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Entscheidende Minuten

In aller Eile kramte Likasch die wichtigsten Sachen zusammen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Aus einer Truhe, die in seiner Schlafstube stand, holte er eine Anzahl Papiere hervor, darunter vier Bündel Geldscheine. Dann rollte er einen Stoffballen auf, legte die Papiere und das Geld hinein und faltete ihn wieder zusammen, um ihn zuletzt in einem größeren Tragkorb zu verstauen. Likasch sah sich um. Er war bereit.

Wenn ihm nur Anton Elsner, der Dickschädel, keinen Strich durch die Rechnung machte. Ging diese Nacht ungenützt vorüber, hatte er sein Geld verloren.

Die Geldscheine bei sich selbst zu verbergen, schien ihm zu gefährlich. Im Tragkorb lagen sie besser, denn diesen Korb nahm Elsner; den zweiten und dritten trugen die beiden andern. Wenn sie wirklich einem Grenzer in die Hände liefen, wurde er wenigstens nicht erwischt. Elsner konnte dann sagen, was er wollte, sie würden es ihm doch nicht glauben.

Likasch überlegte sich noch einmal jede Einzelheit. Er selbst wollte erst eine Weile später über die Grenze gehen. Bei ihm würde man sowieso nichts entdecken, und drüben war er in Sicherheit. Die Holzfäller aber glaubten bestimmt, er bliebe da, wenn er sie wie sonst allein losziehen ließ. Sie sollten ihn am Morgen ruhig suchen. Das Haus war dann leer und der Vogel ausgeflogen. Das gab einen Heidenspaß. Morgen abend konnten die Grenzer vor jeden Baum zwei Mann Verstärkung hinstellen, er würde sich drüben in Harla eins ins Fäustchen lachen. Gut, daß der Tölpel am Sonntag beim Kirchweihfest geplappert hatte …

Likasch schloß die Haustür ab. Als er auf den Fahrweg kam und sah, daß in Elsners Stube Licht brannte, nickte er zufrieden. Hoffentlich waren Stefan und Hermann da, dann konnten sie die zwei anderen Körbe mitnehmen, wenn nicht, mußte er sie zurücklassen, so leid es ihm um die Ware tat. Das Geld war wichtiger.

Anton Elsner hatte lange mit Stefan und Hermann gesprochen. Sie sagten nicht viel. Es gab auch kaum etwas dagegen zu reden. So waren sie sich bald einig geworden.

Als Likasch kam, erfuhr er schon aus den ersten Worten, die Elsner ihm zur Antwort gab, daß er künftig seinen Kram allein machen solle, sie hätten nichts mehr damit zu tun. Er möge sie endlich in Ruhe lassen.

Likasch wollte aufbrausen, doch er besann sich und versuchte es im guten, sie zu überreden, ihm nur noch dies eine Mal zu helfen. Morgen nacht wäre die Grenze besetzt, da kämen sie zu spät, heute ginge es noch, und er könne doch die teure Ware nicht zurücklassen.

»Nein«, erklärte Elsner kurzweg.

»Und ihr?« fragte Likasch die andern beiden.

»Anton hat recht«, erwiderte Stefan.

Likasch schaute sie an. Sein Blick bekam etwas Lauerndes. Wie ein sprungbereites Raubtier saß er auf der Ofenbank. »Ihr wollt also nicht?«

Elsner merkte nur zu gut, was in Likasch vorging, aber er war darauf gefaßt, daß der Zigeuner alles aufbieten werde, um sie noch einmal auf seine Seite zu bekommen. – Als keiner antwortete, fragte Likasch, weshalb sie es sich plötzlich anders überlegt hätten.

»Das ist unsere Sache. Es muß dir genügen, wenn …«

Likasch sprang auf. »Gar nichts genügt mir!« schrie er sie an. »Ich werde euch zwingen, wenn ihr nicht wollt.«

»Uns kann niemand zwingen«, erwiderte Elsner. »Übrigens darfst du ruhig leiser reden; was du uns sagen willst, wissen wir ohnehin zur Genüge.«

Der Zigeuner kam einen Schritt näher an den Tisch, wo die drei Männer saßen. »Ich sage euch noch etwas ganz anderes.«

Stefan lachte: »Oho, oho.«

»Da bin ich aber neugierig«, meinte Hermann.

»Wenn ihr mir heute nacht die Körbe nicht nach Harla schafft, wenigstens den einen, wo die gute Ware drin ist, dann …«

Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum und zögerte weiterzusprechen.

»Dann? Hm, was ist dann?« fragte Elsner gespannt.

»Dann verrate ich euch alle drei!« kam es mit mühsam zurückgehaltener Wut von Likaschs schmalen Lippen.

Den Männern stockte der Atem. Ihr Blick heftete sich an das Gesicht des Zigeuners, das sie wie eine häßliche Maske aus dem Halbdunkel der Stube anstarrte. Totenstill war es am Tische, um den der Lampenschein einen kleinen Kreis zog, als wolle er nur die drei in seine Helligkeit einschließen und den anderen nicht heranlassen. In der Tat blieb Likasch zwischen Tisch und Ofenbank stehen.

Tack – tack … tack … tack … schlug der Uhrpendel.

»Ihr habt mich doch verstanden!«

»Du willst uns verraten?« Elsner ballte die Fäuste. »Wem denn?«

»Den Grenzern. Wem denn sonst!«– »Das wirst du nicht tun!«

»Trag mir den einen Korb heute nacht nach Harla, dann ist alles gut.«

Elsner stand auf. Es kostete ihn Mühe, sich zu beherrschen. »Likasch, ehe du ins Dorf kamst, war hier Ruhe und Frieden. Du hast dir unsere Not zunutze gemacht, hast uns in deinen Karren eingespannt, mich und manchen anderen. Das meiste hast du verdient, nicht wir, das weißt du genau. Wieviel Angst, wieviel Sorgen du mit alledem über uns heraufbeschworen hast, das weißt du nicht oder willst es nicht wissen. Und jetzt, wo wir wieder Arbeit haben, ehrliche Arbeit, jetzt willst du uns zwingen? Du täuschst dich, Likasch! Geh ruhig hin, zeig' uns an, ich möchte sehen, ob sie dich dabei ungeschoren lassen.«

»Für so dumm hältst du mich?« entgegnete der Zigeuner. »Wenn ich drüben bin, kann ich es auch schreiben. Nicht wahr? Alles werde ich schreiben. Mir können sie ja nichts mehr anhaben, ich bin heute hier und morgen dort, aber ihr müßt im Dorfe bleiben bei euren Frauen und Kindern, ihr könnt nicht ausrücken, wie es euch beliebt … Ja, jetzt seht ihr mich an. Haltet mich meinetwegen für einen Schuft …«

»Du bist auch einer!« rief Stefan empört.

»... das ist mir gleich. Wer fragt nach mir, wenn ich fort bin!«

»Du kannst uns doch nicht verraten«, meinte Hermann. »Denk, du hättest wie ich eine Frau und zwei Kinder, denk an Antons Bärbel, die kennst du ja …« Hermann Stiller fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß einer so schlecht sein konnte.

»Ich sage euch nochmal, daß ich über die Grenze gehe und von drüben dem Zollamt alles mitteile, was ich weiß. Mich kriegen sie nicht, aber euch erwischen sie. – Wollt ihr mir also den Gefallen tun? Der eine Korb muß hinüber. Muß! Heute ist die Grenze noch halbwegs rein, morgen kommen wir zu spät.«

»Warum gerade der eine Korb?« wollte Elsner wissen. Er setzte sich wieder hin und stützte den Kopf in die Hände.

»Weil da die guten Sachen drin sind«, erwiderte Likasch barsch. »In die anderen habe ich die billigere Leinwand getan. Warum fragst du?«

»Weil ich vermute, daß du in dem Korb dein Geld versteckt hast. Sag die Wahrheit, Likasch!«

»Ich habe mein Geld anderswo und werde mich hüten, es ausgerechnet in einen Tragkorb zu legen.«

Elsner war sich darüber klar, daß Likasch seine Drohung wahrmachen würde. Da half kein Bitten und Betteln. Er dachte an die andern, an Stefan und Hermann, die beide verheiratet waren. Am liebsten hätte er den Zigeuner am Kragen gepackt und zur Tür hinausgeworfen.

Wenn er ihm nun das eine Mal noch half? Vielleicht wurden sie ihn dann für immer los, denn Elsner wußte, daß der Zigeuner sich schon längst unsicher fühlte. Wenn die Grenzer morgen Likaschs Haus durchsuchten und fanden die beiden Körbe mit Leinwand, mußte er Aufklärung geben, woher er die Ware bezogen hatte. Oder aber er ließ sie zurück und machte sich heute noch aus dem Staube.

»Ihr bleibt da«, sagte Elsner zu den beiden Holzfällern. Wie ein Befehl klang es. Stefan und Hermann schauten ihn fragend an: was wird dann aus uns? Auch sie hatten gemerkt, daß ihr Schicksal dem Zigeuner gleichgültig war, daß er bedenkenlos Rache nehmen würde.

»Wer bestimmt denn hier?« fragte Likasch.

»Ich! Ich ganz allein. Hast du mich verstanden?« rief Elsner. »Du willst, daß ich dir den einen Korb nach Harla schaffe?«

»Ja.«

»Wenn ich es tue, läßt du uns dann endgültig in Frieden? Ich meine, kommst du dann nicht mehr zu uns?«

Likasch verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Siehst du, Anton, jetzt wirst du wieder vernünftig. Ich kann's euch ja sagen: wenn du mir den Korb hinüberbringst – er steht schon fertig in meinem Hause – dann seid ihr mich los.«

Die drei Männer entgegneten keine Silbe.

Likasch lachte. »Na, Schweigen ist auch 'ne Antwort.«

»Anton, das tust du doch bloß unsretwegen«, sagte Stefan.

Bild: Rolf Winkler

»Laßt nur«, erwiderte Elsner.

Likasch ging zur Ofenbank und zog sich den Mantel an, den er dort hingelegt hatte. »Wir haben keine Zeit mehr. Mach schnell.«

In diesem Augenblick wird die Tür aufgerissen. Bärbel hält sie sekundenlang in der Hand. Als sie den Vater mit Stefan und Hermann am Tisch erblickt, läuft sie auf ihn zu. Dabei hat sie Likasch, der abseits im Schatten steht, ganz übersehen.

»Bärbel, du? – Wo kommst du denn jetzt her?«

»Von den Zollhäusern.« .

Sie schaut sich um, sieht Likasch und klammert sich an den Vater: »Wollt ihr fort? Ihr dürft nicht, hörst du, ihr dürft nicht!«

»Was hast du?« fragt Elsner, während Likasch langsam nähertritt.

»Die Grenze wird bewacht«, berichtet Bärbel mit fliegendem Atem. »Im Wald oben ist alles abgesperrt.«

»Morgen erst!« ruft Likasch scharf dazwischen. »Morgen erst! Aber wie mir's scheint, hast du das Mädel bestellt, damit sie mir Angst macht. Abgekartetes Spiel, darauf falle ich nicht 'rein, Anton! Komm schon, es wird immer später.«

»Nein!« schreit Bärbel so laut sie kann, daß selbst Likasch zusammenfährt. Sie stellt sich vor den Vater. »Ich lüge nicht. Schon gestern waren die Grenzer unterwegs, die ganze Nacht und heute wieder.«

»Laß dich doch nicht beschwatzen«, meint der Zigeuner zu Elsner. Er tut so, als sei er völlig ruhig, als sähe das Mädel Gespenster. Dabei ist er überzeugt, daß Bärbel die Wahrheit sagt. So kann sich keiner verstellen, das weiß Likasch viel zu gut. Er läßt es aber nicht merken, geht vielmehr zur Tür und ist schon halb draußen, da ruft Anton Elsner ihm nach: »Du kannst allein gehen. Ich bleibe!«

Likasch fährt herum. »Du bleibst? – Überleg dir's! Ihr müßtet mich kennen.«

»Drohst du immer noch? Hast du nicht gehört: die Grenze ist besetzt.«

»Meinetwegen. Eins sage ich dir, wenn du mir das Zeug heute nacht …«

Weiter kommt er nicht. Elsner ist mit zwei Sätzen an der Tür. Der Zorn steht ihm im Gesicht. »Genug jetzt! Mach, was du willst, aber laß dich bei uns nicht noch einmal blicken.«

Die Haustür fliegt auf. Likasch weicht zurück. Elsners Arm greift an ihm vorbei. Wie ein Nachtschatten ist der Zigeuner draußen verschwunden.

»Was war denn, Vater?«, fragt Bärbel, als Elsner nach einer Weile hereinkommt. Sein Zorn ist verweht, bleich sieht er aus.

»Gut, daß du kamst«, sagt er leise, wie zu sich selber. »Mir ist, als hätte dich die Mutter gerufen. – Ja, sie ist schon lange tot, aber sie hat dich wohl heute abend zu mir geschickt, glaub mir's, Bärbel.«

Das Mädel sucht den Sinn der Worte zu erfassen. Wie der Vater spricht? Und Stefan und Hermann kommen zu ihr und nehmen ihre Hand, wie wenn sie sich bedanken wollten.

»Bist gerade noch zurechtgekommen«, sagt Stefan.

»Auch für und«, meint der andere. »Wir wären ja mitgegangen, denn wir hätten doch den Vater nicht im Stich gelassen.«

Bärbel aber zieht sich ein paar neue Strümpfe an, weil die alten über und über zerrissen sind. Es tut sogar etwas weh, als sie den rechten Strumpf allzurasch über das zerkratzte Bein streift.

»Die Brombeersträucher sind schuld«, meint sie zu den beiden verblüfft dreinschauenden Holzfällern. Und zum Vater sagt sie: »Ich muß nämlich gleich wieder zurück.«

Davon will Elsner zuerst nichts wissen. Als ihm aber Bärbel klarlegt, wieso sie alles erfahren hat, daß Gerhard oben in der Bretterbude an der Zollstraße wartet und außer ihm niemand weiß, daß sie hier ist, willigt er ein. Bärbel hat recht, ihr Verschwinden darf nicht erst auffallen. Von des Zigeuners Drohungen hat sie keine Ahnung. Es ist gut so, denkt der Vater, als sie nach wenigen Minuten schon wieder aufbricht.

»Da hab' ich aber zu stopfen«, sagt sie lachend und zeigt Hermann die zerrissenen Strümpfe. Die Angst, die sie den ganzen Weg über verfolgte, ist wie weggeblasen. Der Vater bleibt daheim! jubelt es in ihr, und die Augen leuchten vor Freude, weil sie glaubt, daß es mit Likasch nun aus ist.

Als sie gehen will, meint Stefan, mit den alten Strümpfen würde sie wohl kaum mehr zu Rande kommen, die bestünden nur aus Löchern und etwas Wolle drumherum. Deshalb werde er ihr ein Paar nagelneue aus der Stadt mitbringen, weil sie doch die alten auch seinetwegen zerrissen hätte. Nur müsse sie sich bis zum Wochenend gedulden.

»Haben Sie so viel Geld?« fragte Bärbel ernsthaft. Sie wußte, daß es Stefan König ebenso gut oder ebenso schlecht ging wie allen anderen Waldarbeitern.

»Hermann und ich legen zusammen. – Nee, nee, das sind wir dir schuldig«, erwiderte er, als Bärbel halb hoffend und halb abwehrend Einspruch erhob.

Sie öffnete das Fenster und hielt die Hand hinaus. »Es regnet nicht mehr«, stellte sie fest. »Ich habe nämlich meinen Mantel oben gelassen.«

Nachdem sie fort war, hatten die Männer das Gefühl, als sei mit ihr alles Lichte und Frohe gegangen, hinter dem Likaschs Drohung für eine Weile versunken war. Nun tauchte sie wieder auf und lastete wie ein Alp auf ihnen.

»Man muß für alles, was man im Leben getan hat, geradestehen, früher oder später«, sagte Elsner zu den beiden andern. »Wir hätten ihm viel früher aus dem Wege gehen sollen, wie der alte Menzel.«

»Ob er uns wirklich verrät«, meinte Stefan. »Er hat doch nichts davon.«

Hermann zuckte die Achseln. »Wer so ist wie Likasch, denkt anders darüber als du.« Elsner schloß das Fenster, das Bärbel hatte offenstehen lassen. Fröstelnd rieb er sich die Hände, obschon im Ofen die Scheite knackten und glühende Funken durchs Zugloch sprühten.

»Heut' nacht wird's kalt«, sagte er und setzte sich an den Tisch.


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