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9. Die letzten Leguas

Eine verlassene Hütte, die vor Zeiten Caucheros zum Quartier gedient haben mochte, war eines der wenigen Wegmale, an dem an diesem Tage der endlos scheinende Waldpfad vorüberführte. Es hätte nicht Kaimans Gebell bedurft, um erkennen zu lassen, daß diese Rindenhütte in der verflossenen Nacht Duponne und seinen Begleitern zur Rast gedient hatte. Diese Hütte konnte Duponne kaum vor später Abendstunde erreicht haben; sie war sein Ziel gewesen, er hatte sie gekannt, wie er den Weg genau kannte. Wenn er, wie man annehmen mußte, frühzeitig aufgebrochen war, so konnte er jetzt schon einen bedeutenden Vorsprung haben. Dann war auch zu vermuten, daß er nichts vom Kriegslärm der indianischen Streiftrupps und dem Krachen der Flinten gehört hatte. Auf keinen Fall hatte er sich durch die Vorgänge, die sich weit hinter seinem Rücken abgespielt hatten, von seinem Vormarsch abhalten lassen. Noch immer liefen auf dem wechselnden Grunde des sich mitunter erweiternden Weges durch die grüne Einsamkeit die Hufspuren seines Pferdes und die Spuren seiner indianischen Begleiter.

Doch der Boden war hier hart, und die Fährte war nicht immer leicht zu finden. Mehr als einmal mußte umgekehrt werden, um von einem alten Ausgangspunkte die Spur wieder aufzunehmen. Mitunter schien es, als seien die fünf Männer wie eine Schützenkette ausgeschwärmt vorgedrungen; bald führten die Fußtapfen wieder kreuz und quer, dann waren sie wieder wie weggeweht. Steinerne Adern liefen am Rande eines Baches entlang, der milchig zwischen kohlschwarzen Ufern dahinpolterte. Lange wurden hier von den erprobten Fährtensuchern, zwischen denen Kaiman hin und her irrte, die gewohnten Spuren gesucht. Sie endeten in dem Bach; in ihm mußten die Männer und das Pferd, eines hinter dem andern, fortgewatet sein – gleichsam, als wenn sie ahnten, daß ihnen Spürhunde auf den Fersen saßen.

Allerdings war der Wald, und insbesondere das Unterholz, jetzt so dicht geworden, daß der Weg im Bett des milchigen Baches, dessen Färbung von zerreibbaren Tonmassen herrührte, ungleich gangbarer war als der Uferpfad. Es war also noch nicht gesagt, daß Duponne Verdacht geschöpft hatte. Immerhin war guter Rat teuer; niemand vermochte zu sagen, ob man dem Bach talauf oder talab zu folgen hatte. Jenseits hatte man jedenfalls, wie Dick Dabny sagte, nichts als Bäume vor der Nase, und die Weltgeschichte war sozusagen mit Brettern vernagelt.

Dann kam die Frage: Sollte die kleine Kolonne sich teilen, die einen nach rechts, die anderen nach links abbiegen? Das erschien gefährlich, da man nun aus Erfahrung wußte, wie unvermutet in diesem unübersichtlichen Gelände ein heimtückischer Gegner aus dem Gebüsch brechen konnte; Kenyon wollte, daß wenigstens die wenigen Gewehre, über die man verfügte, zusammenblieben.

»Dann hieße es, aufs Geratewohl losmarschieren,« wandte Dick Dabny ein. »Hoffentlich machen wir damit nicht einen Fehler, der sich schwerer rächt als der unvermeidliche Zeitverlust, wenn ein paar den Bach nach beiden Richtungen abklappern, während der Rest mit den Tieren hier geduldig wartet.«

Zögernd stimmte ihm Kenyon bei. »Dann warten Sie hier, Dabny!«

»Ich? Denken Sie, ich wollte mir ein Ruhepöstchen mit meinem Vorschlag ergattern? Oder gönnen Sie mir das erfrischende Fußbad nicht? Nein, so war das nicht gemeint. Ich gehe selbstverständlich mit auf die Erkundung.«

Man einigte sich, daß Miquelino und Huallatingo bei den Tieren und dem Gepäck bleiben und alle anderen den Bach nach beiden Richtungen absuchen sollten. Kenyon nahm außer drei Tekunas Prieto mit, Dabny, der sich stromab wendete, den Rest der Indianer und Bento mit dem Hund. Als äußerste Frist, in der sich beide Abteilungen wieder bei Miquelino einfinden oder Nachricht an ihn senden sollten, waren zwei Stunden bestimmt worden, alle aber hofften, daß ihre Erkundung eher von Erfolg gekrönt sein werde.

Leider war die Rechnung ohne den Himmel gemacht ... ohne diesen Himmel von Amazonien, der binnen fünf Minuten einmal blauglühend ist, einmal teerschwarz und geöffnet zu phantastischen Wassergüssen. Bei drückender Sonnenglut hatten sich die Freunde getrennt, denn gerade über der Stelle, wo Miquelino wartete, befand sich im Maschenwerk des Laubes ein Ausschnitt, der der Sonne ein Fenster schuf. Wenige Schritte später zwängte sich das Licht nur, wie so oft, mühsam durch die gewaltigen Kronen der Riesenbäume, und plötzlich ward es unheimlich düster, so düster, daß die Sonne erloschen schien. Ein greller Blitz ließ den Wald in bläulichem Licht aufflammen, ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte ihm auf dem Fuße. Wenige Minuten später bäumten sich die Wipfel im Kampfe mit dem Sturm. Die ganze Luft war ein Brausen und Ächzen und Dröhnen. Wie der Atem einer Schmiede, wie heiße Wolken aus der Hölle schlug es von allen Seiten in das noch eben so friedliche Bachtal.

Im Nu war der Boden mit herabgefegten Ästen und Zweigen bedeckt, von denen jeder einzelne genügt hätte, einen Menschen zu Tode zu treffen. Mehr als einmal schien der ganze Wald eine einzige blaue Flamme zu sein, Tausende von Flämmchen tanzten auf den Bäumen, irrten über das Gras, sprangen über die Gebüsche, liefen über den Bach. Krachen der Urwaldstämme mischte sich in das Brüllen des Donners. Was wollte das Gewitter auf dem Amazonas bedeuten, das die Wellen des Stromes gepeitscht hatte, gegen dieses mit einem Orkan einherfahrende Waldgewitter, das den Tag zur Nacht machte und den Wald in seinen Tiefen erbeben ließ!

Der Mensch, der in das Toben eines solchen Unwetters gerät, atmet auf, wenn sich die Schleusen des Himmels öffnen. Hier war es ein Wolkenbruch, der sich mit den furchtbaren Blitzen und mächtig rollenden Donnern entlud. Der Bach ward binnen Minuten zum reißenden, über seine Ufer schäumenden Fluß. Mehr tot als lebendig, fast gleichzeitig, langten Kenyon mit seinen bis auf die Haut durchnäßten Begleitern und Dick Dabny mit seinen Gefährten bei der Stelle an, wo sie Miquelino Coelho zurückgelassen hatten.

Aber die Stelle war leer. Wo Miquelino und Huallatingo mit den Tieren gehalten und zu warten versprochen hatten, gurgelte der jetzt gar nicht mehr milchige, sondern braun schäumende Gießbach, vollgeladen mit Zweigen und Gestrüpp und Tierkadavern, Affen und Vogelbälgen, und am Rand flüchteten Ratten auf eine kleine Insel, die sich aus den sich überstürzenden Fluten heraushob.

»Sind wir auch an der richtigen Stelle?« schrie Kenyon. »Sind Sie nicht an Miquelino vorbeigestürmt?«

Dabny schüttelte sich und schnappte nach Luft. »Wir waren noch keine sechzig Schritt entfernt,« stöhnte er, »da warf es uns einen Urwaldriesen vor die Füße. Es ist ein wahres Wunder, daß er keinen von uns zermalmte. Nein, die Stelle ist richtig. Jetzt, wo der Regen nachläßt, kenne ich sie genau wieder. Hier und nirgends anders hat Coelho gestanden. Wollen Sie sagen, daß der Fluß ihn fortgeschwemmt hat?«

Schnell, wie es gekommen, zog das verheerende Unwetter vorüber. Nur der Bach blieb noch wild und reißend. »Die Tiere werden davongejagt sein,« sagte Prieto. »Ich kenne das; solches Wetter macht sie toll.«

»Das klingt glaublich. Wir müssen hier auf Miquelino warten.«

Der Regen hatte ganz aufgehört. Das Fenster oben zwischen den Wipfeln erglänzte wieder blau. Glitzerndes Geschmeide schien an jedem kleinsten Zweige zu hängen, wohin die Sonne ihre Strahlen sandte. Nur das Wasser war noch ungebärdig, kaffeebraun und doch schon wieder mit milchigen Streifen durchzogen.

Ruhelos warteten alle auf Miquelinos Rückkehr. Anfangs riefen sie, dann wurden Schüsse abgegeben – umsonst warteten sie auf eine Antwort. Die gewagtesten Vermutungen wurden laut, was Miquelino zugestoßen sein könne. Er konnte sich verirrt haben, konnte in Feindeshand gefallen sein. Mit ihm und Huallatingo waren alle Eßvorräte verschwunden, aber das war noch nicht einmal der schlimmste Verlust, so fühlbar sich auch schon der Hunger meldete. Schlimmer war es, daß der furchtbare Wolkenbruch auch die kleinste Spur der Männer verlöscht hatte, der man zu der geheimnisvollen Kartause hatte folgen wollen.

»Welch winziger Teil von dem unermeßlichen Walde, den ich vom Flugzeug aus sah, schien mir der Weg zu unserem Ziel,« sagte Harald Kenyon. »Mehr als 60 000 Quadratmeilen oder rund 3 300 000 Quadratkilometer bedeckt der Urwald das Amazonentiefland; nur ein winziger Streifen blieb uns als Ziel für den suchenden Fuß. Nur wenige Meilen mögen uns vom heißersehnten Ziel trennen, aber die Spur ist ausgetilgt, die uns dahin führt!«

»Klagen hat noch nie etwas besser gemacht,« antwortete Dick Dabny. »Ich bleibe dabei, daß unsre Meldesammelstelle weggeschwemmt ist, aber ich habe, soweit ich mich erinnere, noch nie die Flinte ins Korn geworfen. Was Sie sagen, kann mich nur dazu anspornen, nun aufs Geratewohl unsere Kartause zu suchen. Nichts anderes wäre uns beschieden gewesen, wenn uns nicht dieser Duponne in den Weg gelaufen wäre. Das Schicksal hat uns verwöhnt, lieber Kenyon.«

»Und das Mißgeschick hat uns eines unserer tüchtigsten Bundesgenossen beraubt. Miquelino hatte unsre Sache zu der seinen gemacht. Er war ein Suchender wie wir. Nicht Abenteuerlust hat ihn aus San Antonio herausgetrieben.«

»Das verstehe ich nicht. Ebensowenig, wie ich begreife, warum er vom Erdboden verschluckt ist. Wenn hier feindliche Marubos herumstrolchen, müßten sie uns doch auflauern, nachdem wir uns durch genügend Flintenschüsse bemerkbar gemacht haben. Aber der Wald ist stiller denn je. Bis in die Ewigkeit können wir hier nicht der Dinge harren, die da kommen sollen. Himmel, wenn ich bedenke, daß ich keine Brotkrume in der Tasche habe! Ich wollte etwas Eßbares herausziehen, und wissen Sie, was es war? Das Schlangengiftmittel, das mir die Tucale-Abordnung in Miauis Pueblo in die Hand drückte. Sie werden zugeben, daß wir davon nicht satt werden.«

Viertelstunde auf Viertelstunde verrann – noch immer kam kein Lebenszeichen von Miquelino. Es war schon über die Mittagszeit, das heftige Gewitter hatte keine Kühlung gebracht, die Hitze war drückender denn je zuvor. Vogelgeschrei war wieder in den Lüften, ohne daß man die Vögel sehen konnte. Kreischend lärmten die Affenhorden. Kenyon beratschlagte, was zu tun sei, denn ohne Proviant hier auszuharren, war ein Ding der Unmöglichkeit. Der Hunger meldete sich dringlicher. Prieto ließ das Wort fallen, das messerscharf klang: »Umkehr!«

»Vielleicht dicht vorm Ziel! Soll alles umsonst gewesen sein ... der mühselige Marsch, das Verfolgen der Spur? Es wäre trostlos. Wir müßten alle Hoffnungen begraben. Lassen Sie uns die Karte zu Rate ziehen! Hier« – Kenyon breitete seine Karte aus, in die er die Angaben des Orchideenjägers aus Iquikos einskizziert hatte, – »hier hat der Mann einen Bach eingezeichnet, der sehr wohl dieser Bach da sein kann, allerdings hat er dazu vermerkt: ›Ausgetrocknetes Bachtal‹ – das mag für die Zeit stimmen, wo der Orchideensammler hier vorüberkam. Von seinem Bachtal bis zu den Trümmern des Klosters › Santa Catalina‹ sind nur acht – nur acht Kilometer!«

»Das mag verlockend klingen,« sagte Prieto. »Aber der Mann, der die Angaben machte, schrieb sie aus der Erinnerung nieder. Er wird auch den Bach, vorausgesetzt, daß es ein und derselbe ist wie dieser, an einer andern Stelle überschritten haben. Das verändert natürlich die Entfernungen.«

»Es kommt auf den Versuch an,« sagte Dick Dabny. »Ich bin für einen Vorstoß. Der Versuch muß gemacht werden. Zum Umkehren ist Zeit genug, wenn wir die acht Kilometer umsonst zurückgelegt haben sollten. Und unterwegs werden wir fleißig pirschen. Patronen haben wir noch genug, und mein Feuerzeug, das ich für den Fall, daß unsre Schwefelhölzer feucht werden sollten, vorsorglich bei mir trage, funktioniert, wie Sie sehen.« Damit zündete er sich seine Shagpfeife an. »Abkochen müßten wir hier auch, warum sollen wir es nicht an anderer Stelle tun? Findet sich Miquelino inzwischen wieder ein, umso besser!«

Prieto schwieg. Länger hier nutzlos zu warten, war nach niemandes Geschmack. Kenyon schrieb genau, in welcher Richtung er einen Vorstoß versuchen wolle, und heftete das Papier sichtbar an einen Baumstamm. Ein zweites Papier wurde, mit Steinen beschwert, unweit des Ufers niedergelegt. Kehrten Miquelino und Huallatingo an die alte Meldesammelstelle zurück, so mußte ihnen diese Nachricht sofort ins Auge fallen.

So durchschritten sie den Bach und nahmen mit dem Kompaß den neuen Weg auf. Das Strauchwerk war hier, wie schon früher festgestellt, verhältnismäßig leicht zu überwinden oder zu umgehen; vor allem fehlte das gefürchtete scharfe Gras, die Tiririqua mit ihren wie Rasiermesser schneidenden Blättern. Dafür gab es Wasserlachen und zahlreiche Bäume, die der Gewittersturm umgeworfen hatte. Baumriesen, deren hartes Holz jedem Axthieb Trotz geboten hätte, hatten sterben müssen; Wurzelfäulnis und das Zerstörungswerk der Termiten hatten ihren Fall vorbereitet, im Zusammenbrechen hatten sie noch eine Anzahl schwächerer Brüder mitgerissen.

Dick Dabny spähte nach schießbaren Vögeln, aber das Glück war ihm nicht günstig. Immer, wenn er anlegen wollte, flogen die scheuen Tiere davon, und er hatte das Nachsehen. Mehrmals schoß er, aber fehl.

»Man müßte sich trennen,« meinte er, »sich gegenüberstellen und sich so die Tiere gegenseitig zujagen. Aber bei der Hast, mit der wir vorwärts drängen ...«

»Jede Minute ist, wie Sie wissen, kostbar,« mahnte Kenyon. Er war erregt, denn er hatte eine Schlucht entdeckt, die ganz den Angaben des Orchideenjägers von Iquitos entsprach. Ungläubig hörte ihm Prieto zu, aber auch er ward stutzig. Die Lage der Schlucht, der ersten, der man seit dem Aufbruch von Loreto begegnete, zu dem Bach war zu auffallend, stimmte merkwürdig zu der Kartenskizze, die sich Miquelino hatte geben lassen – und plötzlich stieß Arizanas einen freudigen Schrei aus, er rief und winkte. Prieto, als erster ihm nacheilend, reckte die Arme hoch. Freudestrahlend war sein Gesicht: »Die Spur! Die Fußspuren!« rief er.

Wahrhaftig, die verlorene Fußspur war wiedergefunden. Laut belfernd hastete Kaiman über die Eindrücke in dem tiefen, weichen Erdreich. Ohne Mühe waren die Sohleneindrücke und Hufspuren von Duponnes Pferd und seinen Begleitern festzustellen.

Im selben Augenblick, als Kenyon sich über den unschätzbaren Fund beugte, den ihnen ein gütiger Zufall beschert hatte, krachte ein Schuß aus Dick Dabnys Büchse. Gleich darnach kam er, ein braungraues Etwas schwingend, herbeigerannt: »Das Abendbrot ist gesichert!« rief er. »Allerdings nur ein Affe, aber ein Affe aus sehr guter Familie! Sehen Sie nur dieses fette Prachtexemplar!«

Er kam nicht weiter. Er riß die Augen auf. Zweige knackten. Braune Gesichter tauchten aus dem Dickicht auf, Gesichter mit wehendem, schwarzem Haar ... Indianer, die in wilder Flucht davonrannten. Nur wenige Schritte von Dick Dabny entfernt stürmten sie, ohne sich umzusehen, durch die Büsche.

»Was war das?«

Prieto lachte. »Die Leute sollte ich kennen! Der Schuß hat sie davongetrieben. Sie haben geglaubt, er gelte ihnen. Kommen Sie!«

»Wohin?«

»Wo die andern sind,« sagte Prieto. »Sie können nicht weit von hier sein. Wissen Sie nun, wer die drei Burschen waren, die es so eilig hatten?«

»Keine Ahnung! Mir haben sie sich nicht vorgestellt.«

»Es sind Duponnes Indianer! Die drei, die in der Indianer-Venta ›El Consuelo‹ in Loreto zu Duponne gestoßen sind ...«

»Alle Wetter! Das wissen Sie genau?«

»Ich hatte mir ihre Kleidung genau angesehen, als sie in der Herberge mit Duponne zusammenhockten. Auch Arizanas hat sie erkannt.«

»Aber warum fliehen sie?«

Prieto zuckte die Achseln. »Kommen Sie!« wiederholte er. Auch Kenyon trieb zur Eile. Alle Bedenken, vorzeitig von Duponne gesehen zu werden, fielen weg; jetzt galt es nur, Duponne einzuholen. Daß man ihm auf den Fersen war, war ihm ja nun kein Geheimnis mehr. Die Flucht seiner Begleiter bewies es.

Mit möglichster Beschleunigung ging es der wiedergefundenen Fährte nach, und schon nach wenigen hundert Schritten, am Ausgang der Waldschlucht, erwartete die Vorwärtseilenden eine neue Überraschung – ein Mann kroch auf allen vieren in ein Gebüsch. Dann blieb er hilflos am Boden kauern und hob die Hände. Im Nu war Prieto an seiner Seite. Auf den ersten Blick erkannte er in dem erschrockenen Indianer Duponnes Marubo Leoncito!

Staunend näherten sich die anderen, und ihre Überraschung wuchs, als sie wenige Schritte weiter einen zweiten Menschen im Grase liegen sahen, von dessen wachsbleicher, von Blatternarben entstellten Stirn Blut herabrieselte. Dieser regungslos, mit geschlossenen Lidern unter den zersplitterten Ästen eines Castanheiro hingestreckte Mann war niemand anders als der geheimnisvolle Duponne!

Noch bevor Leoncito ausgeforscht wurde, ließ sich erkennen, was sich hier abgespielt hatte, und was der verschüchterte Leoncito alsbald bestätigte. Sie waren von den niedersausenden Ästen des Castanheiros, unter dessen Zweigen sie Schutz vor dem Gewitter gesucht hatten, getroffen worden. Der wuchtige Ast hatte Duponne und Leoncito zu Boden geschleudert.

»Großes Unglück,« jammerte Leoncito. »Mir sind die Beine wie abgeschlagen, nicht einen Schritt kann ich machen. Und der weiße Señor, dem ich diene – wer mag sagen, ob er jemals wieder die Augen aufschlägt! Mitten auf die Stirn hat ihn der Arm des Baumes getroffen. Und das Pferd, das mir gehören sollte, wenn unser Weg zu Ende war, ist davongerannt, als der Wald in blauen Flammen stand.«

»Und warum sind deine roten Brüder davongelaufen?« fragte Prieto.

Der Marubo seufzte: »Immer fürchteten wir, daß uns böse Menschen folgten. Immer spornte uns der weiße Mann zur Eile. Einmal schon haben ihm böse Menschen den Weg verlegen wollen. Seht seine Hand an, an der sie ihm die Finger abgeschnitten haben!«

»Kennen wir,« sagte Prieto. »Die Menschen werden ihren guten Grund gehabt haben, als sie deinem Herrn auf die Finger klopften. Solltest du uns nicht kennen, alter Junge?«

Leoncito hatte längst jeden einzelnen gemustert. Er schüttelte den Kopf.

»Besinne dich, Leoncito! Strenge dein Gedächtnis an!«

Als der Mann seinen Namen hörte, zuckte er wie unter einem Schlage zusammen, abwehrend hielt er die Hände vor sich. Er stammelte etwas Unverständliches, in dem der Name Curupira vorkam. Alles Ernstes glaubte er an Zauberei; dann vollends, als ihm Prieto den versuchten Pferdediebstahl am Cahuapanas, den Totschlag am Händler Lobato in der Posada »Los Pajaritos« und den heimtückischen Überfall in der Hütte Miauis vorhielt. Entgeistert starrte Leoncito Prieto an, dann begann er zu wimmern: »Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig! Ihr werdet mich nicht töten wollen, Herr!«

Kenyon hatte sich aufgerichtet; er sagte: »Duponne hat einen Schlag bekommen, der um Haaresbreite, wenn die Schläfe getroffen wär, tödlich sein mußte. So ist er nur betäubt. Haben Sie schon Leoncito nach der Kartause gefragt?«

»Ich bin dabei,« antwortete Prieto und wandte sich an den Marubo und machte ihm klar, daß er sein Leben in der Hand habe, wenn er sie zu der Kartause führe, die Duponnes Ziel gewesen sei.

»Alles werde ich tun,« lautete Leoncitos Antwort, »aber Ihr seht, daß mir Curupira die Beine zerschlagen hat. Ich werde Euch, wenn Ihr mich von hier fortschafft, zu Leuten meines Stammes bringen, die Euch zu den Höhlen führen sollen.«

»Nichts von alledem! Wir haben keine Lust, deinen Stamm kennenzulernen. Du selbst wirst uns führen. Unsere Tekunas werden dich tragen. Wieweit ist der Weg zu den Höhlen, von denen du sprichst? Sind weiße Männer dort? Nennt ihr die Höhlen › Semana santa‹?«

»Wir nennen sie ›Santa Catalina‹.«

»Da haben wir's!«

»Nur ein einziger weißer Mann ist dort – der Mann, den Duponne Carrey nennt. Selten bekam ich ihn zu sehen.«

»Carrey? Das ist der Freund Duponnes, der die Diamanten bewacht, zu dem ihr mit den falschen Pässen wolltet, und den du in der Höhle auszuräuchern rietest, he?«

Leoncito zuckte noch heftiger zusammen als zuvor. »Was gibt es, was Euch verborgen ist?« stöhnte er. »Ich werde alles tun, was Ihr befehlt, denn Ihr seid allwissend.«

»Weiter!« drängte Kenyon. »Fragen Sie ihn, ob noch andere weiße Männer in › Santa Catalina‹ waren! Fragen Sie alles, was er von ihnen weiß!«

Mit atemloser Spannung warteten Kenyon und Dick Dabny auf die Antwort. Doch Prieto bekam auf seine Frage leider nur das zu hören, was Kenyon und Dabny längst als schmerzliche Gewißheit mit sich trugen: Leoncito hatte von zwei weißen Männern gehört, aber sie waren nicht mehr am Leben. Der eine sei am Fieber gestorben, von dem andern weißen Mann wisse er nur, daß er tot sei. Duponne, der zu jener Zeit mit Carrey zusammen in den Höhlen von › Santa Catalina‹ gewohnt habe, könne vielleicht mehr sagen. Den Platz noch heute zu erreichen, sei unmöglich. Aber es liege eine Hütte im Walde, wohin man noch vor Einbruch der Nacht gelangen und dann bei frühem Aufbruch am kommenden Mittag am Ziele sein könne.

Es gab kein langes Überlegen. Der verletzte Duponne, der noch immer wie leblos dalag, wurde verbunden, und da es Kenyon widerstrebte, ihn hilflos seinem Schicksal zu überlassen, mochte er auch noch so viel auf dem Gewissen haben, so ließ er durch die Tekunas eine leichte Trage anfertigen. Die Tekunas unterwarfen sich der Arbeit umso williger, als sich die nötigsten Eßvorräte bei Leoncito und Duponne vorfanden. Offenbar war gerade die Mahlzeit gerichtet worden, als das Unwetter den Trupp Duponnes überraschte. Mister Dabnys Braten »aus sehr guter Familie« konnte also für späteren Hunger aufgespart bleiben.

Auch für Leoncito, dessen Kniescheiben ernstlich verletzt waren, wurde eine Trage hergestellt, eine Art Stuhl, wie er vor alten Zeiten ein beliebtes Beförderungsmittel in den Anden bildete. Die Tekunas nahmen ihn auf ihren Rücken, wobei der Tragsessel durch Stirn- und Brustriemen befestigt wurde. »So ließen sich,« sagte Prieto, als die Leute ihre Bürde aufnahmen, »ehedem in Barranca die Señoritas von ihren Peones über Land tragen, und so reisten schon die Konquistadoren, nur daß sie den Träger wie ein Roß mit Sporen antrieben. Doch von einem der mißhandelten Indianer wird erzählt, daß er seine unmenschliche Bürde in einen tiefen Abgrund des Quindiu schleuderte.«

»Da war das In-die-Schluchtschleudern ausnahmsweise einmal angebracht,« meinte Dick Dabny. »Solche Verirrungen werden leider auch heute noch an Reisenden geübt, die durchaus keine Konquistadoren sind.«

Der Vormarsch wurde nicht angetreten, ohne daß einer der Tekunas noch einmal mit einer von Kenyon angefertigten Meldekarte zu der Stelle zurückgeschickt wurde, an der Nachrichten für Miquelino hinterlegt waren. Der gewandte Fährtensucher holte, nachdem er sich seines Auftrags entledigt hatte, die Kolonne nach zwei Stunden ein, leider ohne etwas Neues über den Verbleib Miquelinos melden zu können.

Leoncito brauchte nicht viel zu dirigieren, der Weg war breiter und lichter geworden. Vor alter Zeit mußte hier gerodet worden sein, und es war sehr wohl möglich, daß man es mit jenem in der Geschichte der Grenzregulierung zwischen Peru und Brasilien um die Mitte des 19. Jahrhunderts vielgenannten Indianerweg zu tun hatte, der viele Tagereisen weit von Tabatinga aus nach den Urwäldern führen soll. Trotzdem war der Weg noch anstrengend genug, das Haumesser bekam wieder Arbeit, und die Hütte, von der Leoncito gesprochen hatte, wollte sich nicht zeigen, obwohl die Zeit, die jener dafür angegeben hatte, längst überschritten war.

Prieto wurde mißtrauisch. Etwas in den Augen Leoncitos gefiel ihm nicht, und er sprach Kenyon gegenüber den Verdacht aus, daß dieser Bursche, mochte er noch so hilflos auf seiner Trage sitzen, vielleicht ähnliche Gedanken aushecke wie jener indianische Peon, der seinen Reiter in die Quebrada des Quindiu geschleudert hatte.

»Was könnte er im Schilde führen?« fragte Kenyon.

»Wir nähern uns zweifellos dem Gebiet, wo wir die kriegerischen Marubos zu suchen haben. Das würde mit den Angaben, die der lange Ambiza machte, übereinstimmen. Ein Wink Leoncitos würde bei einer etwaigen Begegnung mit Leuten seines Stammes genügen, uns in eine gefährliche Lage zu bringen. Die Leute, von Leoncito verständigt, würden uns wie die Hornissen umschwärmen, und daß wir dann niemals die alte Kartause erreichen, werden Sie sich selbst sagen.«

In demselben Augenblick, als hätte Prieto eine Ahnung gehabt, kam Arizanas in eilendem Laufe mit der Meldung, daß jenseits der bewaldeten Berglehne zur Rechten ein Trupp Indianer heranziehe. Es mochten zwanzig bis dreißig Mann sein, sie waren ähnlich bewaffnet wie die Tekunas und wurden doch von den indianischen Fährtensuchern sofort als Marubos erkannt.

Arizanas war von ihnen gesehen worden, und rufend und winkend eilten ihm sofort ein paar dieser Rothäute nach, hielten jedoch im Laufe inne, als sie die Weißen und die Gewehre erkannten. Blitzschnell hatte Leoncito den Kopf gewandt, er wollte etwas rufen, aber ebensoschnell fuhr ihm Kenyons Revolver unter die Nase ... »Keinen Laut, oder du bist ein Kind des Todes!«

Da erstarb der Schrei auf Leoncitos Lippen. Die energische Drohung hatte genügt, und die Marubos waren durch die blitzenden Flintenläufe offenbar derart eingeschüchtert, daß sie lautlos wieder hinter dem Hange verschwanden. Als Kenyon hundert Schritte weiter oben halten ließ, sah er sie in geschäftiger Eile in derselben Richtung weiterrücken, die sie vorher eingeschlagen hatten. Hielten sie diese Richtung ein, so mußten sie sich mit jedem Schritt weiter von Kenyons Trupp entfernen. Sie schienen es also vorgezogen zu haben, weder im Guten noch im Bösen näher heranzukommen.

»Sie wußten nicht, wohin sie uns tun sollten,« meinte Dick Dabny, der den eiligen Abzug mit dem Fernglas verfolgte. »Etwas war ihnen nicht geheuer.«

»Möglich, daß sie unser Gewehrfeuer gehört haben, als wir ihre Kollegen in panische Flucht schlugen. Feige sind sie alle. Das aber ändert sich, wenn sie sich erheblich in der Überzahl wissen, was hier nicht der Fall war. Nun, wir sind ja nicht böse, daß uns ihre Bekanntschaft erspart blieb.«

Leoncito legte sich, wie vorauszusehen war, aufs Leugnen, als ihm Prieto vorhielt, er habe seine Stammesfreunde heranrufen wollen. Er versicherte kleinlaut, er habe nur nach der Hütte fragen wollen.

»Nicht mehr nötig,« sagte Dick Dabny. »Da steht solch antiker Kasten. Das wird der ersehnte Rancho sein.«

Eigentlich war es nur eine Laube, eine mit Rinden bedeckte, nach einer Seite offene Laube, deren Dach schadhaft war, und die oft als Stall für Maultiere gedient haben mußte. Aber sie war geräumig und bot allen Platz. Duponne wurde von der Trage genommen und aus einer Totuma (schalenartiges Gefäß, den italienischen Flaschenkürbissen vergleichbar) mit Wasser gelabt. Er hatte schon unterwegs Zeichen des wiedererwachenden Bewußtseins von sich gegeben und sah jetzt seine Retter mit großen, unheimlich flackernden Augen an. Fragen gegenüber blieb er stumm und rührte auch nichts von der Mahlzeit an, der unter anderem auch Dabnys Affe geopfert werden mußte. Man drang nicht mit Fragen in ihn, bettete ihn unter einem Mosquitero (Moskitonetz) und beeilte sich mit den Zurüstungen für die Nacht, die vor der Tür stand und in den Tropen nicht herankriecht, sondern plötzlich zupackt.

Ratten raschelten in der Nacht auf dem Rohr und Dung, der dem Rancho als Pflaster diente, und die Männer hielten es für geraten, sich nicht von den Stiefeln zu trennen, da der Ort nach Prietos Urteil eine Brutstätte für Sandflöhe zu sein schien. Im übrigen verlief die Nacht ruhig; die wachsamen Posten bekamen keinen Marubokrieger zu Gesicht.

Die Stunde des Aufbruchs am nächsten Morgen brachte indessen eine merkwürdige Überraschung: Duponne war unter Mitnahme seines wieder eingefangenen Pferdes sang- und klanglos auf und davongegangen. Ein unbeobachteter Augenblick hatte ihm genügt, sich auf das ungesattelte Tier zu schwingen und das Weite zu gewinnen.

»Was mag der arme Mensch nun bloß anrichten?« rief Dick Dabny. »Das kommt davon, wenn einem ein derartiger Ast auf den Kopf fliegt. Der Mann wird sich verlaufen.«

»Spotten Sie nicht, Dabny,« sagte Kenyon. »Sie wissen genau, daß der Mann seine Gedanken beisammen hat. Er hat Lunte gerochen, hat uns erkannt und ist auf dem besten Wege, uns in letzter Stunde zuvorzukommen.«

»Er wird das Rennen nicht machen. Wir werden ihm auf den Hacken sitzen. Vorwärts! Warum sind wir noch nicht unterwegs?«

In Eile brachen sie auf. Der Weg führte in der früheren Richtung. Zweimal mußte ein Rio seco, ein ausgetrocknetes Flußbett, überschritten werden. Es waren nur Pfützen darin. Auch diese Flußläufe hatte der Orchideenjäger in Iquitos in seinen Angaben nicht vergessen. Leoncito brauchte nicht viel gefragt zu werden, Duponnes Pferd hatte eine frische Spur hinterlassen. Weit konnte er nicht sein, schnelles Reiten erlaubte ihm der Weg nicht, der sich unablässig gleich einem Rinnsal um die Büsche herumwand. Ein seltener Reichtum an Baumfarnen breitete sich zwischen den schlanken, silbern schimmernden Stämmen wilder Kakaobäume. Noch einmal verlor sich der Pfad tief in die grüne Üppigkeit, in das Reich dichter Lianennetze, zwischen deren Maschen glühende Orchideen ihren aufdringlich süßen Duft verströmten und große, buntschillernde Schmetterlinge und Perlmutterfalter gaukelten. Keine Halle eines Gewächshauses kann mit größerer Pracht ausgestattet sein als der Weg, den es jetzt mit dem Aufgebot aller Anstrengung eilenden Fußes zu verfolgen galt.

Arizanas meldete wiederholt, daß Indianer vor kürzester Frist den Pfad benutzt hätten, er sah es dem Knick eines Zweiges an, ob ihn ein Eingeborener oder ein Fremder des Landes umgebogen hatte. Schnüffelnd wie Kaiman entdeckte er unweit zur Rechten die Spuren eines Rundfeuers und versicherte, daß hier in der letzten Nacht Marubos kampiert hätten. Aber nirgends zeigten sich menschliche Wesen.

Noch einmal mußte Rast gemacht werden, eine feuchte Hitze erfüllte den Wald, das Summen der Insekten klang wie ein Brodeln. Wie hingemäht lagen die Indianer sofort im Gras, gierig ihre Totumas an die Lippen führend.

Alle hatten diese Atempause bitter nötig; zu dem beschwerlichen und übereilten Marsch war die unzulängliche Verpflegung gekommen. Die Ungeduld, Gewißheit zu erlangen, hatte auch Kenyon überanstrengt; er merkte, daß er fieberte, und sah doch schon wieder ungeduldig nach der Uhr. Die bange Sorge quälte ihn, Duponne könnte sich im letzten Augenblick mit seinem Helfershelfer treffen oder gar mit ihm die Flucht ergreifen. Dann waren die wichtigsten Zeugen, die er brauchte, um sich über das Los seines Bruders Gewißheit zu verschaffen, entwischt, die einzigen und sicher nicht schuldlosen Mitwisser des Dramas, das die geheimnisvolle Kartause dieses amazonischen Waldes barg, auf und davon. Das durfte nicht sein! Nur jetzt nicht von der Sekunde ausschlagen, was keine Ewigkeit zurückbringen konnte!

Dick Dabny las ihm die Gedanken von der Stirn. Auch er hatte den Ernst der Lage begriffen. »Kein Schweißtropfen umsonst! Das war immer mein Wahlspruch. Das fehlte gerade noch, daß wir plötzlich vor einem leeren Hause stehen, nur weil wir uns um ein paar Nasenlängen von einem abgetriebenen Indianergaul haben schlagen lassen! Das Ziel ist das gesuchte, mag es nun › Semana santa‹ oder › Santa Catalina‹ heißen – wie es zu den beiden Namen kommt, das wird sich schon zeigen, genau wie es sich zeigen wird, auf welche Weise dieser Duponne zu den beiden Pässen gekommen ist, die unsre und die Namen unsrer Brüder tragen. Ebenso brenne ich darauf, endlich das Versteck der Diamanten aufzustöbern, bevor Duponne und sein Kumpan ihre unsauberen Finger hineingesteckt haben. Nein, nein, lieber Kenyon, nur jetzt keine Müdigkeit vorschützen!«

Wieder ging es vorwärts. Eine halbe Legua, hatte Leoncito gesagt, und die Höhlen seien erreicht. Er sprach nur von den Höhlen von › Santa Catalina‹, während in Samuel Dabnys Brief nur von einer verfallenen Kartause die Rede war. Das eine schloß das andre nicht aus. Der Mann in Iquikos hatte von Ruinen gesprochen. Nun, nach einer halben Legua, nach Überwindung von dreitausend und einigen Metern, würde des Rätsels Lösung offenbar sein. Leoncito hatte auf Befragen erklärt, daß es in › Santa Catalina‹ Eßvorräte gebe, die von Leuten seines Stammes dahin gebracht würden. Davon, daß die Marubos mit den Tekunas in blutiger Fehde lebten, wollte er nichts wissen. Er sagte: »Viele Monde war ich weg,« und damit sagte er gewiß die Wahrheit.

Fast um dieselbe Zeit wie am Tage zuvor setzte ein Regen ein, aber es war kein Gewitter, sondern nur ein scharfer Guß, der den Weg in kleine Bäche verwandelte. Als aber dann eine weite und offene Lichtung erreicht war, brach auch schon wieder die Sonne aus den Wolken. Das erste, was Prieto entdeckte, war ein Lagerfeuer am jenseitigen Waldrand. Leoncito, der von seiner Trage heruntergenommen wurde, rief freudig: »Gute Leute! Haben viele Mundvorräte.«

Von diesem Lager der Marubos war außer ihm niemand erbaut, und Dick Dabny sprach es ungescheut aus, daß er diese Leute unter andern Verhältnissen dahin wünsche, wo der Pfeffer wachse; da sie aber bereits zwischen den Pfefferstauden angelangt seien, wünsche er sie hinter die Unendlichkeit der Milchstraße. Das Lager war immerhin noch gut einen halben Kilometer entfernt, aber daß unter dem qualmenden Rundfeuer da drüben nichts Gutes gebraut wurde, ließ sich denken.

Das erste, worauf Kenyon stieß, war ein kleiner Trümmerhaufen, eine eingestürzte Martersäule, die von Moos überwuchert war. Als sein Blick auf die verwitterte Inschrift auf einem der abgesprengten Stücke fiel, entfuhr ihm ein Schrei der Überraschung, denn die Inschrift lautete: › Semana santa‹. Dahinter folgte eine nicht mehr lesbare Jahreszahl.

»Das erste Geheimnis ist gelöst,« sagte er, sich ergriffen an Dick Dabny wendend. »Die alte Säule ist in einer stillen Woche, einer › Semana santa‹ hier vor alter Zeit errichtet worden. Irrtümlicherweise hat man die Inschrift dann für den Namen des Klosters gehalten, das uns da drüben ein paar unter Bäumen versteckte Ruinen zeigt. Wenn das alles ist, dann ist es nicht viel.«

Alle schritten schneller aus und erreichten einen steinigen, mit wildem Gestrüpp überwucherten Hügel. Außer ringsumher verstreuten Trümmern ragte nur eine grünumsponnene, zerklüftete schwärzlichgraue Mauer von Mannshöhe aus dem Boden. An ihrem einen Ende lag ein verwitterter Torbogen. Eingestürzte Steinmassen erschwerten den Weg dahin, den überdies ein dichter Kranz von Kakteen und Drazänen umschloß.

»Diese alte Pforte führt ja ins Leere,« rief Dick Dabny enttäuscht. »Dahinter dehnt sich wieder flaches Feld. Dieses Portal ist ja nichts weiter als eine Kulisse!«

Doch im selben Augenblick legte Prieto, sich schnell aufrichtend, den Finger an den Mund, um dann die Hand als Schalltrichter ans Ohr zu führen.

»Er lauscht in die Tiefe,« flüsterte Dick Dabny, und dann weiteten sich seine Augen. Zwischen dem Gebüsch, dessen Wurzeln im Laufe der Zeit die Pfeiler des Tores fest umklammert hatten, und dessen Zweige im Verein mit üppig wuchernden Schlingpflanzen eine dichte und wunderbar malerische Mauer bildeten, führte ein zweites Tor in die Tiefe. Man stand am Eingang eines Schachtes.

»Der Zugang zu Leoncitos Höhlen,« sagte Kenyon leise.

»Oder sagen wir ruhig, zum Keller der alten Kartause ...«

»Still, Dabny! Hören Sie nichts?«

Aus der Tiefe klang Stimmengewirr, klang ein Wortwechsel ...

»Das kann kein anderer sein als Duponne! Er und der Mann, der von Leoncito Carrey genannt wurde!«

»Niemand sonst,« bestätigte Kenyon, und er zeigte nach einem blütenübersäten, von jungem Grün strotzenden Hang seitwärts der Mauer, wo eben der Kopf eines Pferdes sichtbar wurde. Ein Wink genügte, daß sich Arizanas des grasenden Tieres bemächtigte. Es war das Pferd, auf dem Duponne am Morgen Reißaus genommen hatte.

»Hinunter! Hinein!« Dick Dabny hob den Revolver.

»Nicht so,« sagte Kenyon.

»Vielleicht doch geraten,« meinte Prieto. »Ich hörte jemanden da unten poltern und drohen ... ›Wehe, wenn du etwas verrätst!‹ Nur Duponne kann das gesagt haben, und der Mensch ist viel zu schlau, als daß er nicht begriffen hätte, um was es geht.«

Da gab ihm Kenyon recht. Vorsichtig arbeiteten sie sich in dem abschüssigen Gang vor. Der Keller, der sie aufnahm, war nur an seinem Eingang dunkel; schon nach zehn Schritten sahen sie, daß durch eine Öffnung in der Decke Licht hineinfiel. Hinter zwei gleichsam als Barrikade aufgestellten Brettern sahen sie Duponne stehen und vor ihm einen bärtigen Mann auf einer Matte hocken.

In demselben Augenblick, als Duponne sich entdeckt sah, sprang er mit einem Satz zur Seite. Nur sekundenlang hatte Kenyon, der als erster eindrang, die unheimlichen Augen Duponnes aufblitzen sehen. Tödlicher Haß lohte aus ihnen. In der nächsten Sekunde war der Platz, wo er gestanden hatte, leer. Nur der bärtige Mann hockte auf seiner Matte, ein Waldmensch, der ganz der Vorstellung entsprach, die man sich von einem Einsiedler macht. Mit weit aufgerissenen Augen, aber ohne sich vom Flecke zu rühren, starrte dieser braungebrannte Mann, dem man an der Haarfarbe den Europäer ansah, die so plötzlich vor ihm Stehenden an. Betroffen wichen sie zurück, als eine Blutwelle aus den Ohren des Mannes schoß. Einen Augenblick schloß er die Augen, dann starrte aufs neue sein Blick auf die Fremden.

»Was geht hier vor? Seid Ihr verwundet?« rief Kenyon. »Hat Euch Duponne etwas getan? Seid Ihr Carrey? Redet um alles in der Welt, Mann!«

Ein Seufzen war die Antwort. Dann sagte der Mann auf Französisch: »Ich habe nicht mehr lange zu leben. Eine Viper hat mich gebissen. Ich bin hilflos, aber mein Bewußtsein ist nicht getrübt. Ich weiß, wie es mit mir steht. Macht eure Sache schnell!«

»Was? Was sagte er?« fragte Dick Dabny.

Prieto brauchte nicht zu fragen. Er hatte eine erschlagene Otter neben der Matte entdeckt. Entsetzt kniete Kenyon nieder und faßte nach Carreys Puls. Er schlug kaum fühlbar.


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