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Was hat Likasch vor?

An diesem Tage begannen die Herbstferien. Für die Schulen im Gebirge waren sie später angesetzt, damit die größeren Kinder beim Kartoffelbuddeln helfen konnten. Es wurde Mitte Oktober, ehe man auf den hochgelegenen Feldern mit der Ernte anfangen konnte.

Bärbel fragte den Vater, ob sie ein paar Tage bei Erdmanns bleiben dürfe, Gerhards Mutter hätte sie eingeladen. Anton Elsner sagte zunächst nicht ja und nicht nein. Erst am Abend, als Likasch ihn wiederum aufsuchte und sich zum zweitenmal eine Abfuhr holte, und als Bärbel den Vater vergeblich um Auskunft über Likaschs Drohungen bat, da hielt er es für besser, das Mädel einige Tage wegzuschicken. Frau Erdmanns Einladung kam ihm sogar gelegen. Vielleicht hätte er sonst nicht so leicht eingewilligt.

Likasch war nämlich am frühen Morgen dagewesen, noch bevor Anton Elsner zur Arbeit aufbrach. Unten am Wege wartete schon der alte Menzel. Er sah den Zigeuner ins Haus gehen und kurz darauf mit verbissenem Gesicht wieder herauskommen. Grußlos lief er an dem Alten vorbei ins Dorf hinunter.

Während der Mittagspause war er zum zweiten Male gekommen. Aber auch diesmal blieb Bärbels Vater fest und erklärte ihm, daß er jetzt ständige Arbeit hätte, Likasch solle sich andere suchen, er selber habe genug davon.

Bärbel durfte die Gespräche nicht mit anhören. Der Vater schickte sie beide Male unter einem Vorwand hinaus. Es wurde ihr unheimlich, denn Likaschs Mienen verhießen nichts Gutes, als er wegging. Wie hartnäckig sie auch forschte, wie sehr sie auch bat, der Vater schwieg sich aus. Es war für sie nur eine halbe Freude, als er ihr erlaubte, die Zöllnersleute zu besuchen. Sie wurde den Gedanken nicht los, daß irgendein Unglück geschehen könnte, wenn sie fort war.

So ging der Montag dahin. Bis Freitag dürfe sie bleiben, hatte der Vater gesagt. Am anderen Morgen wartete sie, ob Likasch noch einmal käme. Als es Mittag wurde, ohne daß er sich blicken ließ, wurde sie ein wenig ruhiger und beschloß, im Laufe des Nachmittags aufzubrechen.

»Du bist ja noch da«, meinte Anton Elsner verwundert, als er später als sonst heimkam und das Mittagessen fix und fertig wie immer vorfand.

»Ich gehe erst nachher«, erwiderte Bärbel.

Elsner setzte sich und aß. Er erzählte von der mühseligen Arbeit oben an der Schwarzen Kuppe, von den Verwüstungen, die der Sturm angerichtet hatte, und daß alles wie Kraut und Rüben durcheinander läge. Sie wüßten beim besten Willen manchmal nicht, was sie zuerst wegschaffen sollten. Förster Brusse sei bei all dem Wirrwarr die Ruhe selber und seine Anordnungen wären sehr vernünftig.

Bärbel hörte kaum hin. Alle Augenblicke schaute sie durchs Fenster, ob etwa Likasch käme. Froh war sie, als nach einer halben Stunde der alte Menzel unten auftauchte und den Vater abholte. Er winkte von der Straße her mit seinem Knotenstock.

»Ich lasse grüßen. – Bedank dich auch schön, wenn du dich Freitag verabschiedest«, sagte Anton Elsner, ehe er ging. Bärbel langte ihm die Mütze vom Nagel. Als sie an der Tür stehenblieb, nahm der Vater seine schwere Hand von der Klinke und strich Bärbel über den Kopf. Dabei sah er sie so merkwürdig an, als dächte er an etwas Besonderes, ehe er sich seltsam hastig entfernte.

»Ich muß gehen, Menzel wartet schon.«

Bärbel schaute ihm lange nach. Bevor er mit dem alten Holzfäller weiterging, wandte er sich noch einmal nach ihr um.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte zu ihr gesprochen, aber ich bin ein Dickschädel, gestand er sich ein. Mein Schulfreund, der Holl, hatte recht, als er es mir unter die Nase rieb. Dreizehn Jahre sind es bald her. Ja, dreizehn Jahre wird die Bärbel, die ich damals beim Holl anmeldete. Ein trüber Tag war's, so wie der heutige, aber als der Name Barbara ins Gemeindebuch eingetragen wurde, lachte doch noch die Sonne zum Fenster herein und malte einen hellen Kringel über das Blatt, wo Barbara Katharina Elsner zu lesen stand. »Hoffentlich bringt sie dir viel Freude ins Haus«, hatte Holl am Schluß gemeint. Anton Elsner nickte traumverloren vor sich hin. Freude hatte sie ihm gebracht, die Bärbel, ein großes, gescheites Mädel war sie geworden, gescheiter als manches andere in ihrem Alter. Ja, ja, daran denkt man meist nicht und hält den Mund, wo man lieber reden sollte. Es wäre besser gewesen, frisch von der Leber herunterzuerzählen, was der Likasch von ihm wollte. Wenn er heute abend kam, war Bärbel nicht mehr daheim …

Bild: Rolf Winkler

»Du hast wohl die Sprache verloren?« sagte Menzel, als Elsner stumm neben ihm hertrottete. »Spukt der Zigeuner noch in deinem Kopf?«

Der andere erwachte aus seinem Sinnen: »Mag sein. Heute abend kommt er wieder zu mir, hoffentlich das letztemal.«

»Da habt ihr wohl etwas Wichtiges zu besprechen?« fragte der Alte.

»Ja. Stefan und Hermann sind auch da; ich bat sie heraufzukommen, weil sie doch manchmal mitgeholfen haben. Natürlich setzt er den beiden genau so zu wie mir.«

»Was werden sie jetzt tun?«

»Dasselbe wie ich«, erwiderte Elsner. »Likasch ist für uns erledigt, und weil er droht, erst recht. Vielleicht nutzt es was, wenn er dreimal dieselbe Meinung zu hören bekommt.«

»Er hat euch gedroht?«

»Wie man's nimmt, weißt du, nicht so geradeheraus, mehr versteckt.«

»Behaltet den Kopf oben!« mahnte der Alte.

»Das werden wir schon. Stefan und Hermann sind schließlich Holzfäller und keine Schmuggler, auch wenn wir eine Zeitlang …«

»Laß nur, Anton, brauchst dich vor mir nicht zu entschuldigen. Ich weiß ja, warum du's getan hast, oder denkst du, ich wäre die ganze Zeit über blind gewesen? Bloß … hat's euch Segen gebracht, das Geld, das du dir beim Likasch verdient hast, dir oder deinem Mädel? Viel war's ohnehin nicht, ein paar Groschen mehr als sonst, denn den Hauptverdienst steckte er doch selbst ein, der Zigeuner.«

»Wenn alle so dächten wie du«, sagte Elsner. »Aber die Grenzer bereiten da was vor! Am Donnerstag sollen Verstärkungen eintreffen, erzählte Likasch gestern. Der schlaue Fuchs erfährt es immer vorher. Woher er's diesmal hat, weiß ich nicht. Sie wollen sogar Haussuchungen vornehmen, meinte er.«

»Aha, da will er wohl seine Ware bei euch verstecken?«

»Das nicht, aber wir sollten ihm das Zeug gestern nacht noch nach Harla zurücktragen.«

»Was für Zeug?«

»Ein paar Ballen Leinewand. – Wir werden uns natürlich hüten, obschon er redet wie ein Wasserfall.«

»Und sein Geld?« fragte der alte Menzel.

»Davon weiß ich nichts.«

»Er muß doch viel Geld bei sich haben. Wo will er es denn lassen, wenn die Grenzer suchen kommen?«

»... Vielleicht mit über die Grenze nehmen?« gab Elsner zur Antwort.

»Von Geld hat Likasch nie gesprochen, es war immer nur von Leinwand die Rede gewesen.«

»Seine Hunderter wird er zuallererst in Sicherheit bringen, verlaß dich drauf«, sagte Menzel. Er klopfte sich an einem Straßenstein die Pfeife aus und steckte sie, bevor sie den Wald erreichten, in die Tasche. »Wenn sie den Likasch beim Geldschmuggel erwischen, Anton, dann hat er nichts zu lachen. Das wird strenger bestraft als alles andere, und so ist's auch richtig.«

 

Gerhard hatte Bärbel schon tags zuvor erwartet. Als sie jedoch am Dienstagmittag nicht kam, hielt er ein übers andere Mal Ausschau, lief ein Stück waldeinwärts, kehrte um und saß dann enttäuscht wieder oben in seiner Stube. Endlich, als es schon dunkelte, läutete es. Mit zwei, drei Sprüngen war er im Flur. Die Mutter konnte gar nicht so rasch aus der Küche kommen und öffnen, da hatte er Bärbel schon an beiden Händen hereingezogen und ein paarmal im Kreise herumgewirbelt.

»Wo hast du bloß so lange gesteckt!«

»Es ging nicht eher, Gerhard«, erwiderte sie und legte ihr dünnes Mäntelchen ab, das von einem feinen Sprühregen ziemlich naß geworden war.

»Gib her, Bärbel«, sagte Frau Erdmann, »wir hängen es vor den Ofen.«

»Einen Gruß vom Vater soll ich ausrichten.«

»Danke. Warum kommt er nicht einmal zu uns? Wir haben ihn schon so oft aufgefordert.«

Bärbel wich aus und meinte, wegen des Windbruchs müsse er den Tag über schwer arbeiten, und abends sei er todmüde.

Frau Erdmann gab sich damit zufrieden. »Unser Vater war die letzte Nacht gar nicht zu Hause, und heute ist er wieder weg«, sagte sie und breitete den Mantel über ein hölzernes Gestell. »Es geht ihm also genau so, nur daß es nachts noch häßlicher sein mag, namentlich bei diesem nebligen Wetter draußen.«

Sibylle eilte herbei und rief das Mädchen ins Wohnzimmer. Ihre jüngste Puppe wäre krank, Bärbel solle nachschauen, was ihr fehlte.

»Einen tüchtigen Schnupfen hat sie«, meinte Bärbel, als sie sich das arme Puppenkind genügend lange angesehen hatte.

»Wie unser Vater«, rief Gerhard. »Der ist nämlich heute in der Frühe erst nach Hause gekommen, pitschnaß bis auf die Haut.«

»So spät erst? Wo war er denn?«

Gerhard tat ein wenig geheimnisvoll: »Der Vater sagt zwar nie etwas, aber ich weiß es oder kann es mir denken. Sie lauern auf Schmuggler, gestern schon und heute nacht wieder. Als ich dir abends ein Stück entgegenging, sah ich hinter der Schonung an der Schwarzen Kuppe fremde Mannschaften. Vielleicht sperren sie die Grenze ab. Wenn nämlich Verstärkung kommt, ist immer was Besonderes los.«

Gerhard hatte es nur so nebenbei erwähnt. Für Bärbel aber war es weit mehr als eine harmlose Bemerkung. Likaschs zweimaliger Besuch fiel ihr ein und sein aufgeregtes Wesen. Sie erinnerte sich an die Unterredung der beiden Männer, bei der sie der Vater hinausgeschickt hatte, und an den Vater selber dachte sie, an sein seltsames Verhalten, als er am Nachmittag fortging. Ob Likasch ihn verleiten wollte, Ware aus Harla zu holen?

Angst überfiel sie.

Die Grenze wurde bewacht. Aus Gerhards Worten ließ sich entnehmen, daß die Zollstation auf Außergewöhnliches vorbereitet war. Wollten sie Likasch abfangen? Dem Zigeuner hätte sie es gegönnt, er trug an allem Schuld. Aber der Vater? Und die anderen, die Likasch in seine Netze gelockt hatte und die er offenbar nicht wieder loslassen wollte … was wurde aus ihnen?

Bärbel vermochte zunächst keinen klaren Gedanken zu fassen, so war ihr die Angst in die Glieder gefahren. Sie überlegte hin und her. Erst am Freitag sollte sie zurück sein. Aber bis dahin konnte viel geschehen. Wenn der Vater sich von Likasch doch noch überreden ließ und mit Stefan und Hermann zur Grenze ging, wenn sie ihn festnahmen?

»Gerhard!«

»Was denn, Bärbel?«

»Wie spät mag es sein?«

»Bald halb sieben.«

»Ich muß noch mal nach Hause … Ich hab' was vergessen. Kommst du ein Stück mit?«

»Bärbel, das wird zu spät, die Mutter schimpft dann. Es regnet doch auch. Was willst du eigentlich daheim?« fragte Gerhard höchst erstaunt.

»Ich muß nach Panitz, es ist wichtig«, entgegnete Bärbel. »Du brauchst nur ein kleines Stück mitzukommen, daß es nicht auffällt, wenn ich weggehe. Ich renne ganz schnell und bin bald wieder da.«

»Sag mir wenigstens, was du hast«, bat der Junge, der allmählich merkte, daß Bärbel unruhig wurde.

»Später erzähle ich dir einmal alles, viel später, aber jetzt kann ich nicht, Gerhard, du mußt mir auch versprechen, niemand etwas zu verraten.« Sie nahm ihn beim Arm. »Traust du mir was Schlechtes zu?«

»Nein, dir bestimmt nicht.«

»Dann komm mit bis zur Wegkreuzung. Dort wartest du auf mich, ja?«

Der Junge willigte ein, nahm seine Mütze von der Flurgarderobe, und leise, daß es keiner gewahr wurde, verließen sie das Haus. Frau Erdmann wusch in der Küche Geschirr auf, und Sibylle war mit ihren Puppen beschäftigt.

»Ich gehe mit dir bis Panitz«, erklärte Gerhard, als sie die Straße entlangwanderten. »Der Wald wird doch heute abend überwacht. Wenn unsere Zöllner auf Schmuggler stoßen und du gerätst da hinein … Bärbel, ich laß dich nicht allein nach Panitz gehen.«

»Ich will aber allein gehen.«

Sie waren an der Wegkreuzung angelangt.

»Dann lasse ich dich überhaupt nicht weg«, sagte der Junge und hielt sie fest. »Du hast ja nicht mal den Mantel an, dabei regnet es.«

»Das bißchen Regen! Sei vernünftig, Gerhard. Im Walde kenne ich mich doch besser aus als du. Was soll mir denn geschehen?«

Gerhard ließ sie frei. Er sah ein, daß er Bärbel nicht zwingen konnte. Es mußte wirklich sehr wichtig sein, was sie da vorhatte. Sie sollte ihn auch nicht für neugierig halten. Deshalb meinte er nur, er wolle wegen des Regens in der Bretterbude warten. Straßenarbeiter hatten nämlich zum Aufbewahren von Geräten an der Wegkreuzung einen kleinen Holzschuppen errichtet, dessen Tür lediglich durch einen Pflock versperrt war. Dort drinnen saß man wenigstens trocken, wenn es auch in der finsteren Bude alles andere als gemütlich ausschaute.

»Ich warte hier«, sagte Gerhard und öffnete die Tür seiner sonderbaren Behausung.

Sie trennten sich.

Um ein Zusammentreffen mit den Grenzern zu vermeiden, die sie sicher nach Woher und Wohin gefragt oder gar zurückgehalten hätten, verließ sie bald den Weg und lief, was sie konnte, durch die Baumreihen talwärts. Manchmal war es allerdings so finster, daß sie sich nur schrittweise vorwärtstasten konnte. Vom Sturm gefällte Bäume und zerbrochenes Geäst erschwerten ihr den Weg, aber sie wollte absichtlich erst weitab von der Grenze wieder auf die Straße gelangen.

Zerteilte sich das Gewölk, daß der Mond sein helles Licht über den Wald goß, so blieb sie lauschend stehen. Einmal war es ihr, als bewegten sich hinter einer Lichtung Gestalten. Sie sah angestrengt hin, bis Wolken das Gelände verdunkelten und der Wald wieder wie zuvor dastand, schwarz und schweigend. Kein Wind regte sich. Unter ihren Füßen brach und knackte es. Oft bemerkte sie einen der umgeworfenen Stämme erst in letzter Sekunde und konnte gerade noch drüber wegspringen. Brombeerranken zerkratzten die Beine, von denen die Strümpfe schon nach kurzer Zeit in Fetzen herunterhingen, und die scharfen, spröden Äste rechts und links hinterließen blutige Striemen an Bärbels bloßen Armen.

Bild: Rolf Winkler

Das Mädel achtete nicht darauf. Rasch weiter! Noch zurechtkommen! Und nicht gesehen werden!

Endlich lag der Fahrweg vor ihr. Sie blieb stehen, horchte … Kein Schritt, kein Laut, nur von den Bäumen tropften Wasserperlen zu Boden.

Jetzt hatte sie freie Bahn, denn der Fahrweg war gleich am zweiten Tage nach dem Sturm gesäubert worden. Sie brauchte also kein Hindernis zu befürchten und rannte deshalb mit aller Kraft weiter. Manchmal glitt sie auf dem nassen Lehmboden des zerfahrenen Weges aus, strauchelte und hatte alle Mühe, nicht hinzuschlagen, denn bei ihrem windschnellen Lauf spürte sie kaum die Erde unter den Füßen. Es war gut, daß es bergab ging, da wurden die Viertelstunden bei solchem Wettlauf mit der unerbittlich vorrückenden Zeit zu Minuten. Bärbel dünkten sie trotzdem unendlich lange. Der Weg wollte kein Ende nehmen.

Einmal hielt sie inne, um Atem zu holen. Da spürte sie erst, wie das Herz pochte und wie ihr das Blut in den Schläfen hämmerte. Sie schloß die Augen, eine Schwäche überkam sie, die Knie drohten ihr zu versagen, aber sie riß sich zusammen.

»Weiter!« rief sie ganz laut. Fast wäre sie vor ihrer eigenen Stimme erschrocken, so still war es ringsum.

Im Tal bellte ein Hund. Echo fiel von den Bergen zurück.


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