in sich zusammen. Seine Augen stierten starr ins Leere, von seinen Händen löste sich schwarze Erde in kleinen Klumpen. In der Mitte der Maloca war ein Loch in den Boden gescharrt. In ihm lag mit eingeschlagener Hirnschale Miquelinos Hund. Alles deutete darauf hin, daß der alte Indianer nichts anderes im Sinne hatte, als Miquelinos Körper ebendahin zu schleppen.

Der Ausdruck flammenden Zornes auf Kenyons Gesicht wich dem eines schweren Seelenschmerzes, als er seine Hand auf Miquelinos Stirn legte, und ein freudiges Aufzucken ging durch ihn, als er im selben Augenblick sah, daß der schon tot Geglaubte seine Augen aufschlug. Während sich die Hütte mit Männern füllte, die mit verzerrten Blicken in den Raum spähten, griff sich Miquelino schon mit beiden Händen an den Kopf.

»Bringt Wasser!« rief er, und Benko, der Knabe, stürzte ins Freie, um eine Kalabasse zu holen. Er rannte mit Dick Dabny zusammen, der sich rücksichtslos mit den Fäusten eine Gasse durch die an der Tür lehnenden Indianer bohrte.

»Was gibt's? Sind die Strolche gefangen?«

Er blieb fassungslos vor Kenyon stehen und erkannte Miquelino, der sich mühsam aufrichtete. Dann sah er den blutüberströmten Hund und den täppisch mit den Fingern an der Grube herumtastenden Alten.

»Hat dieses Scheusal etwa unsern Miquelino so zugerichtet?« schrie er und zeigte nicht übel Lust, sich auf ihn zu stürzen. Da sah er die Hilflosigkeit des Greises.

»Dieser Mann scheint mir eher wahnsinnig zu sein als ein Verbrecher,« sagte Kenyon. Und er bekam sogleich die Bestätigung aus dem Munde der Indianer. Sie riefen: »Miaui ist nicht bei Sinnen! Lange schon ist sein Geist verwirrt.«

»So? Das also ist Miaui? Und die anderen – oh, sie sind entkommen, lieber Dabny! Sie müssen Coelho in eine Falle gelockt haben. Der Alte hat zweifellos geholfen. Dieser Wahnsinnige war dabei, Miquelino Coelho in dieses Loch zu zerren, und wenn wir nicht rechtzeitig gekommen wären ...«

»Großer Gott!« Es war Miquelinos erstes Wort. Er stand wieder auf den Füßen. Seine Fäuste ballten sich, als er seinen erschlagenen Hund sah. »Um ein Haar, und es wäre mir ebenso gegangen. Die Burschen überfielen mich von hinten. Hat man sie erwischt?«

»Nein, guter Freund! Das ist jetzt auch nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, daß Sie unverletzt sind, daß Sie leben. Machen Sie sich keine Sorge. Zu unserer Lancha haben sich die Verbrecher nicht durchgeschlagen. Da kommt übrigens Huallatingo, der es uns bestätigen wird.«

Gierig leerte Miquelino das Gefäß, das Bento brachte. Bis auf Prieto, der seinen Posten unten am Anlegeplatz nicht hatte verlassen wollen, waren jetzt alle Gefährten von San Antonio zusammen. Da alles, was der junge Bento Araúyo in seinem Versteck erlauscht hatte, abgesehen davon, daß Coelho am Leben geblieben war, wörtlich gestimmt hatte, war anzunehmen, daß es auch mit dem Weg seine Richtigkeit habe, der von den Übeltätern eingeschlagen worden war. Huallatingo versicherte, daß Prieto sowohl das Aufheulen Juncos wie das Brechen von Ästen gehört hatte. Dem Gehör nach hatten sich die Flüchtigen genau in der Richtung auf jene unterhalb des Pueblos gelegene kleine Bucht auf den Weg gemacht, von der Bento hatte sprechen hören. Die Dorfbewohner gaben willig zu, daß dort eine Piroge zu liegen pflege, die einem Sohn des alten Miaui gehöre. Der Betreffende sei aber vor zwei Tagen mit einem Floß nach dem andern Ufer gefahren, um Waren gegen Hölzer und Felle einzutauschen.

Auf Vorhalten Coelhos, daß er bei Miaui nichts von Wahnsinn gemerkt habe, ja, daß er sich doch sogar auf jede Einzelheit, wie beispielsweise auf die Piroge seines Sohnes habe besinnen können, was nicht auf Geistesverwirrung hindeute, räumten die Dorfbewohner ein, daß er mitunter lichte Augenblicke habe, aber selten genug. Er rede nachts mit den Geistern des Waldes und habe die Fremden, die heute Unfrieden ins Dorf getragen hätten, schon einmal bei sich bewirtet, weil er sie für Zauberer gehalten habe.

»Es ist klar, daß die Leute den Alten in Schutz zu nehmen suchen,« sagte Miquelino. »Sie erwarten, daß wir ihn sonst erschießen. Er hätte es vielleicht schon oft in seinem Leben verdient, denn ich halte ihn für einen durchtriebenen alten Sünder. Mindestens hat er um irgend eines persönlichen Vorteils willen den beiden Schurken alles verraten, was er von mir wußte. Ich bin nicht ohne Schuld, da ich zu vertrauensselig war. Es soll mir eine Lehre sein. Was mit dem Alten geschieht, dessen Tage sowieso gezählt sind, soll nicht unsre Sache sein.«

»Die Leute, die für ihn eintraten,« sagte Kenyon, »deuteten an, daß sie ihn einsperren wollen. Das soll ihre Sorge sein, wie Sie ganz richtig sagen. Wir müssen zusehen, daß wir weiterkommen.«

Der alte Miaui wurde noch einem peinlichen Verhör unterzogen. Er wiederholte immer wieder, er habe nur die Spuren des Überfalls beseitigen wollen. Aber der Fremde sei ein mächtiger Medizinmann, man müsse ihm gehorchen. Zuletzt bequemte er sich zu dem Geständnis, daß er dem Fremden, dessen Namen er nicht wisse, auf die Frage, ob die Luft rein sei, allerdings erzählt habe, daß der Hafenmeister von San Antonio im Dorfe sei und sich vier weiße Männer und eine Anzahl Ruderknechte mitgebracht habe. Diese Angabe stimmte sicherlich, denn sie deckte sich mit dem, was Bento der Sohn gehört hatte. Auch darüber, daß man nur jenen unheimlichen Duponne und seinen Gefolgsmann Leoncito vor sich hatte, gab es keinen Zweifel mehr. Duponne hatte Rache geübt für den Säbelhieb in San Antonio. Von besonderem Interesse war seine Bemerkung gewesen, daß die anderen nun umkehren könnten oder den Rückzug antreten müßten, da der einzige, der ihn, Duponne, gekannt habe, aus dem Wege geräumt sei.

Der Kriegsrat war kurz. Duponne hatte einen kleinen Vorsprung. Ihm im Dunkel der Nacht zu folgen, versprach wenig Erfolg. Er würde nur seine Vorsicht verdoppeln und einen andern Ausweg suchen. Aber sobald das erste Tageslicht den Amazonas erhellte, sollte mit der Lancha die Verfolgung aufgenommen werden.

An Schlaf war allerdings nicht mehr zu denken. Es wurde Sorge dafür getroffen, daß kein Einwohner das Pueblo verließ. Die schlimme Erfahrung mit dem alten Miaui hatte zu deutlich gezeigt, daß man nicht vorsichtig genug sein konnte. Auf keinen Fall durfte den Flüchtigen eine Warnung gebracht werden. Wie immer, so half bei diesen Indianern ein entschlossenes Auftreten. Die Einwohner sperrten Miaui, der jetzt wirklich einen ganz stumpfsinnigen Eindruck machte, in einen Verschlag und brachten, um den Schaden gut zu machen, ihre Hunde herbei. Es waren vier häßliche Köter, von denen sich Miquelino Coelho den brauchbarsten aussuchte. Es war ein starker, schwarzer, gelbäugiger Hund, der Kaiman hieß, und in der Tat erinnerte sein Gebiß lebhaft an dasjenige seiner Namensvettern.

»Schön ist das Tier nicht,« sagte Miquelino. »Aber ich sehe, daß die andern Hunde vor ihm Respekt haben, und die Tucale versichern mir, daß er alle andern Hunde und fremde Menschen und vor allem, genau wie mein Junco, alle Schlangen haßt und schon viele getötet hat.«

Dann schaufelte Bento eine Grube für Junco. Sie lag zufällig an der Stelle, wo das Tier wenige Stunden zuvor den Kampf mit der coral negra ausgefochten hatte. Miquelino stand dabei und sprach kein Wort, aber sein Gesicht drückte finstere Entschlossenheit aus, als wollte er sagen: »Warte nur, du treuer Gefährte, auch du wirst gerächt!«

Prieto sagte: »Meine Rechnung war richtig. Aber das ist kein Kerl, den man im Dunkeln fängt. Wir werden unsere Wachsamkeit verdoppeln.« Dann machte er dem neuen Hund ein Lager am Heck der Lancha zurecht.

Die Indianer des Pueblos hatten sich zusammengeschart und steckten die Köpfe zusammen. Dick Dabny betrachtete sie mißmutig. Seine Abneigung gegen die Farbigen hatte in dieser Nacht neue Nahrung bekommen. Er zählte ihre Kopfstärke und entsicherte für alle Fälle seinen Revolver.

»Sie planen etwas,« sagte er zu Kenyon. Doch der schüttelte den Kopf. »Alle sind waffenlos. So sehen keine Indianer auf dem Kriegspfad aus.«

»Zugegeben. Von den stolzen Rothäuten des Nordens unterscheiden sie sich wesentlich. Aber was mögen sie heimlich miteinander tuscheln?«

»Das wird sich gleich zeigen. Dort lösen sich drei Mann aus der Gruppe, die mit uns sprechen wollen. Eine Abordnung ...«

»Wenn sie uns eine Kriegserklärung überbringt, drücke ich ab!«

Die drei Abgesandten näherten sich mit Zeichen der Unterwürfigkeit. Der Älteste der Indianer trat vor und sagte: »Das Gastrecht, das uns heilig ist in unserm Dorfe, Señores, ist in dieser Nacht verletzt worden. Wir haben euch gesagt, daß wir daran schuldlos sind, aber ein Schatten bleibt auf unserem Dorfe hängen. Wenn ihr rachsüchtig wäret, so würdet ihr wiederkommen und unser Dorf niederbrennen, denn wir wissen, daß es ein Mann der Behörde ist, auf den der tückische Überfall gemacht wurde. Niemals werden wir den Leuten Unterkunft gewähren, die euch so Schweres angetan haben. Ihr aber, Senores, sollt wissen, daß wir eure Freunde sind, und deshalb soll keiner von euch allen etwas für das zu entrichten haben, was wir euch bieten konnten, und ihr möget zum Zeichen unserer guten Gesinnung an Vorräten mit euch nehmen, was euer Boot faßt.«

Miquelino Coelho wehrte dem Wortschwall, denn es wurde im Osten hell. Jede Minute war kostbar. »Sorgt dafür, daß die beiden Strauchritter, falls sie sich noch einmal hier blicken lassen, in ein Gewahrsam genommen werden, aus dem es kein Entrinnen gibt! Wer ein zweitesmal den beiden auch nur die leiseste Hilfe leistet, der darf sich gesagt sein lassen, daß mit ihm kurzer Prozeß gemacht wird, so wahr ich Hafenmeister in Antonio bin! Und nun vorwärts!«

Doch der Sprecher des Dorfs hatte noch einen Wunsch. »Ihr seid weiße Männer, und eure Ärzte zucken geringschätzig die Achseln über unsere Buscharzneien und Indianerkräuter. Aber wir sahen weiße Männer an Schlangenbissen sterben, denn die Arzneien, die sie hatten, kamen zu spät. Verendet fanden wir sie im Igapó (Sumpfgebiet). Hätten sie unsere Kräuter gehabt, so würden sie noch leben. Da wir hören, daß ihr eine weite Reise vor euch habt, wollen wir euch diese Kräuter zum Geschenk machen. Ziehet gesund eures Weges!«

Miquelino nahm das ihm gereichte Holzkästchen, das er Dick Dabny gab. »Es ist gut,« sagte er, »und ich danke euch im Namen meiner Freunde.«

»Mag ein schönes Gift sein,« bemerkte Dick Dabny und steckte es zugleich mit seinem Revolver ins Futteral.

Kenyon sagte: »Wer kann wissen, ob wir's nicht brauchen können. Sie überreichten es wie einen Schatz, und das ist das Geheimmittel sicher auch in ihren Augen. Gerade Sie, Dabny, der Sie sich noch immer nicht von Ihren Lackschuhen getrennt haben, sollten für jedes Mittel gegen Schlangenbisse dankbar sein.«

»Sie gönnen mir bloß nicht das bißchen Behaglichkeit, das ich mir in diese Wildnis hereingerettet habe. Übrigens klettern wir ja jetzt ins Boot, wo keine Reptilien herumkriechen. Für meine engen, hohen Schnürstiefel schlägt erst die Stunde, wenn wir uns durch kniehohes Gras schleppen müssen.«

Der Regen hatte völlig nachgelassen. Der Solimões schien zu dampfen unter den ersten Strahlen des jungen Tagesgestirns. Weithin wallte eine Nebelschicht über dem unendlichen Wasser. Die Lancha hatte alle an Bord, und da Miquelino Coelho, wie er selbst sagte, mit einer kleinen Beule im Strohhut davongekommen war, waren die unliebsamen Ereignisse der Nacht schnell in den Hintergrund gedrängt. Der neue Morgen rief zu raschem Handeln. Zweifellos hatten die beiden Flüchtigen, wenn sie sich mit der Piroge bei Nacht in den Strom hinausgewagt hatten, einen Vorsprung. In offenem Wasser würde die Lancha ihn rasch einholen können, aber zunächst kam es darauf an, die Bucht anzulaufen, in der jene Piroge versteckt gewesen sein sollte.

Es war nicht leicht, sich dicht am Ufer zu halten, das überall dort, wo es seicht war, von zahllosen Kanälen und Kanälchen durchschnitten wurde, die tief ins Land hineindrangen und alle tieferen Mulden mit Wasser ausfüllten. Hier drängte sich bis hart an die Fahrtrinne der Igapó, in dem die Bäume auf Stelzenwurzeln aufragten. Nicht selten vereinigten sich diese knorrigen und seltsam gebildeten Stelzenwurzeln erst in einer Höhe von vier bis sechs Meter zu einem einzigen Hauptstamm. Große Blattpflanzen wucherten üppig im Unterholz, dichter drängten sich die für die Igarapés so charakteristischen Nymphazeen zusammen. Regellos hoben dazwischen Assahy- und Miritypalmen ihren schlanken Stamm hoch über das Flußufer, oder Gummibäume und Aningaës säumten das Ufer, dem, wie am Vortage, auch an dieser Strecke ein schmaler Schilfgürtel, eine Cannarana, vorgelagert war. Der dem Flußwalde in den Tropen eigentümliche Geruch nach Modern und Vergehen erfüllte die Luft, und das gefürchtete Heer der Moskitos umschwärmte die grüne, aus dicht verfilzten Schwimmpflanzen bestehende Decke.

»Unnötig schweift hier keiner vom Wege ab,« sagte Kenyon. »Wir taten gut daran, den Ausreißern nicht überstürzt in der Finsternis zu folgen.«

»Es wäre ein aussichtsloses Beginnen gewesen,« stimmte Miquelino ihm zu. »Und vielleicht hat es sein Gutes, daß uns Duponne entronnen ist – für uns alle. Hätten wir ihn erwischt, wir hätten schwerlich etwas aus ihm herausgebracht, während uns doch gerade daran gelegen sein muß, seinen Schlupfwinkel aufzuspüren ... sozusagen das Wild in seinem Nest zu stellen.«

Kenyon nickte. »Jeder Schritt vorwärts bringt uns der › Semana santa‹ näher, zwischen der und Duponne ein so geheimnisvoller Zusammenhang besteht.«

»Ein Zusammenhang, der gar nichts Geheimnisvolles mehr birgt,« sagte Dick Dabny. »Der Pockennarbige hat ja klar genug angegeben, daß in der Kartause die kostbaren Steine liegen. Dort sitzt der Genosse, der den Raub mit ihm teilen will, wenn Duponne die Pässe besorgt hat. Hat das nicht der Mozo in dem Wigwam, wo uns die Schufte die Maulesel stehlen wollten, ganz genau gehört?«

»Gewiß. Die Folgerung, vorausgesetzt, daß alle Angaben jenes Mestizen stimmen, kann keine andere sein, als daß Duponne nach jenem Schlupfwinkel, der auch unser Ziel ist, zurückkehrt. Die Hauptsache ist, daß wir uns an Duponnes Fersen heften, denn daß das Versteck schwer genug aufzufinden ist, das wissen wir nachgerade. Insofern pflichte ich Don Miquelino durchaus darin bei, daß es fast ein Glück zu nennen ist, daß Duponne nicht dingfest gemacht wurde. Der Mensch würde sich schön gehütet haben, uns das Versteck zu verraten.«

»Diesen Gedankengängen schließe ich mich an,« sagte Miquelino. »Und deshalb ist es wichtig, daß uns Duponne nicht vorzeitig zu Gesicht bekommt. Ich werde gleich anlegen, denn die Bucht ist nicht mehr weit. Das letzte Stück müssen wir uns anschleichen. Ich denke, ihrer drei genügen.«

Man kam überein, daß Miquelino, Prieto und Kenyon die Erkundung ausführten. Bento Araúyo sollte den Befehl über das Boot übernehmen und sich auf ein gegebenes Zeichen zum Eingreifen bereit halten. Mister Dabny wollte ihm Gesellschaft leisten, um sein für Sumpfpartien nicht geeignetes Schuhwerk zu schonen. Im letzten Augenblick erreichte es der junge Bento, dessen helle Knabenaugen in Erwartung eines neuen Abenteuers leuchteten, durch seine Bitten, daß er sich dem Streifzug anschließen durfte. Er führte Kaiman am kurzen Riemen.

Das Ufer war nicht so seicht wie bisher, sondern sanft gewellt, und nachdem man den ersten Anstieg gewonnen hatte, wurde der Boden, der anfangs ein zäher Schlamm gewesen war, fest, gleichzeitig aber auch schwer zu begehen durch ein kletterndes Gras, welches das Unterholz durchflocht.

Dieser Teil des Uferwaldes war merkwürdig still; fast jede Vogelstimme fehlte. Nur der Gecko, einer der an allen Waldigarapés so häufigen Tammaguaris, schien hier sein Reich zu haben. Fast an jedem Baumstamm, ein halbes bis anderthalb Meter hoch über dem Boden, saß solch ein Breitzeher mit seinen unförmig großen, liderlosen Augen. Regungslos blieben die Tiere bei der Annäherung im Vertrauen auf ihre Schutzfärbung zunächst sitzen, stürzten sich aber, sobald sie sich nicht mehr sicher fühlten, mit einem mächtigen Satz zu Boden oder ins Wasser, in dem der Gecko erfahrungsgemäß lange untergetaucht verweilen kann, bevor er wieder seinen Lieblingsplatz an einem Stamm einnimmt und sich die Sonne auf den bläulichgrünen, stachelkammgezierten Rücken brennen läßt. Bentos Ältester hatte Mühe, den Hund zurückzuzerren, der den Tammaguaris ebenso wenig gewogen zu sein schien wie den fußlosen Reptilien.

Die notwendige Umgehung eines neuerlichen Schlammbreies, der sich in undurchsichtiger Schwärze inmitten der meterhohen Stauden eines Igarapésstrauches, der sogenannten Ipomea fistulosa, die an so vielen Camposgewässern anzutreffen ist, über hundert Schritt hinzog, kostete einen weiteren Zeitverlust. Dann verlegte wieder dichtes Büschelgras den Weg, um wenige Minuten später abermals durch eine Tijucca – eine vegetationslose Schlammbodenstrecke – abgelöst zu werden. Als schließlich noch ein nicht unbeträchtlicher, mit einer Papyrusart, dem »Pyri«, bestandener Graben durchwatet war, wurde ein Waldpfad erreicht, der das den Indianerpfaden eigentümliche Gepräge zeigte. Er war eben breit genug, um einem einzelnen Fußgänger oder einem Maultier den Durchgang durch das dicke Waldgestrüpp zu erlauben. Es ist ja alte Indianersitte, daß die Ureinwohner des Landes nie nebeneinander, sondern stets einer hinter dem andern ihre Wanderungen antreten, und daß sie dieser ihnen im Urwald aufgezwungenen Gewohnheit des Gänsemarsches auch dort treu bleiben, wo sie bequem Schulter an Schulter ihres Weges ziehen könnten. Außerdem wies der Weg die typischen Camellones, die Maultierstufen, auf und – was Miquelino und Prieto sofort mit Befriedigung feststellten – bergab führende frische Fußspuren. »Es sind genau die gleichen Eindrücke, die ich vom ersten Tage an beobachtete,« sagte Prieto, »als ich mit Ihnen in der Posada ›Los Pajaritos‹ zusammentraf. Es sind die Alpargatos des Diamantenhändlers und daneben die Chinellos (die Lederpantoffel) Leoncitos. Nun, wir wußten ja, daß wir in den nächtlichen Besuchern nur sie zu suchen hatten.«

»Seien wir dem Regen dankbar,« meinte Miquelino, »der uns den Boden für diese Fährten präpariert hat! Wir werden die Fußspuren genau messen.«

»Oder, besser noch, einen Abdruck davon nehmen,« riet Kenyon. »Vielleicht genügt auch eine Zeichnung.« Er griff schon nach der Tasche und holte Papier und einen Stift heraus.

»Meinetwegen nicht nötig,« sagte Prieto. »Im Fährtenlesen nehme ich es mit jedem Buschmann auf.«

Miquelino Coelho sah sich um und lächelte. »Sieh einer an! Bento junior ist meinem Rat zuvorgekommen. Das wollte ich eben als Wichtigstes raten. Wozu haben wir den Hund?«

Als sich Kenyon umblickte, mußte auch er lächeln. Der junge Bento tupfte Kaiman nachdrücklich mit der Nase auf die Fußspuren, um ihn Witterung nehmen zu lassen. Der Erfolg blieb freilich abzuwarten, ob Kaiman ein ebenso guter Spürhund wie Schlangengreifer war. Als es weiterging, zeigte sich's, daß er ein verständiges Tier war, das im Aufspüren einer Fährte schon Übung haben mußte. Sobald sich die Fußspuren im Gras verloren, hob er schnuppernd den Kopf.

»Er tut ganz so, als habe er bereits verstanden, worauf es ankommt,« sagte Prieto. »Alle Hunde sehen sich die Welt durch die Nase an.«

»Ganz schön,« sagte Miquelino. »Bis zum Platz der Piroge mag er uns führen, dann aber nützt die beste Hundenase nichts mehr.«

Vorsichtig lauschte Prieto in die Tiefe. Aus den Farnbäumen herauf schimmerte die Bucht. Kein Laut war zu hören außer dem Glucksen des Wassers. Trotzdem hielt Kenyon den Browning gespannt in der Hand, als Miquelino das Zeichen zum letzten Abstieg gab. Die Vorsichtsmaßnahme war unnötig gewesen, denn der Platz unten war leer. In der Bucht endete ein leidlich übersichtliches, breites Tal, dessen Ende mit Steingeröll angefüllt war – ein Beweis dafür, daß hier zur Regenzeit gewaltige Wassermassen heruntertosen mochten.

Nirgends war ein Boot zu erspähen, wohl aber zog sich eine frische Rille von einem Gestrüpp schräg durch den zähen Uferschlamm, deutlich zeigend, wo die Piroge gekielholt und zum Wasser gezogen war, und hier, zwischen den Steinen, erblickte man die gleichen Fußspuren wie auf dem Wege. Bento fand aber noch mehr: der fixe Junge hatte dicht vor dem Gestrüpp, in dem das Boot gelagert hatte, einen unscheinbaren Wollfetzen entdeckt, der sich bei näherer Prüfung als ein Stück Fußbekleidung erwies. Ein paar Zündhölzer, die nicht gebrannt hatten, lagen daneben; sie mochten beim Regen für die Reibfläche zu weich gewesen sein. Unweit davon fanden sich schließlich noch die Überreste eines Kürbisses und ein Zigarrenstummel.

Miquelino Coelho nickte befriedigt. »Sie sind programmgemäß abgefahren, und, was mich am meisten freut, keiner hat ihnen das Geleit gegeben, sonst müßte sich eine dritte Fußspur im Schlamme abzeichnen. Der alte Miaui scheint tatsächlich der einzige im Pueblo zu sein, der sich mit den Burschen eingelassen hat. Jedenfalls ist ihnen kein Warner nachgeeilt. Den zerrissenen Lappen, den einer der beiden dunklen Ehrenmänner achtlos weggeworfen hat, wollen wir sorgfältig aufheben, damit sich Kaiman an den Geruch gewöhnt. Im ganzen dürfen wir mit unsrer Erkundung wohl zufrieden sein. Den Rückweg können wir uns ersparen. Ich habe mit Bento Araúyo einen Pfiff vereinbart für den Fall, daß die gesuchte Piroge schon außer Hörweite ist. Daß dem so ist, zeigt ein Blick auf den Fluß, den wir hier, da er keine Windung macht, weit übersehen können und nichts von einer Piroge sichten.«

Als das verabredete Signal gegeben war, vergingen keine fünf Minuten, und die Lancha bog, von kräftigen Ruderstößen geführt, in die kleine Bucht herein.

» All right!« winkte Kenyon. »Haben wir lange warten lassen?«

»Nein,« antwortete Dick Dabny. »Mir persönlich ist die Zeit wie im Fluge vergangen. Sie können sich bei mir bedanken.«

»Darf man fragen, wofür?«

»Hier!« sagte Dabny und schwenkte statt jeder anderen Antwort einen glänzenden, schuppenlosen Fisch in der Rechten. Der breite Kopf mit den Bartfäden wies ihn als einen der als wohlschmeckend bekannten Welse aus. Mister Dabny hatte die Wartezeit dazu benutzt, um Angeln auszulegen, und der fischreiche Strom hatte ihm diesen Wels an die Schnur geliefert. »Mit Pfeil und Harpune,« sagte er, »mögen sich größere Mitglieder der Fischfamilie fangen lassen, bei denen erprobtermaßen die Qualität nicht mit der Quantität Schritt hält. Ich habe bescheiden unter Bento Araúyos Anleitung Angelschnüre ausgelegt und dafür eine Delikatesse ersten Ranges gefangen. Dieser Wels wird uns heute mittag schmecken ...«

»Vorsicht!« rief Kenyon. Aber es war schon zu spät. Die ans Ufer anstoßende Lancha hatte Mister Dabny einen so heftigen Stoß gegeben, daß er das Übergewicht verlor und kopfüber ins Wasser fiel; mit ihm natürlich der noch lebende Fisch, der es sich nicht zweimal gesagt sein ließ, daß er auf und davon gehen müsse.

Dick Dabny war sofort wieder auf den Beinen, denn er hatte Grund unter den Füßen. Durchnäßt, wie er war, und wie er betrübt dem Festbraten nachsah, bot er nichts weniger als ein ernsthaftes Bild. Überall sah er lachende Gesichter. Doch er fand schnell die Sprache wieder: »Was wollen Sie? Mein übliches Morgenbad, weiter nichts! Wundervoll erfrischend. Sagen Sie mir, ob keine Krokodile da sind, und ich schwimme gleich mal schnell nach dem jenseitigen Ufer.«

»Viel Vergnügen! Es sind sechzehnhundert Meter bis zur andern Küste, und Sie wissen, daß wir es eilig haben.«

Auch Miquelino Coelho drängte, das feuchte Element so schnell wie möglich zu verlassen. Die Gewähr, daß nicht plötzlich ein Mohrenkaiman, die mit Vorliebe unter den überhängenden Uferbüschen steckten, seine begehrliche Nase aus dem Wasser hebe, könne niemand übernehmen.

»Sie gönnen mir auch nicht das kleinste Vergnügen,« antwortete Dick Dabny. »Ich füge mich. Sie, Don Miquelino, weisen mir wohl freundlichst auf der Lancha einen Platz an, wo ich mich am besten zum Trocknen aufhängen lasse?«

»Gern, Mister Dabny – wenn Sie mir versprechen, daß Sie nicht rückwärts aus dem Anzug kippen.«

Im Boot wieder angelangt, zog es der »Schiffbrüchige« jedoch vor, seine Garderobe, einschließlich der Lackstiefel, zum Trocknen auszubreiten. Die anderen mußten ihm nur versprechen, ihn nicht zu photographieren. »Wer das Bild zu Gesicht bekommt,« meinte er in lustiger Selbstverspottung, »könnte mich sonst später fragen: ›Sie hat man wohl mit 'ner Mohrrübe aus'm Urwald gelockt?‹ Warten Sie wenigstens, bis ich etwas braungebeizt bin. Bis zur nächsten Haltestelle, denke ich, ist der Indianer fertig. Ich werde dann als der Vater eines neuen Stammes durch die Wälder streifen.«

Einige Minuten später war er nicht böse, als ihm Huallatingo eine Ruana um die Schultern breitete. Er sagte, auf die Moskitos scheine jedes Blaßgesicht wie ein rotes Tuch zu wirken. Das Geflügel gehe im Massenangriff auf ihn vor.

Mit schnellem Ruderschlag ging es in den Strom hinein. Ein paarmal ließen die Flußinseln einen Ausblick auf das andere Ufer offen. Man sah die welligen Höhen, bei denen der Rio Pastaza, einer der großen Nebenflüsse des Amazonas aus den Kordilleren, nach seinem Durchbruch durch die Berge bei den heißen Quellen von Baños am Vulkan Tungurágua mit starker Strömung in fast südlichem Laufe in den »Vater der Flüsse« einmündet.

»Die Caucheros da drüben sind nicht zu beneiden,« sagte Miquelino. »Mehr als einmal sind ganze Kolonnen da oben elend umgekommen.«

»Gummisucher?« fragte Kenyon. »Opfer des Klimas?«

»Auch das wohl,« antwortete Miquelino. »Aber am meisten setzen ihnen die Flüsse zu, die aus den Anden kommen, die ganz plötzlich ihren Wasserstand und ihre Strömung wechseln. Der Pastaza genau wie der Rio Tigre und der Napo, und weiter im Westen der Morona und der Rio Paute, der, wie Sie wissen, noch oberhalb der letzten Pongos (Felsentore mit Stromschnellen) in den Maranhão mündet. Dampfer können nicht fahren, und die Kahnfahrt der Caucheros erfordert flußaufwärts Monate. Wer sich durch das Baumgewirr in zähem Ringen durchgekämpft hat, den bringt über Nacht eines der plötzlich schwellenden Bergwasser, die (wie beim Pastaza der Topo und Shuna) in Längstälern der Anden fließen, in die Gefahr, abgeschnitten zu werden. Tritt nicht in wenigen Tagen ein Sinken der Wasser ein, so verfallen die Eingeschlossenen dem Hungertode. Die indianischen Ruderer entlaufen womöglich noch, denn Sie wissen, daß die Kautschuksammler wenig beliebt sind und wohl auch einen überaus ungünstigen Einfluß auf die Bevölkerung in den Wäldern ausüben. Es sind alles noch reine Indianer, und von denen rührt selten einer ein Glied, um eine Caucheroexpedition aus übler Lage zu befreien. Die Gebrannten fürchten das Feuer.«

Kenyon nickte. »Sie sagen mir nichts Neues. Sie denken gewiß an die grauenhafte Ausnützung der zusammengetriebenen Indianer am Putumayo, die von den dortigen Caucheros bis aufs Blut gepeinigt wurden und deren Gebiet ›des Teufels Paradies‹ genannt wurde? Jene Wildnis am Oberlauf des Rio Putumayo und Rio Caquetá war ja vor Jahren durch den Alarmruf Sir Roger Casements in aller Welt Munde.«

»Dort mag es wohl am schlimmsten zugegangen sein. Doch auch hier haben Caucheros, zur Schmach und Schande für unsere weiße Rasse, genug Unmenschlichkeiten an wehrlosen Indianern begangen. Wir sind da oben in der Waldwildnis, von der ja auch heute nur ein kleiner Teil bekannt ist, nie gern gesehene Gäste. Wehe dem, der mit den Jivaros, die bis an den Pastaza heranstreifen, in unliebsame Berührung kommt! Sie sind Kopfjäger und rühmen sich ihrer Kunst, die abgeschnittenen Köpfe erlegter Gegner so herzurichten, daß die Gesichtszüge trotz starker Einschrumpfung einigermaßen erhalten bleiben.«

»Und wieviel dieser reinen Indianer leben nach Ihrer Meinung noch in Amazonien?«

»Im ekuadorianischen Teil von Amazonien, also für die ganze Provinz El Oriente, rechnet die Statistik 80 000 Bewohner, von denen sechzig vom Hundert Indianerstämmen angehören. Im peruanischen Departamento Amazonas und Loreto ist der Anteil der Indianerstämme ein noch größerer. Aber wer vermöchte eine genaue Zahl der freien Indianer zu nennen? Von vielen Stämmen weiß man nicht viel mehr als den Namen. Fast unabhängig sind die Urarinas, die Iquitos, Maruhe und die Langohrindianer. Nicht viel mehr weiß man von den Orejones und Tekunas, von den Yaguas oder Yahuas – und doch, sie alle sind nur Reste, kleiner und kleiner werdende Reste der vierhundert großen amazonischen Stämme, von denen man weiß, und denen allein einst der große Wald gehörte.«

»Wie in meiner Heimat ihren Brüdern,« sagte Kenyon. »Auch bei uns sind die Rothäute, einst ein Herrenvolk gegenüber den Stämmen Südamerikas, erschöpft, verkommen, verdorben, dezimiert. ›Berg, Strom, Wald, Fisch und Wild – alles Roter Mann‹ meldet uns noch ein Lied. ›Weißer Mann kommt, mit ihm großer Rauch – Roter Mann gibt Weißem Mann alles. Weißer Mann gibt Rotem Mann Hölle.‹ Dem Untergang verfallen die ganze Rasse! So wird es einst auch hier sein.«

»Nicht heute, nicht morgen,« sagte Miquelino Coelho. »Die große, grüne Mauer steht noch und ist noch nicht erobert. Nicht den zehnten Teil kennen die Naturforscher vom amazonischen Wald. Das Wasser befahren wir schon allenthalben, aber dem Walde sind wir noch nicht beigekommen.«

»Zugegeben,« erwiderte Kenyon, »nicht heute, nicht morgen. Aber die Axt wütet. Vor unsern Nachfahren wird der Urwald, der heute noch undurchdringlich ist, offen liegen. Aus Siedlungen werden Städte wachsen. Große Straßen werden den Wald durchqueren – und die letzte Schatzkammer des geheimnisvoll Wunderbaren auf Erden wird zerstört werden.«

»Zurzeit,« mischte sich plötzlich Dick Dabny in das Gespräch, »hat indessen die Natur hier noch viele Aussichten. Ich habe inzwischen ausgerechnet dreiundsiebzig Krokodile gezählt, die rechts oder links unsrer Lancha ihre Augen und Nasen aus der Flut emporreckten. Das Zählen der Inseln habe ich aufgegeben.«

Es ging schon gegen Mittag, als ein Bongo sich der Lancha näherte. Als es näher kam, zogen die Ruderer der Lancha unaufgefordert die Ruder ein.

»Endlich werden wir eine Auskunft bekommen,« sagte Miquelino. »Es ist ein Padre.«

»Was, bitte?«

»Ein Padre,« wiederholte Miquelino. »Ein frommer Vater von einer Missionsstation. Es ist Sitte, daß jedes Fahrzeug, wenn solch ein Padre in Sicht kommt, ohne Geheiß langsamer fährt. Ebenso ist es Brauch, dem Padre ein kleines Geschenk zu machen oder ihm Lebensmittel anzubieten. Nun, wir haben ja genug.«

Gespannt auf die Begegnung hatte sich Kenyon aufgerichtet; verwundert betrachtete er die vorsintflutliche Form des Bootes und die seltsame Tracht des Padre, der aus dem niedrigen Zelt, das auf der einen Hälfte des Bongo aus Weiden- und Palmblattgeflecht errichtet war, die Augen mit der Hand beschattend, heraustrat. Dann hob er die Hände und spendete den neben seinem Bongo anlegenden Leuten seinen Segen.

Seine Ruderer traten an den Rand des Bootes und nahmen die Früchte, die ihnen Miquelino und Bento hinüberreichten, wortlos in Empfang. Der Padre dankte und sagte auf Spanisch: » Que Dios le guarde ... der Herr beschütze Sie und schenke Ihnen eine glückliche Fahrt!«

»Dasselbe wünschen wir Euer Ehrwürden,« antwortete Miquelino. »Können wir etwas für Sie tun?«

Der Priester dankte höflich. Er sagte, daß er von Yurimaguas den Rio Huallaga herabkomme und überall freundlich aufgenommen worden sei. Er befand sich seit Monaten auf einer Predigtreise und sollte heute unweit der Mündung des Rio Pastaza von Freunden erwartet werden.

»Wir wollen Sie nicht aufhalten, ehrwürdiger Vater,« nahm Miquelino wieder das Wort. »Wollen Sie mir und meinen Freunden nur zwei kurze Fragen gestatten?«

»Bitte, fragen Sie, was Sie wollen!«

»Ist Ihnen heute eine Piroge begegnet, die unsern Weg nahm und von zwei Leuten besetzt war, einem Weißen und einem Marubo?«

Der Padre, der, wie sich unterdessen herausgestellt hatte, ein italienischer Franziskaner war, richtete ein paar Fragen an seine roten Ruderer; dann sagte er: »Meine Leute haben ein derartiges Boot heute morgen gesehen. Es kann, wie meine Leute sagen, vor etwa einer Stunde das Dorf Shirue, bei dem ich gestern übernachtete, erreicht haben. Ich selbst habe es nicht gesehen; es ist mir auch nicht gemeldet worden, da es nicht auf uns zuhielt. Natürlich ließ sich nicht erkennen, ob die beiden Männer in der Piroge beide Indianer waren oder, wie Sie sagen, ein Weißer und ein Indianer. Sie werden in Shirue Auskunft bekommen.«

»Das genügt uns. Haben Sie Dank! Unsre zweite Frage ist die, ob Ihnen, ehrwürdiger Vater, in der Grenzmark zwischen Loreto und Santa Cruz eine Kartause oder alte Einsiedelei des Namens › Semana santa‹ bekannt ist.«

Der Padre ließ sich den Namen wiederholen, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe von einer solchen Kartause oder Eremitei nie etwas gehört und bin schon zwölf Jahre hier und einige Wochen in Nuestra Señora di Loreto gewesen. Auf keinen Fall kann es sich um eine Gründung meines Ordens handeln, ich müßte sonst darum wissen. Gerade die zerstörten Missionsstationen und all die heiligen Stätten, die an ihre Gründer erinnern, pflege ich regelmäßig aufzusuchen. Könnte eine Irreführung vorliegen? Wissen Sie genau, daß die alte Kartause den Namen › Semana santa‹ führt?«

»Wir wissen den Namen aus einem Briefe,« sagte Kenyon. »Mein Bruder weilte dort, ehe er – heute vor sechzehn Monaten – von Santa Cruz die Rückreise antreten wollte.« Gleichzeitig legte er dem Padre die Karte vor. »Die einsame Kartause muß bestimmt in dem großen Stromdreieck zwischen Loreto und Santa Cruz liegen, etwa vier Tagemärsche landeinwärts von Loreto und fünf Tagemärsche von Calderon.«

»Also in dem viel umstrittenen Grenzgebiet, in der unwegsamen Wildnis, in der die wilden Tekunas und Yahuas umherstreifen! Das ist eine schlimme Gegend, meine Herren, vielleicht die gefährlichste am Solimões. Zudem sind die Indianer in jener Gegend, die im Norden der Rio Putumayo begrenzt, alles andre als uns Weißen wohlgesinnt. Seien Sie auf der Hut, wenn Sie dort vordringen wollen! Die Geschichte meines Ordens hat die Namen der Tapferen aufbewahrt, die voll gläubiger Zuversicht in jenes Waldland aufbrachen, um dann, mitten im herrlichen Kämpfen für unsern Glauben – nahe am Ziel, ihr Leben in den Händen verblendeter roter Krieger zu verlieren.« Auf einmal faßte sich der Padre mit der Hand an die Stirn. »Oh, meine Herren, eben fällt mir ein, daß einer jener Glaubensstreiter – wenn ich nicht irre, war es ein Gehilfe des berühmten Missionars Samuel Fritz, namens Gregorio – in jener Gegend den Grundstein zu einem Kloster legte. Es hieß › Santa Catalina‹, und der Bau fiel im Jahre 1710 dem Raubzug zum Opfer, den die Portugiesen gegen die spanischen Missionen ausführten, wobei ihr Hauptzweck war, Indianer zu fangen und in den Pflanzungen als Sklaven zu verkaufen. Damals zerstörten und beraubten die Portugiesen alle Niederlassungen, ohne die Kirchen zu verschonen, und führten die Hälfte der Einwohner in die Sklaverei fort. Die andre Hälfte war in die Wälder entflohen. Als Pater Fritz aus Lima, wo er den Vizekönig vergebens um Unterstützung angefleht hatte, nach Loreto zurückkehrte, fand er nur Trümmer. Spanien hatte ein Gebiet von mehr als vierhundert Stunden Länge verloren, das heute Brasilien im Besitz hat; Pater Gregorio war kämpfend gefallen, seine Missionsindianer waren fast alle in ihren ursprünglichen wilden Zustand zurückgekehrt, und niemand fand das alte Kloster Santa Catalina jemals wieder. Es war dem Erdboden gleichgemacht oder verfallen, ehe es seiner heiligen Bestimmung hatte übergeben werden können. Ich fragte vergebens in Loreto nach der Gegend, wo ich es zu suchen hätte. Niemand hat es je gesehen, nur sein Name geistert noch in alten Chroniken, die in Jeveros und Lagunas und Omaguas, den einzigen noch heute erhaltenen Jesuitengründungen im oberen Amazonastale, vorhanden sind. Das ist die einzige Kartause, von der ich weiß, und damit habe ich Ihnen alles gesagt, was ich zur Klärung der Frage beizutragen in der Lage bin; nur besorge ich, daß ich durch meine geschichtlichen Erinnerungen Ihre Zeit bloß unnütz mißbraucht habe.«

»Keineswegs,« versicherte Kenyon, der namens seiner Begleiter dankte. »Das sind alles Dinge, die zu wissen uns äußerst wichtig ist, und Sie sind der erste, von dem wir etwas hierüber erfahren.«

Kenyon sah dem Boote des Padre, das unter den Ruderschlägen der indianischen, nackten Schiffsleute seine Fahrt stromauf wieder aufnahm, so lange nach, bis es dem Blick entschwand.

Dick Dabny sagte: »Der gute Padre sah aus wie ein Stück Mittelalter. Dazu die vorsintflutliche Form des Ruderkahns, seine seltsame Tracht! Während er Ihnen seinen Sermon hielt, habe ich mich gefragt, ob das Gegenwart ist, oder ob ich nur träume. Aber, alles in allem, es war ein malerisches Bild.«

»Er hat mir keinen Sermon gehalten,« antwortete Kenyon, »sondern sehr wertvolle Fingerzeige gegeben. Es war ein kluger Mann, und wenn Sie durch ihn an alte Zeiten erinnert wurden, so ging es Ihnen wie mir. So wie dieser Padre, der seit Monaten auf einer Predigtreise unterwegs ist, mögen jene tapfern Glaubensboten den Solimões hinaufgefahren sein, die vor Menschenaltern zuerst das Kreuz in dieser Wildnis aufgerichtet haben.«

»Wir haben wenigstens wieder einmal bestätigt bekommen,« sagte Miquelino, der das Segel hatte setzen lassen, »daß unser Reiseziel in einem so gut wie unerforschten Waldland liegt, das beinahe unbestrittener Besitz der Rothäute ist.«

»Anderseits, daß dort wirklich so etwas wie eine alte Kartause liegt, mag sie nun › Santa Catalina‹ oder › Semana santa‹ heißen. Wer weiß, ob nicht das in Trümmer zerfallene Kloster, das jener Pater Gregorio erbaute, gerade die Kartause ist, die wir suchen!«

»Suchen wir erst Duponne!« versetzte Miquelino. »Wir wollen uns sputen!«

Wind hatte sich aufgemacht; das Segel der Lancha blähte sich. Die braunen Wellen spielten um den Bootsrand. Ein paar zerrissene Wolken jagten über den Himmel, ohne die Sonne zu verdunkeln. Sie lag glühend über dem Ufer, das noch immer wellige Höhenzüge begleiteten, oft jäh durch eine Barranca, eine Schlucht, unterbrochen, die eine beredte Sprache redete von der gewaltigen Kraft des Wassers. Ihre unmittelbare Einwirkung offenbarte sich dem Auge, sobald die Ufer höher wurden; deutlich sah man dann an den Wänden viele parallele, in der Farbe verschiedene Linien, die der Strom als Hochstandsmarken eingeprägt hatte.

Die langgestreckten, bewaldeten Inseln nahmen kein Ende. Wie ein schwimmender Wald tauchten sie vor den Blicken auf; auf keiner fehlten die hohen Palmen oder niedere, die stammlos waren: die sogenannten Geonomen mit ihren breiten, flügelartigen Fiedern und die stachligen Astrocaryumarten. Zwischen mächtigen Bambussträuchern und mannigfaltigen Farnen blühten mit brennendroten Rispen die amazonischen Myrten, Combretazeen, oder die prachtvollen zinnoberroten Blütenähren der nur im tropischen Amerika heimischen Regenblume, der Norantea, die als Schlingpflanze mit glänzendgrünem Blattwerk die Stämme der Kopalbäume hinaufkletterte. Wohin das Auge wanderte, überall diese üppig sprießende Pflanzenwelt, die von der Wachstumsfreudigkeit der tropischen Erde zeugte. Und überall schwärmendes Leben, Flügelschwirren ... blendendweiße Vögel, rosafarbene Löffelreiher, die Ajaja ajaja, die sich beim Nahen der Lancha oft in einem Fluge von vierzig oder fünfzig Stück erhoben und dann, einer rosenroten Wolke vergleichbar, dahinzogen. Prächtige, zierliche Vögel dann wieder, die weißköpfige Lavandeira, die Wäscherin, oder der brasilianische Kardinal, Paroaria gularis, oder ganze Scharen mit karminrot leuchtender Brust dahinschießender Tesouras, die ihren Namen ihren langen, die Körperlänge übertreffenden und beim Fluge herabhängenden Schwanzfedern verdanken; denn Tesouras heißt Schere.

Dazwischen wiegten sich glanzvolle Schmetterlinge mit blauen, irisierenden Flügeldecken und Schwärme kleiner feuerfarbener Falter ... und dann Völker von Libellen über dem Wasser, smaragdgrün und mit brillantenen Flügeln. Jede Flußinsel Amazoniens war ein richtiges Tiertreibhaus.

Am Nachmittag tauchten über dem waldigen Hang des rechten Amazonasufers die Dächer von Shirue auf. Die größere Hälfte der Strecke bis zur Einmündung des Huallaga war glücklich zurückgelegt. Miquelino fand hier einen kreolischen Kollegen, der sich mit ein paar Negern an der Anlegestelle zu schaffen machte und zugleich das Amt eines Hafenpolizisten versah. Coelhos erste Frage lautete: »Kam hier ein Boot mit einem Pockennarbigen an, der mit einem Marubo von oben kam?«

»Hat er Euch bestohlen? Ich habe mir gleich gedacht, daß der verdächtige Bursche nicht auf ehrliche Weise zu so viel Geld kommt,« lautete die Gegenfrage.

»Also ist er noch hier?« fragte Coelho erregt. Bento Araúyo schulterte schon das Gewehr.

»Hier gewesen. Vor einer Stunde fortgeritten. Auf den feinsten Pferden, die im Orte aufzutreiben waren. Könnt Ihr reiten?«

»Wohin sind sie?«

»Weiß nicht.« Der Kreole schien sich noch darüber zu freuen, daß die Leute aus San Antonio das Nachsehen hatten. »Ins Wasser werden sie nicht geritten sein.«

Miquelino wußte genug, vor allem, als ihm der kreolische Kollege ein flottes Boot zeigte, das er von dem Pockennarbigen gekauft haben wollte. Der Mann hatte es so gut wie geschenkt bekommen – die Piroge des jungen Miaui! – und nun war es ihm gleichgültig, was aus den beiden Ausreißern geworden war. Wahrscheinlich hatte er auch noch bei dem Pferdehandel verdient.

»Was haben die Burschen denn auf dem Kerbholz?« fragte er. »Geld hatte der Pockennarbige jedenfalls. Gutes Geld. Und wenn Ihr's wissen wollt, auch gute Pässe, in Balsapuerto abgestempelt. Ihr seht, daß ich meine Pflicht getan habe.«

»Ihr habt Schmugglern auf die Beine geholfen,« schalt Miquelino. »Es kann Euch teuer zu stehen kommen, wenn ich melden muß, daß Ihr dieses Gesindel, hinter dem wir her sind, gedeckt habt. Ich werde ein Protokoll aufnehmen.«

Der Kreole bekam es mit der Angst. Miquelino Coelhos Entschlossenheit verfehlte ihre Wirkung nicht. Dieser wußte, wie man mit Kreolen umspringen mußte. Sie pflegten dünkelhaft und dabei bestechlich zu sein. So waren sie alle, nicht zuletzt die Beamten, die sich so gern als Herren aufspielten.

»Gut, ich will mich erkundigen, welche Richtung die Reiter eingeschlagen haben. Es kommen nur zwei Wege in Frage. Der eine läuft dicht hinter dem Uferwald hin, der andere führt nach Lagunas am Rio Huallaga. Ich meine, sie werden am Ufer entlang geritten sein. Wie gesagt, die Pässe waren in Ordnung.«

»Auf welche Namen lauteten sie?«

»Ich werde mich zu besinnen suchen, da Ihr mir keine Ungelegenheiten machen wollt –«

»Davon habe ich kein Wort gesagt. Dienstpflicht bleibt Dienstpflicht. Also heraus mit der Sprache!«

»Der Indianer wurde Leoncito gerufen,« sagte der Kreole. Sie waren in den blockhausähnlichen Bau getreten, der dem Hafenmeister von Shirue zur Wohnung diente. Hinter einem der glaslosen Fenster stand ein ähnlicher Scheinwerferapparat, wie Coelho einen auf seiner Lancha hatte.

»Ausgezeichnet! Und wie hieß der Mann, der ihn Leoncito rief?«

»Er hatte zwei Pässe – für sich und seinen Gefährten. Es sind Kaufleute, die nach Manaos wollen. Von Balsapuerto über Nauta nach Manaos.«

»Die Namen!« drängte Miquelino. »Daß der Mann zwei Pässe hatte, ist Euch wohl gar nicht aufgefallen?«

»Wer nimmt es so genau, wenn man einen reichen Kaufmann vor sich hat? Er hatte einen Diamanten, wie ich selten einen sah. Damit handeln die Leute.«

»Vorhin sagtet Ihr, daß Ihr dem Mann angesehen hättet, daß er nicht auf ehrliche Weise zu solchen Schätzen gekommen sein könne. Werdet Ihr Euch jetzt auf die Namen besinnen?«

»Ich kann nicht Englisch. Es waren englische Namen. Etwa Kenyo und Dabnyo.«

Miquelino fuhr auf, als sei ihm ein Schlag versetzt worden.

»Kenyon und Dabny?« wiederholte er, zuerst ganz fassungslos. »Wie kommt Ihr zu den Namen – zu diesen Namen?«

Der Kreole begriff die Erregtheit seines portugiesischen Kollegen nicht. »Ihr fragtet nach den Namen auf den Pässen; nun wohl, ich nannte sie, wie ich mir sie merkte. Sind es nicht die Leute, die Ihr fangen wollt? Nicht der Pockennarbige?«

Miquelino Coelho hatte sich von seiner Bestürzung erholt. Im ersten Augenblick hatte er an ein Wunder geglaubt, hatte er geglaubt, die beiden vermißten Männer, die Brüder von Mister Kenyon und Mister Dabny, seien vor einer Stunde plötzlich in Shirue erschienen. Er hatte es so lange geglaubt, bis das Wort »der Pockennarbige« den Spuk der Gedanken verscheuchte.

»Fehlten dem Mann, der Euch die Pässe zeigte,« fragte er, »zwei Finger an der linken Hand?«

»Es mag sein. Etwas war nicht richtig mit der linken Hand des Mannes. Es ist also doch der, den Ihr sucht?«

Miquelino Coelho nickte. »Ein Galgenvogel, der sich falsche Pässe verschafft hat, englische Pässe. In Balsapuerto gibt es eine Menge Niggerkneipen, wo jeder, dem der Boden zu heiß geworden ist, gegen Geld und gute Worte falsche Papiere angefertigt erhalten kann. Ich kenne das aus Rio. Die Namen, die Ihr nanntet, waren die einzigen, die der Kerl, der eigentlich Duponne genannt wird, englisch buchstabieren konnte. Oder er hat alte Pässe von Männern dieses Namens benutzt, nach denen die neuen Pässe angefertigt wurden. Es waren neue Pässe?«

»Neue Pässe, in Balsapuerto ausgefertigt und gestempelt, wie ich Euch sagte.« Allmählich schien sich der kreolische Beamte für den Fall zu interessieren. Er gab jetzt auch zu, daß er doch wohl irre, wenn er meine, die Leute seien am Ufer entlang geritten.

In demselben Augenblicke machte er einen Sprung zur Seite. Ein großer schwarzer Hund drängte sich ihm förmlich zwischen die Beine. Der junge Bento hatte Not, nicht hinzustürzen, so sehr zog Kaiman am Riemen. Das Tier hatte an dem in der Bucht gefundenen Wollfetzen gute Witterung genommen und war nun, den Spuren Leoncitos folgend, in die Hafenmeisterhütte gestürmt. Schnuppernd hob er seine Schnauze nach dem Tisch.

»Ihr verhandeltet mit den beiden Burschen hier,« sagte Miquelino zu dem Kreolen. »Dort, wo Ihr jetzt steht, stand der Marubo. Und auf Eurem Tisch – oh, das sind, wie ich sehe, die Schiffslisten der brasilianischen Dampfer, die den Huallaga befahren. Nun glaube ich gern, daß Ihr Euch darauf besinnt, daß die Leute nach Lagunas geritten sind.«

»Ihr wißt – fress' mich der Alligator! – alles!« Der Kreole warf wütend seinen Zigarrenstummel zu Boden.

Miquelino bückte sich. »Die Marke sollte ich kennen,« sagte er. Genau solch ein Zigarrenstummel hatte neben dem Wollfetzen gelegen. »Ihr habt bei einer Zigarre, die Euch der Schmuggler geschenkt hat, zusammen die Schiffsliste studiert. Nun, die Dampfer gehen bis Yurimaguas den Huallaga hinauf, die kleinen Dampfboote sogar bis Chasuta. Da oben hat Duponne nichts zu suchen. Ihr habt ihm daher geraten, wie schnell er zu reiten hat, um in Lagunas einen Dampfer zu treffen, der flußabwärts fährt. Die Leute wollten nach Nauta, nicht wahr?«

Der Kreole bekreuzte sich. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu!« rief er. »Ihr redet, als wäret Ihr dabei gewesen und hättet jedes Wort gehört, das zwischen mir und dem Pockennarbigen gewechselt wurde! Alles stimmt. Nichts gibt es, was ich hinzusetzen könnte. Gut also, die zwei sind zu Pferde nach Lagunas. Dort treffen sie den ›José Pombo‹, der Salz aus dem Lager von Pilluana geladen hat und nach Manaos geht.«

»Und unterwegs in Nauta anlegen wird, wo dieser gefährliche Bursche an Land geht.« Miquelino Coelho machte sich schnell eine Aufzeichnung; es ließ sich leicht errechnen, wann der Salzdampfer den Amazonas und später das dreihundert Seemeilen weiter flußabwärts, nahe bei der Mündung des Ucayali gelegene kleine Nauta erreichen werde. Zwischenhafen wurden nach Bedarf angelaufen. Die Fahrt war nicht eben schnell. Wenn man guten Wind hatte, ließ sich der »José Pombo« einholen, besonders dann, wenn die Lancha unterwegs auf ein schnelleres Fahrzeug stieß. Nur durfte keine Minute verloren werden.

Das war das erste, was Coelho, als er die Bude des Kreolen verließ, den ihn erwartenden Reisegefährten klar machte. Kenyon und Dabny glaubten, nicht recht zu hören, als sie von den falschen Pässen vernahmen, die sich Duponne in Balsapuerto verschafft hatte. Auch sie konnten sich die Sache nicht anders erklären als Miquelino; sie neigten zu der Annahme, daß dieser Duponne als Unterlage für seine Pässe die ursprünglich ihren Brüdern gehörenden Pässe benutzt haben mußte. Auf das Schicksal der Vermißten ließ sich dadurch leider nur ein trauriger Rückschluß machen, denn gutwillig hatte noch schwerlich jemand seinen Paß einem Menschen vom Schlage Duponnes ausgeliefert.

»Zugleich aber schließt sich die Kette unserer Verdachtsgründe hierdurch in einer Weise,« sagte Kenyon, »die sie unzerreißbar macht. Bedenken Sie, daß alles wörtlich eingetroffen ist, was jener Mozo mir in der Posada verriet, in der Duponne und Leoncito uns die Mulas stehlen wollten; von ihm wußten wir, daß sich Duponne in Balsapuerto Pässe besorgen sollte, im Auftrag eines andern, der die Herbeischaffung der Pässe zur Bedingung gemacht hat, um Duponne das Versteck der Diamanten zu verraten. Hätte Duponne einen andern Ausweg gewußt, jenes Versteck ausfindig zu machen, so hätte er sich bestimmt die Mühe der weiten Reise nach Balsapuerto gespart. Mit den beschafften Pässen will er den andern, der sich für uns noch in rätselhaftes Dunkel hüllt, samt den versteckten Schätzen aus der Kartause herauslocken. Welches Los dem Unbekannten dann blüht, kann man sich nach allem, was wir von Duponne wissen, denken. Erwiesen ist jetzt zweifellos, daß unsere vermißten Brüder in der Hand Duponnes und jenes Unbekannten gewesen sind und, wie wir fürchten müssen, in der Kartause, aus der Mister Samuel Dabnys letztes Lebenszeichen stammt, ihr Leben geendet haben.«

»Und es kann sich auch nur um den Kazikenschatz meines Bruders handeln, dem Duponne nachjagt,« fuhr Dick Dabny fort, »und den der andere in der Kartause bewacht, die der Marubo Leoncito auszuräuchern riet. Der unbekannte Schatzwächter seinerseits getraut sich nicht ohne Pässe unter die Menschen, was auch auf ihn wohl alles andre als ein gutes Licht wirft. Jedenfalls ist es höchste Zeit, daß wir seine Bekanntschaft machen und die Kartause besuchen ...«

»Von der uns noch fast tausend Seemeilen trennen!«

»Wir müssen aufbrechen. Die Nacht wird mondhell sein,« sagte Miquelino. Der Gedanke, den Flüchtigen auf dem Landweg nachzusetzen, war einstimmig als aussichtslos verworfen worden. »Bis der Abend kommt, können wir noch eine gute Strecke schaffen.«

Schon wenige Zeit später stieß die Lancha wieder ab. Der kreolische Hafenmeister war nicht böse, seine Gäste so schnell wieder loszuwerden, aber er war jetzt von kriechender Gefälligkeit, wünschte gute Reise und versprach hoch und heilig, er werde nichts unversucht lassen, Duponne festzunehmen, wenn er sich jemals wieder in Shirue blicken lasse.

»Glaubt er ja selber nicht. Das Lied kennen wir!« meinte Dick Dabny.


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