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Ein seltsames Wiedersehen

Es war am letzten Ferientage. Helle Wolkenschiffe fuhren im tiefblauen Himmelssee. Ihre Schatten flogen über buntgestreifte Kornfelder, Äcker und Wiesen in die Ferne. Diesen letzten freien Tag wollte Bärbel auskosten. Die Sonne meinte es gut; nach einem ziemlich kühlen Morgen wurde es gegen Mittag sehr warm. Als der Vater gegessen hatte, legte er sich eine kurze Weile hin. Die heiße Luft draußen auf dem Ladeplatz machte müde. Bärbel wusch unterdes das wenige Geschirr auf und begleitete ihn in den Wald zu seiner Arbeitsstelle.

Während sie allein weiterging, dachte sie an Frau Kammlers Vorschlag. In anderthalb Jahren konnte sich allerdings viel ändern, aber warum sollte sie nach der Schulentlassung nicht den kleinen Ernst betreuen, wenn bis dahin alles gut ging und der Vater einverstanden war. Irgend etwas mußte sie doch beginnen. Im Lehrerhaus konnte sie überdies manches lernen, denn die junge Frau war tüchtig und würde ihr sicher eine Menge beibringen.

Bärbel wollte umkehren und hinunter nach Lomnau wandern. Aber sie überlegte es sich. Die letzten Himbeeren hatte sie abgeliefert, Pilze gab es noch nicht, wenigstens nicht so viel, daß es sich lohnte, welche zu suchen, und ohne Grund bei Frau Kammler erscheinen, nein, das ging wohl nicht. Bärbel hatte darin eine gewisse Scheu. Sie kam immer nur mit Leuten zusammen, wenn sie bei ihnen etwas Bestimmtes besorgen mußte. Ernstelmanns Mutter hätte sich gewiß gefreut, wenn das Mädchen plötzlich bei ihr aufgetaucht wäre, auch ohne ihr was zu bringen, aber Bärbel war nun einmal so. Sie beschloß daher, ihren Weg fortzusetzen.

Von weitem grüßte die alte Buche droben am Waldrande. Mit raschen Schritten stieg Bärbel das letzte Stück empor und wollte gerade Anlauf nehmen, um mit kräftigem Sprung den ersten Ast zu erreichen, als sie unten vor dem dicken Stamm einen Jungen bemerkte.

Sie trat näher.

Es war Gerhard, der da am Boden lag und schlief. Im ersten Augenblick freute sie sich, ihn so unerwartet wiederzusehen, und wollte ihn rufen. Dann aber dachte sie an das, was Likasch und der Vater von den Grenzern gesagt hatten. Aus dem Wege solle sie ihnen gehen, wo es auch sei, es wäre besser so. Und Gerhard gehörte zu ihnen. Er wohnte doch drüben in den Zollhäusern.

Schritt für Schritt entfernte sie sich, vorsichtig, um sich nicht durch das Knacken eines dürren Zweiges zu verraten. Sie konnte ja später, wenn sie wieder zurückkam, auf ihren Lieblingsplatz klettern, denn lange würde Gerhard kaum schlafen, dazu lag er auf den harten Baumwurzeln, die sich vom Stamm aus über den Boden flochten, wohl zu unbequem. In der Nähe mochte Bärbel auch nicht warten, denn er konnte sie zufällig sehen, wenn er aufstand. So ging sie, sich ein paarmal umsehend, weiter, bog vom Wege ab und gelangte nach einer halben Stunde mühsamen Kraxelns über halb vermorschte Stämme auf die Schwarze Kuppe. War der Blick auch weniger günstig als von ihrer Buche, so ließ die größere Höhe trotzdem eine weite Sicht nach beiden Seiten der Grenze zu.

Bild: Rolf Winkler

Bärbel legte sich unter einer einzelnen, mitten zwischen Fichten stehenden Eiche nieder. Durch zwei breit auseinanderklaffende Äste konnte sie den fliehenden Wolken nachschauen und dabei ein wenig träumen. Wenn der Wind in kleinen Pausen nach den Zweigen langte und am Blattwerk rührte, war es ihr, als spräche er mit dem Baum, als gäben die tausend Blätter Antwort, immer und immer wieder. Auch die hohen Fichten ringsum beteiligten sich an der geheimnisvollen Zwiesprache und wiegten im Rauschen des Windes ihre dunklen Häupter bedächtig hin und her.

Allmählich wurde der Wind stärker. Das Rauschen im Walde nahm zu. Oben am Himmel sammelten sich Wolken, stießen aufeinander und ballten sich zu dichten, an den Rändern mit Gold verbrämten Haufen. Tiefer drang die Sonne nicht mehr ins Gewölk, das ihr mehr und mehr den Weg versperrte, bis sie zuletzt nur noch für kurze Augenblicke hindurchschien.

Ferner Donner rollte. Drüben im fremden Land, an der gegenüberliegenden Seite des Harlaer Talkessels, zuckten Blitze auf. Wie hinter einer finsteren Wand versanken dort die Berge. Der Wind trieb das Gewitter aber nicht auf die Grenze zu, sondern drängte es mehr und mehr ostwärts nach dem Ausgang der Talmulde ab.

Bärbel beobachtete das Wetter. Sie war aufgestanden und schaute hinunter. Es kam oft vor, daß es in Harla regnete, während hüben auf der deutschen Seite Wiesen und Äcker staubtrocken blieben. Zwei Tropfen fielen auf ihre Stirn. Eine hellgraue Wolke segelte eilig über den Berg dahin, als hätte sie der Donner herbeigerufen. Wieder ein Tropfen, noch einer, drei, vier platschten fast gleichzeitig auf ihre Hand, die sie ausgestreckt vor sich hinhielt. Es dauerte nicht lange, da rieselte es vom Himmel herab.

Das eigentliche Gewitter entlud sich überm Talkessel, es waren nur Regenschauer, die sich hierher verloren. Unaufhörlich zuckten die Blitze, rollte dumpf dröhnend der Donner. Das tiefer gelegene Land hüllte sich mehr und mehr in undurchdringlichen Nebel, der sekundenlang von Blitzen erhellt wurde und in Flammen zu stehen schien. Unter dem dichten Dach der Bäume lief Bärbel von der Schwarzen Kuppe herab. Der Regen hatte kaum nachgelassen, aber er war auch nicht gerade stärker geworden. Vielleicht hielten die Grenzberge das Gewitter fern, daß es nicht erst herüberkam. Es schien wenigstens so.

Als Bärbel die freie Stelle wieder erreichte, wo die Buche stand, lag noch genau so wie vorhin der Junge aus den Zollhäusern da und schlief. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Es regnete doch mindestens seit einer Viertelstunde. Länger hatte sie für den Abstieg nicht gebraucht. Und das geringe Laubwerk des alten Baumes bot fast gar keinen Schutz. Gerhard mußte völlig durchnäßt sein. Jetzt erst, im Freien, wurde sie gewahr, daß es stärker regnete, als sie vorhin angenommen.

Daß er es nicht merkte! Seltsam.

Mit ein paar Sprüngen war sie bei ihm. Weder an Likasch noch an den Vater dachte sie, als sie jetzt rief.

Der Junge rührte sich nicht.

»Gerhard, du wirst ja ganz naß. Steh doch auf!«

Sie faßte ihn am Arm, schüttelte ihn, aber er gab kein Lebenszeichen von sich.

Was mochte das sein?

Noch einmal versuchte sie ihn wachzurütteln, als ein Blick ihren Arm wie unter einem schweren Hieb lähmte. Wenige Meter entfernt lag ein abgebrochener Ast. Sie schaute hinauf ins Geäst: da ragte das weiße Holz des anderen Endes als zersplitterter Stumpf aus dem mächtigen Stamm.

Kein Zweifel, Gerhard war abgestürzt.

Bärbel nahm seine Hände. Sie befühlte die Stirn. Dann wollte sie um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Ein Gedanke nach dem anderen jagte ihr durch den Kopf. Weglaufen, jemanden holen? Wenn wirklich Spaziergänger in der Nähe waren, hatte sie der Regen längst vertrieben. Gerhards Hände waren ganz warm, auch die Stirn. Sie horchte, ob er atmete, war aber selber viel zu aufgeregt, um es feststellen zu können. Ein übers andere Mal rief sie ihn beim Namen und schüttelte ihn heftiger als zuvor.

»Gerhard, wach doch auf!«

Eine Angst überkam sie. Noch nie hatte sie die Einsamkeit so empfunden wie jetzt. Wenn doch jemand bei ihr wäre, der Vater, Förster Brusse, Frau Kammler, dachte sie im Flug ihrer Gedanken, vielleicht auch der Likasch.

Bärbel stand auf und sah sich hilfesuchend um.

Sie rief nach allen Richtungen, so laut sie konnte.

Niemand antwortete, nur der Regen rauschte eintönig hernieder.

Da wurde es auf einmal in ihr ganz ruhig, ganz still. Das Herz klopfte noch in gewaltigen Schlägen, aber die Angst, die es wild gemacht, fiel plötzlich ab von ihr. Sie wunderte sich selber darüber und konnte es sich nicht erklären, doch es war ihr so, als stünde jemand hinter ihr oder neben ihr. Dabei sah sie weit und breit keine Menschenseele.

Wieder beugte sie sich über den bewußtlosen Jungen. Sie wollte ihn auf keinen Fall liegen lassen. Mit jähem Schrecken dachte sie daran, daß sie vorhin an ihm vorbeigelaufen, wenn sie auch keineswegs ahnen konnte, daß er verunglückt war. Seine Worte fielen ihr ein, die er ihr damals nachgerufen hatte, als sie sich trennten. Nun war er doch noch hinaufgeklettert, sehr hoch sogar, denn den abgebrochenen Stumpf konnte man dicht unter der vom Wind zerzausten Krone sehen. Vielleicht hatten die unteren Äste den Sturz gemildert.

Bärbel versuchte, den Jungen aufzurichten. Nach unsäglicher Mühe gelang es ihr, seine Arme über ihre Schultern zu legen, die Gelenke fest zu umklammern und ihn ein Stück zu tragen. Glücklicherweise ging es bergab. Wäre Bärbel nicht ein großes, kräftiges Mädel gewesen, hätte sie ihn keine zehn Meter weit schleppen können. So aber gelang es ihr wenigstens, den Waldrand zu erreichen. Behutsam ließ sie Gerhard ins Gras gleiten. Ihr selber schwankte der Boden unter den Füßen. Erschöpft setzte sie sich neben ihn. Sein Kopf lag in ihrem Arm. Vorsichtig, als könne sie ihm wehe tun, strich sie ihm die nassen Haare aus der Stirn.

Mit einem Male, gerade als sie seine Hände ergriff, um ihn weiter zu tragen, schlug er die Augen auf.

»Gerhard!«

Er sah starr an ihr vorbei.

»Gerhard!«

Die Augen des Jungen wandten sich, als hätte er den Ruf aus unendlicher Ferne vernommen, Bärbel zu. Sein unklarer Blick hing fragend an ihrem Gesicht. Der Mund bewegte sich, doch die wenigen Worte, die er lallte, verstand das Mädchen nicht.

In freudiger Erregung faßte sie ihn an den Schultern: »Ich bin's doch, die Bärbel! Erkennst du mich? Wir waren doch schon einmal zusammen, deine Schwester, du und ich.«

Bild: Rolf Winkler

Wieder sah er sie an. Das Gesicht vor ihm verschwamm noch während des Betrachtens, kam wieder, er erkannte es auch, hörte einzelne Töne und wurde aus alledem nicht klug. Der Kopf war so schwer und es rauschte darin, als ob er dicht neben einem tosenden Wasserfall läge. Allmählich drangen Worte durch das seltsame Rauschen, er hörte sie deutlicher, sah auch das Gesicht des Mädchens klarer, wie wenn jemand einen Schleier wegzöge, und wußte plötzlich, daß er gerufen wurde.

»Ja«, sagte er mühsam. Es war das erste Wort, das Bärbel verstand, denn vorhin hatte Gerhard völlig unverständlich vor sich hingeredet.

»Tut dir etwas weh?« fragte sie und lauschte.

»Bärbel …« kam es langsam von den blassen Lippen des Jungen. Er lächelte und schloß kurz darauf die Augen. Es dauerte eine geraume Weile, ehe er sie wieder aufschlug. Nun war der Blick nicht mehr so verschwommen wie vorhin. Gerhard konnte sich sogar aufrichten, wenn auch nicht aus eigener Kraft. Bärbel mußte ihn halten, denn er taumelte.

»Tut dir etwas weh?« wiederholte das Mädchen seine Frage und bat ihn, sich lieber noch eine Zeitlang zu setzen.

»Nein«, sagte Gerhard mühsam, »nur der Kopf … so schwer … Mir ist so schwindelig.«

Er setzte sich ins Gras. Bärbel fragte ihn, ob er ein Taschentuch hätte. Sie selber steckte sich nie eins ein, wenn sie in den Wald ging. Der Junge nickte, griff in die Hosentasche und gab es ihr. Jede noch so geringe Bewegung strengte ihn an. Er sann nach. Langsam, ganz langsam kehrte die Erinnerung zurück. Es kostete gewaltige Mühe, einen Gedanken zu fassen, denn im Kopf dröhnte und hämmerte es wie nie zuvor.

Auf einem Ast der alten Buche hatte er gesessen. Heiß war es gewesen und weiße Wolken standen am Himmel. Hoch oben, kaum erkennbar, kam das Flugzeug angesurrt, das täglich nach der Hauptstadt des fremden Landes flog. Um es besser zu sehen, wollte er höher hinauf klettern, ja, nach dem dicken, blätterlosen Ast hatte er gegriffen, um sich emporzuziehen. Da knackte es über ihm, der Arm sank ins Leere, vergeblich suchten die Hände noch im Fallen einen Halt zu bekommen … mehrmals schlug etwas gegen die Schulter, dann spürte er einen heftigen Aufprall, Funken schossen durch ein dunkles Tor, leuchtende Kreise drehten sich, verwirrten die Sinne … Er wurde unsagbar müde.

Und nun saß Bärbel neben ihm.

Wie ging das nur zu? Er lag auch nicht mehr unter dem Baum. Die Buche stand weit drüben auf der anderen Seite des freien Geländes.

»Komm, ich habe dein Taschentuch im Grase feucht gemacht; das kühlt und hilft gegen Kopfschmerzen«, hörte er wieder ihre Stimme und ließ sich willig das nasse Tuch auf die Stirn legen. »Du mußt aber noch etwas liegen bleiben. Vielleicht kannst du dann aufstehen und selber ein Stück gehen. Ich helfe dir dabei«, sagte sie.

Verwundert blickte er Bärbel an. »Bin ich nicht hierher gelaufen?«

»Nein.«

»Wo hast du mich denn gefunden?«

»Unter der Buche«, sagte Bärbel und zeigte mit dem Daumen über die Achsel.

»Und bis hierher …«

»... habe ich dich halt getragen.«

»Du hast mich getragen? Du ganz allein?«

»Ja, schwer warst du wirklich, aber ich hatte solche Angst«, bekannte sie offen. »Eigentlich bin ich doch schuld daran.«

»Du sollst schuld sein?« fragte Gerhard und kam immer noch nicht über die Tatsache hinweg, daß Bärbel ihn, den vierzehnjährigen Jungen, von der Buche bis hinüber an den Waldrand getragen hatte. Freilich war sie größer und stärker, als es sonst Mädels ihres Alters sein mochten. Trotzdem, würde es ihm ein anderer erzählt haben, so hätte er es für übertrieben gehalten. Aber daß sie gar noch die Schuld an seinem Sturz bei sich selbst suchte, darüber würde er zu jeder anderen Zeit gelacht haben, nur schmerzte ihn jetzt der Kopf noch viel zu arg.

Bärbel verknotete das Taschentuch so gut es ging und besah sich ihr Werk. »Ich bin bestimmt schuld«, fuhr sie fort. »Weißt du noch, was du mir nachriefst, als ich euch damals bis vor die Futterplätze brachte?«

Gerhard sann nach. »Ja, ich weiß es. Sagte ich nicht, daß ich doch noch auf den Baum 'raufkomme?«

»Siehst du! ›Ich glaub's aber nicht!‹ rief ich dir damals zurück, und weil du beweisen wolltest, daß du es trotzdem fertigbringst, bist du heute hinaufgeklettert und abgestürzt.«

Im Grunde genommen hatte Bärbel recht, denn er nahm sich an jenem Abend fest vor, die alte Buche zu bezwingen. Ohne das Mädel wäre er wohl wie bisher daran vorbeigegangen. Aber schließlich konnte sie nichts dafür, wenn er herunterfiel. Das war nun einmal sein eigenes Unglück. Er versuchte, es ihr klarzumachen.

»Dir hätte genau dasselbe geschehen können«, sagte er, »denn oft genug scheinst du oben gewesen zu sein.«

Bärbel dachte ebenfalls daran. Sie hatte sogar auf dem Ast gesessen, der nun abgebrochen am Boden lag. Gerhard war schwerer gewesen als sie, und den Schwung, mit dem er sich in die Höhe ziehen wollte, hatte das spröde Holz nicht mehr ausgehalten. Es wäre aber auch leicht möglich gewesen, daß sie eines Tages genau so unter dem Baum gelegen hätte wie der Junge, vielleicht noch viel ärger zugerichtet, denn außer ein paar Kratzern an der linken Wange sah man äußerlich weiter keine Schäden. Nur die heftigen Kopfschmerzen, über die Gerhard klagte, beunruhigten Bärbel. Wenn bloß nichts Schlimmeres daraus wurde! Vor allem galt es, ihn möglichst bald heimzubringen, denn sie befürchtete, daß er wieder in Bewußtlosigkeit zurückfiel. Dann hätte sie ihn tragen müssen. Weit wären sie dabei auf keinen Fall gekommen.

So aber stützte Bärbel den Jungen beim Gehen. Jeder Schritt kam ihm vor wie ein Stich durch den Kopf, obschon sie langsam gingen und öfters ausruhten. Gerhard hatte seinen rechten Arm um ihre Schultern gelegt. Bisweilen trug sie ihn mehr, als er ging, so schwer hing er an ihrer Seite. Aber sie biß tapfer die Zähne zusammen. Nur nicht den Mut verlieren! Sie mußten es schaffen. Immerhin brauchten sie für den Weg von der Buche durch den Wald bis zu den Zollhäusern, den man gewöhnlich in einer reichlichen Viertelstunde zurücklegte, fast eine ganze Stunde. Bärbel war heilfroh, als sie hinter einer Wegbiegung den Schlagbaum vor dem Zollgebäude erblickte. Er war in die Höhe gezogen, denn ein Lastwagen setzte sich gerade in Bewegung, als Bärbel mit Gerhard anlangte.

Ein Beamter in der grünen Uniform der Zöllner wollte ins Haus zurückgehen, stutzte, als er die beiden erblickte, und blieb stehen. Es war ein Kamerad von Gerhards Vater. Bandow hieß er.

»Ums Himmels willen, wie siehst du aus!« rief er beim Näherkommen. Der Junge war ja kalkweiß im Gesicht. »Was ist denn mit dir los?«

Bärbel konnte Gerhard nur mühsam halten. Er wurde ihr immer schwerer. Der Grenzer merkte es und sprang gerade noch zur rechten Zeit hinzu, denn der Junge war wieder ohnmächtig geworden.

»Er ist vom Baum gestürzt«, erklärte Bärbel.

»Wo?«

»Von der Buche, die oben auf dem freien Plan steht.«

»Freien Plan?« fragte der Grenzer.

»Ja, wenn man zur Schwarzen Kuppe geht.«

»Ach so«, sagte der Beamte zerstreut, nahm den Jungen in die Arme und trug ihn ins Haus. Drinnen im Büro der Zöllner legte er ihn stach auf die Erde.

Bild: Rolf Winkler

»Das ist doch der Gerhard«, sagte der zweite Grenzer, der an einem Tisch saß und schrieb. Er stand auf und trat zu den andern.

Bandow knöpfte Gerhards Jacke auf. »Du, Rieselang, gib mir mal rasch mein Verbandszeug und lauf hinüber zu Erdmann. Er selber wird nicht da sein, aber seine Frau oder die Schwester von ihr. Sei vorsichtig und sag', es wäre nicht schlimm. Ich will unterdes versuchen, ihn wachzukriegen, damit seine Mutter nicht zu sehr erschrickt.«

»Überfahren?« fragte Rieselang, während er im Nebenraum aus einem Spind den Verbandskasten holte.

»Nein, auf 'n Baum geklettert und 'runtergefallen, wie das so ist«, erwiderte Bandow.

Der andere langte sich die Mütze vom Kleiderrechen und lief über die Straße. Bärbel, die immer noch am Schlagbaum stand und die man in der Aufregung ganz und gar vergessen hatte, sah, wie der Grenzer kurz darauf mit einer Frau zurückkam. Die Frau lief vor ihm her. Ob es Gerhards Mutter war? Bärbel hätte es gern gewußt, aber fragen mochte sie nicht. Auch getraute sie sich nicht ins Zollhaus, wo sicher viele Grenzer saßen. Vielleicht fragten sie erst lang, woher sie komme, wie sie heiße, wer ihr Vater sei. Bei diesem Gedanken erschrak sie mächtig. Hatte nicht Likasch neulich erzählt, die Grenzer schöpften Verdacht!

Daß sie sich überhaupt hierher traute! Aber daran hatte sie vorhin gar nicht gedacht, sondern immer nur an Gerhard, und daß sie ihn wenigstens bis in die Nähe der Zollhäuser brachte. Nun war er in Sicherheit und brauchte sie nicht mehr.

Ehe die Grenzer sie gar noch ins Zollhaus riefen, dünkte es ihr besser, wegzulaufen. Schwer war es nicht, denn hinterm Schlagbaum begann der Wald, ein niedriger, ziemlich dichter Fichtenbestand. Bärbel schaute noch einmal nach der Tür, ob vielleicht Gerhards Mutter herauskäme. Vor ihr hätte sie keine Angst gehabt. Es ließ sich jedoch niemand blicken. So ging sie in den Wald zurück und versteckte sich hinter den Bäumen. Vom Zollhaus aus konnte sie unmöglich gesehen werden.

Es hatte aufgehört zu regnen. Nur von den Zweigen fielen schwere Tropfen herab. Ihr war es gleich, denn das Kleid zeigte kein trockenes Fleckchen mehr. Ein Regenbogen, bunt schillernd in seinen vielen Farben, spannte sich über den Wald jenseits der Straße. Bärbel hörte eine Türe klappen. Von zwei Grenzern geführt, ging Gerhard hinüber ins andere Haus, das hinter einem großen Garten lag. Vorweg lief wieder die Frau und öffnete eine schmale Gittertüre, damit die Männer nicht erst den Weg um den Garten zu machen brauchten. Einer der Grenzer kam bald darauf zurück. Er sah sich mehrmals um. Dann rief er etwas zum Fenster hinauf, das die Frau eben geöffnet hatte. Was er sagte, konnte Bärbel nicht verstehen, weil die Entfernung zu groß war. Sie sah nur, wie die Frau vom Fenster verschwand, und der Grenzer ins Zollhaus zurückging.

Gott sei Dank, niemand hatte sie bemerkt! Und Gerhard war daheim bei seiner Mutter. Eben, als sie ihr Versteck verlassen wollte, kam der zweite Grenzer. Sie wartete, bis er die Straße überquert hatte und kroch dann aus dem nassen Schlupfwinkel hervor. Bei der geringsten Berührung schüttelten die jungen Bäume vollends ihre Regenlast auf sie herab. Als sie den Waldweg erreichte und sich noch einmal umschaute, war der herrliche bunte Bogen am Himmel verblaßt.


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