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Nacht und Morgen

Der er Mond war untergegangen. Über den Wald strich ein kühler Wind. Das graue Gewölk zerriß, und am Himmel funkelten die Sterne.

Likasch hatte sich eingeschlossen. Der Haß ließ ihm keine Ruhe. Er wußte, daß er den vollen Korb nicht einen Kilometer weit tragen konnte, geschweige denn über die Berge nach Harla. Trotzdem galt es, rasch zu handeln. Immer wieder schaute er hinüber in den Waldwinkel, wo Elsners Haus lag. Ob sich die drei noch besinnen würden? Er wartete über eine Stunde. Als dann keiner kam, löschte er das Licht aus. Sie sollten denken, er sei schon fort. – Wenn ich nur erst drüben wäre, dachte er bei sich, dann kann ich's euch heimzahlen. Noch lange werdet ihr an mich denken, an mich, den Likasch, den Zigeuner. Oh, ich weiß, daß ihr mich nie zu euch gezählt habt, und daß ihr mir zuletzt sogar mit offenem Argwohn begegnet seid. Recht hattet ihr, aber der Likasch wird sich trotzdem dafür rächen, daß ihr ihn davongejagt habt.

Mit hastenden Händen band er den Tragkorb auf, nahm für alle Fälle das Geld und die Papiere aus dem obersten Ballen und steckte beides in die Brusttaschen seiner Jacke. Dann leerte er den Korb bis zur Hälfte, um wenigstens einen Teil der Ware zu retten. Am liebsten hätte er alles andere, was er zurücklassen mußte, angezündet. Das würde ein schönes Feuer geben. Leinwand brennt gut, und das schindelbedeckte Haus noch bester. Aber er ließ den Gedanken fahren. Kam er wirklich nicht durch die Grenzsperre, so mußte er wieder ins Dorf zurück. Als Brandstifter hätte er sich jedoch niemals blicken lassen dürfen.

In ohnmächtiger Wut krampfte er die Hände. Wenn das Mädel, die Hexe, bloß nicht gekommen wäre! Elsner war ja drauf und dran nachzugeben, schon um die beiden anderen zu retten. Gerade in letzter Minute hatte er sich verrechnet. Das sollten sie ihm büßen, alle, auch das Mädel. Wenn die Grenzer den Vater wegholten, würde sie schon an ihn denken.

Im Grunde genommen gehörte Likasch zu den feigen Gesellen. Sofern er wußte, daß ihm jemand auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war, trumpfte er auf, sonst aber pirschte er sich wie die Katzen auf leisen Sohlen an seine Opfer heran.

Vor längerer Zeit war er einmal in Harla gewesen. Die Stelle, wo sich die Grenze am Bergrücken entlangzog, kannte er, auch wenn er mit den Wegen nicht so genau Bescheid wußte wie die Panitzer. Er würde sich schon zurechtfinden, ohne sie.

Likasch ging vorsichtig durch den Flur. Er hielt den Atem an. Nichts regte sich draußen, nur der Wind griff ins nahe Buschwerk und rührte an dürren Blättern. Als er die Tür öffnete, knarrte der Schlüssel im verrosteten Schloß. Wieder horchte er, bevor er ins Freie trat. Zweimal schlich er ums Haus. Nein, es war keiner da, der ihn beobachtete. So konnte er getrost losziehen, in einer dunklen Herbstnacht mitten durch den Wald … wer sollte ihn da sehen? Und ein Grenzer hat auch bloß zwei Augen.

»Likasch, hast immer Glück gehabt, wirst ihnen auch diesmal ein Schnippchen schlagen«, sagte er halblaut vor sich hin, als wollte er sich selber Mut zureden. Die Straße und hernach den Weg, der von den Ladeplätzen abzweigte, behielt er im Auge und entfernte sich immer nur ein kurzes Stück waldeinwärts. Als der Berg steiler anstieg, wurde das Vorwärtskommen schwieriger. Im oberen Teil des Waldes hatte der Sturm eine Menge Bäume umgeworfen. Sie lagen alle in der gleichen Richtung. Likasch mußte öfter einen Bogen machen, denn es kostete bedeutend mehr Zeit, sich durch das dichte Gewirr von Zweigen zu winden, als die abgebrochenen Stümpfe zu umgehen. Einmal hakte sich das zersplitterte Ende eines Astes an seiner Schulter fest. Da fuhr er erschrocken zusammen. Er glaubte, eine Hand hätte ihn gepackt. Ängstlich tastete er nach dem Geld. Als er kurz darauf über eine Bodenwelle stolperte und hinstürzte, gab er es auf, weiter den Wald zu durchqueren. Wie leicht konnte das Geld dabei herausfallen, und in der Finsternis zu suchen, erschien ihm aussichtslos. Hatte sich so lange niemand auf dem Wege blicken lassen, würde wohl die letzte Viertelstunde auch keiner kommen. Weiter war es nicht mehr bis zur Grenze. Trotzdem schaute er sich nach allen Seiten um, ob ihn jemand verfolgte. Furcht und Ungewißheit täuschten ihm mancherlei Gestalten vor, so oft der Wind gegen niedriges Buschwerk stieß oder die schweren, dunklen Fichtenzweige sich bewegten wie die Schwingen eines Raubvogels.

Allmählich gewöhnte sich Likasch daran und wandte sich nicht mehr um. Der Weg führte durch eine Lichtung, deshalb verließ er ihn und ging hart am Waldrande entlang. Dabei streifte sein Arm einen Ast.

Ein kurzes Knacken und ein Ruf hinterdrein.

Likasch blieb wie angewurzelt stehen.

»Halt!« ertönte es noch einmal von oben.

Ohne sich zu besinnen, sprang er auf den Weg zurück und rannte bergan. Der andere mußte es aber bemerkt haben, denn Likasch hörte eilige Schritte hinter sich. – »Halt!«

Die Schritte kamen näher. Weil sich jedoch der schmale Pfad hinter der Lichtung durch dichtes Unterholz schlängelte, konnte ihn auch auf kürzere Entfernung keiner sehen. – Immer geringer wurde der Abstand. Likasch hielt sich schützend den Arm vor die Augen, machte eine blitzschnelle Wendung nach rechts und lief blindlings in den Wald. Sein Hut fiel vom Kopfe, Zweige peitschten das Gesicht, aber er spürte es kaum. Die Angst trieb ihn vorwärts.

Zwei Schüsse hallten nacheinander durch die nächtliche Stille.

Der Zigeuner blieb stehen. Hatten sie auf ihn geschossen? Er sah und hörte nichts mehr von seinem Verfolger. Sicher war der andere den Weg entlanggelaufen, an der Stelle vorbei, wo Likasch ins Gebüsch gerannt war. Lauf nur zu, dachte der Schmuggler, dich bin ich los.

In allernächster Nähe ertönten zwei schrille Pfiffe. Ein dritter und vierter folgten als Antwort vom Berge her.

Likasch fuhr abermals der Schreck in die Glieder. Kein Zweifel, es waren noch mehr Grenzer im Walde. Durch die Schüsse und Pfiffe verständigten sie sich. Nun war es gleich, wohin er floh, vor oder zurück, er wußte ja nicht, wo sie steckten.

Die Grenze erreichen! Darum ging es. Der Gedanke, vielleicht schon in wenigen Minuten in Sicherheit zu sein, riß ihn hoch und stachelte seine letzten Kräfte an. Eine wilde Jagd begann im nächtlichen Dunkel, bis sein Lauf plötzlich jäh gehemmt wurde. Vor ihm öffnete sich, durch die mattschimmernden Wände grauen Gesteins undeutlich umrissen, ein Steinbruch. In der Ferne blinkten vereinzelte Lichter. Das kann nur Harla sein, ging es Likasch durch den Kopf. Hinter dem Steinbruch lag die Grenze. Im Dorfkrug war davon die Rede gewesen. Er erinnerte sich deutlich. Der Wirt selbst hatte es gesagt …

Hinter dem Steinbruch liegt die Grenze.

»Halt! Stehenbleiben!«

Entsetzt blickte der Schmuggler auf den nahen Waldrand, von wo der Ruf gekommen war. Eine Gestalt huschte durch die Baumreihen. Als er sich umwandte, sah er, wie sich auf der anderen Seite des Steinbruchs ebenfalls jemand heranschlich. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm klar, daß sie ihn eingekreist hatten. Er, der schlaue Likasch, war in die Falle gegangen. Ins Tal zurück hätte er vorhin laufen sollen, statt nach der Grenze. Nun war es zu spät.

Doch von dem Geld sollten sie ihm keinen Heller abjagen, und ihn selber hatten sie noch längst nicht. Er versuchte den Korb abzubinden, um besser vorwärtszukommen, aber die Angst lähmte seine Hände.

Harlas Lichter lockten von ferne. Vor ihm gähnte der Abgrund.

Likasch lief vor bis an den Rand und warf sich ins Gras.

»Stehenbleiben!« erscholl es gleichzeitig von beiden Seiten.

Ein paar Meter weiter fiel die Felswand weniger schroff ab. Vielleicht gelang es ihm, sich dort hinabzulassen? Für lange Überlegungen fehlte ihm die Zeit. So kroch er auf Händen und Füßen zu der steinernen Rinne, die unten enger zu werden schien. Ein junges Bäumchen, das aus einer Felsspalte herauswuchs, versperrte die ohnehin geringe Sicht.

Kurz entschlossen wagt Likasch den Sprung über den mit hohen Grasbüscheln überwucherten Rand. Hastig klettert er hinab. Doch das Gras, an das er sich anklammert, reißt. Er kommt ins Gleiten. Vergeblich sucht er nach einem festen Halt. Unter der Last bröckelt der weiche Sandstein mehr und mehr ab. Die Hand des Zigeuners greift zwar nach einem Ast des jungen Bäumchens, aber die Füße treten ins Leere.

Likasch hört, wie jemand oben ruft: »Er kann doch unmöglich hier heruntergeklettert sein!« Er merkt noch, wie der dünne Ast sich vom Stamme löst und hält ihn trotzdem krampfhaft fest, bis er rückwärts taumelt und ins Bodenlose fällt.

Steine rollen nach. Dumpf schlagen sie in der Tiefe auf.

Dann ist es still.

Als die Grenzer Likasch, den Schmuggler, im Grunde des Steinbruchs fanden, konnte er niemanden mehr verraten. Der Tod hatte ihm zu schweigen befohlen.

Bild: Rolf Winkler

Am nächsten Tage schon erfuhren die Panitzer von Likaschs Ende. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Dorf. Zollbeamte durchsuchten seine Wohnung, beschlagnahmten, was sie – außer dem vielen Geld in Likaschs Brusttasche – noch an Schmugglerware vorfanden und versiegelten das Haus. Den langen Winter über stand es leer. Im Frühjahr ließ es die Forstverwaltung abreißen.

Tag um Tag führte sein Weg Anton Elsner dort vorbei, wenn er zur Arbeit ging, und jedesmal mußte er an Likasch denken, auch dann, als im Frühjahr die Mauern niedergerissen wurden und nur noch ein kahler Fleck inmitten sprossenden Grüns daran erinnerte, daß hier das Haus des Schmugglers gestanden.

Als Gerhard und Bärbel an jenem Herbstabend heimkamen, hatte es tüchtig Schelte gegeben, weil es schon so spät war. Doch der Junge hielt den Mund. Von Bärbels Gang nach Panitz verriet er kein Wort, auch später nicht, als ihn das Mädchen – es war kurz nach Ostern – zum Bahnhof in Weißwasser begleitete und auf dem Wege erzählte, was sich damals alles zugetragen.

Gerhard war mit einem ausgezeichneten Zeugnis versetzt worden. Er fuhr jeden Morgen nach Kaltenstein zur Schule und wollte, wie er dem Mädchen anvertraute, später einmal Forstmeister werden.

»Da kannst du ja immer bei uns bleiben«, war Bärbels erster Gedanke, denn sie ahnte nicht, daß Gerhard ein langes Studium vor sich hatte, vielmehr glaubte sie, man ginge einfach zu Herrn Brusse in die Lehre und war dann eines Tages Förster oder gar Forstmeister. Der Junge machte ihr aber klar, daß es so einfach nicht sei.

»Ein paar Jahre bin ich nicht daheim«, sagte er, »höchstens in den Ferien. – Was wirst du denn inzwischen tun? Nächste Ostern kommst du doch aus der Schule.«

»Ein Jahr will ich bei der Lehrersfrau bleiben. Ich habe es ihr versprochen und freue mich schon darauf. Frau Kammler kann mir viel beibringen, weißt du, so fürs Haus.«

»Und hernach? Das Jahr ist doch schnell um. Hast du keine Lust, was zu werden?«

»O ja, Lust schon …«

»Wozu denn?«

»Gärtnerin wäre ich gern geworden, aber da muß man später auf eine Schule gehen und vorher drei Jahre lernen, hat neulich unser Lehrer gesagt.«

»Da lernst du eben«, meinte der Junge. »Bei mir dauert es noch viel länger.«

Bärbel schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin, Gerhard, das viele Geld! Uns geht's doch …«

»Ach so, Bärbel, ich kann mir's denken.« Sie gingen nebeneinander her, der Junge und das Mädel, wie Kameraden.

»Wirst du mich vergessen, wenn ich fort bin?« fragte Gerhard nach einer Weile. »Es dauert lange, bis ich wiederkomme.«

»Ich hab' doch weiter niemand«, sagte sie einfach.

»Den Vater!«

Bärbel lachte. »Natürlich, den Vater, aber außer ihm mag ich dich doch am liebsten.«

»Ja?«

»Warum fragst du erst so dumm.«

Gerhard legte die Büchertasche beiseite. »Du, wollen wir einen Wettlauf machen?«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt. Wer verliert, muß die Tasche nachholen.«

»Meinetwegen. – Wie weit?«

»Bis zu den Birken dort hinten.«

Er zählte: »Eins, zwei – drei!«

Beide rannten sie los, den Waldweg hinab, und beide langten sie fast gleichzeitig an, der Junge mit hochrotem Gesicht, das Mädel mit fliegenden Zöpfen. Einen knappen Meter nur hatte Gerhard Vorsprung.

»Gewonnen!« rief er so laut, daß es vom Berghang widerhallte. Er packte sie von hinten und drehte sie im Kreise herum, wie manchmal, wenn er so recht ausgelassen war.

»Bärbel, wenn ich groß bin, heirate ich dich! – Ja?«

 

*

 


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